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Einführung des Frauenwahlrechts in Europa*

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*Die Einführung des Frauenwahlrechts ist in den meisten europäischen Ländern ein Prozess über viele Jahrzehnte gewesen. Die hier angegebenen Jahreszahlen markieren die (parlamentarischen) Beschlüsse zur Einführung des Frauenwahlrechts ohne Einschränkungen (wie Bildungsstand oder Alter). Die ersten Wahlen mit Frauenbeteiligung können daher durchaus in anderen Jahren stattgefunden haben. Zudem sind diese Daten nicht absolut zu setzen, es ist möglich, dass sich in den nationalen Geschichten auf andere Daten bezogen wird. (Anm. der Herausgeberinnen)

Hedwig Richter | Kerstin Wolff (Hg.)

Frauenwahlrecht

Demokratisierung der Demokratie
in Deutschland und Europa

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2018 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-939-3

© 2018 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-323-0

Karte: Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras, unter Verwendung eines Bildausschnittes von der Tagung des Weltbundes für Frauenstimmrecht und staatsbürgerliche Frauenarbeit in Berlin im Juni 1929

© ullsteinbild – ullsteinbild

Inhalt

Hedwig Richter | Kerstin Wolff

Demokratiegeschichte als Frauengeschichte

Raum – Körper – Sprechen

Kerstin Wolff

Noch einmal von vorn und neu erzählt. Die Geschichte des Kampfes um das Frauenwahlrecht in Deutschland

Barbara von Hindenburg

Politische Räume vor 1918 von späteren Parlamentarierinnen des Preußischen Landtags

Birgitta Bader-Zaar

Politische Rechte für Frauen vor der parlamentarischen Demokratisierung. Das kommunale und regionale Wahlrecht in Deutschland und Österreich im langen 19. Jahrhundert

Marion Röwekamp

»The double bind«.
Von den Interdependenzen des Frauenwahlrechts und des Familienrechts vor und nach 1918

Raum – Körper – Sprechen

Tobias Kaiser

Die Suffragetten als »Eroberinnen« des politischen Raumes. Zur Bedeutung von Straße und Parlament als Orte der Politik in der Frauenwahlrechtsbewegung um 1900

Hedwig Richter

Reformerische Globalisierung.
Neuordnungen vor dem Ersten Weltkrieg

Malte König

Frauenwahlrecht und Prostitution.
Über die Notwendigkeit politischer Selbstvertretung

Raum – Körper – Sprechen

Susanne Schötz

Politische Partizipation und Frauenwahlrecht bei Louise Otto-Peters

Birte Förster

Den Staat mitgestalten.
Wege zur Partizipation von Frauen im Großherzogtum und Volksstaat Hessen 1904–1921

Lutz Vogel

Weitgehend chancenlos.
Landtagskandidatinnen in Sachsen 1919–1933

Harm Kaal

Die Stimmen der Frauen für sich gewinnen.
Auswirkungen des Frauenwahlrechts auf die niederländische Wahlkultur 1922–1970

Über die Autorinnen und Autoren

Zu den Herausgeberinnen

Hedwig Richter | Kerstin Wolff

Demokratiegeschichte als Frauengeschichte

Die Geschichte der Demokratie gibt sich gerne triumphal: mit wehenden Fahnen und geballten Fäusten, über Barrikaden stiebend und Mauern einreißend. Demokratische Staaten feiern Revolutionen als ein geradezu heiliges Erbe. Der Kampf – so die Erzählung – liege der Demokratie zugrunde, weil Menschen sich nach Partizipation sehnen und mit Macht und Gewalt um ihr Mitbestimmungsrecht kämpfen. Der zentrale Topos eines globalen Demokratienarrativs lautet: Demokratiegeschichte ist ein revolutionärer Kampf von unten gegen oben, und es liegt auf der Hand, dass diese Geschichte in aller Regel eine Männergeschichte ist.1 Entsprechend gestaltet sich die demokratische Ikonografie. Von den europäischen Barrikaden, über die philippinischen Freiheitskämpfer, von den bewaffneten Rebellen in Kenia bis zu George Washingtons Armee – die Geschichte der Ursprünge von Demokratie präsentiert sich der Welt als eine Geschichte von Männern in Waffen und im Aufruhr. Das Gesicht des bärtigen, bewaffneten Che Guevara wird in reichen und stabilen Demokratien gerne von jungen Männern als Konterfei auf dem T-Shirt getragen: Der für bestimmte Ziele gewaltausübende Mann ist die zur Popikone komprimierte Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie. Der Fall Kuba zeigt einen weiteren Erzählstrang: Paradoxerweise sind diese fast überall anzutreffenden Demokratie- und Freiheitsgeschichten spezifisch nationale Erzählungen.

Es ist also folgerichtig, wenn die politische Ermächtigung der Hälfte der Menschheit durch das Frauenwahlrecht in vielen Demokratiegeschichten kaum der Erwähnung wert erscheint. Der Stoff passt nicht in die Erzählanordnung, nicht in das »emplotment«, um mit Hayden White zu sprechen.2 Allenfalls die gewalttätigen Suffragetten in Großbritannien erhalten in der globalen demokratiehistorischen Hall of Fame ein Denkmal, und sie sind es, derer in Spielfilmen mit Starbesetzungen gedacht wird. Das Bedürfnis, Demokratiegeschichte als Geschichte des gewalttätigen Kampfes zu erzählen, verleitet also dazu, ausgerechnet eine kleine Minderheit unter den Frauenrechtlerinnen in den Fokus der Geschichte des Frauenwahlrechts zu rücken. Für Deutschland wird häufig behauptet, es sei die spezifische Revolution am Ende des Ersten Weltkriegs gewesen, die das Wahlrecht hervorgebracht habe, und immer noch findet sich die Meinung, der Krieg sei der Vater des Frauenwahlrechts – womit die Bedeutung der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts formierenden Frauenbewegung ebenso missachtet wird wie die Komplexität des ganzen Prozesses überhaupt. Die Geschichte des Frauenwahlrechts wird also, wenn sie denn Erwähnung findet, in das nationale Erzählmuster von Revolution und Krieg gepresst.

Die Beiträge in diesem Band erzählen andere Geschichten, denn die Einführung des Frauenwahlrechts zwingt dazu, alte Narrative zu überdenken und den Blick zu weiten. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes zeigen dies quellengesättigt und an konkreten Beispielen. Dieser Band weitet das Feld in drei Richtungen, wobei er oft neuere Forschungsansätze aufnehmen kann: Erstens wird ein weiter Begriff von Politik und citizenship genutzt.3 Zweitens verstehen wir wie in der historischen Demokratieforschung länger schon gefordert und in der Frauengeschichte vielfach eingelöst Demokratiegeschichte transnational,4 und drittens legen wir einen Schwerpunkt darauf, wie Demokratie geschlechtlich praktiziert und erzählt wird – eine Erweiterung, über die in der politikwissenschaftlichen Forschung viel nachgedacht wird, weniger jedoch in der demokratiehistorischen.5

Was den ersten Punkt eines erweiterten Begriffs von Politik und citizenship betrifft, so sind die Anregungen der Historikerin Paula Baker fundamental, die von der »domestication of politics« während des 19. Jahrhunderts spricht: Das bedeutet einerseits die Inkorporation der häuslichen Sphäre in die Politik, andererseits die Zähmung des zuvor als männlich gedachten politisch-öffentlichen Einflussbereichs.6 So beschäftigen sich die Autorinnen und Autoren dieses Buches mit dem Kampf für kommunale Armenfürsorge oder Prostitutionsregulierungen, sie denken Familien- und Wahlrecht zusammen, erzählen von Frauen-Lesesälen und Körperpraktiken auf offener Straße oder vom weiblichen Reden im Gerichtssaal. Diese »domestication of politics«, zu der wesentlich die Herausbildung des Wohlfahrtstaates gehört, einer zentralen Säule von Demokratie, fand bereits vor dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt.7

Auch Carole Pateman, die einen international vergleichenden Blick auf die Implementierung des Frauenwahlrechts wirft, verweist auf die Vorkriegsjahre. In dieser Zeit habe sich die Bedeutung des Wahlrechts überhaupt geändert. Mit dem Politikwissenschaftler C. B. Macpherson vermutet Pateman, dass durch die neue Machtfülle der Parteien das Wahlrecht gezähmt und daher weniger gefürchtet worden sei. International gesehen (insbesondere im Hinblick auf die partizipative Bedeutung der Parteien für die Massenmobilisation) aber erscheint uns ein anderer von Pateman genannter Faktor wichtiger: Mittlerweile galt das Massenwahlrecht nicht zuletzt dank der Entwicklungen in der Vorkriegszeit als unverzichtbare Voraussetzung für Herrschaftslegitimation. In Deutschland oder Frankreich war das nicht wesentlich anders als in Belgien oder in den USA.8 Diese Aufbrüche vor dem Ersten Weltkrieg sprechen für die These, die Historikerinnen wie Ute Planert, Sandra Stanley Holton oder Angelika Schaser seit längerer Zeit darlegen, dass das Wahlrecht für Frauen durch den Krieg eher hinausgezögert als befördert worden sei.9 Das Frauenwahlrecht kam auch in Deutschland nicht über Nacht, durch Krieg und Revolution in die Welt gestoßen.

Zur Bedeutung der Frauenbewegung gehörte die anwachsende internationale Vernetzung der Welt, die häufig als erste Globalisierung bezeichnet wird.10 Und das ist die zweite Perspektiverweiterung: Es lohnt sich, Demokratiegeschichte transnational zu verstehen. Die Beiträge von Malte König oder Hedwig Richter zeigen, dass die Geschichte der Frauenwahlrechtsbewegung als integraler Teil der ersten Globalisierung um 1900, mit ihrer Transnationalität und als verstörender Faktor im aufkommenden Zeitalter der Extreme, dazu beitragen kann, die nationalen Erzählmuster zur Demokratie aufzubrechen.11 Wie erwähnt betonen gerade die Studien zur Frauengeschichte den globalhistorischen und transnationalen Aspekt der Demokratiegeschichte. Auch wenn sich Aktivistinnen häufig innerhalb dezidiert nationaler Diskurse bewegten, engagierten sie sich insbesondere im nordatlantischen Raum für die gleichen Bereiche und betteten fast immer das Wahlrecht in einen größeren Zusammenhang von Sozialreformen und speziellen Frauenrechten ein.12

Dabei bleibt es für die Analyse wichtig, der Frage nachzugehen, warum Demokratiegeschichten nationalen Narrativen folgen: Seit Demokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weithin zur Verheißung wurde und ein globales Renommee errungen hat,13 betrifft Demokratie das Selbstbild, die Selbstdarstellung – das, was Personen, Gruppen oder Nationen als ihre Identität präsentieren. Nationale Erinnerungskulturen und Historiografien sind unverzichtbar für diese Selbstkonstruktionen. Und so lautet eine unserer Thesen: Demokratiegeschichte hängt eng mit Identitätserzählungen zusammen, mit Vorstellungen von Gesellschaft, Nation und Staat und mit dem Verständnis von Herrschaft – allesamt geschlechtlich konnotierte, normative Begrifflichkeiten.14

Das erklärt auch die zahlreichen Exzeptionalismusgeschichten, die nationale Forschungen in verschiedenen Ländern zur Einführung des Frauenwahlrechts hervorgebracht haben – obwohl doch schon der Umstand, dass das Frauenwahlrecht in zahlreichen Ländern innerhalb weniger Jahre parallel eingeführt wurde, verdeutlicht, wie wenig plausibel rein nationale Erklärungen sind. Für Historikerinnen und Historiker in der jungen Bundesrepublik beispielsweise war es wichtig, die Frauenbewegung in das historische Narrativ einer von jeher deutschen Demokratiefeindlichkeit einzubetten: Unter Missachtung zahlreicher Parallelen in anderen Ländern diagnostizierten sie einen besonders starken deutschen Antifeminismus, eine besonders schwache oder besonders nationalistische oder besonders auf Mütterlichkeit absetzende Frauenbewegung im deutschsprachigen Raum, allein in Deutschland sei die Frauenbewegung stark zerstritten gewesen und habe nicht an einem Strang gezogen.15 Doch die Phänomene glichen sich in den verschiedenen Staaten.16 Kerstin Wolff untersucht in ihrem Beitrag, wie diese Erzählungen zu Deutschland entstanden und welche Rolle sie spielten – zur Stärkung des eigenen Lagers und Diffamierung der anderen etwa oder um sich aus taktischen Gründen weniger entschieden feministisch zu geben. Wolff kann aufzeigen, dass es der sich selbst als radikal bezeichnende bürgerliche Flügel der Frauenbewegung war, der die Meistererzählung für den Wahlrechtskampf vorgab, dem dann die frühe Geschichtsforschung folgte. Demnach habe sich der Großteil der deutschen Frauenbewegung nicht für das Wahlrecht interessiert.17 Ein Irrtum, wie beispielsweise im Beitrag von Susanne Schötz über die Anfänge der deutschen Frauenbewegung deutlich wird.

Die Revolutionsnarrative bestärkten die nationalen Sondererzählungen. Die Demokratieunfähigkeit der Deutschen beispielsweise wird daran festgemacht, dass allein die Revolution von 1918/19 diesem Land das Frauenwahlrecht aufzwingen konnte (wobei ansonsten die deutsche Demokratieaversion gerade an der angeblichen Unfähigkeit zur Revolution nachgewiesen wird).18 So wird verständlich, warum Großbritannien seine militanten Suffragetten feiert und warum Deutschland sich nicht an seine Rolle erinnert, von der es im Zentralorgan der internationalen Frauenwahlrechtsbewegung »Ius Suffragii« 1919 hieß: Die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland sei »zweifellos der bedeutendste Sieg«, der bisher je für die Sache gewonnen worden sei. »Deutschland«, so hieß es weiter, komme »die Ehre zu, die erste Republik zu sein, die auf wahrhaften Prinzipien der Demokratie gründet, dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht für alle Männer und Frauen.«19 Der transnationale Zugriff bleibt allerdings nicht jenseits der Kategorie Nation; es geht vielmehr darum, die nationalen Geschichten transnational oder auch national vergleichend zu reflektieren und zu interpretieren.

Drittens schließlich wird mit der Erweiterung des Zugriffs die Reflexion darüber fortgesetzt, wie sich die nahezu exklusive Verbindung der Demokratiegeschichte mit Männlichkeit erklären lässt. Und zwar auf zwei Ebenen: Einerseits wurde Demokratie und Partizipation tatsächlich bis ins 20. Jahrhundert als männlich gedacht, konzipiert und praktiziert – man denke etwa an die dezidiert maskulinen Inszenierungen der Stimmabgabe im 19. Jahrhundert.20 Zweitens aber hat ein Großteil der Forschung zur Demokratiegeschichte diese tiefe geschlechtliche Durchdringung kaum in die Forschung einbezogen und beispielsweise die demokratische Männlichkeit tatsächlich wie die Zeitgenossen als »Universalität« verstanden. Nicht zuletzt der ideengeschichtliche Zugang zur Demokratiegeschichte spiegelt zuweilen eher die historische Geschlechtlichkeit von Demokratie wider, als dass er sie reflektiert, wenn er von den Männern auf der Agora bis zu den Arbeitern in Massenparteien alles integriert, aber mit den Frauen konsequent die Hälfte der Menschheit ausblendet. »Das Studium der historischen Texte ist ein wichtiger Teil«, erklärt Carole Pateman, »aber die meisten der gängigen Interpretationen der Texte übersieht nach wie vor die Tatsache, dass faktisch jede Theorie auf den Mann als den politischen Akteur hin entworfen ist.«21 Ein weiterer Politikbegriff nun ermöglicht es, beide Geschlechter in den Blick zu nehmen, indem er Entwicklungen einbezieht, die für Demokratisierungsprozesse unverzichtbar waren, wie den Ausbau des Wohlfahrtsstaats oder den Aktionsraum der Kommunen.

Mit dem dritten Punkt weiten wir also zugleich den Begriff von Demokratie. Vorstellungen und Deutungen von Demokratie haben sich immer wieder grundlegend verändert.22 Eine auf heutige Demokratievorstellungen fixierte, normativ festgelegte Definition erlaubt es kaum, Demokratieentwicklungen vor 1919 oder selbst vor 1945 sinnvoll zu analysieren – sei es in den USA (wo ein gewichtiger Teil der Erwachsenen bis in die 1960er Jahre de facto vom Wahlrecht ausgeschlossen blieb) oder in Europa (wo wie in Frankreich oder Großbritannien die Frauen erst zur Jahrhundertmitte das volle und gleiche Wahlrecht erhielten). Doch im Kern drehte es sich bei Demokratie stets um Vorstellungen und Praktiken von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit.23 Frauengeschichte nun drängt die Demokratieforschung dazu, sich erneut und konsequenter mit dem Konzept von Gleichheit auseinanderzusetzen. Die Forderung nach universaler Gleichheit und Freiheit stand seit dem Revolutionszeitalter im ausgehenden 18. Jahrhundert im Zentrum demokratischer Reflexionen: der Anspruch, dass die Gleichen kraft ihrer Freiheit die Herrschaft ausüben und in Freiheit ihr Leben gestalten.24 Durch diesen Universalitätsanspruch wird das Umstürzende der Moderne deutlich. Moderne Demokratie heißt in letzter Konsequenz die egalitäre Relevanz aller Menschen – gerade auch für die Herrschaft. Und damit rückt Geschlecht ins Herz der Forschung über Macht und Politik. Geschlecht konstituiert nicht nur Vorstellungen von Herrschaft, sondern trägt wesentlich zur Konstruktion des modernen Staates bei, was auch damit zusammenhängt, dass es zu den wirkmächtigsten Produzenten von Ungleichheit gehört.25

Der zähe Ausschluss der Frauen erweist sich im Kontext der allgemeinen Wahlrechtsgeschichte als überaus erklärungsbedürftig. Frauen bildeten eine der wenigen Gruppen, die intensiv und über einen langen Zeitraum hinweg um ihr Wahlrecht gekämpft haben. Während die Einbeziehung von immer mehr Männern im Verlauf des 19. Jahrhunderts häufig sogar von oben oktroyiert wurde, blieb Frauen das Wahlrecht trotz ihres Engagements über Jahrzehnte verwehrt.26 Und dieser Ausschluss gestaltete sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bemerkenswert unumstritten und stabil.27 Warum hielt die Exklusion von Frauen aus dem Gleichheitsverständnis so problemlos an? Diese immer wieder gestellte Frage bleibt essenziell, und die Forschung dazu reißt nicht ab.28 Daran schließt sich die Frage an, warum dann um die Jahre des Ersten Weltkriegs in vielen Ländern möglich wurde, was sich die Jahrzehnte zuvor schlicht als abwegig dargestellt hatte: die Anerkennung von Frauen als Gleiche, als politische Subjekte?29 Das wiederum führt zu der Frage, wie das universale Wahlrecht aufgenommen wurde und welche Wirkungen es hatte. Die Beiträge in diesem Band befassen sich mit diesen Fragen. Geordnet nach drei Gesichtspunkten tragen sie zu der geforderten Weitung des Blickwinkels bei, mit der die Neuordnung des Geschlechterarrangements – jene zentrale Entwicklung der Demokratisierung – nicht außen vor bleibt, sondern elementar die Analyse durchdringt: Raum, Körper und Sprechen – wobei alle drei eng miteinander verwoben sind und die meisten Texte mindestens zwei dieser Aspekte verdeutlichen.

Raum – Körper – Sprechen

Zunächst müssen auf einer metaphorischen Ebene Staat und Herrschaft als Raum verstanden werden, durchdrungen von männlicher Dominanz. Die Geschlechterforschung verweist seit Langem auf die enge Verbindung von staatlicher Ordnung, gesellschaftlichem Selbstverständnis und Geschlecht.30 Für demokratische und partizipative Ordnungen ist das aus historischer Sicht bisher eher am Rande untersucht worden. Dabei ist die Frage nach Geschlecht und Identitätserzählungen gerade für Demokratien zentral, denn hier wird die für Herrschaft unverzichtbare Frage nach Legitimität, um mit Max Weber zu reden, »rational« behandelt, was beträchtliche Probleme aufwirft.

Als Legitimationsstifter ersten Ranges wirkt Maskulinität:31 sowohl im Herrschaftskonzept intellektueller Eliten und ökonomischer Oberschichten als auch in der Arbeiterbewegung, in Monarchien, in denen viele der Frauenrechtlerinnen operierten, ebenso wie in Demokratien. Die historische Dimension dieses Mechanismus ist tief in nationalstaatlichen Strukturen verankert. So weist die Historikerin Karen Hagemann nach, wie eng sich in Deutschland National- und Geschlechtsidentität in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts miteinander verbanden. Das als unruhig, revolutionsgeschüttelt geltende Frankreich hielten viele Deutsche für den Inbegriff weibischer Wankelmütigkeit. Die demokratisch gesinnten Turner hingegen rühmten sich ihrer intensiven Männlichkeit und bezichtigten ihre Gegner des weibischen Luxus.32 Auch der »Männlichkeitskult« der Sozialisten im 19. Jahrhundert gründete, wie der Historiker Thomas Welskopp darlegt, tief in patriarchalischen Gesellschaftsvorstellungen.33 Für die Historiker und Staatsrechtslehrer des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts konnte es keinen Zweifel geben: »Unser Staat ist männlichen Geschlechts« (so der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl 1855 in einer vielgerühmten Studie mit hoher Auflagenzahl),34 und Heinrich von Treitschke sekundierte: »Obrigkeit ist männlich«, Weiblichkeit hingegen finde in »schamhafter Stille« einer Königin Luise ihre Vollendung.35 Der Jurist und Staatstheoretiker Johann Caspar Bluntschli begründete 1870 den Ausschluss der Frauen in einem Deutschen Staatswörterbuch mit der »herkömmliche[n] Sitte aller Völker, welche den Staat, der unzweifelhaft ein männliches Wesen ist, auch als die Aufgabe und Sorge der Männer betrachtet«. Er wies darauf hin, dass »die unmittelbare Theilnahme an den Staatsgeschäften unweiblich, für den Staat gefährlich und für die Frauen verderblich wäre«.36 Männliche Legitimationskraft wirkte auch ex negativo: Wer seine Gegner delegitimieren wollte, identifizierte sie mit Weiblichkeit. Weibliche Herrschaft galt in modernen Staaten des 19. Jahrhunderts als Inbegriff des dekadenten, irrationalen Ancien Régime.37 Und zur Verunglimpfung demokratischer Herrschaft behaupteten ihre Feinde einen besonders großen Einfluss von Frauen auf das Staatsgeschehen.38 – Die Logik von legitimierender Männlichkeit und delegitimierender Weiblichkeit bewies indes schon lange vor dem 19. Jahrhundert ihre Gewicht: Die Frau auf dem Thron wurde, wie Barbara Stollberg-Rilinger erläutert, als Staatsgebrechen und Monstrosität betrachtet, ein Umstand, der im Notfall erduldet werden musste; und die Herrscherin tat gut daran, sich symbolisch explizit als männlich zu präsentieren.39 Zu Recht sind Opfergeschichten in die Kritik geraten, aber diese Bedenken sollten nicht über die Selbstverständlichkeit und Habitualisierung der Exklusion von Frauen hinwegtäuschen, über die Bedeutung der »gender longue durée« (John Tosh).40

Die neuen republikanischen oder plebiszitären Herrschaftsformen sahen sich womöglich in einem noch stärkeren Ausmaß auf den Legitimationseffekt von Männlichkeit angewiesen, weil sie keine Rückgriffmöglichkeiten auf den traditionalen Legitimationsbestand von Gottesgnadentum und Geburtsprivilegien hatten.41 In Frankreich pflegte das revolutionäre Heer eine intensiv maskuline Kultur, und Napoleons Code civil räumte den Ehemännern großzügig juristische und physische Gewalt gegenüber der Ehefrau ein, die nicht als Individuum zählte, sondern als ein unmündiger Teil der Familie.42 Den Gipfel des Männlichkeitskultes aber erreichten im 19. Jahrhundert zweifellos die jungen Vereinigten Staaten, deren Selbstbegeisterung sich gleichermaßen an ihrer Freiheit und an ihrer Männlichkeit berauschte. Im dichotomischen Weltbild vieler Amerikaner (in dem die neue Welt der Freiheit gegen das tyrannische Europa stand) zählte Luxus zur Sphäre der Frauen, diesmal als Ausdruck weibischeuropäischer Aristokratie, die im Gegensatz zum kernigen Republikanismus stehe.43 Die renommierte Democratic Review erläuterte: »Das große konservative Element unserer Regierung besteht im Ausschluss der Frauen von einer aktiven Teilnahme an den politischen Gremien der Nation.« Die Monarchien hingegen seien vor einem weibisch schwachen Thronfolger oder gar vor einer Frau auf dem Thron nicht gefeit. Da in Amerika ausschließlich Bildung und Leistung zählten, blieben Frauen – »disqualified by nature« – in der angemessenen Unterordnung.44 Überhaupt bestätigte die Vorstellung von Demokratie als der »natürlichen« Staatsform den Anspruch der Männerherrschaft. Dass in Frankreich immer wieder revolutionäre Unordnung herrsche, lag auch nach Überzeugung vieler Amerikaner an dem widernatürlichen Einfluss der Frauen auf die Regierung.45 Der Akt der Stimmabgabe bei den Wahlen gewann gerade in den Vereinigten Staaten durch seine Identifizierung mit Männlichkeit an Bedeutung und Attraktivität.46

Moderne Wahlen, also solche mit einem prinzipiellen Anspruch auf ein allgemeines Wahlrecht, definierten paradoxer- und logischerweise den Ausschluss der Frau explizit. Das betraf etwa das preußische Wahlrecht nach der Städteordnung von 1808, den britischen Reform Act von 1832 oder die Einzelstaaten der USA – wo die Republikaner im Jahr 1868 die Wahlqualifikation »male« sogar in die Bundesverfassung schrieben. Carole Pateman kommentiert: »Das schiere Frausein bedeutet die Disqualifizierung für Staatsbürgerschaft.«47 Gisela Bock hat die These aufgestellt, dass die extrem späte Einführung des Frauenwahlrechts in den Ländern mit einer besonders lauten und alten republikanischen Rhetorik kein Zufall sei: in Frankreich 1944 und in der Schweiz 1971; vielmehr habe die Verbindung von Männlichkeit und Republik hier so tiefe Wurzeln schlagen können, dass Veränderungen auf besonders heftigen Widerstand stießen.48

Wie es Frauen – mit Mühen, Witz und politischem Sachverstand – nach und nach gelingen konnte, in diesen in jederlei Hinsicht mit Männlichkeit durchdrungenen Bereich hineinzugelangen, untersuchen Marion Röwekamp, Birgitta Bader-Zaar, Barbara von Hindenburg und Kerstin Wolff in ihren Beiträgen im ersten Teil des Bandes über den Raum. Zuerst gelang das bereits im 19. Jahrhundert auf lokaler Ebene. Im Jahr 1869 etwa erhielten britische Frauen das kommunale Wahlrecht und US-amerikanische Frauen das Stimmrecht im Bundesstaat Wyoming. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts eröffneten sich immer mehr Partizipationsmöglichkeiten in sozialen Institutionen, in Kirchen oder in Städten.

Birgitta Bader-Zaar, Birte Förster und Barbara von Hindenburg diskutieren die vielfältigen Partizipationsrechte, die Frauen besaßen, bevor sie das nationale Wahlrecht erhielten. Dabei handelte es sich zum Teil um frühneuzeitliche Privilegien, wie das Gemeindestimmrecht verwitweter Grundbesitzerinnen; teilweise handelte es sich um neu erworbene Rechte, wie etwa das Wahlrecht in sozialen Einrichtungen. Legen aber diese Befugnisse nicht doch die Einsicht nahe, dass der Ausschluss von Frauen keineswegs kategorisch gewesen sei? Jedoch waren diese Wahlberechtigungen in der Regel ein Überbleibsel, das erneut zeigt, dass die ständische Ordnung zwar weibliche Herrschaft kannte, sie aber als notwendiges Übel erachtete: Frauen durften in diesen frühneuzeitlichen Verfahren ihre Stimme nicht selbst abgeben, denn der Herrschaftsraum gehörte den Männern; die wahlberechtigte Frau war gezwungen, einen männlichen Stellvertreter zur Stimmabgabe zu schicken. Bezeichnenderweise verloren viele Frauen im 19. Jahrhundert mit der Purifizierung und der Ausformulierung von Politik als männlicher Domäne das Recht auf ihre Stimme, teilweise ging jedoch auch nur das Wissen um ihr Stimmrecht verloren. Diese Gemengelage nun nutzten einige Frauenrechtlerinnen um die Wende zum 20. Jahrhundert, so Barbara von Hindenburg und Birte Förster in ihren Studien. Die Aktivistinnen gaben dem alten Recht eine neue Bedeutung: Das obsolete weibliche Stimmrecht, in dem die Frau beispielsweise nur als Witwe Gültigkeit besaß und als Ersatz für den verstorbenen Ehemann diente, interpretierten Frauenrechtlerinnen um in ein individuelles Recht. Sie suchten die wahlberechtigten Frauen auf, erinnerten sie an ihre Möglichkeiten, fanden bei Bedarf Männer, die sich zur Stellvertreterwahl bereit erklärten, und schufen damit für sich und ihre Anliegen eine neue Öffentlichkeit. In Hessen-Nassau machten im Jahr 1911 mit 415 Frauen immerhin ein Drittel der Wählerinnen von ihrem Wahlrecht Gebrauch; in Schlesien waren es teilweise bis zu hundert Prozent. Eine solche Partizipation konnte auch für konservative Frauen zu einem Symbol weiblicher Ermächtigung werden, blieben sie damit doch innerhalb des traditionalen Rahmens.49

Als einer der wichtigsten Aktionsräume in der Transformationszeit um 1900 diente der kommunale Raum. Hier konnten sich traditionale und emanzipative Vorstellungen vermengen und die weiblich private Sphäre und die männlich öffentliche Sphäre schleichend vermischen.50 Da Frauen zumeist für den sozialen Bereich arbeiteten, ließ sich das kommunale Wahlrecht bei Bedarf gar als »unpolitisch« beschreiben (was konservative Frauen als Argument für das weibliche Kommunalwahlrecht nutzten und Sozialistinnen als Argument dagegen). Mit ihrer Propagierung der sozialen Arbeit – im Sinne von Paula Bakers »domestication of politics« – und mit der Thematisierung des Privaten im Öffentlichen vertraten die Frauenrechtlerinnen und Frauenrechtler ein weiter gefasstes Konzept von citizenship, das Kathleen Canning als »participatory citizenship« definiert.51 Entsprechend herrschte in den meisten Ländern unter einer Mehrheit der Frauenrechtlerinnen die Auffassung vor, dass sich das Frauenwahlrecht nicht von den anderen Rechten, Reformen und Forderungen der Bewegung trennen ließe. Wie Marion Röwekamp in ihrem Aufsatz zeigt, nutzten Frauen andere Reformforderungen oft unterschwellig, um damit zugleich das Frauenwahlrecht zu plausibilisieren und zu befördern.

Dass das Wahlrecht gleichwohl auf nationaler Ebene lange Zeit für eine überwältigende Mehrheit weiterhin nicht infrage kam, unterstreicht seine identitätsstiftende und legitimierende Bedeutung für die Nation, die sich ohne grundstürzende Änderungen schlicht nur männlich denken ließ.52 In einigen Ländern saß das Misstrauen der Regierungen gegen ein nationales Frauenwahlrecht so tief, dass die Gesetzgeber bei seiner Einführung zur Reinhaltung der Wählerschaft besondere Kautelen einfügten, die einiges über die identitätsstiftenden Implikationen des nationalen Wahlrechts aussagen: Österreich und Italien etwa schlossen Prostituierte von den Wahlen aus – nicht jedoch die Freier –, und Belgien exkludierte mit der Erweiterung des Wahlrechts 1920 alle Frauen, die keine Mütter waren oder uneheliche Kinder hatten.

Der symbolische Raum der Politik und des Staates verband sich mit konkreten physischen Räumen. Als 1908 das alte Vereinsrecht in Preußen fiel, das den Frauen politische Versammlungen untersagt hatte, erschien das vielen Akteurinnen und Akteuren vor allem als ein symbolischer Sieg. Frauen hatten längst Mittel und Wege gefunden, das rechtliche Relikt zu umgehen; sie durften ohnehin offiziell an politischen Treffen teilnehmen, jedoch in einem separaten Raum, für dessen Markierung oft ein Strick diente. Als das Recht fiel, feierten in Breslau die Frauenrechtlerinnen die Befreiung des Raums: Sie rollten die »drollige« schwarzweiße Schnur »als ein Symbol vergangener Tage« ein, wie sie festhielten.53 Durch Leseräume und Beratungsräume für Frauen, durch Redaktionsstuben für Frauenzeitschriften und Büros der Frauenorganisationen, durch bessere Mädchenschulen und die Öffnung der Universitäten: Der Raum der Frauen weitete sich hinein in die Öffentlichkeit. Tobias Kaiser und Malte König verdeutlichen in ihren Beiträgen, wie Frauen bereits in den Vorkriegsjahren bei den Demonstrationen in Großbritannien oder den USA, aber auch in kleinerem Umfang in Deutschland oder Frankreich Platz und Raum in der Öffentlichkeit reklamierten. Und schließlich hielten Frauen mit dem Wahlrecht auf den Podien der Parlamente und der Gerichtssäle Einzug.

Der Einsatz für Frauenrechte war für viele Reformerinnen und Frauenrechtlerinnen gleichbedeutend mit dem Kampf gegen Gewalt und für mehr Wohlfahrt, wie Hedwig Richter in ihrem Beitrag untersucht. Diese Diskurse lassen sich als eine spezifische Ermächtigung der Frauen verstehen: als Aneignung ihres Körpers – womit wir beim zweiten Gesichtspunkt wären. Denn während für die moderne staatliche Ordnung konstitutiv war, dass das souveräne Subjekt, der Mann, seinen Körper (die »grundlegendste Form des Eigentums«)54 bezähmt, galt die Frau durch die Möglichkeit der Mutterschaft als von ihrem Körper beherrscht – so die Analyse der Politologin Gundula Ludwig.55 Für die Frage nach der Beharrungskraft der Geschlechterordnung, aber auch nach den Veränderungsmöglichkeiten ist also eine Analyse des Körpers zentral, wie in den Beiträgen von Tobias Kaiser, Malte König und Hedwig Richter im zweiten Teil des Bandes deutlich wird. Pierre Bourdieu beschreibt die »Somatisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse«: »Der gesellschaftlich geformte biologische Körper ist also ein politisierter Körper oder, wenn man das vorzieht, eine inkorporierte Politik«.56 Die Minderwertigkeit der Frau, ihre Inkompetenz für Herrschaft – und damit das Geschlecht von Politik – waren nicht nur mental tief verankert, sondern in die »Körper eingeschrieben«.57

Im 19. Jahrhundert begannen Frauen Mutterschaft umzudefinieren und besetzten sie positiv als elementare gesellschaftliche Aufgabe. Emmeline Pankhurst gab als wesentliche Ursache für ihren Kampf die mütterliche Sorge um uneheliche Kinder an, um die sich »nur die Frauen wirklich kümmern«.58 Die Probleme dieser Welt, die soziale Frage, Alkoholismus, Kinderarmut, Gesundheitsprobleme, schlechte Arbeitsbedingungen – dafür brauche die Gesellschaft eben: Frauen. Männer hingegen galten in dieser differenzfeministischen Argumentation als unbeherrscht und aggressiv.59 So entwickelten sich Prostitution und Alkohol zu zwei der am häufigsten diskutierten Themen der Jahrhundertwende.60 Sie standen für jene destruktive Männlichkeit, die es zu zähmen galt. Frauen griffen international das Thema der Prostitution auf, wie Malte König in seinem Beitrag entfaltet, und nutzten es als Diskurs, anhand dessen sie von einem moralisch geradezu unangreifbaren Standpunkt aus Männer attackieren und ihre Souveränität einfordern konnten. Die verschiedenen Strömungen der Frauenbewegung engagierten sich auf dem weiten Themenfeld der »Sittlichkeit«, reklamierten ihre Kompetenz – und verknüpften sie mit der Stimmrechtsfrage. Die »Domestizierung der Politik« griff immer mehr um sich.61

Der Kampf gegen Gewalt war für die Frauenrechtlerinnen nicht ein Thema unter vielen, sondern ihre vermeintlich von der Natur gegebene Gewaltfreiheit galt ihnen als Ausweis ihrer besonderen Befähigung zur Politik und zur Neugestaltung der Gesellschaft. War Souveränität durch Körperbeherrschung zuvor mit physischer Gewalt verbunden (etwa der waffenfähige Mann oder der Ehemann, der seine Frau züchtigt), so beschrieben Frauen körperliche Souveränität zunehmend als die Fähigkeit zur Friedfertigkeit. Nur eine Minderheit der Frauenrechtlerinnen entschied sich dann auch dafür, Gewalt als Mittel ihres Kampfes zu nutzen. Nach Ansicht vieler Frauenrechtlerinnen leisteten diese radikalen Aktionen der britischen Suffragetten keineswegs Überzeugungsarbeit für die Frauenrechte, sondern verunglimpften die Frauenbewegung und wirkten auf die mit der weiblichen Differenz argumentierende Strategie der Frauenbewegung kontraproduktiv. Der in Tobias Kaisers’ Beitrag untersuchte Black Friday am 18. November 1910 in London mit den Ausschreitungen gegen die Suffragetten entsetzte zwar die Öffentlichkeit wegen der polizeilichen Gewalt und sorgte für Aufmerksamkeit, doch schienen die brutalen Enthemmungen für viele Beobachterinnen und Beobachter ein Ausdruck dafür zu sein, dass die richtige Ordnung gestört war – und wieder hergestellt werden müsse. John Stuart Mill hingegen forderte das Wahlrecht der Frauen mit dem Hinweis auf häusliche Gewalt, auf »die Anzahl der Frauen, die jährlich von ihren männlichen Beschützern zu Tode geprügelt, zu Tode getreten, zu Tode getrampelt werden«. Wie könne man im Ernst behaupten, Ehemänner seien prinzipiell dafür geschaffen, ihre Frauen zu repräsentieren, fragte er die Männer im Parlament?62

Der körperlichen Herrschaftsaneignung, der Besetzung des staatlichen Raums entsprach das öffentliche Sprechen. Das verdeutlichen die Analysen von Susanne Schötz, Birte Förster, Lutz Vogel und Harm Kaal im dritten Teil des vorliegenden Buches. Das öffentliche Reden galt für Frauen als unangemessen, so Mary Beard in ihrer Interpretation republikanischer Traditionen, während sie den Mann geradezu definierten.63 Wenn sich jedoch der Impuls, Frauen zum Schweigen zu bringen, als ein grundlegendes Muster in der Geschichte ausmachen lässt, wie Beard darlegt, warum wurde es dann doch möglich, dass Frauen in die Politik eintraten und schließlich legitimiert öffentlich reden konnten? Die Geschichte der schreibenden Frauen erreichte bereits in der Aufklärung einen ersten Höhepunkt. Susanne Schötz zeigt das Engagement und die vielfältigen Publikationstätigkeiten von Louise Otto-Peters, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzten. Doch um 1900 erreichten die Frauen mit ihren Schriften und Reden ein völlig neues Ausmaß an Öffentlichkeit. Sie gründeten vermehrt eigene Zeitschriften und Zeitungen, und ihr Anliegen fand auch außerhalb der Frauenbewegung unter herrschenden Männern Anklang. Immer mehr Frauen bestiegen die Rednertribünen. Aktivistinnen wie Helene Stöcker waren international gefragte Expertinnen. Helene Lange trug zu einem Prachtband über Das deutsche Volk zur Jahrhundertwende mit einem Text über die »Frauenbewegung« bei, und eine Seite mit Fotos und Kurzbiografien widmeten die Herausgeber den Frauenrechtlerinnen und Reformerinnen.64 Als die Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, Marie Stritt, während des Internationalen Frauenkongresses in Berlin im Jahr 1904 auf dem Titelblatt der Berliner Illustrirten Zeitung prangte, musste gerade auch dem antifeministischen Lager klar geworden sein, wie sehr die alte Geschlechter- und Gesellschaftsordnung unter Beschuss stand. Während dieses Kongresses in Berlin wurde unter Mitwirkung deutscher Frauenrechtlerinnen wie Marie Stritt oder Anita Augspurg die International Woman Suffrage Alliance gegründet.65 1909 schrieb August Bebel zur 50. Auflage von Die Frau und der Sozialismus über den Kampf um die Gleichstellung der Frauen: »Es dürfte kaum eine zweite Bewegung geben, die in so kurzer Zeit so günstige Resultate erzielte […]. Wir leben bereits mitten in der sozialen Revolution.«66 Diese Erfolge brachten auch die Gegner und Gegnerinnen auf den Plan, und in allen Ländern entstanden antifeministische Strömungen. In Deutschland etwa erhielt der Publizist Paul Julius Möbius für seine misogynen Schriften großen Beifall, doch sorgte er damit auch für so viel Empörung und Spott, dass er die weiteren Auflagen vor allem mit vielseitigen Verteidigungen anfüllte.67

In den europäischen Ländern und in Nordamerika berichteten die Zeitungen mit Interesse und meistens mit Sympathie von den Aktionen der Frauenrechtsbewegung. In Großbritannien erhoben Frauen schon in der Vorkriegszeit ihre Stimmen auch im Parlament: Sie störten die Parlamentsreden der Männer mit Zwischenrufen von der Ladies’ Gallery. Und in den Räumen des deutschen Reichstags tagten bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Gruppierungen der Frauenbewegung, wie der Verband fortschrittlicher Frauenvereine, und reklamierten ihren Anspruch auf Mitsprache im Parlament. Malte König verdeutlicht auch den Epochenwechsel, der sich durch den Einzug der Frauen auf die Parlamentsbänke vollzog: Die männlichen Delegierten verhandelten Politik nicht mehr unter sich, sondern mussten für ihre Äußerungen gegenüber ihren weiblichen Parteiangehörigen einstehen. Der Ton im Parlament, so Malte König, änderte sich.

Frauenrechtlerinnen redeten im Chor der öffentlichen Stimmen mit, bevor der Erste Weltkrieg dem ein Ende setzte: Sie erklärten selbstbewusst und zumeist im fortschrittsoptimistischen Ton der Reformzeit ihre Berufung zur Weltverbesserung, verwiesen auf die weibliche Friedfertigkeit, auf die Differenz von Frauen, auf ihren angeblich natürlichen Hang zur Fürsorge und Mutterliebe. Helene Lange sprach es 1896 offen aus: »Der rein männliche Staat in seiner starren Einseitigkeit hat sich eben nicht bewährt.«68 Und Bertha von Suttner beschwor 1906 in ihrer Ansprache zur Verleihung des Nobelpreises die Notwendigkeit, »die ganze militärisch organisierte Gesellschaftsordnung« neu zu strukturieren. Dafür sahen diese Frauen die Zeit gekommen.69

Von 1906 bis 1932 führten rund 40 Nationalstaaten das Frauenwahlrecht ein. Warum wird diese grundstürzende Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Welt so erstaunlich selten in die allgemeine Geschichte aufgenommen? Neben der Tatsache, dass Demokratiegeschichte vielfach die Frage nach dem Geschlecht ausblendet, mag eine weitere Ursache darin liegen, dass nur wenige Jahre später der Nationalsozialismus und faschistische Ideologien die Welt erneut veränderten und schließlich der Zweite Weltkrieg begann. Tatsächlich schienen sich die positiven Auswirkungen des Wahlrechts, auf die Feministinnen gesetzt hatten, in Grenzen zu halten. Auch nachdem Frauen wählten, wirkte Geschlecht vielfach stärker als die politischen Unterschiede, wie Harm Kaal für die Niederlande konstatiert. Frauen wurden weiterhin zum Schweigen gebracht (solange sie ihrer Garderobe mehr Beachtung als der Politik schenkten, sollten sie sich nicht in Politik einmischen, erklärten Männer den Niederländerinnen), und Frauen wurden als unmündige Wesen behandelt, die man nicht mit rationalen Argumenten überzeugen konnte. Birte Förster beschreibt in ihrem Text den zähen, aggressiven Widerstand gegen die Gleichberechtigung von Frauen in juristischen Berufen; und der Landtagspräsident der Hessischen Volkskammer wies die DDP-Abgeordnete Karoline Balser zurecht, als sie beklagte, dass keine einzige Parlamentarierin in die entscheidenden Ausschüsse gewählt worden sei. Die Frau, ihre Stimme erhebend und mit Macht ausgestattet im öffentlichen Raum, blieb eine Provokation, und die Warnung vor einer Vermännlichung von Richterinnen, Anwältinnen und anderen Frauen im Staatsdienst wurde wieder lauter. Lutz Vogel zeigt in seinem Aufsatz über Sachsen die Verdrängung der Frauen aus einflussreichen politischen Positionen. In Deutschland sank der Anteil der Parlamentarierinnen auf Reichsebene von 1919 bis 1933 von bemerkenswerten neun Prozent auf vier Prozent; erst 1980 würden die neun Prozent wieder erreicht werden. Marion Röwekamp legt die Hemmnisse gegen eine Reform des Familienrechts dar, das wesentlich zu einer Gleichstellung der Frau beigetragen hätte. Die Kontinuitäten der Repression blieben bestehen – trotz der Einführung des neuen Wahlrechts.

Die Kunde davon, dass Frauen politische Subjekte sein könnten, und die praktische Umsetzung dieses Wissens und seine Einübung: All das erwies sich als ein längerer und hochkomplexer Prozess, dessen Folgen umstritten blieben und der nicht zuletzt durch die Nationalsozialisten partiell annulliert wurde – eine Entwicklung, die wir in diesem Band vom 19. Jahrhundert bis tief ins 20. Jahrhundert analysieren. Wenn wir mit einem weiteren Begriff von Politik und Demokratie arbeiten, werden aber nicht nur die Misogynie demokratischer Traditionen deutlich, sondern auch die Aufbrüche. Fast nirgendwo ließ sich das Frauenwahlrecht im 20. Jahrhundert tatsächlich wieder annullieren, vielmehr breitete es sich auch weiterhin kontinuierlich aus. Frauen konnten sich neu definieren. Politikerinnen und Politiker etablierten in der Zwischenkriegszeit den Sozialstaat und vertieften ihn, indem sie viele der von den Reformerinnen und Frauenrechtlerinnen geforderten Besserungen umsetzten. Der Vergleich von der Zeit vor und nach der Einführung des Frauenwahlrechts zeigt, wie in den betroffenen Ländern die Frauenemanzipation zu einer signifikanten Erhöhung der Sozialausgaben führte.70 So entwickelte sich in ganz Europa ein altes Anliegen der Frauenbewegung zu einem zentralen Thema, das dann insbesondere nach 1945 vielfach ins Zentrum der Politik rückte: der Schutz der menschlichen Würde.71

1Prototypisch für diese Erzählung: Sean Wilentz, Rise of American Democracy. Jefferson to Lincoln, New York u. a. 2005, S. xix.

2Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991.

3Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main/New York 2005; Thomas Mergel, Kulturgeschichte der Politik, Version: 2.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, http://docupedia.de/zg/Kulturgeschichte_der_Politik_Version_2.0_Thomas_Mergel [29. 3. 2018]; Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung. Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: dies. (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2004, S.9–24.

4Vgl. etwa Edmund S. Morgan, Inventing the People. The Rise of Popular Sovereignty in England and America, New York 1989; Caroline Daley/Melanie Nolan (Hg.), Suffrage and Beyond. International Feminist Perspectives, New York 1994; Margaret L. Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009; Joanna Innes/Mark Philip (Hg.), Reimaging Democracy in the Age of Revolutions. America, France, Britain, Ireland 1750–1850, Oxford 2015. Zur Transnationalität der Frauengeschichte vgl. beispielhaft Anja Schüler, Frauenbewegung und soziale Reform. Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog, 1889–1933, Stuttgart 2004; Dawn Teele, Forging the Franchise. The Political Origins of the Women’s Vote, Princeton 2018; Malcolm Crook, L’Avènement du suffrage féminin dans une perspective globale (1890–1914), in: Landry Charrier (Hg.), Circulations et réseaux transnationaux en Europe (XVIIIe–XXe siècles), Berlin 2013, S. 57–68. Allerdings halten sich gerade im angelsächsischen Raum nach wie vor Sonderwegerzählungen, vgl. etwa Jad Adams, Women & the Vote. A World History, Oxford 2014, S. 261–277.

5Vgl. etwa Carole Pateman, The Disorder of Women. Democracy, Feminism, and Political Theory, Stanford 1989; Barbara Holland-Cunz, Feministische Demokratietheorie, Opladen 1998; Gundula Ludwig/Birgit Sauer/Stefanie Wöhl (Hg.), Staat und Geschlecht. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen feministischer Staatstheorie, Baden-Baden 2009; Jean L. Cohen/Andrew Arato, Civil Society and Political Theory, Cambridge, Mass. 1992.

6Paula Baker, The Domestication of Politics. Women and American Political Society, 1780–1920, in: The American Historical Revue 89/3 (1984), 620–647.

7Vgl. aus der reichhaltigen Forschung etwa Kerstin Wolff, »Stadtmütter«. Bürgerliche Frauen und ihr Einfluss auf die Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert (1860–1900), Königstein i.Ts. 2003. Angelika Schaser, Frauenbewegung in Deutschland 1848 bis 1933 (= Geschichte kompakt, Bereich Neuzeit), Darmstadt 2006; Gro Hagemann u. a. (Hg.), Women’s Politics and Women in Politics. In Honor of Ida Blom, Oslo 2000; Gisela Bock/Pat Thane, Maternity and Gender Politics. Women and the Rise of the European Welfare States, 1880s–1950s, London/New York 1991.

8Patemen, Beyond Suffrage, S. 343; Hedwig Richter, Transnational Reform and Democracy. Election Reform in New York City and Berlin around 1900, in: Journal of the Gilded Age and Progressive Era 15 (2016), S. 149–175.

9Sandra Stanley Holton, Feminism and Democracy, Women’s Suffrage and Reform Politics in Britain, 1900–1918, London 2003, S. 130; Ute Planert, Nation und Nationalismus in der deutschen Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 39 (2003), S. 11–18, hier S. 18; auch mit weiterer Forschung: Angelika Schaser, Zur Einführung des Frauenwahlrechts vor 90 Jahren am 12. November 1918, in: Feministische Studien 1 (2009), S.97–110, hier S. 107.

10Michael Geyer/Charles Bright, World History in a Global Age, in: The American Historical Review 100 (1995), S. 1034–1060, hier S. 1044–1047.

11Beispielhaft sei hier auf zwei Aufsätze mit Forschungsüberblick verwiesen: Ida Blom, Structures and Agency; Agency. A Transnational Compairison of the Struggle for Women’s Suffrage in the Nordic Countries During the Long 19th Century, in: Scandinavian Journal of History 27/5 (2012), S.600–620; Crook, L’Avènement du suffrage féminin; vgl. generell zur Forschung über das Frauenwahlrecht den Literaturüberblick im Beitrag von Kerstin Wolff und in der Einleitung.

12Vgl. Literatur in Fußnote 4; Daniel Rodgers spricht von einer »atlantischen Ära der Sozialpolitik« für die Zeit von 1870 bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Daniel T. Rodgers, Atlantiküberquerungen. Die Politik der Sozialreform, 1870–1945, Stuttgart 2010, S. 14f.

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