Nama Rupa

Der doppelgesichtige Tarot

und die enantiodrome Dynamik
seiner verborgenen Seite

Margot Ciupka,
meiner Mutter

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Theoretische Einführung

1. Entstehung und Bedeutung des Tarot

2. Die Dynamik archetypischer Zustände

Enantiodrome Dynamiken

3. Psychologische, divinatorische und esoterische Deutung der Karten

Psychologische Arbeit mit den Karten

Divinatorische Arbeit mit den Karten

Esoterische Deutung der Karten

Teil 2: Die doppelgesichtigen Karten

1. Die vier Aspekte

Vorderseite

Umgekehrte oder kopfüber liegende Vorderseite

Verborgene Seite oder Rückseite

Umgekehrte oder kopfüber liegende Rückseite

2. Praktischer Umgang mit den Karten

3. Legesysteme

Das große keltische Kreuz

Der kurze Weg

Das Pentagramm

Teil 3: Die Karten im Einzelnen

1. Die großen Arkana

0. Der Narr

I. Der Magier

II. Die Hohepriesterin

III. Die Herrscherin

IV. Der Herrscher

V. Der Hierophant

VI. Die Liebenden

VII. Der Wagen

VIII. Die Kraft

IX. Der Eremit

X. Das Rad des Schicksals

XI. Die Gerechtigkeit

XII. Der Gehängte

XIII. Der Tod

XIV. Die Mäßigkeit

XV. Der Teufel

XVI. Der Turm

XVII. Der Stern

XVIII. Der Mond

XIX. Die Sonne

XX. Das Gericht

XXI. Die Welt

2. Die kleinen Arkana

Stäbe

Kelche

Schwerter

Münzen

Anmerkungen

Teil 1: Theoretische Einführung

1. Entstehung und Bedeutung des Tarot

Ein Satz Tarotkarten besteht aus 78 Karten, die zwei sehr unterschiedliche Abteilungen bilden. 22 Karten werden seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als „Große Arkana“ bezeichnet und 56 weitere Karten als „Kleine Arkana“. Beide Abteilungen haben historisch vermutlich unterschiedliche Ursprünge. Die 56 Kleinen Arkana ähneln den 52 Karten des französischen Skatblatts. Es gilt als erwiesen, dass beide Kartenspiele denselben Ursprung haben. Dieser liegt vermutlich irgendwo in Asien, denn von China, Persien, dem Mogulreich in Indien und den türkischen Mamelucken weiß man, dass sich dort irgendwann während unseres Mittelalters Kartenspiele (ungewiss ist, ob desselben Ursprungs) verbreiteten.1 Um 1370 war eine Form dieses Spiels, das uns nicht erhalten geblieben ist, mit vier Sätzen und drei männlichen Hofkarten in Europa angekommen. Bekannt ist dieser Prototyp der heutigen Spielkarten uns nur, weil uns gesetzliche Verbote dieses Zeitvertreibs aus verschiedenen Regionen Westeuropas überliefert sind. Es ist sicher, dass es sich hierbei um einen Import aus türkischen oder maurischen Gebieten handelt, denn seine damaligen Bezeichnungen, naibbe, naipe etc., lassen sich vom arabischen Wort naib („Stellvertreter“) ableiten. Offenbar gebrauchte man die Namen von zwei der drei männlichen Hofkarten des arabischen Spiels zur Bezeichnung des gesamten Spiels, denn diese hießen „Herrscher“, „Stellvertretender Herrscher“ und „Zweiter Stellvertreter“. Aus ihnen entstanden in Westeuropa die Hofkarten König, Ritter und Bube. Erst später wurde ihnen die Königin als weibliche Hofkarte hinzugefügt. Während das Tarot die neue Tradition von somit jetzt vier Hofkarten fortführte, verlor das Skatblatt den Ritter und schrumpfte so auf die ursprüngliche Zahl von 52 Karten zurück, bereichert um eine weibliche anstelle einer männlichen Figur. Nach allem, was wir wissen, dienten diese Karten zunächst nur dem Zweck der Unterhaltung und erst später, durch die Kartenleger des 17. und 18. Jahrhunderts, erhielten sie eine divinatorische Bedeutung.

Die 22 Großen Arkana scheinen eine gänzlich andere Herkunftsgeschichte aufzuweisen. Historisch sind sie erstmals unter dem Namen trionfi („Triumphe“ oder „Trümpfe“) im Norditalien des 15. Jahrhunderts belegt. Dieses Wort, von dem das deutsche Wort „Trumpf“ indirekt abstammt, könnte mindestens drei Ursprünge haben: Erstens gab es in der norditalienischen Renaissance den Brauch so genannter Triumphzüge, bei denen Kostümierte und bunt geschmückte Festwagen durch die Straßen zogen. Die „Trümpfe“ könnten Nachbildungen dieser Festwagen sein. Zweitens existiert ein gleichnamiges Gedicht des Renaissancedichters Petrarca, in dem dieser einen Triumphzug beschreibt, bei dem die jeweils niedrigere Kraft von der nachfolgenden, stärkeren überwunden wird – die Keuschheit die Liebe und der Tod alles Vorhergehende überwindet. So könnten die Trumpfkarten als Spiel mit einer Hierarchie von „Triumphen“ ihre Inspiration aus Petrarcas Allegorie bezogen haben.2 Drittens existiert ein Wahrsagebuch für die Technik des Würfelns, das um 1500 entstanden sein könnte und dessen Titel den „Triumph Fortunas“, der Glücksgöttin, verkündet. Möglicherweise gab es schon frühere Bücher dieser Art und sie bildeten eine Vorlage für die spätere Ausarbeitung von „Tr(i)umphkarten“ anstelle von Würfeln.3

1425 scheint der Maler Michelino da Besozzo das vielleicht erste derartige Spiel mit insgesamt 60 Karten erstellt zu haben, das aber 16 griechische Gottheiten und nicht die heute bekannten Motive der Großen Arkana zeigte und uns leider nicht erhalten geblieben ist. Die frühesten teilweise noch erhaltenen Sets der 78 Tarotkarten (italien. tarocchi) bzw. der darin enthaltenen trionfi stammen aus Mailand. Dabei handelt es sich um das ca. 1441 entstandene Visconti-Modrone-Tarot, das in der Yale-Bibliothek aufbewahrt wird (deshalb auch: Cary-Yale-Tarot genannt), von dem 11 Trumpfkarten erhalten sind, die im Unterschied zu anderen Versionen auch die drei theologischen Tugenden enthalten; das Brambilla-Tarot, das nur noch zwei Trumpfkarten enthält und um 1447 entstanden sein könnte; sowie das vermutlich wenig später, 1450 oder 1452, entstandene Deck der Mailänder Familien Visconti und Sforza, das oft kurz als Visconti-Tarot bezeichnet wird und von dem alle Trumpfkarten außer zweien (dem Teufel und dem Turm) erhalten sind. Um 1470 entstand vermutlich in der norditalienischen Stadt Ferrara ein anderes, heute in Paris aufbewahrtes, frühes Tarot-Deck, das der Ferrarischen Familie Este gehörte. Alle diese Kartensätze besitzen Ähnlichkeiten, aber auch charakteristische Unterschiede, so dass nicht von einem einheitlichen frühen Urtyp der Trumpfkarten gesprochen werden kann.

Interessanterweise stammen sechs der erhaltenen 20 Karten des Visconti-Decks nach dem derzeitigen Stand der Forschung nicht von demselben Künstler wie die übrigen Karten. Aufgrund schriftlicher Hinweise aus anderen Quellen der Zeit kann gefolgert werden, dass diese sechs Karten (sowie eine der beiden verlorenen) später ergänzt wurden und das ursprüngliche Set nur aus 14 Trumpfkarten bestand. Erst um 1500 ist die heutige Zahl von 22 Trumpfkarten sicher belegt, deren Motive und Reihenfolge (die Nummerierung auf den Karten selbst fehlte) gemäß einer Aufstellung aus dieser Zeit, von einigen Ausnahmen abgesehen, den späteren Tarotdecks entsprach.4 Nicht viel später als in Norditalien, vermutlich ebenfalls um das Jahr 1500, tauchten die Tarotkarten mit ihren Trümpfen im nicht weit entfernten Marseille auf. Wie diese Karten aussahen, können wir nicht wissen, denn leider ist uns diese ursprüngliche Marseiller Variante nicht erhalten geblieben. Allerdings kennen wir die von Nicolas Conver um 1760 geschaffenen Karten, die heute die ältesten aus der Marseiller Tradition darstellen. Falls Conver seine Abbildungen an ältere Vorbilder anlehnte und der frühe Marseiller Tarot bereits dieselben Bilder aufwies, dann haben sich die 22 Mailänder Trumpfkarten irgendwann zwischen 1500 und 1760 in Marseille zu komplexeren, symbolisch aufgeladeneren Bildern entwickelt. Denn es ist die Marseiller – nicht die Mailänder – Bildgestaltung der Trumpfkarten, die sich bis heute in vielen Gestaltungen fortsetzt und auch im aktuell am weitesten verbreiteten Tarotdeck weiter fortwirkt, dem so genannten Rider-Tarot (benannt nach seinem Verleger), das von der Künstlerin Pamela Smith und dem Okkultisten Arthur Edward Waite zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde.

Diese historische Abstammung der Tarotkarten widerspricht allerdings dem esoterischen Anspruch mancher Tarotfreunde, wonach die Karten ihren Ursprung im alten Ägypten oder in Indien hätten. Bereits einer der Pioniere der esoterischen Tarotinterpretation, Court de Gébelin (1719-84), behauptete, der Tarot sei das Produkt ägyptischer Priester, die in ihm der Nachwelt ihre Geheimlehren zu übermitteln trachteten. Das ist aber historisch nicht glaubhaft und überdies als Prädikat völlig unnötig, denn selbst wenn die Idee zum Tarot zunächst nur aus dem Interesse des Menschen am Spiel entstanden sein sollte und der Tarot als Spielkartenset nicht vor dem 15. Jahrhundert entstand, ist es möglich, dass die Bilderwelt der großen Arkana von Anfang an mit altem esoterischem Gedankengut verbunden wurde. Esoterisch heißt im Fall der großen Arkana hermetisch. Die spätantiken Lehren, die unter dem Namen des Hermes Trismegistos (deshalb „hermetisch“) zunächst in der Spätantike entstanden, waren im Italien der Renaissance gerade wiederentdeckt worden und erfreuten sich großer Beliebtheit in gebildeten Kreisen. Es ist geradezu zu erwarten, dass man die Bilder der Großen Arkana mit Motiven dieser in Mode gekommenen esoterischen Lehre verband.

Hermes Trismegistos (wörtlich: „der dreifach größte Hermes“) ist eine legendäre Gestalt, die eine Kombination des ägyptischen Gottes Thot und des griechischen Gottes Hermes bildet. Thot, Gott der Wissenschaft und Schreibkunst sowie Seelenführer, wurde schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert als „der dreimalgrößte“ („trismegistos“) angerufen. Die Griechen setzten ihn mit ihrem Gott Hermes gleich, dem Psychopompos, dem Seelenführer. Es war für die antiken Kulturen nichts Ungewöhnliches, die eigenen Gottheiten in den Göttern fremder Völker wiederzufinden. Der Alleinvertretungsanspruch, den der ägyptische Monotheismus des Sonnengottes und der israelitische Jahwe-Glaube einführten, war anderswo völlig unüblich. Zudem erkannten die Griechen Ägypten als das ältere, das magischere Kulturland an (so Platon im Timaios) und führten viele ihrer eigenen spirituellen Lehren auf ägyptische Ursprünge zurück: so soll Pythagoras für seine esoterischen Lehren ägyptische Lehrer gehabt haben. Hermes Trismegistos ist ein menschgewordener Gott, der die Geheimnisse des Kosmos von seinen eigenen Lehrern erfährt und das Erfahrene zur Belehrung der Menschheit weitergibt. Eine ganze Reihe von antiken Schriften beruft sich auf Hermes Trismegistos als Autor, insbesondere solche, die im so genannten Corpus Hermeticum gesammelt wurden.

Die hermetischen Texte, die meist in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten entstanden, beschreiben die Beziehung der Welt zur Sphäre des Göttlichen. Sie ähneln in ihren Grundaussagen den esoterischen Lehren, die man gnostisch nennt, sind aber mit diesen nicht gleichzusetzen. So ist ein zentrales Thema gnostischer wie hermetischer Schriften die Gefangenschaft der Seele in der materiellen Welt, wobei das gesamte Geschehen jeweils eingebettet ist in eine komplexe Kosmologie, in der Planetengötter und andere geistige Wesen eine spezifische Rolle bei der Entstehung der jetzigen kosmischen Situation spielen. Im Unterschied zu den meisten gnostischen Strömungen wird in der hermetischen Literatur die materielle Welt aber nicht als völlig verderbtes Seelengrab betrachtet, sondern als Ausdruck des Göttlichen und mit diesem im Prinzip von „wie oben, so unten“ eng verbunden. Der Abstieg der Seele in die Materie wird nur teilweise als „Sündenfall“ und Strafe angesehen, teilweise aber auch als positive Absicht der Gottheit, damit der Mensch sie von unten her verehre und verstehe. Dem schmerzhaften Abstieg der Seele in die Sinnenwelt folgt das Leben hier auf der Erde, das als Prüfung gedacht ist und schließlich durch rechten Lebenswandel und mystische Schau wieder zum Aufstieg in die göttlichen Sphären führt.

Dem Tarotforscher Ronald Decker5 zufolge lassen sich in den Bildern der Großen Arkana Symbole entdecken, die eben diesem Dreischritt entsprechen: So sollen die ersten sieben Karten der Großen Arkana den Abstieg, die nächsten sieben den irdischen Lebensweg und die letzten sieben den Wiederaufstieg der Seele zu Gott symbolisieren (nicht eingerechnet den Narren, der sich als Null-Karte außerhalb dieses kosmischen Systems befindet). Es ist schwer zu sagen, ob es ausreichende Belege für diese These gibt. Die hermetische Tradition ist aber ein wesentliches Kernstück westlicher Esoterik. Wer den Tarot als esoterisches Lehrbuch verstehen will, das den Menschen auf den Pfad der Erkenntnis der Göttlichkeit des Kosmos und seiner eigenen Seele führen will, kommt nicht darum herum, die Tarotbilder, insbesondere die Großen Arkana, mit hermetischen Deutungsweisen zu lesen. In Teilen soll dies auch in diesem Buch versucht werden. Aber der Hermetismus ist nicht die einzige esoterische Lehre, die sich mit dem Tarot fruchtbar verbinden lässt.

Die vier Sätze der Kleinen Arkana nämlich sind weniger durch den Hermetismus beeinflusst, in ihrer Deutung aber durch eine andere spirituelle Geheimlehre. Während sie ursprünglich sicherlich nur als Spielkarten gedient haben, dürften die Kartendeuter des 18. Jahrhunderts (erst von da an ist der divinatorische Gebrauch der Tarotkarten belegt) Wissen aus der Tradition der Kabbalah mit ihnen in Verbindung gebracht und sie somit um eine esoterische Ebene bereichert haben.6 Diese Verbindung scheint durch einen Mann mit dem Pseudonym Etteilla, eine echte Berühmtheit unter den Pariser Kartendeutern des 18. Jahrhunderts, bekannt geworden zu sein. Es war Etteilla, nicht sein oft wegen seiner Deutung des Tarot als ägyptische Geheimlehre zitierter Zeitgenosse Court de Gébelin, der 1770 das erste systematische Lehrbuch des Kartendeutens veröffentlichte (hier allerdings noch nicht mit dem Tarotblatt, das er erst später verwendete).7 Obwohl oft von späteren Okkultisten geschmäht, basieren die heutigen Interpretationen der Tarotkarten immer noch auf einem System, das Etteilla verwendete. Aber erfunden hat er es vermutlich nicht. Ron Decker zufolge könnte die Tradition, der Etteilla folgte, auf der Schrift „Tore von Licht“ des spanischen Kabbalisten Gikatilla (13./14. Jahrhundert) beruhen. Gikatilla erläutert die zehn „Sephiroth“, die Elemente des zentralen kabbalistischen Konzepts vom Lebensbaum, in einer Weise, die an Etteillas Bedeutungszuschreibung der Kleinen Arkana entfernt erinnert. Da Gikatilla den Lebensbaum von unten nach oben hin, das heißt in der Reihenfolge von der zehnten bis zur ersten Sephirah, erläutert, erklärt sich daraus der merkwürdige, bis heute in Tarotbüchern übliche Brauch, die kleinen Arkana von zehn an absteigend bis eins anzuordnen. Dies ist nur eine von Decker aufgezeigte Parallele zwischen Eteilla und Gikatilla, aber historische Belege für die Existenz einer solchen Traditionslinie fehlen.

Das heute populärste Tarotdeck von Waite und Smith basiert, wie gesagt, auf der Bildersprache des Marseiller Tarot, was die großen Arkana angeht, versieht aber als erstes Tarotspiel auch die Kleinen Arkana mit Bildern. Die Interpretationen, die Waite in seinem begleitenden Buch The Pictorial Key to the Tarot8, als traditionelle Deutungen anführt, lassen sich teilweise noch bis zu Eteilla zurückverfolgen. Dabei hat Waite auch vertiefende Deutungen eingeführt, die er betont kryptisch hält, um ihren esoterischen Gehalt nicht zu verwässern oder um ihn künstlich zu betonen. Dabei gilt es zu denken, dass die Deutungen, die Waite selbst seinen Karten gibt, nur selten genauer auf das eingehen, was in den Bildern der Künstlerin Pamela Smiths ausgedrückt wird. Das wird besonders bei den Kleinen Arkana deutlich, die ja im Rider-Waite-Tarot erstmals überhaupt bildhaft ausgemalt wurden. Waites Deutungen bleiben hier meist bei den traditionellen Interpretationen stecken, während die scheinbar von ihm ersonnenen Abbildungen von Pamela Smith oft noch in ganz andere, tiefere Richtungen weisen. Man mag sich fragen, ob die Ideen zu den eindrücklichen Bildern der kleinen Arkana, die mit zum Ruhm des Rider-Tarot beitrugen, wirklich von Waite inspiriert wurden. War es am Ende nicht vor allem die Leistung der Künstlerin Pamela Smith – und nicht diejenige Waites –, der es gelang, durch sie ein komplexes Kabinett menschlicher Situationen und Zustände zu schaffen?

Auch das hier erstmals vorgestellte doppelseitige Tarotblatt beruht auf Waites und Smiths Kartendeck, allerdings unter Berücksichtigung seines Ursprungs in den Mailänder und Marseiller Karten.9 Ihre Deutungen orientieren sich ebenfalls an der Waite’schen Tradition, insbesondere aber an den herausragenden Deutungen Rachel Pollacks. In ihrem Buch „Tarot - 78 Stufen der Weisheit“ gelingt es ihr, die Karten aus einer ausgewogenen Mischung von esoterischer, symbolischer Deutung und psychologischer, alltagsnaher Menschenkenntnis heraus zu erklären. Sicherlich werden manche die darin gegebenen Erläuterungen für nicht tief genug empfinden. Sie ziehen reichlich esoterischer ausgeschmückte Deutungen vor oder wollen alles über die eingebetteten Symbole in Erfahrung bringen, was man mit esoterischer Spekulation in sie hineinlegen könnte. Bücher, die solches versuchen, enden meist in freier Assoziation der einen oder anderen Art, die nicht notwendigerweise noch etwas mit der Karte selbst zu tun hat. Entweder knüpfen sie an das Tarotbild allerhand hermetisch-gnostische und theologische Spekulationen oder erzählen alles über den Symbolismus von Zahlen und Bildkomponenten, ohne unterscheiden zu können, ob diese freien Assoziationen etwas mit dem Gemeinten zu tun haben oder nicht. Dieses Gemeinte ist aber weder offensichtlich (dann müsste es nicht interpretiert werden) noch ist es willkürlich (wenn man die historische Herkunft und Tradition der Karten berücksichtigt), sondern erhellt sich in der Schnittmenge von strenger Reduktion auf die allgemein bekannte Tradition der enthaltenen Symbole und die allgemein bekannte Tradition der Deutung der jeweiligen Karte.

Allerdings mag man sich doch fragen, ob die überhaupt vorhandenen Interpretationsversuche der Karten schon deren mögliche Tiefe ausreichend erfassen. Ist in jeder Tarotkarte als universelles Symbol menschlicher Strukturen (Archetypus) oder Situationen nicht noch eine tiefere Ebene verborgen, die sich uns in den herkömmlichen Abbildungen nur unzureichend mitteilt? Dieser beständige Eindruck lag dem ursprünglichen Entwurf eines Tarotdecks zugrunde, das nicht nur die offensichtliche (esoterische oder psychologische) Bedeutung einer Karte aufzeigen, sondern das in ihr Verborgene zugleich enthüllen sollte. Was aber ist in einer psychischen oder äußeren Situation verborgen, die sich in Tarotbildern manifestiert? Die Tiefenpsychologie hat verschiedene Modelle entwickelt, wonach sich die inneren Seelenzustände eines Menschen bilden. Allen liegt die Idee einer inneren Dynamik zugrunde, einer gewissermaßen gesetzmäßigen Umwandlung der einen äußeren Situation oder des einen inneren Zustands in einen anderen. Der Tiefenpsychologe C. G. Jung kennt aus seinen Forschungen der europäischen esoterischen Tradition eine besondere Form des Umschlags vom einen ins andere, die er enantiodrom („ins Gegenteil führend“) nannte. Viele Tarotkarten enthalten Dichotomien, Entgegensetzungen von These und Antithese, Schwarz und Weiß, Yin und Yang. Ist also ihr eigenes Gegenteil in ihnen bereits enthalten? Bei genauerer Analyse der Karten zeigt es sich, dass sie nicht immer ihr genaues Gegenteil, aber doch eine Entgegensetzung irgendeiner Form mittransportieren, die für gewöhnlich aber nicht bewusst mitgedacht und schon gar nicht mitgesagt wird. Dieses quasi „enantiodrome Prinzip“ jeder psychischen Situation könnte man zuweilen auch als ihre Schattenseite bezeichnen: Wo Licht ist, da ist auch Schatten, heißt es, und wo eine positive Situation beschrieben wird, da wird auch etwas Negatives ausgeklammert. Dieses Ausgeklammerte, Verborgene ist die Botschaft der Karte, die nicht deutlich genug ausgesagt wird, wenn man nur ihre Oberfläche berücksichtigt. Die Karten bergen also ein psychologisches oder esoterisches Geheimnis, das sich mit Hilfe einer tiefenpsychologischen Ausdeutung gemäß einiger Prinzipien C. G. Jungs lüften ließ. Diese Entdeckung ließ es notwendig werden, sich zu überlegen, wie man die verborgenen Schattenaspekte der Karten sichtbar werden lassen konnte. Dies schien nur möglich über die Anreicherung jeder Karte mit einem weiteren Bild. Da es sich bei der Ergänzung um ihre sinnbildliche Rückseite handelte, lag es nahe, die unbedruckten Rückseiten der Karten als Ort für die Ansiedlung dieses Bildes zu verwenden.