3Hanno Rauterberg

Wie frei ist die Kunst?

Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus

Suhrkamp

7Einleitung oder: Wie unfrei ist die Gegenwart?

Die Kunst war immer auch Gegner, ein Hassobjekt, ein Popanz, der unbedingt zerstört werden muss. So ziemlich jedes Mittel schien dafür recht. Gleich mehrfach kam ein Teppichmesser zum Einsatz, um die Gemälde von Barnett Newman aufzuschlitzen. Mit einem Hammer ging es gegen den David von Michelangelo, mit einem Hackebeil gegen die Venus vor dem Spiegel von Diego Velaźquez. Sogar Schrotflinten dienen gelegentlich der Kunstvernichtung, so wie bei einer Zeichnung von Leonardo da Vinci, die man aus drei Metern Entfernung beschoss. Das Lieblingsobjekt der Ikonoklasten ist und bleibt aber die Mona Lisa: Sie wurde mal mit Säure angegriffen, mal mit roter Farbe, einer warf einen Stein auf das Bild, ein anderer einen Kaffeebecher, erworben im Souvenirshop des Louvre. Nichts in der Kunst ist sicher.

Offenbar weckt sie in einigen Menschen das schier unbezähmbare Verlangen, ihre eigene sterbliche Existenz mit der Unsterblichkeit der Kunst zu konfrontieren. Ungezählt sind die Opfer dieser Wut, unüberschaubar die politischen, religiösen, manchmal auch dem Irrsinn geschuldeten Motive der Täter. Diese Täter wähnen sich nicht selten als die eigentlichen Opfer, sie sagen, ästhetische Übermächte hätten sie dazu verführt, einem Porträt die Augen auszustechen oder einer Skulptur den Kopf abzuschlagen. In jedem Fall zeigt sich im Furor der Attacke, welche Macht die vermeintlich ohnmächtige Kunst zu besitzen vermag. Im Augenblick ihrer Auslöschung offenbart sich ihre still gehütete Gewalt.

Allerdings braucht es so weit gar nicht erst zu kommen. In 8einer liberalen Gesellschaft, die viel gibt auf ihre Museen, ihre Theater, Kinos und Konzerthäuser, reicht oft schon die angedrohte Vernichtung oder Verdrängung eines Werks, um allgemeines Entsetzen auszulösen ‒ und damit die verblüffende Wirkmächtigkeit der Kunst zu bestätigen. So war es, als ein Gedicht von Eugen Gomringer auf der Fassade einer Berliner Hochschule übermalt werden sollte ‒ und allein dieser Beschluss die höchsten politischen Kreise der Bundesrepublik derart aufbrachte, dass die Kulturstaatsministerin Monika Grütters von einem »erschreckenden Akt der Kulturbarbarei« sprach und der Deutsche Kulturrat vor den »Konsequenzen einer solchen Zensur« warnte.1 Ähnlich verhielt es sich, als in Manchester vorübergehend ein Nymphen-Bildnis des Präraffaeliten John William Waterhouse abgehängt wurde ‒ und der Kunsthistoriker Horst Bredekamp dies prompt als Indiz dafür verstand, dass die Freiheit der Kunst gefährdet sei: »Uns trennt nurmehr eine papierdünne Wand vor dem, was die ›Entartete Kunst‹ und der gedankliche Rahmen der Säuberung einmal fabriziert haben.«2

In beiden Fällen ging es nicht um Teppichmesser oder Säu9re, nicht um Zensur oder ikonoklastische Zerstörung, es ging lediglich darum, ein Kunstwerk dem öffentlichen Blick zu entziehen. Das Gomringer-Gedicht wurde nicht ausgelöscht und für immer verboten; jeder, der möchte, kann es weiterhin lesen, in gedruckter oder digitaler Form, einzig auf der besagten Berliner Häuserwand nicht. Das Waterhouse-Gemälde musste nur wegen einer institutionskritischen Performance für kurze Zeit ins Depot; nun wird es ‒ nach einer Abwesenheit von wenigen Tagen ‒ wieder in der ständigen Sammlung des Museums in Manchester gezeigt. Die alarmierten Reaktionen mögen somit auf den ersten Blick verwundern. Grütters wie Bredekamp verweisen mit ihrer Wortwahl ‒ »Kulturbarbarei«, »Säuberung« ‒ auf jene kunstfeindlichen Zeiten, als tatsächlich Bücher und Bilder verbrannt wurden, man Künstler verfolgte und die Freiheit der Kunst systematisch zersetzte. Von dieser Art systematischer Auslöschung kann indes in den liberalen Demokratien des Westens keine Rede sein. Wenngleich rechtspopulistische Parteien davon träumen mögen, die Kritik der Künstler unterdrücken zu können, sind doch die rechtlichen Spielräume des Sag- und Darstellbaren nur in Ausnahmefällen eingeschränkt worden. Die Kunstfreiheit genießt in Deutschland als Grundrecht nach wie vor uneingeschränkten Schutz, ja, über die Jahre haben sich die Grenzen des Sag- und Zeigbaren aus Sicht der Gerichte sogar noch ausgeweitet.3

Die »Kulturbarbarei«, will man die Diagnose für einen Augenblick gleichwohl ernst nehmen, vollzieht sich offenbar im Rücken des Rechts. Es ist eine »Diktatur«, die inmitten 10der Freiheit erwächst; eine »Säuberung«, die keiner staatlichen Schergen bedarf, um bedrohliche Ausmaße anzunehmen. Diese Zerstörung der Kunst, folgt man Grütters und Bredekamp, muss nicht handgreiflich werden, um ihre destruktive Macht zu entfalten.

»Die Rolle der Bilder«, so hat es der Kunsthistoriker und Medientheoretiker Hans Belting dargelegt, »wird manifestiert in den symbolischen Handlungen, welche Anhänger und Gegner schon immer an ihnen vollzogen, seit man überhaupt Bildwerke errichtete.«4 Vor allem dieser Symbolcharakter ist es, der die legalistischen Erwägungen und möglichen Einwände der Vernunft in den Hintergrund treten lässt. Sie werden überblendet von dem Gefühl, es stehe etwas weit Grundsätzlicheres auf dem Spiel als das, was sich auf dem Rechtswege einklagen lässt: jene gesellschaftliche Übereinkunft, aus der die Gesetze erst hervorgegangen sind. In Abwandlung des bekannten Diktums von Ernst-Wolfgang Böckenförde ließe sich sagen: Die Kunstfreiheit lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann.5 Und die nun, geschützt nur von einer »papierdünnen Wand«, gefährdet scheinen.

In diesem Sinne wäre das Überpinseln eines Gedichts nicht deshalb ein Akt der »Kulturbarbarei«, weil Gomringers Verse damit aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht würden. Vielmehr ist es die »symbolische Handlung«, die viele beunruhigt: Aus dieser Handlung spricht ein gewandeltes Verständ11nis dessen, was die Freiheit der Kunst noch bedeutet und verlangt.

Mit diesem Wandel vor allem will sich dieser Essay befassen. Mit einer Zeit, die unbeschränkter ist denn je ‒ und zugleich das Bedürfnis nach starker Befestigung, nach neuen Grenzen hervortreibt, so dass manche den Eindruck haben, dass »unter dem Begriff der Toleranz Intoleranz gelebt« werde und »unsere Gesellschaft nicht mehr weit von einer Gesinnungsdiktatur entfernt« sei.6 Wie frei die Kunst denn tatsächlich ist und wie frei sie sein soll, was sie sich herausnehmen darf und welche Rücksichten sie üben muss, um all diese Fragen ist ein Kulturkampf entbrannt, der mit überraschender Schärfe geführt wird und in dem nicht zuletzt die tiefe Krise des Liberalismus zutage tritt.

Nie war die Freiheit der Kunst eine totale Freiheit, das ist bekannt: Sie wird durch andere Rechte begrenzt, wenn es um den Schutz der Jugend oder den Persönlichkeitsschutz geht. Ebenso kennt die Freiheit materielle Grenzen, ein Künstler muss es sich leisten können, seinem freien Schaffen nachzugehen, ungezwungen von finanziellen Nöten. Zudem kommt es vor, dass die Kunst ihre Autonomie freiwillig preisgibt und sich in den Dienst der politischen oder ökonomischen Macht stellt. In solchen Fällen entwirft die freie Kunst ein unfreies Bild ihrer selbst, sie erscheint auf postautonome Weise als befangen.7

12Doch widmet sich dieser Essay nur am Rande diesen juristischen, politischen und ökonomischen Aspekten der Kunstfreiheit, denn in gewisser Weise sind sie nachgeordnet. Sie gewinnen ihr Gewicht erst durch eine ideelle Aufladung der Freiheit. Die Kunst ist frei, weil sie etwas bedeutet. Was diese Bedeutung ausmacht und worin also die Freiheit gründet, musste in der Moderne immer wieder ausgehandelt werden und wird nun, in der Digitalmoderne, auf denkbar grundsätzliche Weise in Zweifel gezogen. Es ist ein Zweifel am Wert der Freiheit, und er macht aus dem Streit um die Kunst einen gesellschaftlichen Konflikt.

Die Frontverläufe dieses Kulturkampfs abzuschreiten ist schon deshalb erhellend: Dort lässt sich besichtigen, wie Ausstellungen verhindert, Theaterstücke abgesetzt, Schauspieler aus Filmen herausgeschnitten werden. Und ebenso wird sichtbar, wie sehr sich das geistige Klima wandelt und das Wertebild der liberalen Gesellschaft in Bewegung gerät. Diese Bewegung verhilft der Kunst zu unerwarteter Brisanz, verwickelt sie in ungewohnte Konflikte und verändert ihren Status.

In der Moderne war es der avantgardistische Impetus, der für Brisanz sorgte: Die Kunst nahm sich die Freiheit, das Bewährte zu überschreiten und sittliche Grenzen zu queren. Ihr Ziel war es, die Grenze zwischen Kunst und Leben zu durchstoßen.8 Sie war eine Agentin der Öffnung. Nun, in der Digitalmoderne, scheint sich das transgressive Wirken zu erschöpfen. Die entgrenzende Weitung ist zur bestimmenden Bewegungsform der Epoche geworden, so gut wie alle Gewissheiten beginnen sich in ein Post oder Trans umzuformen, ins Postpolitische, Transnationale, Postfaktische, Transkulturelle, Postautonome, Transgenderige, Posthuma13nistische. Auch das Retroaktive und das Regressive gehörten zur Gegenwart, doch zumeist hat sie sich aufs Queren und Zurücklassen verlegt, nicht auf ein Vorwärtsstreben. Da sich zugleich weite Teile der Welt in Datenwogen verwandeln, die nach Surfern verlangen, nach Menschen, die sich aufs Gleiten verstehen, auf ein Leben in permanenter, sich brechender Veränderung, verändert sich ebenfalls das Freiheitsversprechen der Kunst. Aus einer Agentin der Öffnung, so möchte es dieser Essay zeigen, wird die Emissärin einer abgrenzenden Vergewisserung, für viele Einzelne und mehr noch für etliche Kollektive.

Lange war das Museum ein bewährtes Medium solcher Gemeinschaftshoffnung. Hier, so hieß es, werde auf alle Zeit verwahrt, was nach freier Übereinkunft als wertvoll ausgehandelt worden sei. Dieser hehre, nie eingelöste Anspruch eines Freiheitsraums, in dem die Gesellschaft ein Bild ihrer Ideale ausformen könne, war deshalb so attraktiv, weil er widerstrebende Sehnsüchte zu befrieden wusste: Hier hatte die Einzigartigkeit ihren Ort, das unverwechselbare Kunstwerk, geschaffen vom Künstler-Unikum. Zugleich wurde die Einzigartigkeit, die immer auch eine Überwindung des Tradierten meinte, eingebettet in die große, traditionsgeprägte Erzählung des Museums. So ist hier eine Form von konsensualisierter Konsenserweiterung oder sogar -störung zu bewundern. Das Individuelle wird aufgehoben im Allgemeinen, das Ästhetische im Gesellschaftlichen. Man nannte es Fortschritt.

Die Digitalmoderne, in ihrem Wesen nonlinear, entwickelt eine andere Dynamik. Sie lässt sich als Ermächtigung beschreiben, denn im Museum, das immer ein durchmachteter Ort war, wirken nun Kräfte, die sich in den Foren des Netzes organisieren und über soziale Medien wie Twitter, Facebook oder Instagram rasch ein gewaltiges, ja globales 14Echo finden. Bevorzugt über Petitionen artikuliert sich die Dreinrede Einzelner, ein Klicktivismus, der rasch zum Protest der vielen anschwillt und beispielsweise verlangt, ein Künstler solle wegen unsittlichen Verhaltens nicht länger geduldet, ein Bild, das manchen anstößig erscheint, nicht länger gezeigt werden. Man könnte es die Demokratisierung des Museums nennen, allerdings folgt sie nicht allein anderen Bewertungsmustern als bislang, sie setzt tendenziell auch auf den Ausschluss des Störenden. Sie sucht nicht den Konsens, indem sie das Abweichende schätzt und einbettet. Sie sucht den Konsens durch Aussonderung des Abweichenden.

Nun war das Museum in seinem bisherigen Selbstverständnis ebenfalls kein Raum der totalen Inklusion, im Gegenteil. Jede Sammlung muss eine Auswahl treffen, sie will das Bessere vom Guten scheiden und muss dabei notwendigerweise im Bannkreis je aktueller Wertebilder bleiben. Doch trifft sie ihre Auswahl in dem Bestreben, eine Sammlung der Allgemeinverbindlichkeit zu werden. Es ist ein Bestreben, das zwingend scheitern muss, denn das Verbindliche ist dem Wandel und der Neubewertung ebenfalls unterworfen. Aber immerhin, die klassische Moderne zielte auf das Allgemeine und Verbindende, während in der Digitalmoderne ein anderes leitendes Interesse an Bedeutung gewinnt: eine somatische Kunsterfahrung, uneinholbar von semantischen Einwänden. Die Empfindungen des Einzelnen sind das, worauf es ankommt.

Sicher wäre die Kunst nichts ohne den empfindenden Menschen; berührt sie ihn nicht, vermag sie keine Eigenmacht zu entwickeln. Allerdings neigen die Foren des Netzes dazu, statt der Empfindsam- die Empfindlichkeit der Einzelnen zu kultivieren, wodurch sich ohnehin verbreitende »ich-bezogene, tendenziell narzisstische Fühl- und Denkmuster« (Ute Fre15vert) noch verstärken. Im digitalen Raum finden die Einzelnen zu Affektgemeinschaften zusammen, die sie in ihrer Empfindlichkeit bestätigen. Ein Kunstwerk, das als bedrohlich wahrgenommen wird, kann solche Affektgemeinschaften in ihrem Zusammenhalt stärken und verschafft ihnen ein emotional attraktives Ziel, nämlich die Unterbindung, vielleicht sogar die Zerstörung des Werks. Ein Kampf um Anerkennung und Macht entbrennt, in dem es stets darum geht, die Wirksamkeit der Kunst einzuhegen: Sie soll Rücksicht nehmen auf Partikularinteressen, die sich in ihr oder in Abgrenzung zu ihr definieren.

Für die Kunst ist es eine höchst ungewohnte Konstellation. Bislang war sie selbst das Partikularinteresse, sie verlangte Rücksichtnahme und konnte sich dabei auf ihre Freiheit berufen. Sie nahm sich das Recht heraus, nicht nach gesellschaftlichen, sondern nach ihren eigenen Maßstäben beurteilt zu werden. Und erst dieser idealistische Autonomieanspruch machte sie glaubwürdig, stark und frei. Wenn diese Freiheit bedroht war, dann entweder von Einzelnen, die mit Hammer oder Kaffeebecher ihre persönlichen Phobien am Kunstwerk auslebten, ohne sich dabei von einer Affektgemeinschaft des Netzes getragen zu wissen. Oder aber es waren machtvolle Institutionen, die gegen die Zumutungen der Kunst vorgingen, klerikale Kreise, die blasphemische Äußerungen unterbinden, konservative Parteien, die alles Unsittliche und Unzüchtige verbieten wollten. Dieser Protest trat im Namen der Mehrheit auf, im Namen der Gesellschaft, und damit waren die Fronten klar gezogen. Nun aber sind es nicht Staat und Obrigkeit, die der Kunst strenge Grenzen setzen wollen. Es sind Kräfte, die sich selbst oft als links und progressiv begreifen und über Jahrzehnte für die Liberalisierung der Künste eingetreten waren.

16Allein im Reich der freien Ästhetik, davon war man überzeugt, würde sich eine Wahrheit aussprechen, eine Sinnlichkeit ereignen, ohne die utopisches Denken nicht zu haben wäre. Kunst war Aufbruch, Aufbruch war Befreiung, und so hatte die Kunst notwendig schrankenlos zu sein. Dieser Glaubenssatz, von manchen als Dogma verteidigt, von anderen als hohle Phrase belächelt, trug die meisten Künstler der Moderne und rechtfertigt bis in die Gegenwart hinein, dass Museen errichtet, Hochschulen betrieben, Preise ausgelobt werden. Doch durchzieht längst ein Schisma das linksliberale Milieu, über das selten offen debattiert wird und das gerade deshalb ungeahnte Ängste freisetzt.

Die einen halten fest am bewährten Idealismus, dem zufolge die freie Kunst immer auch den befreiten Menschen meine. Andere hingegen bekämpfen den Traum von der Uneingeschränktheit: Im Namen benachteiligter Gruppen verlangen sie eine Zensur von unten. Die Freiheit der Kunst sei stets die Freiheit der Privilegierten gewesen und also müsse sie neuen Regeln unterworfen werden. Wer tatsächlich alle Menschen befreien wolle, so die Überzeugung, dürfe die Unfreiheit der Kunst selbstverständlich in Kauf nehmen.

In den neuen Kulturkämpfen, geprägt von Tribalisierung und Privatisierung, wird nicht wie einst der »gute Geschmack« der Mehrheit oder der »gesunde Menschenverstand« zum Argument, um die Künstler in ihrem Tun einzuschränken. Stattdessen sind es Minderheiten, die sich auf ihre Ängste und unguten Gefühle berufen, um gegen gesellschaftliche Mehrheiten zu opponieren. Nicht das Allgemeine wendet sich gegen das Besondere, das Besondere tritt auf gegen das Allgemeine. Und nicht selten findet sich das Ideal der Kunstfreiheit auf der Mehrheitsseite wieder, verblüfft darüber, von einer Minderheit im Namen eines emanzipatorischen Fort17schritts attackiert zu werden. Kunstfreiheit und Fortschritt, dieses feste Bündnis, ist nach dem Schisma zerbrochen.

Für die Anhänger der tradierten Ideale müsste das kein Grund zur Beunruhigung sein. Sie könnten die Interessen der Minderheiten beflissentlich ignorieren und bräuchten sich vor möglicher »Kulturbarbarei« nicht zu fürchten. Es gehört jedoch zu den Eigenarten der Digitalmoderne, dass sie für das Mäßigende und Geregelte nur wenig übrig hat. Eher verstärkt sie eine latente Gereiztheit, und ihre Affektwellen bleiben unvorhersehbar. Mitunter kann die symbolische Tat eines Einzelnen einen globalen Konflikt auslösen, so wie es dem Prediger Terry Jones gelang, als er 2010 ankündigte, in Florida mehrere Koranausgaben verbrennen zu wollen. Er musste kein Feuer entzünden, allein die medial verbreitete Idee reichte aus, um Menschen auf der ganzen Welt derart zu empören, dass am Ende bei Protesten in Afghanistan, Indien und Pakistan mehrere Demonstranten starben.

Ähnliche Entsetzensstürme vermögen die Kulturkämpfer in den Museen, Theatern oder Kinos schwerlich auszulösen, dafür sind die Werke, denen sie sich widmen, in ihrer Bedeutung nicht universal genug. Doch für ein mittleres Beben reicht es allemal. In den Öffentlichkeiten der Digitalmoderne folgen die Debatten nicht länger den Routinen, die sich in den Kulturinstitutionen über Jahrzehnte etabliert hatten. Sie werden unvorhersehbar, alles scheint jederzeit in Zweifel geraten zu können. So entsteht der Eindruck, selbst die bewährten Konsensbastionen könnten unterspült werden ‒ dann nämlich, wenn partikulare Interessen mit deutlichem Anspruch auftreten und die Bastionen schlagartig spüren, dass sie längst auf ungesichertem Grund stehen. Nur deshalb werden die Attacken als bedrohlich, gar totalitär wahrgenommen: Die Einzelinteressen wissen sehr genau, was sie nicht wollen. Was 18aber das Allgemeine der Kultur sein könnte, wofür die Kunst auftreten will, warum sie Freiheit genießt, ist kaum zu greifen. Ihre Unbestimmtheit wird ihr zum Verhängnis.

USA

Wenn Fundamentalisten die Buddhas von Bamiyan zerstören oder antike Ruinen in Palmyra sprengen, dann torpedieren sie zugleich die Vorstellung, dass die Menschheit eine gemeinsame, von allen respektierte Geschichte besitze und das materielle Vermächtnis dieser Geschichte bewahrt werden müsse. Diesen Konsens aufzukündigen, die schwärmerische Idee einer alle Unterschiede überspannenden, universell geteilten Wertvorstellung, hat selbstverständlich gravierende Folgen, gravierendere, als sie jeder Kulturkampf um übermalte Gedichte oder abgesagte Ausstellungen haben kann. Allerdings lässt sich das eine Gewaltphänomen nicht grundsätzlich vom anderen trennen, denn obwohl die Mittel der Auseinandersetzung andere sind, wird die Kultur jeweils zum Austragungsort einer außerästhetischen Konfrontation, in 19dem es fast immer um Identitätsfragen geht, um die Markierung des Eigenen und die Abstoßung des Befremdlichen.

Die Makro- und Mikrokonflikte durchdringen sich nur selten, wie etwa im Fall der umstrittenen Mohammed-Karikaturen. Doch nur im Hallraum der großen, globalen Konflikte, in denen die Kernwerte liberaler Gesellschaften attackiert werden und sich zur »Bedrohung der normativen Ordnung« (Karen Stenner) auswachsen, lässt sich letztlich verstehen, woher die Beunruhigung rührt und warum etliche Beobachter davor warnen, auch Einzelfälle wie das Übermalen eines Gedichts zeugten von erodierenden Freiheitsidealen. Weil die Welt im Großen von tektonischen Verschiebungen bedroht ist, wirken die kleineren Auseinandersetzungen, wirkt das undeklarierte Schisma im linksliberalen Milieu zusätzlich alarmierend.

Der Liberalismus ‒ dieser Eindruck lässt sich leicht gewinnen ‒ gerät auf doppelte Weise in Bedrängnis, von außen und von innen. Und so rührt die Nervosität, jenes verbreitete Gefühl, die Grundfesten der westlichen Gesellschaften gerieten ins Rutschen, nicht zuletzt aus diesem in der Tat beunruhigenden Befund: dass in einem Augenblick, da die Freiheit der Kunst in etlichen Weltteilen bekämpft wird, manche diese Freiheit auch dort infrage stellen und einschränken wollen, wo sie von der Aufklärung einst errungen wurde und eigentlich umso heftiger verteidigt werden müsste.

Was sagt das über die liberale Gesellschaft, über ihr Selbstbewusstsein, ihre Perspektiven? Was heißt es, dass die Zivilreligion namens Kultur, von der viele meinten, sie sei eine ausgleichende Macht, nun diverse Ungleichheiten hervortreten lässt? Mit der Digitalmoderne verwandeln die westlichen Gesellschaften ihren Aggregatzustand, was bislang als formiert galt, löst sich auf ins Informelle, was gesichert schien, 20wird fluide. Ebenso zeugen die neuen Kulturkämpfe von diesen Auflösungstendenzen ‒ und zugleich von dem Willen, eine Vorstellung vom Unverfügbaren bewahren zu wollen. Mal geht es in den Konflikten darum, wie sich Minderheiten gegen Mehrheiten wehren können und auf welchem Wege sich eine wesenhafte Eigenheit behaupten ließe. Ein anderes Mal ringt die Gegenwart mit ihrer Geschichte, weil frühere Zeiten nicht auf heutige Weise dachten und handelten und ihre Artefakte nun manchen sexistisch, rassistisch oder sonst wie überholt vorkommen, während andere auf einen unerschütterlichen Kanon pochen. Auch der Streit um die politische Korrektheit lässt sich als Grenzscharmützel begreifen, denn das Sag- und Zeigbare soll neu kartografiert werden.

Dieser Essay besichtigt einige dieser Streitfälle, in denen die Kunst zum Medium und Motor gesellschaftlicher Umwälzungen geworden ist. Er will ihre Hintergründe ausleuchten und ihre Motive und Mechanismen begreifen. Er möchte verstehen, was die Kunstdebatten über die Welt verraten und wie die Weltdebatten die Kunst verändern. Wie frei ist sie noch? Wie frei ist die Gegenwart?