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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS SHERLOCK HOLMES


In dieser Reihe bisher erschienen:

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi

3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick

3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler

3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer

3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer

3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt

3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson

3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson

3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt

3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle

3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn

3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler

3021 – Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler von Klaus-Peter Walter

3022 – Sherlock Holmes und die Geheimwaffe von Andreas Zwengel

3023 – Sherlock Holmes und die Kombinationsmaschine von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3024 – Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers von Michael Buttler


Michael Buttler


SHERLOCK HOLMES
und der
Sohn des Falschmünzers



Basierend auf den Charakteren von
Sir Arthur Conan Doyle




Michael Buttler wohnt mit seiner Familie und zwei Katzen im Rhein-Main-Gebiet. Er arbeitet als Bankkaufmann bei einem Kreditinstitut.

Anthologien, an denen der Autor beteiligt war, wurden verschiedentlich für den Deutschen Phantastik-Preis nominiert. Im Jahr 2012 war er mit einer Geschichte in dem Buch vertreten, das den ersten Preis gewann.

Zwei seiner historischen Kriminalromane spielen zur Zeit Johann Wolfgang von Goethes in Weimar, weshalb Buttler sie seine ­Goethe-Krimis nennt: Die Bestie von Weimar und Der Teufelsvers.

Weiterhin schreibt der Autor für die Reihe Sherlock Holmes – Neue Fälle des BLITZ-Verlages.

Auf Anfrage steht der Autor gern für Lesungen zur Verfügung.

www.michael-buttler.de



Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2019 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Vignette: iStock.com/neyro2008
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-223-3

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!




Prolog


Sie öffnete die Tür und wusste bereits, was los war. Der Gestank war schlimm. Dass Mama das nicht roch, leuchtete ihr mittlerweile ein. Mama hatte schon seit Jahren keine spürbaren Regungen mehr gezeigt. Paps jedoch, der hätte doch was machen müssen. So betrunken konnte er doch nicht sein.

Der winzige Flur war übersät mit Müll, der darauf wartete, entsorgt zu werden. In einer Kiste hatte sie leere Flaschen untergebracht. Dennoch, das wusste sie, standen in der ganzen Wohnung weitere Flaschen herum. Sie fragte sich, wo Paps die alle her bekam.

Es war dunkel in der Wohnung, weil Paps Licht nicht leiden konnte. Und so waren die Vorhänge immer zugezogen. Sie glaubte, er wolle das Elend nicht sehen, in dem sie lebten.

„Da biste ja endlich. Wo warste denn?“, lallte ihr Paps entgegen. Er lehnte an der Tür zur Küche.

Sie hatte ihn nicht gesehen. Draußen strahlte die Sonne, und ihre Augen hatten sich noch nicht an das trübe ­Zwielicht in der Wohnung gewöhnt. Sie wusste, sie durfte jetzt nichts falsch machen, deshalb schaute sie Paps nicht direkt an. Mit gesenktem Kopf stellte sie die leere Milchkanne ab.

„Ich wollt einkaufen.“

„Und das dauert so lang?“

Nein, das tat es nicht. Doch nachdem ihr jeder in der Stadt klargemacht hatte, dass es für die Familie Vernet in ganz Tiptree keinen Kredit mehr gab, war sie hinüber zur Fabrik gelaufen und hatte gefragt, ob sie dort arbeiten dürfe. Vielleicht auch draußen auf den Feldern als Pflückerin. Es war gerade die Zeit, in der die Erdbeeren reiften, die in der Fabrik zu Marmelade verarbeitet wurden. Und vielleicht hätte sich die Gelegenheit ergeben, die eine oder andere Frucht auf die Schnelle in den Mund zu stecken und zu naschen.

Sie durfte nicht dort arbeiten.

„Hab nichts bekommen, Paps.“

„Wieso nicht?“

„Gab keinen Kredit mehr. Die wollen Geld sehn.“

Paps schwankte auf sie zu. Der Geruch von Gin und Schweiß, der ihr entgegenkam, raubte ihr für einen Moment den Atem und ließ sie den anderen Gestank für einen Moment vergessen.

„Haste denen nicht gesagt, dass es bald Geld gibt?“

„Sag ich schon seit Wochen. Glaubt mir keiner mehr.“

„Diese verfluchte Bande!“, schrie er ihr entgegen, als sei sie dafür verantwortlich, was die Kaufleute und Bauern in Tiptree taten. „Haben sich abgesprochen. Haben sie.“

Obgleich sie darauf gefasst gewesen war, erwischte sie die Ohrfeige doch überraschend.

„Paps, bitte.“

„Kriegst das nicht hin und lässt deine Mutter in der Scheiße sitzen. Warst stattdessen in der Stadt, hast den Kerlen schöne Augen gemacht, wie?“

„Nein, Paps.“

„Bist ein hübsches Ding. Hat er wenigstens Geld, der Kerl, an den du dich ranschmeißt? Dann kannst dich dafür bezahln lassen.“

„Paps, da ist keiner.“

„Der olle Collins ist Witwer und hat Geld. Und ein hübsches Haus. Kannst hinziehn und deine Mutter gleich mitnehm.“

Sie huschte an Paps vorbei und murmelte: „Muss nach Mama schaun.“

Paps wandte sich brabbelnd ab und verschwand wieder in der Küche. Sie hörte es dort klirren und rumoren. Er war sicherlich auf der Suche nach einer vollen Flasche. Sie hoffte, er würde eine finden. Dann wäre er friedlicher.

Mama saß auf einem Stuhl im Schlafzimmer. Auch hier herrschte trübes Zwielicht. Der Gestank war unerträglich. Paps hatte nicht einmal das Fenster geöffnet. Sie holte es sofort nach.

Der herrliche Sonnenschein erhellte das Zimmer. Und sofort begann sie die Sonne dafür zu hassen, was diese ihr offenbarte.

Mamas lange graue Haare hingen in fettigen Strähnen über ihre Schultern. Ihre Wangen waren eingefallen, die Lippen trocken und spröde. Ihre Augen blinzelten kaum und blickten stur geradeaus.

Sie war in einer anderen Welt. Die Hoffnung, dass es Mama dort besser ging als hier, ließ die Tochter den Anblick ertragen.

Das schmutzige Nachthemd hing an Mama wie ein Sack. Ihre Windel war voll und übergelaufen.



Es klopfte an der Tür.

„Mach auf!“, schrie Paps aus der Küche.

Sie wollte gerade waschen, und so öffnete sie die Haustür mit einem Stapel Wäsche über dem Arm. Ein fremder Mann stand vor ihr. Er war groß und korpulent. Sie kannte das Gesicht von irgendwo her. Oder von irgendwann.

Der Mann rümpfte die Nase. „Ich nehme nicht an, dass man in diesem Haushalt ein Stubenmädchen beschäftigt. Deshalb wirst du wohl die Tochter des Hauses sein, nicht wahr?“

Sie sagte nichts, konnte diesen gut gekleideten Mann nur anstarren. Wollte er Schulden eintreiben? Oder Paps verhaften, weil er etwas Ungesetzliches getan hatte?

„Sind Herb und Ethel da?“

Sie zögerte einen Augenblick, doch dann machte sie sich bewusst, dass es nichts helfen würde, zu lügen. Wenn man sie auf die Straße setzte, weil die Kaufleute endlich ihr Geld sehen wollten, dann wollte sie es schnell hinter sich bringen.

„Ja, meine Eltern sind zu Hause, doch es ist gerad ungünstig.“

„Warum? Weil ihr gerade sauber macht?“, sagte der Mann und verzog den Mund zu einem eigentümlichen Grinsen, als habe er einen Witz gemacht und wollte dafür gelobt werden.

„Wer ist da?“, rief Paps von drinnen.

Der Fremde schob sie zur Seite. „Lass deinen Cousin Mycroft herein“, sagte er. „Ich stehe nicht gern vor der Tür. Das ist mir zu anstrengend ...“



Ein Jahr später

Während der Wind mit ihren Haaren spielte und leichter Nieselregen sie durchnässte, stellte sie ihre Tasche ab und nestelte den Umschlag aus ihrer Jacke.

Der Poststempel stammte von London. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Der Absender war ein Amt in der Regierung. Sie kannte sich mit so etwas nicht aus, doch sie wusste, Mycroft arbeitete dort.

Sie zog den Brief heraus und las ihn noch einmal. Dann zog sie die Banknoten aus dem Umschlag, bückte sich und steckte sie in ihre dicken Wollsocken. Dort wären sie sicher.

Sie schaute wieder hoch, zuerst über die Reihen der Gräber, danach zum Himmel. Die Tropfen kühlten ihr vom Weinen heißes Gesicht, spülten ihr die Tränen aus den Augen.

Schließlich trat sie an den Grabstein und küsste ihn dort, wo Ethel Vernet stand.

Neue Tränen rannen ihr das Gesicht hinab. Irgendwann würde das aufhören, doch jetzt war es gut so.

„Verzeih mir, dass ich Paps allein lasse“, sagte sie, musste schluchzen, dann fuhr sie fort: „Du wirst immer bei mir sein.“



Kapitel 1


Die Spelunke machte ihrem Namen alle Ehre. Sie war zwar nicht voll, doch der Zigarettenqualm bildete einen dichten Nebel, dem auch der leichte Windhauch, der durch die geöffneten Fenster wehte, nicht Herr wurde. Ebenso verhielt es sich mit dem Geruch nach Schweiß, verschüttetem Bier und faulig riechenden Fürzen.

„Scheißtag war das heute“, brummte Daves Gegenüber.

„Was is’n passiert?“

„Hab nen Sack fallen lassen. Kriegte nen Krampf innen Arm und batsch, da wars passiert.“

„Hat’s Ärger gegeben?“

„Kannst einen drauf lassen. Wurd mir gleich vom Lohn abgezogen.“

„Scheiße. Wars teuer?“

„Ich darf noch zwei Tage für umsonst arbeiten.“ Der Kerl holte ein paar Münzen aus der Hosentasche. „Das muss bis dahin reichen.“

„Puh! Ein Bier kann ich dir ausgeben, aber mehr geht nicht. Habs auch nicht so dicke.“

„Schon klar, danke.“

Dave drehte sich eine neue Zigarette.

„Schau dir diese Arschgeigen an“, sagte er und deutete zum Tresen.

Der andere nickte. „Kommt so ein Captain in die ­Spelunke, und schon riechen diese Idioten Geld.“

„Wie die den Pinkel umschwirren.“

„Als wärs ne Nutte, die heut kein Geld nimmt.“

Dave nickte. „Aber ne gute Nutte.“

„Und ne junge, hübsche dazu.“

Dave nahm einen Schluck von der wässrigen Plörre, die Robby hier als Bier ausschenkte. Sie war immer noch besser als das, was man ihm woanders vorgesetzt hatte.

Daves Tischgenosse hielt einen anderen Mann an, der an ihrem Tisch vorbeigehen wollte.

„Wer is’n das?“

„Captain Basil. Der kommt hin und wieder vorbei und ist spendabel.“

„Auf welchem Schiff is’n der?“

Der andere zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht.“ Er schien einen Moment zu überlegen. „Ich glaub, das weiß keiner so genau.“

Dave betrachtete sich den Captain. Er war hoch­gewachsen und flachbrüstig, hatte den Ansatz eines kleinen Bauches. Ein gestutzter Bart umrahmte sein Gesicht. Die Augen schwirrten, obgleich er sich mit den Leuten unterhielt, ständig im Gastraum umher.

Dave stutzte. Diese Augen. Sie waren nicht besonders und doch beschlich Dave das Gefühl, er habe sie schon einmal gesehen. Je länger er sie anstarrte, desto unwohler fühlte er sich. Er hatte plötzlich das Gefühl, sich kratzen zu müssen, als habe er in einem Bett voller Wanzen gelegen. Dabei war er sicher, Captain Basil noch nie begegnet zu sein, seit er vor einem halben Jahr aus Farnham nach London gekommen war.

Bis zum Tod seiner Mutter war er in dem Nest geblieben, in dem er aufgewachsen war. Danach hatte ihn nichts mehr in seiner Geburtsstadt gehalten. Zu viele schlechte Erinnerungen. Zu viel Qual und Pein. Jetzt war er achtzehn Jahre alt und kräftig. In Farnham hatte er sich und seine Mutter mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Hier in London hatte er etwas am Hafen gefunden, das er konnte und mit dem sich ein wenig Geld verdienen ließ. Er war Löscher. Ein Knochenjob, doch er hatte fest vor, sich irgendwann nach oben zu arbeiten. Denn dumm war er nicht. Wenigstens nicht so sehr wie die meisten seiner Kollegen. Irgendwann würde sich eine Möglichkeit ergeben, sich als Vorarbeiter zu empfehlen.

Dave schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Ich will mal hören, was der zu sagen hat.“

„Tu, was du nicht lassen kannst. Ich beweg mich für ne Weile besser nicht. Das letzte Glas war wohl mit Spülwasser gepanscht.“ Der Tischgenosse rieb sich den Bauch und verzog die Lippen.

Dave näherte sich der Traube von Menschen, die sich mittlerweile um Captain Basil geschart hatte. Er erzählte von irgendeinem Abenteuer, dass er auf der schottischen See überstanden hatte. Dave hörte nicht zu. Er war eingenommen von den Augen dieses Kerls. Ihr Anblick löste etwas in ihm aus, das er sich nicht erklären konnte. Gedankenverloren rieb sich Dave über die Arme und kratzte sich an der Brust und auf dem Rücken.

„Falls einer den Burschen sieht, dann gibt er mir bitte Bescheid, ja?“, sagte Captain Basil. „Erzählt mir, wo ich ihn finde. Ich will ihn überraschen. Er bekommt noch Geld von der letzten Fahrt. Hab mich verrechnet. Ist mir sehr unangenehm. Keiner soll sagen können, Captain Basil lege seine Leute rein. Bin ne ehrliche Haut. Aber verratet mich nicht. Wenn er schon vorher weiß, dass er noch Geld bekommt, dann versäuft er es auf Kredit, ohne zu wissen, wie viel es ist. Das kann für ne böse Über­raschung sorgen.“

Die Männer um ihn herum lachten.

Burschen? Welchen Burschen?, fragte sich Dave. Er hätte besser zuhören sollen.

„Gibt auch ne Belohnung für den, der mir erfolgreich weiterhelfen kann. Will mich nicht lumpen lassen.“

Carla, die Frau des Wirtes, schob den Vorhang zur Küche beiseite. „Hab noch mal ne Ladung Eintopf gemacht. Wer will, der hebt bitte die Hand.“

„Ist da auch Fleisch drin?“, fragte jemand.

„Klar doch“, gab Carla zur Antwort.

„Und wer das Stück Fleisch im Topf findet, der darf Carla einen Schmatz geben“, rief ein anderer.

„Anschließend darf er sich als Invalide bezeichnen“, entgegnete Carla.

Alle lachten.

„Sein Schniedel wird die nächste Suppeneinlage“, brummte Robby.

Wieder Lachen.

Wo war Captain Basil? Dave schaute sich um. Der Bursche war nirgendwo zu sehen. Wenn er pinkeln gehen wollte, hätte er an ihm vorbei gemusst.

Dort, wo der Captain eben noch gesessen hatte, lag ein Geldschein auf dem Tresen, den Robby gerade einsteckte.

Dave kramte in der Hosentasche nach ein paar Münzen und warf sie dem verdutzten Robby zu. Ein Geldstück fiel zu Boden. Der Wirt musste sich bücken, doch das kümmerte Dave nicht. Er lief zur Tür und erkannte im trüben Licht der Funzel über der Spelunke nichts. Nach ein paar Schritten jedoch war links von ihm eine Bewegung im Dunkeln zu sehen. Dave folgte ihr.

Jetzt, Mitte Oktober, war es schon beinahe kalt am späten Abend. Heute hatte es geregnet. Die Lampen, die in regelmäßigen Abständen auf der anderen Straßenseite eine fragwürdige Lichtquelle darstellten, spiegelten sich in den Pfützen des unebenen Straßenpflasters.

Die Gestalt, von der Dave hoffte, es handele sich bei ihr um Captain Basil, lief schnell. Sie schien es eilig zu haben. Dave hatte Mühe, ihr zu folgen. Die Augen des Captains ließen ihn nicht los. Er musste wissen, weshalb er sich bei ihrem Anblick so unbehaglich gefühlt hatte.

Sie verließen den Stadtteil Wapping nicht, kamen in eine Gegend, in der selbst um diese Zeit noch Dirnen am Straßenrand standen und versuchten, den Schauerleuten und Matrosen die letzten Geldstücke aus den Taschen zu klauben.

Die Gestalt vor ihm hielten sie nicht an. Sie strahlte offenbar etwas aus, das diese Frauen wissen ließ, dass es nichts für sie zu holen gab.

„Du bist aber mal ’n hübscher Bursche“, gurrte eine Frauenstimme aus dem Schatten eines Hauseingangs. Er hatte sie nicht gesehen, unterdrückte den Drang, stehen zu bleiben und zu schauen, wer ihn da ansprach und lief weiter. Wenn eine der Dirnen zu laut wurde, dann würde sie womöglich der Gestalt dort vorn signalisieren, dass jemand hinter ihr her war. Glücklicherweise behelligte ihn keines der Mädchen mehr.

Noch zweimal huschten sie um eine Straßenecke, einmal wechselten sie die Straßenseite, dann verschwand die Gestalt in einem dreistöckigen Mietshaus. Vorher wurde sie jedoch von der Lampe direkt vor dem Eingang angestrahlt. Jetzt war es gewiss. Es handelte sich um den Captain.

Und nun?

Dave stellte sich so, dass er so tief wie möglich im Schatten stand, und starrte hilflos das Haus an. Er bekam Durst. In der Spelunke hatte er ein halb volles Glas zurückgelassen, das sich sein Tischgenosse bestimmt schon einverleibt hatte.

Oben ging ein Licht an. Offenbar war der Captain im Dunkeln die Treppe hinauf gelaufen.

Es war nichts zu erkennen. Niemand bewegte sich hinter den Vorhängen.

Es war beinahe zum Lachen. Da stand er nun vor dem Fenster eines altgedienten Captains und musste sich die Frage gefallen lassen, was er eigentlich hier trieb. Wenn es sich wenigstens um das Fenster einer hübschen jungen Frau gehandelt hätte und er hoffte, einen Blick auf ihre Silhouette zu werfen, wenn sie ihr Schlafgewand anzog. Aber so wurde es sogar ihm mit der Zeit peinlich. Trotzdem blieb er, wo er war, weil er den Gedanken an diese Augen nicht beiseiteschieben konnte. Und weil seine Haut kribbelte wie verrückt.

Die Minuten verstrichen. Irgendwann musste er pinkeln. Der Drang wurde so heftig, sodass er sich schließlich umdrehte und seine Hose öffnete. Sekunden später plätscherte der Strahl gegen die Hausmauer.

Dave bemerkte, wie es hinter ihm dunkler wurde. Der Captain war bestimmt zu Bett gegangen und hatte das Licht gelöscht. Nun gut, wenn er hier fertig war, dann würde er verschwinden. Aber mit leerer Blase. Wenn er hier schon so eine Schweinerei veranstaltete, dann konnte er genauso gut alles raus lassen.

Dave hörte, wie jemand die Tür des Mietshauses öffnete.

Er hielt den Urinstrahl an, was sehr unangenehm war, und schaute über die Schulter. Da stand jemand unter der Lampe. Es war nicht der Captain. Dieser Mann war mittelgroß und stand leicht gebeugt. Er trug abgewetzte Arbeitskleidung und eine Mütze auf dem Kopf. Außerdem war er glatt rasiert.

Wenn Dave jetzt weiter pinkelte, dann würde der andere das Geräusch seines plätschernden Urins hören. Aus diesem Grund wartete er ab, bis sich der andere umwandte und die Haustür abschloss. Anschließend flitzte er genauso schnell wie der Captain die Straße entlang.

Seltsam.

Dave wusste nicht, was er tun sollte. Es gab kaum etwas Unbefriedigenderes wie unfertiges Urinieren. Jedoch verspürte er genauso den Drang, diesen Burschen ebenso zu verfolgen wie den Captain. Nur eins von beiden war möglich.

Er zischte einen Fluch, packte zusammen und schloss seine Hose. Anschließend lief er dem anderen hinterher.

Sie eilten durch die engen Gassen. Es dauerte nicht lange, da erreichten sie den Tower. Hier gab es auch zu dieser späten Stunde noch Droschken. Der Kerl lief direkt auf eine zu. Wenn der den Kutscher kannte, würde der ihn womöglich fahren. Um sie zu mieten, dazu war er bestimmt zu arm.

Verdammt! Was sollte er jetzt tun? Hinterher? Dave wollte kein Geld für eine Fahrt in einem Hansom ausgeben.

Er beobachtete den anderen. Nein, sie kannten sich offensichtlich nicht. Ein paar Münzen wechselten den Besitzer. Ja, bei jemandem, der so aussieht, hätte sich Dave das Fahrgeld auch im Voraus aushändigen lassen.

Der Kerl stieg ein.

Sollte er hinterher? Dann benötigte er ebenfalls eine Droschke. Es standen noch genügend herum. Aber das Geld!

Dave kratzte sich am Kopf. Verdächtig war es schon, wie der Kerl sich verhielt. Er lief so schnell, dann leistete er sich sogar eine Mietdroschke. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und dann dieses verdammte Kribbeln auf seiner Haut.

Dave erreichte gerade eine andere Droschke, als sich die erste in Bewegung setzte.

„Folgen Sie denen“, rief er dem Kutscher zu und wollte einsteigen.

„He! Warte, Bursche!“

„Ja?“

„Wo geht es denn hin?“

„Weiß nicht. Aber es eilt.“

„Kannst du überhaupt bezahlen?“

Natürlich, warum sollte es ihm anders gehen wie dem da vorn. Dave holte die Geldstücke aus seiner Hosen­tasche und gab sie dem Kutscher. „Reicht das?“

Der andere überschlug den Wert der Münzen. „Kommt drauf an, wohin es geht.“

„Hör mal! Wenn du mich nicht fährst, dann tut’s bestimmt ein anderer. Willst du auf das Geld verzichten? Ich glaub nicht, dass du um diese Uhrzeit noch viele Fahrgäste zur Auswahl hast.“

„Also gut, rein mit dir. Aber mach mir nichts dreckig, hast du verstanden?“

„Ja, ja.“

Dave sprang rein. Die Droschke setzte sich Richtung Westen in Bewegung, immer an der Themse entlang. Die Fahrt dauerte einige Minuten, bis sie sich nach Norden wandten. Dave machte sich Sorgen, dass das Geld nicht ausreichte und der Kutscher ihn unterwegs doch noch rausschmeißen würde.

Sie drangen nun in einen Bereich Londons vor, den er nicht kannte. Und immer noch ging es weiter, länger, als sie an der Themse entlang gefahren waren.

Wie sollte er je wieder zurück nach Wapping finden? Und all das nahm er für ein seltsames Gefühl auf sich, das er beim Anblick Captain Basils verspürt hatte. Nun jagte er einer unbekannten Gestalt hinterher, würde die ganze Nacht benötigen, bis er wieder nach Hause fand, um anschließend übermüdet und pleite den nächsten Arbeitstag zu beginnen. Was war er doch für ein Idiot!

Endlich blieb die Droschke stehen. Dave stieg aus. Einige Yards vor ihm stand das andere Gefährt am Straßen­rand. Die Gestalt huschte in einen Hauseingang.

Die erste Droschke fuhr wieder an. Daves Kutscher hielt an derselben Stelle.

Dave stieg aus. „Ist noch was von dem Geld übrig?“

Der Kutscher lachte kurz und hart auf. „Ich hätte schon auf Höhe der Oxford Street anhalten müssen. Aber ich hab ein Herz, weißt du?“ Daraufhin lachte er noch einmal und fuhr davon.

Dave hatte ihn noch fragen wollen, wo er sich befand. Doch dafür war es nun zu spät.

In dem Haus hatte im oberen Stockwerk ein schwaches Licht gebrannt. Kurz nachdem die Gestalt im Eingang verschwunden war, brannte es dort heller.

Und nun?

Zuerst musste er fertig pinkeln, bevor er vielleicht dem nächsten Gespenst hinterherjagte. Obwohl die Gegend feiner war und es weniger dunkle Ecken gab als in ­Wapping, fand Dave eine geeignete Stelle und öffnete seine Hose. Dabei behielt er das Haus im Blick.



Kapitel 2


Ich hatte seit dem Abendessen an den Aufzeichnungen eines Falles gesessen, dem ich den vorläufigen Titel Der lebendige Tote gegeben hatte. Mein Freund Holmes würde ihn nicht mögen, das wusste ich, ohne ihn fragen zu müssen. Für gewöhnlich bevorzugte er eine weniger reißerische Wortwahl, doch ich überzeugte ihn manchmal damit, dass die Menschen durch das Lesen unserer Abenteuer seine Denk- und Vorgehensweisen eher studierten, wenn sie eine spannende Geschichte erwartete. Natürlich verkauften sich diese auch viel besser, aber dazu schwieg ich mich aus.

Nach einiger Zeit hatten meine Augen angefangen zu brennen. Da ich mich allein in unserer Wohnung wusste und deshalb schalten und walten konnte, wie ich wollte, drehte ich das Licht etwas herunter und senkte für einen Moment die Lider.

Ich musste eingenickt sein, denn als ein ungestümer, fremder Mann die Wohnungstür aufriss und etwas rief, das ich nicht verstand, schreckte ich von meinem Sessel auf. Für einen Augenblick wusste ich nicht, wo ich mich befand.

Der Fremde war schon an mir vorüber an den Sekretär gesprungen und notierte etwas auf ein Stück Papier.

„Heda!“, entfuhr es mir endlich, wohl zu zaghaft, denn der andere störte sich nicht an meinem Ausruf. Ich trat näher an ihn heran und wollte ihn an der Schulter packen, da endlich reagierte er.

„Nicht jetzt, Watson. Wir sind sehr in Eile.“

Ich erkannte die Stimme.

„Holmes, meine Güte! Sie haben mich erschreckt. Diesen Aufzug kenne ich noch gar nicht.“

Ich betrachtete mir seine Verkleidung: Eine alte Arbeitshose, eine verwaschene, blaue Joppe, eine Schiffermütze, die einmal in einen Kohlenkeller gefallen sein musste, und Schuhe, deren Sohlen sich bereits vor einiger Zeit gelöst hatten. Ein Seil diente Holmes als Gürtel.

„Gehe ich Recht in der Annahme, dass Sie heute nicht bei Hofe zu Abend gegessen haben?“, fragte ich amüsiert.

Mein Freund ignorierte meine Worte, faltete das Papier und reichte es mir.

„Lassen Sie einen Boten dies zu Scotland Yard bringen, während ich mich umziehe.“

„Um diese Zeit? Sie wissen, unser Hausbursche hat sich bei seinem letzten Auftrag den Fuß verknackst.“

„Finden Sie einen Kutscher oder lassen Sie sich etwas anderes einfallen. Die Zeit drängt. Ich habe Mister Lane ausfindig gemacht und möchte ihn festsetzen, bevor er uns entwischt.“

„Danny Lane, der Matrose, der seinen norwegischen Zimmergenossen im Seemannsheim erstochen haben soll?“

Ich kannte die Zeitungsberichte, wusste aber nicht, dass Holmes an diesem Fall arbeitete. Da er seit zwei Wochen keinen Klienten in unseren bescheidenen Räumen empfangen hatte, versorgte er sich einmal mehr selbst mit Arbeit. Das war typisch für meinen Freund, denn Nichtstun bekam ihm, namentlich seinem hoch entwickelten Geist, sehr schlecht. Ich war immer froh darüber, ihn beschäftigt zu wissen, weil ansonsten die Gefahr bestand, dass er wieder in alte Verhaltensweisen abzugleiten drohte, in der Kokain oder Morphium eine unrühmliche Rolle spielten.

„So ist es, mein lieber Watson. Und nun huschhusch.“ Er vollführte mit seinen Händen eine schnickende Bewegung und verschwand in seinem Schlafzimmer.

Da stand ich nun mit der Notiz an Scotland Yard. Sie war direkt an Inspektor Lestrade gerichtet, den ermittelnden Polizeibeamten, wie ich aus dem Morning Chronicle wusste. Dort hatte es geheißen, dass der gute Inspektor über jeden Hinweis, den verbrecherischen Matrosen zu finden, dankbar wäre. Er sei Tag und Nacht im Scotland Yard zu erreichen.

Pflichtbewusst lief ich hinunter auf die Straße und machte mir wenig Hoffnung, zu dieser späten Stunde noch jemanden zu finden, der den Weg auf sich nehmen würde. Ich sah mich bereits selbst die Straßen entlang hasten.

Ich öffnete die Haustür und schaute mich um. Wie zu erwarten, war keine Droschke zu sehen. Ich ging auf die Straße, wanderte ein paar Yards hin und her, bis ich schließlich seufzend die Schultern hängen ließ. Ich wandte mich um, damit ich Holmes die frohe Botschaft, dass ich wohl tatsächlich der Auserwählte für diese Mission sei, zu überbringen, als ich von Gegenüber ein Geräusch hörte.

Ich schaute in die Richtung, kniff die Augen zusammen und starrte in einen finsteren Hauseingang.

„Wer ist da?“

Keine Antwort.

„Hallo? Bist du einer von den Jungs?“ Ich meinte damit die Baker-Street-Bande, die hin und wieder einen Auftrag von Holmes erhielt. „Es gibt was zu verdienen.“ Erst bei diesen Worten wurde mir klar, dass ich den Boten wohl selbst zu bezahlen hätte, weil mein Freund mir zwar die Notiz, nicht aber Geld in die Hand gedrückt hatte. Und dann schalt ich mich einen Narren, weil ich zugab, Geld zu besitzen. Wenn sich dort ein zwielichtiges Individuum verbarg, das mich ausrauben wollte, so wusste es nun, dass es sich lohnen könnte.

In diesem Moment trat ein schmaler junger Mann in das Licht der Straßenlaterne. Er wirkte verunsichert, scheu. Ich wusste sofort, dass von diesem Burschen keine Gefahr ausging. Er sah aus wie ein Hafenarbeiter. Da er sich aber in diesen Teil Londons verirrt hatte, vermutete ich eine gescheiterte Existenz. Vielleicht war dies ein Glücksfall für uns beide. Wir benötigten Ersatz für den erkrankten Hausburschen und meinem Gegenüber würde eine vorübergehende bezahlte Beschäftigung sicherlich guttun.

„Können Sie Botendienste übernehmen?“, fragte ich rundheraus. „Vielleicht für die nächsten Tage? Sie müssten nur erreichbar sein, sich also hier irgendwo in der Nähe aufhalten. Wäre das möglich?“

Zögerlich nickte der junge Mann.

Ich klatschte in die Hände. Das Geräusch hallte von den Häusern wieder.

„Hervorragend!“, rief ich aus, dann überreichte ich ihm Holmes’ Notiz. „Sie können sofort anfangen.“

Der Mann nahm den Zettel entgegen und starrte mich mit großen Augen an.

„Tja, also, es ist dringend. Sie wissen doch, wo Sie Scotland Yard finden?“

Der andere hob die Schultern.

„Dann also los. Es eilt sehr.“ Ich kramte in meiner Hosentasche nach einem Geldstück und warf es dem Mann zu. Er fing es in einem Reflex geschickt auf.

Ich imitierte Holmes’ Geste. „Huschhusch!“

Der Bursche rannte davon. In die richtige Richtung. Ich war zufrieden und stieg wieder hinauf in unsere Wohnung.

Holmes erwartete mich bereits. „Kommen Sie mit, Watson. Und vergessen Sie Ihre Waffe nicht.“

Kurz darauf verließen wir die Baker Street und wandten uns in Richtung Hafen. Um doch noch einen Hansom zu bekommen, mussten wir einen Umweg in Kauf nehmen.