cover

HARUKI MURAKAMI

BLINDE WEIDE,
SCHLAFENDE FRAU

ERZÄHLUNGEN
DUMONT

AUS DEM JAPANISCHEN
VON URSULA GRÄFE

© 1983, 1984, 1985, 1990, 1991, 1996, 2002, 2005 HARUKI MURAKAMI

COPYRIGHT-HINWEISE AM ENDE DES BANDES

 

© 2006 FÜR DIE DEUTSCHE AUSGABE: DUMONT LITERATUR UND KUNST VERLAG, KÖLN

ALLE RECHTE VORBEHALTEN

UMSCHLAG: ZERO, MÜNCHEN

SATZ: FAGOTT, FFM

ISBN E-BOOK: 978-3-8321-8601-2

WWW.DUMONT-BUCHVERLAG.DE

BLINDE WEIDE,
SCHLAFENDE FRAU

Vorwort von Haruki Murakami

Um mich so einfach wie nur möglich zu fassen: Einen Roman zu schreiben bedeutet eine Herausforderung für mich, Kurzgeschichten zu schreiben ein Vergnügen. Wenn das Schreiben eines Romans dem Pflanzen eines Waldes gleicht, dann gleicht das Schreiben von Kurzgeschichten dem Anlegen eines Gartens. Die beiden Formen ergänzen einander und fügen sich zu einer Landschaft, die mir kostbar ist. Die grünen Baumkronen werfen ihren wohltuenden Schatten auf die Erde, und der Wind rauscht in ihrem zeitweise leuchtend goldenen Laub. Im Garten knospen indessen Blumen, bunte Blüten locken Bienen und Schmetterlinge an und erinnern uns an den leisen Übergang von einer Jahreszeit zur anderen.

Seit meinem Debüt als Erzähler im Jahre 1979 wechsle ich ziemlich regelmäßig zwischen dem Schreiben von Romanen und Kurzgeschichten ab, und so hat sich ein Muster herausgebildet: Habe ich einen Roman abgeschlossen, dann merke ich, dass ich ein paar Kurzgeschichten schreiben möchte; und wenn ich eine Gruppe von Kurzgeschichten beendet habe, wächst in mir der Wunsch, mich wieder auf einen Roman zu konzentrieren. Ich schreibe keine Kurzgeschichten, solange ich an einem Roman arbeite, und nie an einem Roman, während ich mit Kurzgeschichten beschäftigt bin. Die beiden Genres könnten durchaus verschiedene Bereiche des Gehirns beanspruchen, und ich brauche immer eine Weile, um von einem Geleis auf das andere zu wechseln.

Meine schriftstellerische Laufbahn begann Ende der siebziger Jahre mit den beiden kurzen Romanen Hear the Wind Sing und Pinball, 1973 [beide liegen nicht auf Deutsch vor]. Erst danach – 1980/81 – habe ich meine ersten Kurzgeschichten geschrieben: »Frachtschiff nach China«, »Die Geschichte mit der armen Tante« und »Das New Yorker Grubenunglück«. Ich wusste damals sehr wenig über das Kurzgeschichten-Schreiben, und es fiel mir daher nicht ganz leicht, aber ich fand die Erfahrung denkwürdig; ich fühlte, dass sich das Spektrum meiner erzählerischen Möglichkeiten erheblich erweiterte. Und die Leser schienen diese andere Seite, die ich als Schriftsteller an den Tag legte, zu schätzen. »Frachtschiff nach China« erschien in der ersten ins Deutsche übersetzten Kurzgeschichtensammlung Der Elefant verschwindet; die anderen beiden sind in dem vorliegenden Band zu finden. Nach diesem Beginn als Autor von Kurzgeschichten bildete sich mein System heraus, zwischen Romanen und Kurzgeschichten abzuwechseln.

»Der Spiegel«, »Känguruwetter«, »Zwergtaucher«, »Das Jahr der Spaghetti« und »Aufstieg und Fall von Knasper« gehören zu einer Sammlung von ›Short Shorts‹, die ich zwischen 1981 und 1982 schrieb. »Aufstieg und Fall von Knasper« ist, wie man leicht erkennen wird, eine Fabel über mein Verhältnis zur Literaturszene am Anfang meiner Karriere. Damals konnte ich mich in den japanischen Literaturbetrieb nicht einfügen; ein Umstand, an dem sich bis heute nicht viel geändert hat.

Zum Erfreulichen an Kurzgeschichten gehört, dass es nicht so lange dauert, sie zu schreiben. Gewöhnlich brauche ich eine Woche, um eine Geschichte in eine einigermaßen lesbare Form zu bringen (auch wenn die Revisionen sich dann noch endlos in die Länge ziehen können). Diese Art des Schreibens ist nicht mit dem totalen physischen und mentalen Engagement zu vergleichen, das mir die Arbeit an einem Roman über ein, zwei Jahre abverlangt. Schreibe ich jedoch Kurzgeschichten, gehe ich ins Büro, setze mich an den Schreibtisch, mache meine Arbeit, und das war’s. Dagegen kann die Arbeit an einem Roman eine solche Strapaze sein, dass ich mich manchmal frage, ob ich sie überleben werde. Danach empfinde ich das Schreiben von Kurzgeschichten als notwendige, erholsame Abwechslung.

Eine weitere angenehme Eigenschaft der Kurzgeschichte ist es, dass sie sich aus winzigen Kleinigkeiten schaffen lässt – aus einer spontanen Idee, aus einem Wort, einem Bild, was immer. Diese Art zu schreiben hat meistens Ähnlichkeit mit einer Jazzimprovisation – die Geschichte lenkt mich, und ich folge ihr, wohin sie will. Ich fürchte mich auch nicht davor zu scheitern. Lässt sich eine Idee nicht so umsetzen, wie ich es erhofft hatte, zucke ich einfach die Achseln und sage mir, dass es eben nicht nur Volltreffer gibt. Selbst bei den großen Meistern des Genres wie F. Scott Fitzgerald und Raymond Carver, ja sogar bei Anton ˇCechov, ist nicht jede Geschichte ein Meisterwerk. Das tröstet mich sehr. Ich lerne aus meinen Fehlern (also den Geschichten, die ich nicht als gelungen betrachte) und wende das Gelernte beim nächsten Versuch an. Ich bemühe mich sehr, dasjenige, was ich beim Schreiben von Kurzgeschichten gelernt habe, in meinen Romanen umzusetzen. In diesem Sinne ist die Kurzgeschichte für mich als Romancier gleichsam ein Versuchslabor. Es ist schwer, im Rahmen eines Romans so zu experimentieren, wie ich es gern möchte; daher fände ich es ohne meine Kurzgeschichten noch schwieriger und strapaziöser, Romane zu schreiben.

Im Wesentlichen verstehe ich mich als Romancier; viele Leute sagen mir jedoch, sie zögen meine Kurzgeschichten meinen Romanen vor. Das stört mich nicht, und ich versuche auch nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Eigentlich freue ich mich sogar darüber. Meine Kurzgeschichten sind wie weiche Schatten, die ich in die Welt gesetzt, wie schwache Fußspuren, die ich hinterlassen habe. Ich weiß noch genau, wo ich jede einzelne niedergeschrieben und wie ich mich dabei gefühlt habe. Die Kurzgeschichten sind wie Wegweiser zu meinem Herzen, und als Autor macht es mich glücklich, meinen Lesern diese intimen Empfindungen übermitteln zu können.

Der Elefant verschwindet, die erste Sammlung von Kurzgeschichten, die ins Deutsche und viele andere Sprachen übersetzt wurde, erschien 1993. Der Band Nach dem Beben kam 2003 auf Deutsch (2000 in Japan) heraus und enthält sechs kürzere Erzählungen, die alle auf die eine oder andere Weise mit dem Erdbeben von Kobe 1995 zu tun haben. Ich habe sie in der Hoffnung geschrieben, dass alle sechs Geschichten sich im Kopf des Lesers zu einem Gesamtbild zusammenfügen würden. Folglich handelt es sich da eher um ein Konzeptalbum als um eine Kurzgeschichtensammlung. So betrachtet, ist der vorliegende Band Blinde Weide, schlafende Frau die erste echte Kurzgeschichtensammlung, die ich seit längerer Zeit im Ausland herausbringe.

Darin enthalten sind natürlich viele Geschichten, die ich nach 1993, als Der Elefant verschwindet erschien, geschrieben habe. Dazu gehören »Birthday Girl«, »Menschenfressende Katzen«, »Der siebte Mann« und »Der Eismann«.

»Birthday Girl« schrieb ich auf Wunsch des Lektors, als ich eine Anthologie von Geschichten anderer Autoren zum Thema Geburtstag zusammenstellte. Es ist praktisch, mit der Zusammenstellung einer Anthologie einen Schriftsteller zu beauftragen – falls noch ein Text fehlt, kann er ihn rasch selbst schreiben.

»Der Eismann« basiert übrigens auf einem Traum, den meine Frau hatte; »Der siebte Mann« beruht auf einer Idee, die mir beim Surfen und beim Hinausschauen auf die Wellen kam.

Um der Wahrheit willen muss ich jedoch sagen, dass ich von Anfang 1990 bis Anfang 2000 nur sehr wenige Kurzgeschichten geschrieben habe; was jedoch nicht daran lag, dass es mich nicht mehr interessierte, welche zu schreiben. Ich war nur so sehr mit mehreren Romanen beschäftigt, dass mir die Zeit fehlte, auf das andere Geleis zu wechseln. Ich schrieb zwar die eine oder andere Kurzgeschichte, aber sie standen für mich nicht im Mittelpunkt. Stattdessen verfasste ich die Romane Mister Aufziehvogel, Gefährliche Geliebte, Sputnik Sweetheart und Kafka am Strand. Und zwischendurch schrieb ich die beiden Sachbücher zum Anschlag der Aum-Sekte, aus denen die deutsche Fassung Untergrundkrieg entstanden ist. Jedes dieser Bücher erforderte ein enormes Maß an Zeit und Energie. Damals waren wohl die Romane mein wichtigstes Schlachtfeld. Zwischendurch ergab sich als eine Art Intermezzo Nach dem Beben, ein Band, der, wie gesagt, nicht eigentlich eine Kurzgeschichtensammlung ist.

Doch 2005 erfasste mich zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder einmal das starke Bedürfnis, Kurzgeschichten zu schreiben. Ich könnte fast sagen, ein mächtiger Drang ergriff von mir Besitz. Also setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb etwa eine Geschichte in der Woche; so stellte ich fünf in kaum mehr als einem Monat fertig. Offen gesagt, ich dachte an nichts anderes mehr als an diese Geschichten und schrieb sie fast ohne Unterbrechung nieder. Diese fünf (in Japan unter dem Titel »Fünf seltsame Geschichten aus Tokyo« erschienen) bilden den Abschluss des vorliegendes Bandes. Wie schon der Titel sagt, haben sie eine Gemeinsamkeit: Es sind seltsame Geschichten. Obwohl ihnen dieses Thema gemeinsam ist, können sie unabhängig voneinander gelesen werden und bilden keine klar umrissene Einheit wie die Geschichten in Nach dem Beben. Wenn ich es mir recht überlege, finde ich allerdings alle Geschichten, die ich schreibe, mehr oder weniger seltsam.

»Krebse«, »Die Geschichte mit der armen Tante«, »Das Jagdmesser« und »Blinde Weide, schlafende Frau« wurden vor der Übersetzung stark überarbeitet; die hier vorliegenden Fassungen weichen somit deutlich von den ersten, in Japan erschienenen ab. Auch in einigen der älteren Geschichten bin ich auf Stellen gestoßen, mit denen ich nicht zufrieden war, und ich habe kleinere Änderungen daran vorgenommen.

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich meine Kurzgeschichten häufig umgeschrieben und in Romane eingearbeitet habe. Auch die vorliegende Sammlung enthält einige dieser Prototypen. »Glühwürmchen« und »Menschenfressende Katzen« habe ich mit einigen Änderungen in die Romane Naokos Lächeln und Sputnik Sweetheart aufgenommen. Mitunter haben sich Texte, die ich als Kurzgeschichten geschrieben hatte, nach ihrer Veröffentlichung in meinem Kopf ausgedehnt und zu Romanen entwickelt. So konnte eine von ihnen, die ich vor längerer Zeit geschrieben hatte, mitten in der Nacht in mein Haus eindringen, mich wachrütteln und schreien: »He, jetzt wird nicht geschlafen! Du kannst mich nicht einfach vergessen, an mir ist noch mehr dran!« Genötigt von dieser Stimme schrieb ich dann einen Roman. Auf diese Weise greifen Kurzgeschichten und Romane bei mir auf natürliche, organische Weise ineinander.

Viele Menschen haben mich ermutigt, diese Kurzgeschichten zu schreiben: Amanda Urban, meine Agentin bei ICM, Gary Fisketjon bei Knopf und Lektor der amerikanischen Ausgabe der vorliegenden Sammlung; meine fleißigen und fähigen Übersetzer Jay Rubin und Philip Gabriel, jeder mit einem einmaligen Stil. Es hat mir großes Vergnügen bereitet, meine Geschichten in ihrer hervorragenden Übersetzung wiederzulesen. Sehr inspiriert haben mich auch die Literaturredakteurinnen Deborah Treisman und ihre Vorgängerin Linda Asher der Zeitschrift The New Yorker, in der zahlreiche meiner Geschichten erschienen sind.

Ihnen allen ist es zu verdanken, dass diese neue Sammlung von Kurzgeschichten nun publiziert ist, und ich könnte – als Kurzgeschichtenschreiber – mit dem Ergebnis, das wir erzielt haben, nicht glücklicher sein.

H. M.

Blinde Weide, schlafende Frau

Als ich die Augen schloss, traf mich der Duft des Windes. Ein Maiwind, üppig wie eine Frucht, mit rauer Schale, weichem Fruchtfleisch und zahllosen Samenkörnchen. Das Fruchtfleisch barst in der Luft, die Samen prasselten wie milder Schrot auf meine bloßen Arme und hinterließen einen Anflug von Schmerz.

»Wie spät ist es?«, fragte mich mein Cousin. Er war etwa zwanzig Zentimeter kleiner als ich und musste zu mir aufschauen, wenn er mit mir sprach.

Ich sah auf die Uhr. »Zwanzig nach zehn.«

»Geht deine Uhr richtig?«, fragte er.

»Ich glaube schon.«

Er ergriff mein Handgelenk und schaute auf die Uhr. Seine schlanken glatten Finger waren erstaunlich stark. »War die teuer?«

»Nein, ziemlich billig«, sagte ich und warf erneut einen Blick auf den Fahrplan.

Keine Antwort.

Als ich meinen Cousin ansah, schaute er verlegen zu mir auf. Die weißen Zähne in seinem geöffneten Mund wirkten wie verkümmerte Knochen.

»Sie war ganz billig«, sagte ich noch einmal sehr deutlich und sah ihm dabei ins Gesicht. »Es ist eine billige Uhr, aber sie geht genau.«

Mein Cousin nickte wortlos.

Mein Cousin hört auf dem rechten Ohr nicht gut. Gleich als er in die Schule kam, wurde er von einem Baseball am Ohr getroffen, und seitdem ist sein Gehör geschädigt, aber normalerweise beeinträchtigt ihn das nicht. Er geht auf eine normale Schule und führt ein vollkommen normales Leben. Im Klassenzimmer sitzt er immer ganz rechts in der ersten Reihe, damit er das linke Ohr dem Lehrer zuwenden kann. Seine Noten sind gar nicht übel. Allerdings gibt es Zeiten, in denen er Geräusche relativ gut hört, und Zeiten, in denen das nicht so ist. Sie wechseln wie Ebbe und Flut. Und sehr selten, zweimal im Jahr vielleicht, hört er mit beiden Ohren so gut wie nichts mehr. Es ist, als würde die Stille in seinem rechten Ohr so tief, dass sie für das linke jedes Geräusch verschluckt. Dann kann er natürlich kein normales Leben mehr führen und muss für eine Weile der Schule fern bleiben. Auch die Ärzte können sich nicht erklären, warum das auftritt. Sie haben einen solchen Fall noch nie erlebt, also können sie nichts dagegen unternehmen.

»Eine Uhr geht nicht unbedingt genauer, nur weil sie teuer war«, sagte mein Cousin, wie um sich selbst davon zu überzeugen. »Ich hatte mal eine ziemlich teure Uhr, aber sie ging ständig vor oder nach. Die habe ich bekommen, als ich auf die Mittelschule kam, aber nach einem Jahr hab ich sie verloren. Seitdem komme ich ohne Uhr aus. Sie kaufen mir keine mehr.«

»Ist das nicht unpraktisch, ohne Uhr?«, fragte ich.

»Was?«, fragte mein Cousin.

»Ob das nicht unpraktisch ist, so ohne Uhr?«, wiederholte ich und sah ihn dabei an.

»Eigentlich nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich wohne ja nicht allein irgendwo in den Bergen. Es gibt immer jemanden, den ich nach der Uhrzeit fragen kann.«

»Stimmt auch wieder«, sagte ich.

Für eine Weile schwiegen wir.

Mir war klar, dass ich nett zu ihm sein und mit ihm plaudern sollte, um ihn ein bisschen aufzulockern, bevor wir im Krankenhaus ankamen. Aber ich hatte ihn vor fünf Jahren zum letzten Mal gesehen; in diesen fünf Jahren war aus einem Neunjährigen ein Vierzehnjähriger geworden, und ich war nun nicht mehr zwanzig, sondern fünfundzwanzig. Diese Zeitspanne hatte so etwas wie eine unsichtbare Barriere zwischen uns errichtet, die schwer zu überwinden war. Selbst wenn ich versuchte, etwas Notwendiges zu sagen, kamen mir die richtigen Worte nicht über die Lippen. Und jedes Mal, wenn ich dazu ansetzte, etwas zu sagen, und es dann doch wieder verschluckte, sah mein Cousin ein wenig verstört zu mir auf, das linke Ohr kaum merklich in meine Richtung geneigt.

»Wie spät ist es jetzt?«, fragte er.

»Zehn Uhr neunundzwanzig«, antwortete ich.

Als der Bus endlich in Sicht kam, war es zehn Uhr zweiunddreißig.

Der Bus war moderner als der, mit dem ich früher zur Oberschule gefahren war. Die Windschutzscheibe war viel größer, und das ganze Fahrzeug sah aus wie ein riesiger Bomber, nur ohne Tragflächen. Und er war voller, als ich erwartet hatte. Zwar standen keine Fahrgäste im Gang, aber wir konnten nicht nebeneinander sitzen, und da wir bald wieder aussteigen würden, blieben wir an der Tür ganz hinten stehen. Aber es war mir ein Rätsel, warum um diese Tageszeit so viele Leute unterwegs waren. Die Busroute begann am Bahnhof, führte dann durch eine am Hang gelegene Wohngegend und wieder zurück zum Bahnhof; keinerlei Sehenswürdigkeiten lagen an der Strecke. Wegen einiger Schulen waren die Busse voll, wenn Schüler unterwegs waren, aber um die Mittagszeit hätte der Bus eigentlich leer sein müssen.

Mein Cousin und ich hielten uns an den Schlaufen und Stangen fest. Der Bus war funkelnagelneu, wie gerade aus der Fabrik gekommen, und die Metallflächen waren so blank, dass man sich darin spiegeln konnte. Die Polstersitze waren flauschig, und bis zur letzten Schraube kündete alles von jenem stolzen Optimismus, der nur von ganz neuen Maschinen ausgeht.

Dass der Bus so neu war und so unerwartet voll, brachte mich ganz aus der Fassung. Vielleicht hatte die Route sich geändert, seit ich hier zuletzt im Bus unterwegs gewesen war? Ich sah mich aufmerksam um und schaute durchs Fenster, aber wir fuhren durch dieselbe ruhige Wohngegend, die ich von früher kannte.

»Das ist doch der richtige Bus, oder?«, erkundigte sich mein Cousin besorgt. Anscheinend hatte ich, seit wir in den Bus gestiegen waren, bestürzt dreingeblickt.

»Keine Sorge«, sagte ich, auch um mich zu beruhigen. »Es gibt hier keine andere Buslinie, also muss es der richtige sein.«

»Du bist doch früher hier mit dem Bus zur Schule gefahren, nicht?«, fragte mein Cousin.

»Genau.«

»Bist du gern zur Schule gegangen?«

»Nicht besonders gern«, sagte ich aufrichtig. »Aber ich hatte dort meine Freunde, und die Fahrt war nicht sehr weit.«

Mein Cousin dachte über das nach, was ich gesagt hatte.

»Triffst du dich noch mit ihnen?«

»Nein, ich habe sie schon ewig lange nicht mehr gesehen.« Ich wählte meine Worte mit Bedacht.

»Warum denn nicht?«

»Weil sie so weit weg wohnen.« Das war nicht der Grund, aber eine andere Erklärung fiel mir nicht ein.

In meiner Nähe saß eine Gruppe älterer Leute. Es dürften etwa fünfzehn gewesen sein, und wegen ihnen, so wurde mir auf einmal klar, war der Bus so voll. Alle waren sie braun gebrannt, sogar im Nacken, und ausnahmslos waren sie schlank. Die meisten Männer trugen warme Hemden wie zum Bergsteigen, und die Frauen schmucklose, schlichte Blusen. Alle hatten kleine Rucksäcke auf dem Schoß, wie man sie für kurze Bergwanderungen trägt. Es war erstaunlich, wie sehr diese Leute einander glichen – wie eine Schublade voller Muster für irgendetwas, eines ordentlich neben dem anderen. Das Sonderbare aber war, dass an dieser Strecke gar kein Wanderweg lag. Wo in aller Welt wollten sie nur hin? An meine Schlaufe geklammert, dachte ich darüber nach, kam aber auf keine plausible Erklärung.

»Ob’s dieses Mal wohl weh tut, die Behandlung?«, fragte mein Cousin.

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich weiß nichts Genaueres darüber.«

»Warst du schon mal bei einem Ohrenarzt?«

Ich schüttelte den Kopf. Tatsächlich, ich war noch nie im Leben bei einem Ohrenarzt gewesen.

»Hat es denn bisher wehgetan?«, fragte ich.

»Nicht besonders«, antwortete mein Cousin trübsinnig. »Ganz schmerzlos war’s natürlich auch nicht; manchmal hat’s schon ein bisschen wehgetan, aber nicht so arg.«

»Dann wird es jetzt doch bestimmt wieder so, oder? Deine Mutter hat gesagt, sie machen nichts anderes als sonst.«

»Ja, aber wenn sie das Gleiche machen wie sonst, hilft es doch bestimmt wieder nicht.«

»Na ja, wer weiß. Manchmal passiert auch etwas Unerwartetes.«

»Wie wenn man einen Korken zieht?«, sagte mein Cousin. Ich sah rasch zu ihm hin, aber es war keine Spur von Sarkasmus in seinem Gesicht zu entdecken.

»Wenn dich ein neuer Arzt behandelt, fühlt es sich anders an, und wenn man nur das Vorgehen ein wenig ändert, ist die Wirkung manchmal enorm. Ich würde nicht so leicht aufgeben.«

»Ich gebe ja gar nicht auf«, sagte mein Cousin.

»Aber allmählich reicht’s dir, oder?«

»Schon«, sagte mein Cousin und seufzte. »Das Schlimmste ist die Angst. Die Schmerzen, die ich mir vorstelle, sind schlimmer als die wirklichen Schmerzen selbst. Verstehst du das?«

»Ich glaub’ schon.«

Im Frühling jenes Jahres passierte eine Menge. In der kleinen Werbeagentur in Tokyo, bei der ich seit zwei Jahren beschäftigt gewesen war, kam es zu einer unerfreulichen Situation, und ich kündigte. Um diese Zeit trennte ich mich auch von der Freundin, mit der ich seit der Uni zusammen gewesen war. Im Monat darauf starb meine Großmutter an Darmkrebs, und ich fuhr zu ihrer Beerdigung in meinen Heimatort. Es war das erste Mal seit fünf Jahren, und ich hatte nur eine kleine Tasche dabei. Mein Zimmer zu Hause war noch so, wie ich es verlassen hatte. Im Regal standen meine Bücher, das Bett, in dem ich geschlafen hatte, war noch da, mein Schreibtisch, die Platten, die ich gehört hatte; doch alles im Zimmer war verdorrt, hatte die Farben und den Geruch von früher verloren. Nur die Zeit war stehen geblieben.

Ich hatte vor, mir nach der Beerdigung noch zwei, drei freie Tage zu gönnen und dann nach Tokyo zurückzufahren, um mich nach einer neuen Stelle umzuschauen. Außerdem wollte ich umziehen; ich brauchte eine andere Umgebung. Aber die Tage vergingen, und ich kriegte den Hintern nicht hoch. Genauer gesagt, selbst wenn ich mich hätte aufraffen wollen, hätte ich es nicht geschafft. Ich igelte mich in meinem Zimmer ein, hörte alte Platten, las meine alten Bücher und jätete ab und zu im Garten Unkraut. Ich traf mich mit niemandem und sprach mit keinem, von meiner Familie abgesehen.

Eines Tages kam meine Tante vorbei und fragte, ob ich nicht meinen Cousin in die neue Klinik begleiten könnte. Eigentlich habe sie ihn selbst hinbringen wollen, sagte sie, aber sie müsse an dem Tag etwas Wichtiges erledigen. Die Klinik lag in der Nähe meiner alten Schule, ich kannte den Weg, und da ich sonst nichts zu tun hatte, konnte ich schlecht ablehnen. Meine Tante gab mir einen Umschlag mit Geld und sagte, ich solle anschließend mit meinem Cousin essen gehen.

Der Wechsel an eine andere Klinik war vorgesehen, weil die Behandlung in der bisherigen so gut wie keine Besserung bewirkt hatte. Die Abstände zwischen den Phasen, in denen das Gehör meines Cousins aussetzte, schienen sich sogar verkürzt zu haben. Als meine Tante dem behandelnden Arzt dies vorgehalten hatte, hatte er angedeutet, die Probleme meines Cousins hingen mehr mit seiner häuslichen Umgebung zusammen als mit seinem medizinischen Befund, und es kam zum Streit. Niemand erwartete ernstlich, dass sich das Gehör meines Cousins durch den Klinikwechsel sofort bessern würde. Auch wenn es niemand aussprach, hatten alle diese Hoffnung beinahe aufgegeben.

Mein Cousin wohnte nicht weit von mir entfernt, aber ich war gut zehn Jahre älter, und zwischen uns war nie wirklich eine freundschaftliche Beziehung entstanden. Bei Familientreffen hatte ich ihn irgendwohin mitgenommen oder mit ihm gespielt, mehr aber auch nicht. Dennoch betrachteten auf einmal alle meinen Cousin und mich als Paar; sie schienen zu glauben, er hänge besonders an mir und sei auch mein Lieblingscousin. Lange Zeit konnte ich mir das nicht erklären. Als ich jetzt aber sah, wie er sein linkes Ohr ständig mit leicht geneigtem Kopf in meine Richtung wandte, fand ich das seltsam rührend. Wie Regen, den man vor langer Zeit hat fallen hören, schlug sein Ungeschick eine Saite in mir an. Ich verstand nun ein wenig, warum unsere Verwandten uns zusammenbringen wollten.

Nach sieben oder acht Haltestellen blickte mein Cousin wieder besorgt zu mir auf.

»Ist es noch weit?«

»Noch ein Stück. Aber es ist ein großes Krankenhaus, wir können es nicht übersehen.«

Mit halbem Auge sah ich, wie der Wind, der durch das geöffnete Fenster blies, die Hutkrempen der älteren Leute und ihre Schals bewegte. Wer waren diese Leute bloß? Und wo wollten sie bloß hin?

»Du, wirst du in der Firma von meinem Vater arbeiten?«, fragte mein Cousin.

Verblüfft sah ich ihn an. Sein Vater, mein Onkel, leitete eine große Druckerei in Kobe. Aber ich hatte nie an diese Möglichkeit gedacht, und niemand hatte je etwas Derartiges angedeutet.

»Davon habe ich noch nichts gehört«, sagte ich. »Wie kommst du darauf?«

Mein Cousin errötete. »Ich dachte nur, das ginge vielleicht«, sagte er. »Das wäre doch gut, oder? Du könntest hier bleiben, und alle wären froh.«

Der Name der nächsten Haltestelle wurde angesagt, aber niemand drückte den Haltknopf. An der Haltestelle wartete auch niemand.

»Aber ich muss nach Tokyo zurück, es gibt Dinge, die ich dort zu erledigen habe«, sagte ich. Mein Cousin nickte wortlos. Nicht eine einzige Sache habe ich dort zu erledigen. Aber ich kann doch nicht einfach hier bleiben.

Als der Bus weiter den Hang hinauffuhr, standen die Häuser allmählich weiter voneinander entfernt, und dichte Äste warfen tiefe Schatten auf die Straße. Wir kamen an ein paar Häusern mit niedrigen Zäunen vorbei, die durch ihren Anstrich ausländisch wirkten. Die Brise wurde angenehm kühl. Sooft der Bus um die Kurve fuhr, war plötzlich unter uns das Meer zu sehen und verschwand wieder. Schweigend betrachteten mein Cousin und ich die Landschaft, bis der Bus an der Klinik hielt.

Die Untersuchung werde eine Weile dauern, sagte mein Cousin; er komme allein zurecht, und ich solle doch irgendwo auf ihn warten. Nachdem ich kurz den zuständigen Arzt begrüßt hatte, verließ ich das Untersuchungszimmer und ging in die Cafeteria. Da ich am Morgen kaum etwas gegessen hatte, war ich hungrig, aber ich fand auf der Speisekarte nichts, worauf ich Appetit hatte. Schließlich bestellte ich nur einen Kaffee.

Es war ein Wochentag, und in der Cafeteria saß außer mir nur noch eine Familie. Der Vater, der etwa Mitte vierzig war, trug einen blau-weiß gestreiften Schlafanzug und Plastiksandalen. Die Mutter und zwei kleine Mädchen, Zwillinge, waren ihn besuchen gekommen. Die Mädchen trugen die gleichen weißen Kleidchen und tranken, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, mit ernster Miene ihren Orangensaft. Die Verletzung oder Krankheit ihres Vaters schien jedoch nicht allzu ernst zu sein, denn sowohl die Eltern als auch die Kinder sahen gelangweilt aus.

Vor dem Fenster befand sich eine Rasenfläche. Ein Rasensprenger drehte sich klackend und warf einen silbrigen Dunst über das grüne Gras. Zwei Vögel mit langen Schwänzen schossen kreischend darüber hinweg und waren bald außer Sicht. Jenseits des Rasens lagen ein paar Tennisplätze, aber man hatte die Netze entfernt, und es war niemand darauf zu sehen. Hinter den Tennisplätzen stand eine Reihe von Keyakibäumen, und zwischen deren Ästen hindurch sah man das Meer. Auf den kleinen Wellen glitzerte hier und da die Frühsommersonne. Der Wind zauste die jungen Blätter der Keyakibäume und verwehte sacht den Sprühregen aus dem Sprinkler.

Mir war, als hätte ich diese Landschaft vor langer, langer Zeit schon einmal gesehen. Den ausgedehnten Rasen, die Zwillingsmädchen, die Orangensaft tranken, die irgendwohin fliegenden Vögel mit den langen Schwänzen, das Meer, das jenseits der Tennisplätze ohne Netze zu sehen war … Aber das bildete ich mir nur ein. Es war eine sehr lebhafte, sehr real anmutende Illusion, gleichwohl jedoch eine Illusion. Ich war noch nie zuvor in diesem Krankenhaus gewesen.

Ich legte die Füße auf den Stuhl gegenüber, atmete tief durch und schloss die Augen. Im Dunkeln nahm ich einen weißen Klumpen wahr. Wie eine Mikrobe unter dem Mikroskop dehnte er sich aus und zog sich zusammen. Er veränderte seine Form, blähte sich, zerfiel, nahm neu Gestalt an.

Es war acht Jahre her, dass ich in dem anderen Krankenhaus gewesen war. Ein kleines Krankenhaus an der Küste. Vom Fenster der Cafeteria aus sah man nichts als Oleanderbüsche. Es war ein Krankenhaus, und es roch nach Regen. Die Freundin meines Freundes war dort an der Brust operiert worden, und wir fuhren sie besuchen. Das war in den Sommerferien unseres zwölften Schuljahrs.

Sie hatte zwar eine Operation hinter sich, aber keine große; man hatte nur die Stellung einer ihrer Rippen korrigiert, die ein wenig nach innen gebogen war. Es war keine Notoperation, nur ein Eingriff, der irgendwann gemacht werden musste, also hatte das Mädchen beschlossen, ihn gleich hinter sich zu bringen. Die Operation selbst war rasch erledigt, aber sie sollte sich danach schonen und noch zehn Tage in der Klinik bleiben. Wir fuhren auf einer 125er Yamaha hin – auf dem Hinweg fuhr mein Freund, auf dem Rückweg ich. Er hatte mich gebeten, ihn zu begleiten. »Ich hab keine Lust, allein in ein Krankenhaus zu gehen«, sagte er.

In einem Süßwarengeschäft am Bahnhof kaufte mein Freund eine Schachtel Pralinen. Mit einer Hand hielt ich mich an seinem Gürtel fest, mit der anderen umklammerte ich die Pralinen. Es war ein heißer Tag, und mehrmals wurden unsere Hemden schweißnass und trockneten dann wieder im Fahrtwind. Beim Fahren sang mein Freund irgendein blödes Lied. Ich erinnere mich noch an den Geruch seines Schweißes. Nicht lange danach starb er.

Sie trug einen blauen Schlafanzug und einen dünnen Morgenmantel, der ihr bis zu den Knien reichte. Zu dritt saßen wir an einem Tisch in der Cafeteria, rauchten Short Hopes, tranken Cola und aßen Eis. Sie war wie ausgehungert und verdrückte zwei Doughnuts mit Zuckerguss, zu denen sie Kakao mit massenhaft Sahne trank. Doch anscheinend genügte ihr das noch nicht.

»Wenn du rauskommst, bist du ein fettes Ferkel«, sagte mein Freund ein bisschen angeekelt.

»Ich darf das – schließlich muss ich mich erholen«, sagte sie und wischte sich mit ihrer Papierserviette die von den Doughnuts fettigen Finger ab.

Während die beiden sich unterhielten, betrachtete ich die Oleanderbüsche vor dem Fenster. Sie waren riesig, fast wie ein kleiner Wald. Und ich hörte die Wellen rauschen. Das Geländer vor den Fenstern war ganz rostig von der ständigen salzigen Brise. Ein sehr altmodischer Deckenventilator rührte die stickig-heiße Luft im Raum um. In der Cafeteria roch es nach Krankenhaus. Der Schlafanzug des Mädchens hatte zwei Brusttaschen; in der einen steckte ein kleiner goldener Kugelschreiber. Wenn sie sich vorbeugte, konnte ich in dem V-Ausschnitt ihre kleinen weißen Brüste sehen.

An diesem Punkt brach meine Erinnerung jäh ab. Ich versuchte, mir vor Augen zu führen, was danach geschehen war. Cola getrunken, Oleander betrachtet, ihre Brüste gesehen – und dann? Ich rutschte auf dem Plastikstuhl herum und versuchte, den Kopf in die Hände gestützt, in tiefere Gedächtnisschichten vorzudringen. Es war, wie wenn man mit der Spitze eines schmalen Messers einen Korken herauspult.

… Ich hatte beiseite gesehen und mir vorzustellen versucht, wie die Ärzte das Fleisch ihrer Brust aufgeschnitten, ihre Hände in Gummihandschuhen hineingeschoben und die Stellung der Rippe korrigiert hatten. Aber das kam mir doch arg unwirklich vor, wie ein Gleichnis für irgendetwas.

Ach ja – danach hatten wir über Sex gesprochen. Jedenfalls mein Freund. Was hatte er gesagt? Bestimmt etwas über mich. Wie ich mich erfolglos bemüht hatte, ein Mädchen zu verführen. Eigentlich keine tolle Geschichte, aber weil er alles so übertrieb und so lustig erzählte, musste seine Freundin furchtbar lachen. Ich musste selbst lachen. Er konnte gut erzählen.

»Bring mich nicht so zum Lachen«, sagte das Mädchen ein bisschen vorwurfsvoll. »Wenn ich lache, tut mir die Brust weh.«

»Wo denn«, fragte mein Freund.

Sie drückte mit einem Finger auf eine Stelle ihres Schlafanzugs – oberhalb des Herzens, etwas rechts von ihrer linken Brust. Darüber machte mein Freund irgendeinen Scherz, und sie lachte wieder.

Ich blickte auf die Uhr. Es war 11 Uhr 45, und mein Cousin war noch nicht zurück. Die Mittagszeit rückte näher, und in der Cafeteria wurde es voller. Alle möglichen Geräusche und Stimmen vermengten sich und erfüllten den Raum wie Rauch. Noch einmal kehrte ich in das Reich meiner Erinnerungen zurück und zu dem kleinen goldenen Kugelschreiber in der Brusttasche des Mädchens.

… Ach ja, sie hat damit etwas auf eine Papierserviette gezeichnet.

Ein Bild. Die Serviette war zu weich, und die Spitze des Kugelschreibers blieb darin hängen. Dennoch gelang es ihr, einen Hügel zu zeichnen. Und ein kleines Haus, das auf dem Hügel stand. In dem Haus schlief eine Frau. Um das Haus herum wuchsen blinde Weiden. Die blinden Weiden hatten die Frau einschlafen lassen.

»Was soll das denn sein, eine blinde Weide?«, fragte mein Freund.

»So einen Baum gibt es.«

»Noch nie gehört.«

»Weil ich ihn geschaffen habe.« Sie lächelte. »Blinde Weiden haben sehr viel Blütenstaub, und wenn kleine Fliegen, an denen er haftet, einer Frau ins Ohr kriechen, fällt sie in tiefen Schlaf.«

Sie nahm eine neue Papierserviette und zeichnete eine blinde Weide. Sie hatte die Größe einer Azalee. Sie blühte, und ihre Blüten waren von dichten grünen Blättern umgeben, die einem Bündel von Eidechsenschwänzen glichen. Die blinde Weide sah überhaupt nicht wie eine Weide aus.

»Hast du mal eine Zigarette?«, fragte mich mein Freund. Ich schob ihm ein feuchtes Päckchen Short Hopes und Streichhölzer über den Tisch.

»Die blinde Weide ist über der Erde klein, hat aber unglaublich tiefe Wurzeln«, erklärte sie. »Von einem gewissen Alter an hört sie auf, in die Höhe zu wachsen, und stößt immer tiefer in den Boden vor, als würde die Dunkelheit sie nähren.«

»Und die Fliegen mit dem Blütenstaub krabbeln Frauen in die Ohren und lassen sie in Schlaf fallen«, sagte mein Freund, während er sich abmühte, seine Zigarette mit den feuchten Streichhölzern anzuzünden. »Aber was machen die Fliegen dann?«

»Sie fressen natürlich das Fleisch der Frau von innen auf«, sagte sie.

»Schmatz, schmatz«, machte mein Freund.

Jetzt weiß ich es wieder: In diesem Sommer schrieb sie auch ein langes Gedicht über die blinde Weide und erklärte uns jede Zeile davon. Es war ihre einzige Hausaufgabe in jenen Sommerferien. Aus einem Traum, den sie eines Nachts hatte, machte sie eine Geschichte und schrieb dann eine Woche im Bett dieses lange Gedicht. Mein Freund wollte es lesen, aber sie sagte, einiges darin sei noch ungeglättet; stattdessen erläuterte sie uns das Gedicht mit Bildern.

Um die vom Blütenstaub in Schlaf versetzte Frau zu retten, kam ein junger Mann den Hügel hinauf.

»Das bin bestimmt ich«, sagte mein Freund.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das bist nicht du.«

»Bist du dir da sicher?«

»Ganz sicher«, sagte sie mit beinahe ernster Miene. »Keine Ahnung warum, aber so ist es nun mal. Bist du jetzt beleidigt?«

»Und wie«, sagte mein Freund und runzelte halb im Scherz die Stirn.

Langsam schob sich der junge Mann durch das Dickicht von blinden Weiden den Hügel hinauf. Er war der Erste, der den Hügel bestieg, seit die blinden Weiden alles überwuchert hatten. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, mit einer Hand die Fliegenschwärme verscheuchend, stapfte er voran. Um das schlafende Mädchen zu sehen. Um es aus seinem langen, tiefen Schlaf zu erwecken.

»Aber als er auf dem Gipfel des Hügels ankam, war das Mädchen innerlich bereits von den Fliegen zerfressen, stimmt’s?«, sagte mein Freund.

»In gewissem Sinne ja«, antwortete sie.

»In gewissem Sinne von Fliegen zerfressen zu werden, ist in gewissem Sinne eine ziemlich traurige Geschichte, oder?«, sagte mein Freund.

»Ja, ich glaub schon«, sagte sie nach einigem Nachdenken. »Was meinst du?«, fragte sie mich.

»Klingt für mich wie eine traurige Geschichte«, sagte ich.

Als mein Cousin herauskam, war es zwanzig nach zwölf. Sein Blick war irgendwie verschleiert, und er hatte ein Tütchen mit Medikamenten in der Hand. Nachdem er am Cafeteria-Eingang aufgetaucht war, brauchte er eine Weile, bis er mich entdeckt hatte und zu mir vorgestoßen war. Er ging linkisch, als habe er Mühe, die Balance zu halten. Als er sich mir gegenübersetzte, holte er tief Luft, als wäre er zu beschäftigt gewesen, um ans Atmen zu denken.

»Wie war’s?«, fragte ich ihn.

»Na ja«, sagte er. Ich wartete darauf, dass er mehr sagte, aber das tat er nicht.

»Hast du Hunger?«, fragte ich.

Er nickte.

»Sollen wir hier was essen? Oder mit dem Bus in die Stadt fahren und dort essen?«

Unsicher sah er sich im Raum um. »Hier«, sagte er. Ich kaufte Essensbons und bestellte zwei Mittagsmenüs. Bis das Essen gebracht wurde, betrachtete mein Cousin schweigend die Szenerie vor dem Fenster, auf die auch ich zuvor gestarrt hatte – das Meer, die Keyakibäume, die Rasensprenger.

Am Nebentisch aß ein adrettes Ehepaar mittleren Alters Sandwiches und unterhielt sich über einen Bekannten, der Lungenkrebs hatte. Dass er vor fünf Jahren aufgehört habe zu rauchen, bestimmt zu spät, dass er morgens, beim Aufwachen, Blut spucke und so fort. Die Frau stellte die Fragen, und der Mann beantwortete sie. In gewisser Hinsicht, erklärte der Mann, ist das gesamte Leben eines Menschen in dem Krebs enthalten, an dem er erkrankt.

Unser Mittagsmenü bestand aus einem Hacksteak und gebratenem weißen Fisch, dazu Salat und Brötchen. Wir saßen einander gegenüber und aßen schweigend. Unterdessen hörte das Ehepaar am Nebentisch nicht auf, darüber zu reden, wie Krebs entstehe, warum er neuerdings so vermehrt auftrete, warum es keine Heilmittel dagegen gebe.

»Überall ist es ungefähr das Gleiche«, sagte mein Cousin tonlos und sah dabei auf seine Hände. »Alle fragen sie das Gleiche, alle machen sie die gleichen Tests.«

Wir saßen auf einer Bank vor dem Kliniktor und warteten auf den Bus. Hin und wieder fuhr ein Windstoß in die grünen Blätter über uns.

»Manchmal kannst du gar nichts hören, oder?«, fragte ich meinen Cousin.

»Stimmt«, antwortete er. »Gar nichts.«

»Was ist das für ein Gefühl?«

Mein Cousin legte den Kopf schräg und überlegte. »Auf einmal höre ich nichts mehr. Aber es dauert eine Weile, bis ich es merke. Jedenfalls höre ich gar nichts mehr, als wäre ich mit Ohrstöpseln auf dem tiefsten Meeresgrund. Eine Weile bleibt das so. Während der ganzen Zeit höre ich nichts, aber es liegt nicht nur an den Ohren. Dass ich nichts hören kann, ist eigentlich nur ein Teil davon.«

»Stört es dich sehr?«

Er schüttelte kurz und kräftig den Kopf. »Ich weiß nicht warum, aber es stört mich nicht besonders. Es ist nur unpraktisch. Ich meine, wenn man nichts hört.«

Ich versuchte es mir vorzustellen, aber es gelang mir nicht.

»Hast du mal den Film Bis zum letzten Mann von John Ford gesehen?«, fragte mein Cousin.

»Vor langer Zeit«, sagte ich.

»Er lief neulich im Fernsehen. Ein richtig toller Film.«

»Hm«, machte ich.

»Er fängt damit an, dass ein neuer General in ein Fort im Westen kommt. Ein alter Hauptmann nimmt ihn in Empfang – John Wayne. Der General kennt die Lage im Westen noch nicht gut. Um das Fort herum gibt es Indianeraufstände.«

Mein Cousin zog ein säuberlich gefaltetes weißes Taschentuch aus der Tasche und wischte sich über den Mund.

»Als der General im Fort ankommt, sagt er zu John Wayne: ›Ich habe auf dem Weg hierher ein paar Indianer gesehen.‹ Und John Wayne antwortet kühl: ›Das ist okay. Wenn man Indianer sieht, sind in Wirklichkeit keine da.‹ Was er genau sagt, weiß ich nicht mehr, aber ich glaube, ungefähr das. Kapierst du, was er damit sagen will?« Ich konnte mich an einen solchen Satz in Bis zum letzten Mann nicht erinnern. Für einen John-Ford-Film kam er mir ein bisschen sonderbar vor. Aber es war lange her, dass ich den Film gesehen hatte.

»Vielleicht soll es heißen, dass etwas, das jeder sehen kann, nicht so wichtig ist … Sicher bin ich mir aber nicht.«

Mein Cousin runzelte die Stirn. »Ich versteh es auch nicht ganz, aber jedes Mal, wenn mich jemand wegen meiner Ohren bedauert, muss ich aus irgendeinem Grund daran denken. ›Wenn man Indianer sieht, sind in Wirklichkeit keine da.‹«

Ich lachte.

»Findest du das komisch?«, fragte mein Cousin.

»Ja«, sagte ich, und nun lachte er auch. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr lachen hören.

Nach einer Weile sagte er zu mir, als wolle er etwas loswerden: »Du? Könntest du mir mal in die Ohren gucken?«

»In deine Ohren?« Ich war ein bisschen verwundert.

»Nur so weit, wie du von außen hineinsehen kannst.«

»Klar, aber warum?«

»Ich weiß nicht.« Er wurde rot. »Ich hätte einfach gern, dass du dir anschaust, wie sie aussehen.«

»In Ordnung«, sagte ich. »Dann wollen wir mal.«

Mein Cousin setzte sich mit dem Rücken zu mir und wandte mir sein rechtes Ohr zu, ein sehr wohlgeformtes Ohr. Es war eher klein, aber das Ohrläppchen war prall wie eine frischgebackene Madeleine. Noch nie hatte ich ein Ohr so aufmerksam betrachtet. Wenn man genau hinsieht, dann erweist sich das menschliche Ohr – sein Bauplan – mit all seinen Windungen, Ausbuchtungen und Furchen als ziemlich rätselhaft. Vielleicht hat sich im Verlauf der Evolution herausgestellt, dass diese sonderbare Form für das Einfangen von Geräuschen oder zum Schutz des Organs dahinter die optimale ist. Von bizarren, asymmetrischen Wällen umgeben, gähnt die Ohröffnung wie der Eingang zu einer dunklen geheimen Höhle.

Ich stellte mir die winzigen Fliegen vor, die im Ohr der Frau nisten. Die Beinchen voll süßen Blütenstaubs, graben sie sich in die warme Dunkelheit ein, nagen am weichen rosigen Fleisch der Frau, saugen ihre Säfte und legen in ihrem Gehirn winzige Eier ab. Zu sehen sind sie nicht. Nicht einmal ihr Sirren ist zu hören.

»Das genügt«, sagte ich.

Mein Cousin drehte sich rasch um und setzte sich wieder mit dem Gesicht nach vorn auf die Bank. »Und? Hast du irgendwas Ungewöhnliches gesehen?«

»Soweit man von außen sehen kann, ist da nichts ungewöhnlich.«

»Sag mir ruhig alles – hattest du vielleicht irgendein Gefühl dabei?«

»Mir kommt dein Ohr völlig normal vor.«

Mein Cousin wirkte enttäuscht. Vielleicht hatte ich das Falsche gesagt.

»War die Behandlung schmerzhaft?«, fragte ich.

»Nicht besonders. Wie immer. Sie haben wieder an der gleichen Stelle herumgefummelt; die muss allmählich ganz ausgeleiert sein. Es kommt mir manchmal gar nicht mehr vor wie mein eigenes Ohr.«

»Da kommt ein Achtundzwanziger«, sagte mein Cousin kurz darauf zu mir. »Das ist doch unser Bus, oder?«

Ich war in Gedanken versunken gewesen. Als er mich ansprach, blickte ich auf und sah, wie der Bus abbremste, als er um die Kurve fuhr, die den Hang hinaufführte. Dieser Bus war kein so funkelnagelneuer wie der, mit dem wir hergekommen waren, sondern einer von den alten, die ich von früher kannte. Er hatte vorne ein Schild mit der Nummer 28. Ich wollte von der Bank aufstehen, aber ich konnte nicht. Ich konnte die Glieder nicht bewegen, als stünde ich mitten in einer starken Strömung.

Ich hatte an die Schachtel Pralinen gedacht, die wir damals an jenem Sommernachmittag ins Krankenhaus mitgenommen hatten. Erfreut hatte das Mädchen den Deckel der Schachtel abgenommen, nur um zu entdecken, dass die Pralinen völlig geschmolzen waren und an den Folien und dem Deckel festklebten. Mein Freund und ich hatten auf dem Weg zum Krankenhaus an der Küste angehalten, uns am Strand geaalt und geredet. Die ganze Zeit über hatten wir die Pralinen in der glühenden Augustsonne liegen lassen. Durch unsere Achtlosigkeit, unsere Selbstsucht waren sie ungenießbar geworden. Wir hätten ein Gespür dafür haben müssen. Einer von uns, egal wer, hätte etwas sagen sollen. Aber an jenem Nachmittag hatten wir für nichts ein Gespür; wir machten nur ein paar dumme Witze, verabschiedeten uns und ließen den mit blinden Weiden überwucherten Hügel zurück.

Mein Cousin packte mich fest am rechten Arm.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

Ich kam wieder in die Realität zurück und stand von der Bank auf; diesmal gelang es mir mühelos. Ich spürte den Maiwind wieder, der sanft über meine Haut strich. Für ein paar Sekunden stand ich an einem dämmrigen seltsamen Ort, wo die Dinge, die ich sehen konnte, nicht existierten, wohl aber die unsichtbaren. Doch da hielt vor mir der reale Bus Nummer 28, und seine völlig reale Tür ging auf. Ich stieg ein und fuhr irgendwoanders hin.

Ich legte meinem Cousin die Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung«, sagte ich.

Birthday Girl

An ihrem zwanzigsten Geburtstag arbeitete sie wie jeden Freitagabend als Kellnerin. Allerdings hätte sie sich an diesem Freitag lieber freigenommen, zumal das andere Mädchen, das in dem Restaurant jobbte, sogar bereit gewesen wäre, mit ihr zu tauschen. Vom Koch angebrüllt zu werden und Kürbis-Gnocchi und frittierte Meeresfrüchte zu den Tischen der Gäste zu schleppen, entsprach nicht gerade ihrer Vorstellung von einem Geburtstag. Leider lag ihre Kollegin mit einer Grippe im Bett und konnte, da sie fast vierzig Grad Fieber und Durchfall hatte, unmöglich für sie einspringen. So kam es, dass sie kurzfristig doch selbst antreten musste.

»Macht doch nichts«, hatte sie die Kollegin getröstet, als diese sie anrief, um sich zu entschuldigen. »Auch wenn es mein zwanzigster Geburtstag ist, hatte ich sowieso nichts Besonderes vor.« Tatsächlich war sie gar nicht sehr enttäuscht. Der Hauptgrund dafür war der grässliche Streit, den sie vor ein paar Tagen mit ihrem Freund gehabt hatte, mit dem sie seit der Oberschule zusammen war. Normalerweise hätte sie diesen Abend mit ihm verbracht. Auslöser war eine Lappalie gewesen, doch ein Wort hatte das andere gegeben, und eine heftige Auseinandersetzung war entbrannt, in deren Verlauf – sie spürte es genau – ihre lange Beziehung unwiderruflich zerbrochen war. In ihrem Inneren hatte sich etwas versteinert und war abgestorben. Er hatte sie seither nicht mehr angerufen, und auch sie verspürte nicht die geringste Lust, sich bei ihm zu melden.

Das italienische Restaurant, in dem sie arbeitete, war eines der bekannteren in Roppongi. Die Gerichte, die in dem seit Mitte der sechziger Jahre bestehenden Lokal serviert wurden, waren nicht gerade der letzte Schrei, aber da die Küche sehr solide war, bekamen die Gäste sie nicht über. Es herrschte eine entspannte und unaufdringliche Atmosphäre, und die Mehrzahl der Kunden war schon älter, unter ihnen – dem Ambiente entsprechend – auch einige bekannte Schauspieler und Autoren.

Zwei fest angestellte Kellner arbeiteten sechs Tage in der Woche. Sie und die andere Studentin jobbten jeweils drei. Außerdem gab es noch einen Geschäftsführer und eine dünne Frau mittleren Alters an der Kasse, die schon seit der Eröffnung des Restaurants dort zu sitzen schien. Wie die düstere Alte aus Klein Dorrit von Dickens rührte sie sich so gut wie nie vom Fleck. Sie kassierte und beantwortete das Telefon. Andere Aufgaben hatte sie nicht. Sie war stets schwarz gekleidet und machte nur im äußersten Notfall den Mund auf. Sie wirkte kalt und hart, und hätte man sie nachts auf dem Meer treiben lassen, hätte sie wahrscheinlich Schiffe gerammt und versenkt.

Der Geschäftsführer hatte die Mitte der vierzig bereits überschritten. Er war groß und breitschultrig und in seiner Jugend vielleicht Sportler gewesen, doch nun begann er, an Bauch und Kinn Fett anzusetzen, und sein kurzes borstiges Haar war in der Mitte des Scheitels schon etwas schütter. Überdies haftete ihm der muffige Geruch eines alternden Junggesellen an, der sie an Zeitungen und Hustenbonbons erinnerte, die längere Zeit zusammen in einer Schublade gelegen haben. Ein unverheirateter Onkel von ihr roch genauso.

Der Geschäftsführer trug gewöhnlich einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine Fliege. Keine fertige, wohlgemerkt, sondern eine richtige, die er – sein ganzer Stolz – selbst binden konnte, ohne in den Spiegel zu schauen. Seine Aufgabe war es, die Gäste zu empfangen und zu verabschieden, Reservierungen entgegenzunehmen, Stammgäste lächelnd mit Namen zu begrüßen, allen Beschwerden ein aufmerksames Ohr zu schenken, sich kompetent zu Fragen des Weins zu äußern und die Arbeit der Kellner und Kellnerinnen zu überwachen. Zu den Pflichten, denen er Tag um Tag gewissenhaft nachkam, gehörte es auch, dem Inhaber des Restaurants das Abendessen in die Wohnung zu bringen.

»Der Inhaber hatte ein Zimmer im fünften Stock desselben Gebäudes. Eine Wohnung oder ein Büro oder so was«, erzählte sie mir, als wir aus irgendeinem Grund auf unsere zwanzigsten Geburtstage zu sprechen gekommen waren. Die meisten Menschen erinnern sich noch gut an diesen Tag. Ihr Zwanzigster lag etwa zehn Jahre zurück.

»Aber im Restaurant ließ er sich niemals blicken. Der Geschäftsführer war der Einzige, der ihn zu Gesicht bekam, weil er ihm ja das Essen brachte. Keiner der anderen Angestellten hatte ihn je gesehen.«

»Der Inhaber ließ sich das Abendessen immer aus seinem eigenen Restaurant kommen?«

»Genau«, sagte sie. »Der Geschäftsführer brachte es ihm jeden Abend um acht Uhr hinauf. Ausgerechnet in der Zeit, in der wir am meisten zu tun hatten und er eigentlich dringend im Restaurant gebraucht wurde. Da gab es wohl nichts zu wollen, denn dieses Ritual bestand offenbar schon seit Urzeiten. Das Essen wurde auf einen Rollwagen, wie Hotels sie für den Zimmerservice benutzen, geladen, den der Geschäftsführer dann mit beflissener Miene in den Aufzug schob. Nach etwa fünfzehn Minuten kam er ohne den Wagen zurück. Eine Stunde später fuhr er wieder hinauf, um das Geschirr zu holen. Das Ganze wiederholte sich jeden Tag nach exakt dem gleichen Muster. Als ich es zum ersten Mal sah, fand ich es ziemlich merkwürdig, fast wie eine religiöse Zeremonie oder so was, aber mit der Zeit gewöhnte ich mich daran und fand nichts mehr dabei.«

Der Inhaber aß ausnahmslos Huhn. Zubereitungsart und Gemüsebeilagen variierten mehr oder weniger von Tag zu Tag, aber das Hauptgericht war stets Huhn. Einmal erzählte ihr ein junger Koch, dass er – als Test