Die Autoren

Rita Mae Brown – Foto © Jerry Bauer
Rita Mae Brown, geboren in Hanover, Pennsylvania, wuchs in Florida auf. Sie studierte in New York Filmwissenschaft und Anglistik und war in der Frauenbewegung aktiv. Berühmt wurde sie mit dem Titel Rubinroter Dschungel und durch ihre Romane mit der Tigerkatze Sneaky Pie Brown als Co-Autorin.
Sneaky Pie Brown – Foto © © Jacob Werth
Sneaky Pie Brown ist Co-Autorin von Rita Mae Brown. Beide leben in Crozet, Virginia.

Das Buch

Sengende Hitze liegt über dem Städtchen Crozet. Da braut sich ein Sturm über den Blue Ridge Mountains zusammen. Kein gutes Omen, denkt Mary Minor »Harry« Harristeen, und tatsächlich ereignet sich kurz darauf ein tödlicher Autounfall. Schnell kommen jedoch Zweifel auf. War es wirklich ein Unfall, der Barbara Leader das Leben kostete?
Privatdetektivin Harry und ihre kluge Tigerkatze Mrs. Murphy beginnen zu ermitteln. Ein erster Hinweis im Fall der getöteten Krankenpflegerin von Gouverneur Samuel Holloway führt sie auf einen alten Friedhof. Dort stoßen sie auf das Grab von Francisco Selisse, der 1748 auf seinem stattlichen Anwesen Big Rawly brutal ermordet wurde. Auch Barbara arbeitete und lebte auf Big Rawly. Lastet auf dem alten Haus ein tödlicher Fluch? Harry und Mrs. Murphy begeben sich auf Spurensuche, es muss eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit geben.

Rita Mae Brown und Sneaky Pie Brown

Die Maus zum Gärtner machen

Ein Fall für Mrs. Murphy

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Margarete Längsfeld

Ullstein

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www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2016
unter dem Titel Tall Tail
bei Bantam Books, New York

© 2016 by American Artists, Inc.
Illustrationen © 2016 by Michael Gellatly
© der deutschsprachigen Ausgabe
2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2029-8

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Widmung

Für Ruth Dalsky,
meine langjährige Polo-Teamkollegin.
Sie ließ mich auf dem Spielfeld nie im Stich
und im richtigen Leben auch nicht.

Personen der Handlung

Gegenwart

Mary Minor »Harry« Haristeen hat am Smith College ihren Abschluss in Kunstgeschichte gemacht und betreibt in Crozet, Virginia, die Farm ihrer Familie. Ihre zwei Katzen und die Hündin sind ihre ständigen Begleiterinnen.


Pharamond »Fair« Haristeen, Doktor der Veterinär­medizin. Harrys Ehemann ist Pferdearzt und auf Fortpflanzung spezialisiert. Er hat es längst auf­gegeben, mit seiner Frau Schritt zu halten. Sie stellt ihn bisweilen vor ein Rätsel, aber er liebt sie.


Susan Tucker, Harrys Freundin seit Kindertagen. Sie necken sich, streiten und spornen sich gegenseitig an. Sie können gut miteinander.


Ned Tucker, Susans Ehemann, ist Rechtsanwalt und gegenwärtig Abgeordneter im Parlament.


Deputy Cynthia Cooper. Die große, schlanke Frau ist Harrys Nachbarin auf der angrenzenden Farm. Cooper liebt den Polizeidienst. Hin und wieder mischt Harry sich in Coopers berufliche Angelegenheiten ein, aber zu ihrer Verteidigung sei gesagt, dass sie ein unheimliches Talent besitzt, auf wichtige Informationen zu stoßen.


Gouverneur Samuel Holloway, ein Seeheld im Zweiten Weltkrieg und einstmals der Gouverneur, ist Susans Großvater mütterlicherseits (G‑Pop). Er stirbt mit sechsundneunzig an Leukämie. Sein Verstand ist messerscharf.


Penny Holloway, die Ehefrau des Gouverneurs, Susans Großmutter, ist darum bemüht, alles und alle im Lot zu halten. Was ihr meistens gelingt. Wie ihre Enkelin spielt sie gut Golf.


Millicent Grimstead, Susans Mutter, hält sich häufig auf Big Rawly auf, dem Gut ihrer Eltern, um ihrem Vater zur Hand zu gehen.


Edward Holloway Cunningham. Susans Vetter ist Staatssenator mit einer großen Anhängerschaft. Er kandidiert derzeit für einen Senatssitz in Washington, weil ihm Richmond zu klein geworden ist. Er springt auf den Zug seines Großvaters auf.


Mignon Skipworth, eine junge Schriftstellerin und ­Forscherin, arbeitet bei dem Gouverneur, der seine Autobiografie schreibt. Sie ist diskret und zuverlässig.


Barbara Leader. Die ambulante Krankenpflegerin betreut den Gouverneur, muntert ihn auf, verabreicht ihm seine Medikamente sowie den stärkenden Bourbon. Sie war auf der Crozet Highschool eine Klasse unter Harry und Susan. Sie waren nicht eng befreundet, mögen sich aber alle.

Achtzehntes Jahrhundert

Catherine Schuyler. Mit ihren zwanzig Jahren schon eine kluge, vernünftige und ungemein schöne Frau, erlernt sie von ihrem vortrefflichen Vater das Geschäftsgebaren. Sie genießt bereits einen Ruf als vorzügliche Reiterin.


John Schuyler, ein früherer Major im Unabhängigkeitskrieg, nur wenige Jahre älter als seine umwerfende Frau, ist kräftig gebaut und arbeitet hart. Da er aus Massachusetts kommt, können ihm manche Gepflogenheiten der virginischen Gesellschaft entgehen.


Rachel West ist zwei Jahre jünger als ihre Schwester Catherine, ebenfalls schön, doch ihre Schönheit ist sanfter, lieblicher. Sie ist leicht zufriedenzustellen, hilfsbereit und von einer tiefen moralischen Überzeugung beseelt.


Charles West. In der Schlacht von Saratoga von John Schuyler gefangen genommen, ist der damals Neunzehnjährige den ganzen Weg zum Kriegsgefangen­enlager The Barracks außerhalb von Char­lottesville marschiert. Als zweitgeborener Sohn eines Barons in England war er so vernünftig gewesen, in Amerika zu bleiben. Wie John ist er geblendet von seiner Frau und weiß, wie gut er es getroffen hat.


Karl Ix, ein Hesse, ebenfalls gefangen genommen. Er und Charles werden im Lager Freunde und setzen ihre Zusammenarbeit nach dem Krieg fort.


Francisco Selisse. Der Mann in mittleren Jahren hat jede Menge Geld gemacht, zuerst durch Heirat und dann durch eigene Tatkraft. Er ist ästhetisch anspruchsvoll, rücksichtslos in Geschäften, streng mit seinen Sklaven und infolgedessen nicht gerade beliebt.


Maureen Selisse. Die Tochter eines karibischen Bankiers war ein außergewöhnlicher Fang für Francisco. Sie ist sich ihrer gesellschaftlichen Stellung deutlich bewusst und auch daran gewöhnt, ihren Willen durchzusetzen. Obwohl die Liebe zu Francisco verblasst ist, macht es sie wütend, dass er es mit einer schönen Sklavin treibt und sich kaum bemüht, das zu verbergen.


Hiram Meisner, der Bezirkspolizist, ist zuständig für das Aufspüren von Verbrechern und entlaufenen Sklaven. Er ist kein schlechter Mensch und erledigt seine Arbeit ohne größere Begeisterung.


Dennis McComb legt als Meisners Gehilfe mehr Begeisterung an den Tag, ist jedoch keine große Leuchte und sieht die Welt in schwarz und weiß.


Ewing Garth, der Vater von Catherine und Rachel, ist ein liebevoller Mensch und hervorragender Geschäftsmann. Er ist ein Geschöpf seiner Zeit, aber lernfähig. Er hat den Krieg mitfinanziert und hofft, dass die neue Nation zusammenhalten kann. Der Witwer vermisst seine Frau, die ihm eine wahre Gefährtin war.


Bartholomew Graves, ein Ire, war im Krieg Artillerieoffizier bei den Briten. Auch er war in The Barracks. Er brach aus, um sich ein neues Leben aufzubauen.


Mary Graves ist jünger als ihr Mann, verständig, gut aussehend, fürsorglich, und bereitet dem Veteran ein liebevolles Zuhause. Sie passen gut zusammen.

Die Sklaven: Big Rawly

Aileen (Ailee) hat Katzenaugen, einen üppigen Körper und Freude am Leben. Sie liebt Moses. Francisco gelüstet es nach ihr, er tut ihr Gewalt an und schlägt sie nötigenfalls. Sie meidet ihn, so gut sie kann, und lässt nicht zu, dass er ihre Lebenslust schmälert.


Moses Durkin arbeitet mit seinem Vater im Stall. Seine Liebe zu Ailee ist überwältigend. Er möchte sie beschützen, aber wie?


Sheba ist Maureen Selisses Dienerin. Tatsächlich ist sie Maureens rechte Hand und genießt die Macht. Sie wird jeden vernichten, der ihr im Weg steht.


DoRe Durkin, Moses’ Vater, hinkt seit einem lange zurückliegenden Sturz von einem Pferd. Er macht sich Sorgen um Moses, der, so befürchtet er, etwas ganz Dummes anstellen wird.

Die Sklaven: Cloverfields

Bettina ist eine Köchin mit fabelhaften Fähigkeiten. Sie ist dank ihres Ansehens, ihrer Klugheit und ihrer wunderbaren Herzlichkeit die Anführerin der Sklaven. Sie hat zudem eine schöne Stimme. Bettinas Ansicht: »Ich könnte eine Königin in Afrika sein, ich bin aber nicht in Afrika. Ich bin hier.« Sie hat Isabelle, Ewings Ehefrau, etwas gelobt, als diese im Sterben lag. Bettina gelobte, sich um Catherine und Rachel zu kümmern. Sie hat ihr Versprechen gehalten.


Serena ist jung und wird innerhalb und außerhalb der Küche von Bettina angeleitet. Sie ist ungemein gutmütig und willig und wird in Zukunft Macht über ihre Leute ausüben.


Jeddie Rice ist achtzehn und ein Naturtalent im Umgang mit Pferden. Er liebt sie. Er ist mit Catherine geritten, hat mit ihr gearbeitet und Stammbäume erforscht, seit sie Kinder waren. Wie Serena weist auch Jeddie alle Eigenschaften eines Menschen auf, der es zu etwas bringen wird, so schwierig die Welt auch sein mag, in der sie leben.


Tulli, ein kleiner Stallbursche, der mit Eifer lernt.


Ralston, fünfzehn und mager, ist ebenfalls im Stall tätig. Er arbeitet hart.


Vater Gabe ist alt, ruhig und wachsam. Er erkennt das Christentum an, übt aber die alte Religion aus. Viele glauben, dass er Geister beschwören kann. Einerlei, ob er das kann oder nicht, er ist ein Heiler.


Roger hat als Ewings Hausdiener den mächtigsten Posten, den ein Sklave innehaben kann. Er ist sicher im Umgang mit Menschen, egal ob schwarz oder weiß.


Weymouth, Rogers Sohn, ist Mitte zwanzig. Sie hoffen, dass er eines Tages den Posten seines Vaters erben wird, doch vorerst ist er es zufrieden, die zweite Geige zu spielen. Er ist ein guter Bartscherer und nicht besonders ehrgeizig.


Barker O., kräftig und ruhig, lenkt den majestätischen Vierspänner. Er ist in ganz Virginia wegen seines Könnens bekannt.


Bumbee streitet mit ihrem Mann. Schließlich zieht sie in die Webstube, um von ihm getrennt zu sein und eine verlorene Seele zu trösten.


Ruth hat ein zweijähriges und ein neugeborenes Kind. Sie liebt alle Menschen-, Katzen- und Hundebabys und wird diese Liebe beweisen, um ein junges Leben zu retten.

Die Tiere

Mrs. Murphy, Harrys Tigerkatze, weiß, dass sie mehr Grips hat als ihr Mensch. Sie hat sich eine Weile bemüht, Harry vor Schwierigkeiten zu bewahren. Doch das hat sie aufgegeben, denn sie weiß, dass sie nicht mehr tun kann, als ihren Menschen zu gegebener Zeit aus einer misslichen Lage zu befreien.


Pewter, eine dicke graue Katze, glaubt, dass die Welt ihren Anfang nahm, als sie sie betrat. So eine Diva. Doch die Königin über alles, was sie in ihrem Blick hat, kommt notfalls durch, wiewohl man nie erfährt, wie es ausgeht.


Tee Tucker wurde von Susan Tucker gezüchtet. Die robuste, resolute Corgihündin weiß, dass sie Harry beschützen, mit der vernünftigen Mrs. Murphy arbeiten und Pewter ertragen muss.


Owen ist Tuckers Bruder. Sie genießen es, zusammen zu sein. Für Tucker ist es eine Befreiung, zuweilen von den Katzen fortzukommen.


Shortro ist ein junges Jagdpferd.


Tomahawk, Harrys altes Vollblutjagdpferd, nimmt es ziemlich übel, für alt gehalten zu werden.

Die Tiere im achtzehnten Jahrhundert

Piglet ist ein tapferer, kluger Corgi, der mit Hauptmann Charles West Krieg und Gefangenschaft überstanden hat. Er lebt gerne in Virginia bei den anderen Tieren und Menschen.


Serenissima ist Francisco Selisses sagenhafte Stute, die er zu Catherine schickt, um sie von deren Hengst Reynaldo decken zu lassen.


Reynaldo ist vielversprechend, mit herrlichen Anlagen, aber ungestüm. Catherine und Jeddie wissen ihn zu nehmen.


Crown Prince ist ein jüngerer Halbbruder von Reynaldo. Beide entstammen Queen Esther, und Crown Prince hat zum Glück ihr Temperament.


King David ist ein Kutschpferd. Er ist kräftiger gebaut als Reynaldo und Crown Prince. Solomon ist King Davids Bruder. Zu zweit bilden sie ein prachtvolles Gespann.


Castor und Pollux sind zwei Percheronpferde, die schwere Arbeit leisten. Sie sind sehr brave Burschen.


Sweet Potato ist ein keckes Pony, das Tulli das Reiten beibringt.


Martin war Maureen Selisses Hengst, landet aber in York, Pennsylvania, wo Mary Graves ihn mit Leckereien verwöhnt. Er passt auf sie auf.

1

Dienstag, 12. Juli 2016

Das Flammenschwert in der Hand, blickte der Racheengel, der über ein monumentales Grabmal wachte, über wogendes Land zu den Blue Ridge Mountains hin. Mit dem verkniffenen Mund und dem durchdringenden Blick verkörperte er nicht die Verheißung von Frieden, Ruhe und ewigem Jubel beim allmächtigen Herrn.

Unter diesem imponierenden Marmorgrabmal ruhten die Gebeine von Francisco Selisse, geboren am 12. Januar 1731, gestorben am 10. September 1784. Historiker rätseln noch immer, wie er genau ermordet wurde. Drei weitere Personen standen im Raum, als es geschah. Die Berichte wichen von­ein­ander ab, doch keiner stellte infrage, dass Francisco erdolcht worden war.

Big Rawly, die Plantage, wo diese abscheuliche Tat sich ereignete, sah noch ziemlich genauso aus wie 1784. Aus Backsteinen oder Schindeln erbaut, waren die meisten früheren virginischen Wohnhäuser einander ähnlich. Im Allgemeinen wollten die Wohlhabenden georgianische Häuser haben, doch Big Rawly, das einem französischen Château nachempfunden war, bis hin zu den Stallungen und Nebengebäuden, machte immer wieder Eindruck.

Harry hatte dort als Kind mit den Kindern vom Nachbargut Beau Pre, von Big Rawly und den Kindern gespielt, die von ihren Müttern zu dem Gut chauffiert wurden. Die Gutsbesitzer, die Holloways, hatten Kinder, liebten Kinder und hießen sie ausnahmslos willkommen. Susan Tucker, Harrys beste Freundin, war ihre Enkelin.

Francisco und Maureen Selisse waren kinderlos geblieben und dürften sich an dieser Kinderschar erfreut haben. Doch das war schwer zu sagen, denn der Ruf der Erbarmungslosigkeit hängt ihnen bis heute an.

Auf dem Friedhof, dessen Mitte dieses imponierende Grabmal beherrschte, soll es gespukt haben. Als Kind hatte Harry den Friedhof gemieden, und noch als Erwachsene hatte der streng blickende steinerne Engel sie erschauern lassen. Im Laufe der Jahrhunderte behaupteten viele, hier Gespenster gesehen zu haben, doch mit einer für solche Erscheinungen lobenswerten Rücksichtnahme hatten die Verstorbenen niemals Kinder verstört.

Als Harry nun als Erwachsene auf der schmalen Straße, der Verlängerung der Garth Road, dahinrumpelte und an diesem Ort vorbeikam, fragte sie sich, ob diese Rücksichtnahme für immer Bestand haben würde.

Als sie links abbog und auf Crozet zuhielt, bemerkte sie, dass sich hinter den Blue Ridge Mountains dunkle Wolken auftürmten. Kein gutes Zeichen. Bei ihr in ihrem alten 1978er F-150 saßen Mrs. Murphy, die Tigerkatze, und Pewter, die graue Katze. Tucker, eine Corgidame, war auch dabei und ­ jederzeit hilfsbereit. Das ließ sich von den Katzen nicht behaupten.

Sie kamen zu einer weiteren Linkskehre, die sich einige Meilen abwärts wand, bis hin zur alten Three-Chopt Road, Route 250. Wegen des drohenden Gewitters nahm Harry diese schnellere Straße statt des angenehmen Fahrweges nach Whitehall, wo sie ebenfalls links abbiegen würde, um nach Hause zu gelangen.

Aus der Gegenrichtung kam ein roter Camry um eine Kurve gesaust. Auf so einer kurvenreichen Straße sollte man lieber vorsichtig sein, fand Harry. Sie hatte angehalten und den linken Blinker betätigt, als ein gewaltiger Donnerschlag sie und ihre Begleiterinnen erschreckte.

Gleich darauf schlingerte der rote Camry direkt auf sie zu. Das Auto schien völlig außer Kontrolle geraten zu sein. Harry gab Gas, und das Auto verfehlte ihre Ladefläche nur um Zentimeter. Sie preschte schnell vorwärts, ehe sie auf dem kleinen Parkplatz der Mt.-Olivet-Kirche wendete. Zu der Abzweigung zurückgekehrt, sah sie den roten Camry mit der Schnauze in dem niedrigen Abflussgraben stecken. Die Räder drehten sich, der Motor lief noch.

Harry bog in die Owensville Road ein und fuhr so weit wie möglich auf die Seite. Sie schloss die Tür, da die ersten Regen­tropfen fielen, und rannte zu dem Camry. Eine Frau mittleren Alters war am Lenkrad zusammengesackt und reagierte nicht auf Harrys Klopfen ans Fenster. Sie erkannte die Fahrerin als Barbara Leader, die auf der Highschool eine Klasse unter ihr gewesen war, und klopfte stärker. »Barbara!«

Keine Reaktion.

Zum Glück war die Tür nicht verriegelt. Harry machte sie auf und berührte Barbara an der Schulter. Keine Reaktion. Sie fühlte ihren Puls. Kein Puls. Barbaras Kopf sackte nach vorn. Als Harry die glasigen Augen sah, wusste sie, dass es keine Hoffnung gab.

Harry rannte zu ihrem Transporter zurück, stieg auf die Ladefläche, wo sie ihren Werkzeugkasten aufbewahrte, und zerrte zwei Leuchtfackeln heraus. Dann rannte sie zurück und steckte jeweils eine in einigem Abstand vor und hinter den Camry, um beide Richtungen der Garth Road abzu­sichern. Die Fackeln brannten etwa zwanzig Meter von dem gestrandeten Fahrzeug entfernt, sodass vorbeikommenden Autofahrern Zeit zum Verlangsamen blieb.

Harry rannte wieder zu ihrem Transporter, sprang hinein, da der Regen stärker wurde, riss ihr Handy von der Sonnenblende, wo sie es immer hinsteckte, und rief Cynthia Cooper an, ihre Freundin und Nachbarin als auch Polizistin vom Sheriff­revier.

»Coop, ich bin an der Garth und Owensville Road. Ein Auto ist von der Straße abgekommen. Die Fahrerin ist tot. Es handelt sich um Barbara Leader.«

»Bin gleich da.«

»Ist im Auto von der toten Frau was zu essen?«, fragte Pewter.

»Pewter!« Die Hundestimme klang vorwurfsvoll. »Zeig ein bisschen Respekt.«

»Wieso? Ist doch sinnlos, es verkommen zu lassen.« Die graue Katze war überaus praktisch veranlagt.

Bäume bogen sich tief, kleine Äste flogen herab. Der Himmel färbte sich schwarz bei dem jetzt heftigen Regen, und Harry konnte kaum drei Meter weit sehen. Sie hoffte, Passanten würden ihre Fackeln und ihre Blinker bemerken.

Zum Glück erwies sich das plötzlich grässliche Wetter als günstig, weil vernünftigere Autofahrer die Straße mieden. Binnen zehn Minuten hörte Harry die Sirene, sah dann die Blinklichter. Ohne auf das Wetter zu achten, sprang sie vom Fahrersitz nach draußen und lief eilig zum Streifenwagen.

»Harry, du bist ja pitschnass.«

»Es ist warm«, entgegnete Harry Coop, die ihren Regenmantel anhatte.

Die schlanke Polizistin öffnete die Tür des Camry und sah sich mit ihrer Taschenlampe um. Auch sie fühlte nach dem Puls. Anschließend trat sie an die Beifahrerseite und öffnete die Tür. Sie entnahm dem Handschuhfach die Zulassungs­papiere und legte sie dann wieder zurück.

Harry seufzte. »Ich kannte sie von der Schule. Sie ist Krankenschwester geworden. Das heißt, ich habe sie nicht gut gekannt, sie war eine Klasse unter mir und beliebt. Sie hat Su­sans Großvater zu Hause gepflegt.«

Susan Tucker, Harrys beste Freundin, kannte Barbara auch. Susans Großvater Samuel Holloway war Anfang der Sieb­zigerjahre Gouverneur von Virginia gewesen. Als bei ihm Leu­kämie diagnostiziert wurde, hatte er es ignoriert und weitergemacht, doch schließlich forderten die Krankheit und sein fortgeschrittenes Alter ihren Tribut. Barbara war montags bis freitags auf der Big-Rawly-Farm. Mit ihrem lebensfrohen Wesen heiterte die Pflegerin alle auf.

»Sie ist wenigstens schnell gestorben.« Cooper atmete aus. »Das ist womöglich ein gewisser Trost.«

Betrübt, weil sie eine langjährige Bekannte in einem solchen Zustand sah, zuckte Harry nur die Achseln. Sicher, es ist schmerzhaft, einem langsamen Sterben zuzusehen, doch ein plötzlicher Tod ist ein Schock, zumal wenn der Verstorbene jung ist.

»Vermutlich ist man nie zu jung für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall«, sagte Cooper und riet Harry, sich wieder auf den Weg zu machen.

»Ich warte mit dir auf die Ambulanz.«

»Fahr los. Ich hab auf der Fahrt hierher im Radio gehört, dass der Wind stärker wird. Es wird wohl ein Unwetter geben. Wir sprechen uns später, dann kannst du mir die Einzelheiten schildern.«

Wieder im Transporter, startete Harry den Motor. Das Brummen war immer Musik in ihren Ohren.

»Nichts zu essen?«, drängelte Pewter.

Harry streichelte die dicke Graue. Sie ließ die Blinker eingeschaltet, während sie langsam die Straße entlangfuhr. Sie brauchte ewig, bis sie nach St. Paul’s kam, wo sie rechts abbog. Weiterhin vorsichtig unterwegs, bemerkte sie am Straßenrand Autos, die wegen des schlechten Wetters dort hielten. Äste flogen umher, einige landeten auf dem Asphalt, sodass Harry um sie herumfahren musste. Als sie ihre Farm erreichte, sprach sie ein Dankgebet. Es kam ihr wie ein Wunder vor, dass sie es geschafft hatte.

Cooper hatte recht, dies war ein Unwetter. Der Regen fiel wie ein stahlgrauer Vorhang, und der Wind blies gefährlich mit hundert Stundenkilometern.

Als sie ihre gepflasterte Farmstraße entlangfuhr, sah sie, dass Bäume im Regen umgefallen waren. Sie stellte den Transporter vor dem Stall ab, lief hinein und öffnete die äußeren Boxentore, die alle auf Koppeln hinausgingen. Sie konnte die Pferde kaum sehen, die sich, die Hinterteile im Wind, zusammengedrängt hatten. Sie pfiff, und sie trotteten munter ein jedes in seine Box. Sie ging von Box zu Box, streichelte ihre Lieblinge, schloss die Außentore und danach die großen Stalltore, die sie einen Spalt offen ließ. Es wäre nicht eben klug, in dieser Lage zuzulassen, dass der Luftdruck innen im Stall höher war als draußen.

Der Wind heulte. Sie schlüpfte wieder ins Freie und öffnete die Transportertür. Die Katzen flitzten hinaus, rasten zum Haus und stießen fast zusammen, als sie die Tierklappe in der Verandatür erreichten.

Harry hob Tucker aus dem Transporter und stürmte dann auch zum Haus. Tucker rannte noch schneller voraus.

Drinnen angekommen, zog Harry die nassen Sachen aus, trocknete sich mit einem flauschigen Handtuch ab und zog frische Sachen an. Sie ließ die durchnässten Kleidungsstücke in der Dusche. Sie wollte sie später auswringen und nach unten zur Waschmaschine bringen, aber fürs Erste war sie hungrig und betrübt.

Die Lichter flackerten und erloschen. Sie stellte Futter für die Tiere hin und versuchte, ihren Mann mobil zu erreichen, weil der Strom ausgefallen war. Sie kam nicht durch. Nicht dass sie sich Sorgen um ihren eins neunzig großen Mann machte, denn der Pferdearzt war fast jeder Aufgabe gewachsen, doch sie wollte seine Stimme hören.

Die Fenster klapperten. Tucker schaute furchtsam.

Auch die Katzen wirkten verängstigt.

Harry kniete nieder, um alle zu streicheln, falls das heftige Unwetter sie erschreckte. »Wir haben eine Menge zusammen durchgestanden«, sagte sie tröstend.

»Ja, haben wir«, bestätigte Tucker.

Mrs. Murphy rieb sich an Harrys Bein. »Richtig. Wir haben eine Menge zusammen durchgestanden

»Und das meiste davon war deine Schuld«, behauptete Pewter entschieden.

»Pewter, du redest so’n Blödsinn«, blaffte Mrs. Murphy zurück.

»Arschgesicht«, grummelte Pewter.

»Deine Ausdrucksweise ist verdorben«, schalt Tucker sie.

»Ihr treibt mich dazu. Auf mich allein gestellt benehme ich mich exzellent«, meinte die graue Katze, die wusste, dass niemand in Hörweite diese Mordsflunkerei glauben würde.

Harry stand lächelnd auf. »Was habt ihr zwei zu schwatzen?« Ein heftiger Windstoß lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Küchenfenster. »Ich kann nichts sehen.«

Sie machte den Kühlschrank auf. Auch ohne Licht wusste sie, wo alles war, und nahm ein Stück Käse und eine Cola heraus. Sie setzte sich und verschlang den Käse, so hungrig war sie.

»Ich mag auch Käse«, verkündete Pewter.

Harry sah hinunter zu der Katze, die ihr bestes Bettel­gesicht aufsetzte, blickte dann wieder hoch, weil die Fenster stärker klapperten. »Bin gespannt, ob Barbaras Gespenst demnächst in der Kurve spukt, wo sie von der Straße abgekommen ist.«

»Was?«, fragte Tucker.

Harry schüttelte den Kopf. »Das kommt von dem Racheengel auf dem Friedhof. Der lässt mich an Gespenster denken. Ich weiß nicht, ob ich an Gespenster glaube, aber man sagt, Tiere könnten sie sehen.«

»Ich will keins sehen«, versetzte Pewter. »Wenn ich eins sehe, lauf ich weg.«

»Und wenn das Gespenst Thunfisch hat?«, meinte der Hund.

»Tja, das ist was anderes«, erwiderte die dicke graue Katze.

»Aber wäre Thunfisch dann kein Gespensterfutter?«, zog Mrs. Murphy Pewter auf.

»Fische sind keine Gespenster«, erklärte Pewter mit Nachdruck.

»Das weiß man nicht.« Mrs. Murphy leckte sich die Vorderpfote. »Vielleicht ist Moby Dick da draußen und macht allen Angst.«

»Ehrlich, warum schreibt einer ein dickes Buch über einen schwachköpfigen Wal? Wenn Menschen schreiben wollen, sollten sie über Katzen schreiben.« Pewter blies die Backen auf. Das war ein wunder Punkt bei Pewter. Sie konnte Melvilles Erzählkunst nicht leiden. Wenn Harry mit ihnen allein war, hatte sie ihnen schon Moby Dick vorgelesen.

Als die Tiere jetzt hin und her frotzelten, dachte Harry über die Zartheit des Lebens nach. Sie hatte Menschen sterben gesehen. Das beunruhigte oder ängstigte sie nicht. Aber Barbara Leader war nicht alt. Der Tod kommt, wenn der Herr es will, meist unangekündigt. Harry sprach ein Gebet für Barbara Leader und dachte dann über ihren Geist nach. Ein Gespenst würde nicht an der Stelle spuken. Das war albern.

Sie sprach noch ein Gebet und dachte dann, damit sei der Fall erledigt.

War er natürlich nicht.

2

Dienstag, 12. Juli 2016, 18 Uhr 30

Fair, der fast jedermann in der Gegend kannte, fuhr die Landstraßen ab und räumte unterwegs abgebrochene Äste weg. Dabei sah er auch nach den Pferden auf den Weiden und schaute sich in Zufahrten um, deren Eigentümer meist beim Aufräumen nach dem Sturm anzutreffen waren. Es war ein Wunder, dass nirgendwo ein Pferd verletzt worden war. Der Handyempfang schwankte, was bedeutete, dass das Wetter viel Schaden angerichtet hatte. Das Unwetter war noch nicht vorüber. Fair betete nur, der heftige Wind möge nicht wiederkehren.

Abends um halb sieben fuhr er endlich seine eigene Zufahrt hinauf. Durchnässt, müde und hungrig trat er durch die Tür. Die Lichter brannten dank des Stromaggregates, eines Fünftausend-Dollar-Gerätes, das jeden einzelnen Penny wert war.

»Schatz!« Harry drehte sich vom Herd weg, um ihren Mann zu umarmen. »Du siehst aus wie ein begossener Hund.«

»Das verbitte ich mir«, grummelte Tucker.

»Würde dich jemand begießen, dann sähst du aus wie ein Seehund«, meinte Pewter feixend.

Die Hündin kräuselte die Lippe. »Würdest du besser abschneiden?«

»Besser! Dem würde ich die Augen rauskratzen. Dann könnte ich von überall angreifen. Der wäre geschreddert wie Staatspapiere.« Sie plusterte sich auf.

»Du könntest dich auf ihn setzen. Davon gehen bestimmt ein paar Rippen kaputt.« Tucker streckte eine Pfote aus, um sie zu tätscheln.

Pewter fauchte. »Rühr mich nicht an. Wag es bloß nicht, mich anzufassen!«

»Ach, seid still«, sagte Mrs. Murphy. »Ich will hören, was Daddy zu sagen hat.« Sie sprang auf die Anrichte.

Harry war so erleichtert, weil ihr Mann zu Hause war. »Setz dich hin. Ich hab auf dich gewartet. Wollte dich anrufen, aber auch das funktioniert nicht.«

»Ich weiß.« Er ließ sich erschöpft auf einen Stuhl am Küchentisch fallen.

»Zuckererbsen, Reis und Flankensteak. Keine französische Kost, aber gut für dich, und außerdem alles, was ich finden konnte. Heute ist Einkaufstag, aber ich hab’s nicht geschafft.«

Sie stellte das Essen vor ihn hin und setzte sich, um auch zu essen.

Die Näpfe der Tiere waren gefüllt, weshalb sie ihre Menschen nicht behelligten, zumal Harry ihnen etwas Steakfleisch klein geschnitten hatte. Verwöhnt traf es nur halbwegs.

»Wie viel Zerstörung hast du gesehen?«, fragte sie.

Er schluckte einen Mundvoll Zuckererbsen, die er gern mochte. »Abgedeckte Dächer, besonders die Falzblech­dächer. Als hätte ein Büchsenöffner eine Seite aufgeschlitzt. Aber nur schmale Bereiche. Ich habe kein einziges Gebäude ohne Schäden am Dach gesehen. Große Äste sind runtergekommen. Weihrauchkiefern sind entwurzelt, und jedes Mal, wenn ich an einen Bach kam, waren überall umgestürzte Bäume.«

»Die Bäche müssen gewirkt haben wie ein Windkanal«, meinte Harry erstaunt.

»Vermutlich.«

»Wenn unsere Handys erst wieder funktionieren, kriegen wir den Wetterkanal.«

»Stromtrupps sind überall. Das muss man den Energie­unternehmen lassen.«

»Schatz, was wir den Energieunternehmen lassen, ist unser Geld, eine Menge Geld.« Harry war streng in Sachen Geld und Dienstleistungen.

Sie arbeitete schwer für ihren Lebensunterhalt, ihr Mann ebenso, und von allen, mit denen sie Geschäfte machte, erwartete sie dasselbe. Das Problem mit den Energieunternehmen, Handydiensten und Internetanbietern war, nicht nachzulassen, wenn sie überlastet waren. Wenn Harry sich ärgern musste, kündigte sie einfach dem Anbieter. Sie hatte Methoden studiert, wie sie mit altmodischen Windmühlen ihren ­eigenen Strom erzeugen konnte. Eine höchst aufregende mit Wind betriebene Würfelkonstruktion wurde in Akron, Ohio, entwickelt. Für die interessierte sie sich, und niemand unter ihren Freunden bezweifelte, dass sie die Erste sein würde, die mit der neuesten erschwinglichen Technik ihren eigenen Strom erzeugte. Solarzellen hörten sich gut an, doch im Falle einer dichten Wolkendecke oder wegen Nebels könnten Tage und gelegentlich eine Woche ohne Sonnenschein vergehen. Die umliegenden Blue Ridge Mountains hatten ihr eigenes Wettersystem. Harry, die hier geboren war, konnte das Wetter in den Knochen spüren. Wenn sich Wolken hinter den nahen Gipfeln türmten, war das für sie die Warnung vor einem Sturm. Wie heftig er sein würde, wusste sie allerdings nicht.

Fair schaufelte sich das Essen in den Mund, bevor er fragte: »Soll ich noch Benzin für das Aggregat pumpen?«

Die Farm hatte zwei Pumpen, eine für Benzin, eine für Diesel. Die meisten Farmen hatten eigene Pumpen. Man kann nicht pflügen, mähen oder Heu machen, wenn man dauernd zur Tankstelle sausen und Zwanzig-Liter-Kanister füllen muss.

»Nein«, antwortete Harry. »Ich wollte lieber warten, bis ich dir erzählt habe, was mir heute passiert ist. Es war erschütternd.«

Sein Verhalten schlug augenblicklich in Besorgnis um. »Schatz, was ist passiert? Du musstest nicht warten.«

»Es hätte das Abendessen verdorben. Ich war kurz bei Su­sans Verwandten. Hab ihrer Großmutter eine kleine Gardenie für ihren Garten geschenkt. Sie sieht übrigens toll aus. Niemand würde glauben, dass Penny Holloway achtundachtzig ist. War nur ganz kurz dort, dann bin ich die Zufahrt runtergefahren und nach links auf die Garth Road abgebogen. Schwarze Wolken türmten sich hinter den Bergen, drum hab ich mich beeilt, nach Hause zu kommen. Jedenfalls, kaum war ich an der kleinen weißen Schindelkirche, als ein Regentropfen platschte, dann noch einer, und dann wumm, kräftiger ­Regen. Bin langsamer gefahren, hab links geblinkt, um abzubiegen, und da kam ein kleiner roter Camry in der Gegenrichtung auf der Garth Road angerast. Es war Barbara Leader, sie hat mich nur um ein Haar verfehlt, bevor sie von der Straße abkam.

Fair, dann bin ich hingerannt, aber ich konnte nichts mehr tun. Sie war tot. Coop war in zehn Minuten da.«

»Schatz, das tut mir so leid.« Er nahm ihre Hand. »Was für ein Schreck. Barbara, was für ein Verlust. Sie ist eine von denen, die immer bereit sind, mit anzupacken, das heißt, sie war es. Sie war auch eine gute Cheerleaderin«, erinnerte er sich.

»Ich glaube, sie war tot, bevor das Auto zum Stehen kam. Das hoffe ich zumindest.«

»Klingt nach Herzinfarkt oder Schlaganfall. Ich bedaure, dass sie tot ist, aber ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.«

»Ich auch«, pflichtete Pewter bei.

»Man kann nie wissen.« Harry seufzte, dann sah sie aus dem Küchenfenster. »Es regnet ohne Unterlass. Ist so was möglich?«

»Leider.«

»Lass uns zu Cooper rüberlaufen. Sie hat heute bestimmt einen langen Tag. Jede Menge Unfälle, nehm ich an. Wir können ihr Aggregat starten und ihr was zu essen in den Kühlschrank stellen. Wir haben genug übrig.«


Bei Coopers Anwesen angekommen, ging Fair sorgsam um das Haus, sah nach dem alten Aggregat, während Harry abgedeckte Speisen mit einem Zettel in den Kühlschrank stellte. Gerade als sie dabei waren, das Haus zu verlassen, kam Cooper angefahren.

Fair grüßte sie als Erster, als sie hereinkam.

»Cooper, genau rechtzeitig«, sagte Harry. »Dein Abend­essen ist im Kühlschrank.«

»Gott, Harry, danke. Ich bin total erledigt.« Cooper steuerte auf den Kühlschrank zu.

Harry nahm die abgedeckten Speisen heraus. »Setz dich. Du setzt dich jetzt hin.«

Fair, der Coopers Küche fast so gut kannte wie seine eigene, holte Alltagsgeschirr aus dem Schrank.

»Ich könnte einen extra Leckerbissen vertragen«, gab Pewter ihnen zu verstehen.

»Oberer Schrank, unteres Bord.« Cooper teilte ihnen mit, was sie schon wussten.

»Cooper, du musst meine Tiere nicht füttern«, sagte Harry, die wusste, dass sie sie gelegentlich zu sehr verwöhnte.

»Ach, das macht sie froh und mich auch.« Cooper lud sich Reis auf die Gabel. »Noch warm.«

»Wir sind eben erst gekommen.«

»Ihr habt die Äste aus meiner Zufahrt geräumt. Holzschnipsel haben euch verraten. Ich danke euch.«

»War gar nicht schlimm.« Harry reichte Cooper ein Bier. Fair setzte sich.

»Ich hätte alles aufwärmen und dich die nassen Sachen ausziehen lassen sollen«, sagte Harry.

»Mordshunger. Ich bin schon wieder halbwegs trocken.«

»Viele Unfälle?«, fragte Fair.

»Ein paar, aber nicht so viele, wie ich befürchtet hatte. Sämtliche Ampeln sind ausgefallen, aber die Leute sind schlau. Sie richten sich nach der Wer-zuerst‑da-war-­Methode, und damit hat sich’s. Ich denke, die meisten waren so vernünftig, die Straße zu verlassen. Wie auch immer, das Unwetter hat uns schnell erwischt.«

»Stell dir vor, kurz bevor der Wind losging, sind keine Vögel herumgeflogen. Kein Wild war unterwegs. Und den Pferden ging’s anscheinend gut. Es hätte mir auffallen müssen, dass sie alle in dieselbe Richtung guckten. Hinterher ist man immer schlauer.«

»Manchmal ja, aber meistens trete ich mir in den Hintern«, sagte Cooper.

»Oh, lass mich das für dich machen«, zog Harry sie auf. »Dafür sind Freunde da.«

Die Holzstufen ächzten. Fair gesellte sich zu ihnen, nachdem er das Aggregat gründlich überprüft hatte. »Du hast zwanzig Liter Reserve da unten.«

»Bin froh, dass ich das gemacht habe. Ich geb mir Mühe, alles vorrätig zu halten, aber ich mag kein Benzin im Haus lagern.«

»Ich auch nicht, doch wenn man es bedenkt, ist Holz neben dem Kamin auch nicht immer das Klügste«, erklärte Harry.

»Stimmt, aber Holz explodiert nicht.« Cooper hatte ihren Teller in Rekordzeit leer gegessen.

Harry sprach die süßest klingenden Worte: »Du hast recht.«

Es fing erneut an zu regnen, kräftig, aber nicht peitschend.

»Es geht schon wieder los«, meinte Cooper und sah hinaus. »Rick und ich« – sie meinte den Sheriff – »mussten Jordan Leader während der Arbeit über Barbara aufklären. Wisst ihr, das ist das Schwierigste an unserem Job. Seine Arbeitskollegen waren großartig, haben ihn nach Hause gefahren. Einer bleibt bei ihm.«

»Eine Idee, was passiert sein könnte?«

»Bei einem plötzlichen Todesfall wünschen die Angehörigen oft eine Obduktion, nur eine einfache Obduktion, die ein Krankenhauspathologe vornehmen kann. Jordan will so eine. Er sagte, Barbara war kerngesund.«

Harry nickte. »Komisch, was? Man will Bescheid wissen. Dadurch geht es einem irgendwie besser.«

Fair erwiderte: »Ja, aber wenn jemand an einer ererbten oder ansteckenden Krankheit gestorben ist, dann ist eine Obduktion sinnvoll. Und so was wie ein Schlaganfall ist ein leiser Todbringer. Wie oft hat man schon von jemandem gehört, der gerade eine Generaluntersuchung hatte und mit einem Herzinfarkt tot umfällt? Ich meine, es ist gut, die genaue Todesursache zu wissen.«

»Schon«, stimmte Harry zu, »aber es ändert letztlich nichts.«

In diesem Fall doch.

3

Mittwoch, 13. Juli 2016

Leidlich erholt, schlitterte Harry mit ihrem ein Jahr alten ATV-Gefährt seitwärts die Farmstraße entlang. Mit zwei Ausnahmen waren die Weidezäune heil geblieben. Nahe dem Bach, der Harrys und Coopers Anwesen voneinander trennte, waren zwei Bäume auf die abgelegenen Weiden gekracht. Entwurzelte Ahornbäume, an deren Wurzeln Schlamm hing, verstopften das Bachbett. Harry rumpelte zum Biberdamm, stellte den Motor ab und schwang ihr Bein über den Sitz.

Die Hände auf den Hüften, Tucker an ihrer Seite, betrachtete sie den Biberdamm. Ein fortgespültes Stück wurde bereits ersetzt von den fleißigen Tieren, die Harry kaum beachteten. Sie kannten sie natürlich, kam sie doch im Lauf der Jahre immer mal vorbei. Sie störte sie nie, Tucker tat es ebenso wenig, mit seltenen Ausnahmen. Keiner von ihnen schlug zur Warnung mit dem Schwanz aufs Wasser. In der Hocke sitzend, sahen sie kurz zu dem Menschen hin, bevor sie sich wieder ans Werk machten. Die klugen Geschöpfe holten sich die Holzstücke zurück, die sich in Wurzeln verfangen hatten oder hinter halb im Wasser liegenden Steinen hängen geblieben waren. Andere Biber kauten weiter vom Bach entfernt an Sprösslingen.

»Komm, Tucker.« Harry stieg wieder ein, Tucker sprang mitsamt schlammigen Pfoten auf ihren Schoß.

Harry sah Pfotenabdrücke als ihr Markenzeichen an.

Der ATV war so umgebaut worden, dass sie, statt mit dem rechten Daumen einen kleinen Gashebel zu drücken, den rechten Lenker drehen konnte wie bei einem Motorrad. Das machte lange Touren mit dem ATV leichter. Sie meinte dadurch eine bessere Kontrolle zu haben.

Harry waren zwei Räder lieber als vier, aber zum Befahren der Art Untergrund, wie sie es bei diversen Wetterbedin­gun­gen zu tun pflegte, war ein Geländemotorrad nicht sehr ­nützlich – außerdem konnte sie auf einem Motorrad nichts transportieren. Ein hinten an ihrer Maschine montierter Werkzeugsatz genügte in den meisten Notfällen. So lieb Harry ihr alter Allradtransporter auch war, dieses Gefährt war billiger im Verbrauch, und sie konnte damit an Stellen gelangen, die für den Transporter tabu waren, es sei denn, sie wollte ihn ruinieren.

Sie stiegen den Osthang des Blue Ridge hinauf, wobei sie herabgestürztem Geäst auswichen. Dieser Hang wurde ge­legentlich vom Wetter überflogen, das sich zu der Tiefebene hin senkte, die etwa 250 Meter über dem Meeresspiegel lag. Der Gipfel dieses Höhenrückens lag bei knapp 800 Meter, hoch genug. Der Gipfel des Humpback Mountain war noch höher. Der Einschnitt für die Interstate 64 lag an­nähernd bei 915 Meter, und der Humpback war sogar noch höher. Entlang dieses alten Weges hatte Harry Wendestellen angelegt. Auf halber Höhe stand ein stabiler Schuppen. Alles war in Ordnung. Die Walnussbäume waren unbeschädigt, aber sie waren ja auch mehr als ein Jahrhundert alt, mit tiefem und breitem Wurzelwerk, anders als die Weihrauchkiefern. Andere Nadelbäume standen aufrecht; auch sie waren sehr alt. Harry meinte, einige könnten sogar jungfräuliche Bäume sein, sowie etliche alte Eichen und Hickorybäume. Eindrucksvoll.

Der größte Schaden war unten angerichtet.

»Okay, Schätzchen, abwärts geht’s.« Sie wendete den ATV und schaltete in den Kriechgang, um langsam bergab zu fahren.

Unten angekommen, konnte sie ihre Farm von hinten sehen und viel von dem alten Jones-Anwesen, das Cooper gemietet hatte. Ein Rudel Rehe schlich aus dem Wald, drehte sich zu ihr um und sprang dann Richtung Coopers Grund davon.

Im Stall fuhr sie in die Stallgasse. Kaum hatte sie den Motor abgestellt, hörte sie schon das angenehme Summen von Strom.

»Gott sei Dank.«

»Kannst du dir ein Leben ohne Strom vorstellen?« Tucker sprang herunter. »Denk an die viele Arbeit, Heu machen ohne Traktor. Aber nee, ein Traktor braucht ja keinen Strom.« Der kleine Hund war klug.

»Simon, bist du da oben?«, rief Harry zum Heuboden hinauf.

Keine Antwort, weshalb sie die Leiter hochkletterte. Und da sah sie ihn schon: Das Opossum erwachte, blinzelte, schmiegte den Kopf noch dichter an die Brust und schlief wieder ein. Darauf sah Harry zur Stallkuppel empor. Die große Eule Plattgesicht schlummerte tief und fest in ihrem Nest.

Harry schrubbte in allen Boxen die Wassereimer, füllte sie wieder, fegte dann die Boxen aus, weil die Pferde über Nacht drinnen geblieben waren. Sie ließ ihnen die äußeren Boxentore offen, sodass sie nach Belieben kommen und gehen konnten. Gewöhnlich waren sie im Sommer tagsüber nur draußen, wenn es kühler war. Als der Regen trommelte und der Wind heulte, hatte sie es jedem Pferd überlassen, für sich selbst zu entscheiden. Sie waren freiwillig drinnen geblieben. Die vier Zuchtstuten fraßen zufrieden. Sie hatte in diesem Jahr keine decken lassen. Die Mädels mampften vor sich hin, während die zwei Jagdpferde, ein Vollblüter und ein Gangpferd, draußen spielten, emsig hin und her hetzten.

Harry schob die Schubkarre zum Misthaufen. Den knapp zwei Meter tief in die Erde reichenden großen Komposthaufen deckte sie mit einer Plane ab, damit er schneller verrottete. Das ergab den allerbesten Gartenmulch, den sie Freunden lieferte. Da sie und Fair wegen seiner Arbeitszeiten kaum Abendeinladungen gaben, war dies ihr Geschenk, eine Methode, Verbindung zu halten.

Nachdem sie die Stallgasse gekehrt hatte, zog sie sich in die Sattelkammer zurück, wo es angenehm kühl war. Die Temperatur hielt sich bei 22 Grad, selten für Juli.

Sie griff zum Telefon und wählte Susan Tuckers Nummer.

»Alles gut bei dir da drüben?«, fragte Harry, als Susan sich meldete.

»Ja. Und bei dir?«

»Zwei Bäume am Bach umgestürzt. Das ist aber auch schon alles.«

»Hier genauso. Hast du das Wetter beobachtet?«

»Nein. Ich hatte draußen zu tun«, sagte Harry. »Danach war immer noch kein Strom da. Gott sei gedankt für das Aggregat. Bin raufgefahren und hab nach dem Holzbestand geguckt, deinem und meinem. Alles in Ordnung. Paar Äste weg unten, aber wenn man raufkommt, alles okay. Also, das war wirklich das Letzte. Erst war es ruhig, und eine Minute später, wumm!«

»Strom gibt es seit etwa einer Stunde wieder, und da hab ich als Erstes den Wetterkanal eingeschaltet. Bis zum Wochenende soll es klar sein, dann vielleicht einige kurze Gewitter.«

Harry berichtete Susan von dem gestrigen traurigen Ereignis.

»Barbara Leader?«, wiederholte Susan.

»Ja.«

»Ach je, sie war so ein lieber Mensch. G‑Pop hängt sehr an ihr. Er braucht jetzt Hilfe im Haus. Er will nicht ins Hospiz.«

»Das wird schwer für deinen Großvater.«

»Barbara wusste ihn zu nehmen. Sie hat ihm zugeflüstert: ›Ich weiß, dass Sie Geheimnisse haben.‹ Und er hat gelacht. Er muss lachen. Du hast ihn ja gesehen. Er hat so sehr abgenommen, aber er ist ein wahrer Kämpfer.«

Samuel Holloway, ein Seeheld im Zweiten Weltkrieg, war Anfang der Siebziger Jahre Gouverneur von Virginia geworden, was teils seiner Kriegsgeschichte und seinen guten Führungseigenschaften zu verdanken war. Harry und Susan waren beide mitten in seiner Gouverneurszeit geboren und hatten keine Erinnerung an seine Zeit im Amt.

»Ja, er ist ein Kämpfer«, sagte Harry. »Er war so lustig, als wir klein waren. Von Politik konnten wir noch nichts wissen, aber er hat mit uns gespielt, wenn er zu Hause war. Ob Staatsbeamte das heute noch tun?«

»Ganz bestimmt, Harry.« Susan lachte. »Das sind nicht lauter Egoisten und Ungeheuer.«

»Dein Vetter wiegt allerdings schwer auf der Egoismuswaage.«

Edward Holloway Cunningham, der Sohn von Susans Tante Pauline Cunningham, hatte einen Sitz im Senat. Mit zweiundvierzig bereitete er sich auf eine Kandidatur als Senator bei den Wahlen im Herbst vor. Der Wahlkampf nimmt in Amerika nie ein Ende, und Eddie gab sich forsch.

»Eddie ist nicht mein größter Schwarm, aber Mutter sagt immer, ›man soll seine schmutzige Wäsche nicht auf die Leine hängen‹, und das tu ich nicht. Mom und Tante Pauline haben als Heranwachsende viele politische Unruhen erlebt.«

»Und sie haben es überstanden.« Harry bewunderte die zwei Schwestern, die jetzt Ende sechzig waren.

»Ein Vorzug beim Sexismus ist, dass, obwohl ich die Enkelin eines Gouverneurs bin, von mir nicht viel mehr erwartet wurde, als eine gute Gastgeberin zu sein. Und jetzt bin ich mit einem Abgeordneten verheiratet, aber das muss man Ned lassen, es kam spät. Er ist nicht von vornherein in die Politik eingestiegen.«

»Ein Glück für ihn, dass er dich hat. Du machst das gut, die vielen Spendensammlungen, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Abendeinladungen. Du bist erstaunlich.«

»Harry.« Dankbarkeit wallte in Susan auf. »Wie lieb, dass du das sagst. Solange ich meine Kinder habe, beide draußen in der Arbeitswelt, dich, meinen Hund und Golf, Golf, Golf, werde ich bei Verstand bleiben, glaube ich.«

»Kannst du. Hey, weißt du was? Wenn ich an dem Racheengel vorbeikomme, macht der mir immer noch Angst.«

»Mir auch.« Beide lachten.