Nagel Kimche ebook

 

Amy Chua

 

Die Mutter des Erfolgs

 

Wie ich meinen Kindern

das Siegen beibrachte

 

Aus dem Englischen von

Barbara Schaden

 

Nagel & Kimche

 

Titel der Originalausgabe:

Battle Hymn of the Tiger Mother

© 2011 by Amy Chua

The Penguin Press, New York

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere jede Art

der Vervielfältigung, als Ganzes oder in Auszügen

 

eBook ISBN 978-3-312-00477-5

 

© 2011 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

 

Für Sophia und Louisa

Und für Katrin

Diese Geschichte handelt von einer Mutter, zwei Töchtern und zwei Hunden. Und von Mozart und Mendelssohn, vom Klavier und von der Geige und von unserem Weg in die Carnegie Hall.

Sie hätte davon handeln sollen, dass chinesische Eltern bessere Pädagogen sind als westliche.

Stattdessen erzählt sie von einem bitteren Kulturkonflikt, einer kurzen Kostprobe vom Ruhm und von meiner Demütigung durch eine Dreizehnjährige.

 

Inhalt

 

Teil 1

  1     Die chinesische Mutter     9

  2     Sophia     12

  3     Louisa     16

  4     Die Chuas     20

  5     Degeneration     26

  6     Circulus virtuosus     31

  7     Tigerglück     37

  8     Lulus Instrument     42

  9     Die Geige     50

10     Bissspuren und Luftblasen     59

11     «Der kleine weiße Esel»     70

12     Die Kadenz     74

 

Teil 2

13     Coco     87

14     London, Athen, Barcelona, Bombay     95

15     Popo     103

16     Die Geburtstagskarte     113

17     Karawane nach Chautauqua     119

18     Der Weiher     125

19     Wie man es in die Carnegie Hall schafft     132

20     Wie man es in die Carnegie Hall schafft, Teil 2     141

21     Debüt und Vorspiel     148

22     Panne in Budapest     156

 

Teil 3

23     Pushkin     171

24     Rebellion     183

25     Dunkelheit     193

26     Rebellion, Teil 2     196

27     Katrin     203

28     Der Sack Reis     209

29     Verzweiflung     214

30     «Hebräische Melodie»     218

31     Der Rote Platz     222

32     Das Symbol     227

33     Nach Westen     229

34     Das Ende     235

         Koda     243

 

Dank     250

 

Anmerkungen     252

Teil 1

 

Der Tiger, ein Inbegriff von Kraft und Macht,

flößt meist Angst und Respekt ein.

1    Die chinesische Mutter

 

Viele fragen sich, wie es kommt, dass chinesische Eltern derart stereotyp erfolgreiche Kinder aufziehen. Wie sie es anstellen, so viele Mathegenies und Musikwunder hervorzubringen, wie es in solchen Familien wohl zugeht, und ob sie selbst das ebenfalls erreichen könnten. Nun, ihnen kann ich verraten, wie es geht, denn ich habe es getan. Was meine Töchter Sophia und Louisa zum Beispiel niemals durften, war:

– bei Freundinnen übernachten

– Kinderpartys besuchen

– im Schultheater mitspielen

– sich beklagen, dass sie nicht im Schultheater mitspielen dürfen

– fernsehen oder Computerspiele spielen

– sich ihre Freizeitaktivitäten selbst aussuchen

– eine schlechtere als die Bestnote bekommen

– nicht in jedem Fach, außer Turnen und Theater, Klassenbeste sein

– ein anderes Instrument spielen als Klavier oder Geige

– nicht Klavier oder Geige spielen

 

Ich verwende den Begriff «chinesische Mutter» nicht im engen Sinn. Kürzlich lernte ich einen äußerst erfolgreichen Weißen aus South Dakota kennen (in den USA tritt er im Fernsehen auf), und als wir unsere Kindheitserfahrungen verglichen, kamen wir zu dem Schluss, dass sein Vater, ein Arbeiter, eindeutig eine chinesische Mutter gewesen war. Ich kenne koreanische, indische, jamaikanische, irische und ghanaische Eltern, die den Titel ebenfalls verdienen. Umgekehrt kenne ich etliche Mütter, chinesischer Herkunft zwar, aber fast alle im Westen geboren, die, freiwillig oder aus anderen Gründen, nicht chinesische Mütter sind.

Auch den Begriff «westliche Eltern» verwende ich frei. Westliche Eltern kommen in allen Spielarten vor. Tatsächlich möchte ich riskieren zu behaupten, dass die Erziehungsmaximen westlicher Eltern in sich wesentlich unterschiedlicher sind als die der Chinesen. Unter westlichen Eltern gibt es strenge und lockere. Es gibt gleichgeschlechtliche Paare, Jüdisch-Orthodoxe, Alleinerziehende, Exhippies, Investmentbanker und Militärangehörige. Unter all diesen «westlichen» Eltern muss durchaus keine Übereinstimmung herrschen, weshalb ich, wenn ich den Begriff «westliche Eltern» verwende, selbstverständlich nicht pauschal alle westlichen Eltern meine – so wenig wie das Etikett «chinesische Mutter» für alle chinesischen Mütter gilt.

Das ändert nichts daran, dass westliche Eltern, auch wenn sie selbst sich für streng halten, mit der chinesischen Mutter nicht vergleichbar sind. Zum Beispiel ließen meine westlichen Freunde, die sich als strenge Eltern bezeichnen, ihre Kinder jeden Tag dreißig Minuten, maximal eine Stunde, auf ihrem jeweiligen Instrument üben. Bei der chinesischen Mutter ist die erste Stunde der leichte Teil. Hart wird es in der zweiten und dritten Stunde.

Auch wenn wir noch so empfindlich gegenüber Kulturklischees sind – in punkto Erziehung gibt es haufenweise Studien, die deutliche und messbare Unterschiede zwischen der chinesischen und der westlichen Einstellung belegen. Zum Beispiel sagten im Rahmen einer Studie, die 50 westliche Amerikanerinnen und 48 chinesische Einwanderinnen zu ihren Erziehungsvorstellungen befragte, knapp 70 Prozent der westlichen Mütter entweder, «die Überbetonung von schulischem Erfolg ist nicht gut für Kinder», oder «Eltern müssen dem Kind vermitteln, dass Lernen Spaß macht». Unter den chinesischen Müttern hingegen vertraten zirka null Prozent diese Ansichten. Stattdessen sagte die überwiegende Mehrheit der Chinesinnen, sie seien überzeugt, dass ihre Kinder «die Klassenbesten» sein könnten, dass «schulischer Erfolg das Ergebnis erfolgreicher Erziehung» sei und dass «ein Problem» bestehe und Eltern «ihre Aufgabe nicht erfüllen», wenn Kinder in der Schule nicht herausragend seien. Andere Untersuchungen zeigen, dass chinesische Eltern im Vergleich zu westlichen Eltern täglich rund zehnmal so lange mit ihrem Nachwuchs für die Schule üben. Demgegenüber sind westliche Kinder häufiger in Sportmannschaften vertreten.

Das bringt mich zu meinem letzten Punkt. Manche denken vielleicht, das Äquivalent der chinesischen Mutter sei die amerikanische Soccer mom, die auf ein eigenes Leben verzichtet, nur um ihre Kinder von einer Sportveranstaltung zur nächsten zu kutschieren. Völlig falsch. Im Unterschied zur typisch westlichen Hausfrau-und-Mutter im Dauereinsatz für die Kinder ist die chinesische Mutter überzeugt, dass 1. Hausaufgaben grundsätzlich an erster Stelle stehen, 2. ein A minus eine schlechte Note ist, 3. ihre Kinder in Mathe den Mitschülern immer um zwei Jahre voraus sein müssen, 4. man die Kinder nie öffentlich loben darf, 5. man im Fall einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem eigenen Kind und einem Lehrer oder Trainer immer die Partei des Lehrers oder Trainers ergreifen muss, 6. die einzigen Freizeitbeschäftigungen, die man den Kindern erlauben sollte, solche sind, die ihnen am Ende eine Medaille eintragen, und 7. diese Medaille aus Gold sein muss.

2     Sophia

 

 

 

Sophia ist meine Erstgeborene. Mein Mann Jed ist Jude, ich bin Chinesin, unsere Töchter sind also chinesisch-jüdische Amerikanerinnen, eine ethnische Gruppe, die vielleicht exotisch klingt, in manchen Kreisen aber, und besonders in Hochschulstädten, sogar eine Mehrheit ausmacht.

Sophias Name bedeutet «Weisheit», genauso wie Si Hui, der chinesische Name, den sie von meiner Mutter bekam. Vom Augenblick ihrer Geburt an zeigte Sophia ein rationales Temperament und eine außerordentliche Konzentrationsfähigkeit. Diese Eigenschaften hat sie von ihrem Vater. Als Säugling schlief sie nachts sehr schnell durch und schrie nur, wenn sie dadurch etwas erreichte. Ich quälte mich zu der Zeit mit einer juristischen Abhandlung – ich war auf Mutterschaftsurlaub und strebte eine Stelle an der Uni an, damit ich nicht in die Anwaltskanzlei an der Wall Street zurückmusste, in der ich gearbeitet hatte –, und die zwei Monate alte Sophia hatte dafür volles Verständnis. Bis sie ein Jahr alt war, lebte sie ruhig und beschaulich dahin und tat im Wesentlichen nichts anderes als zu schlafen, zu essen und mich bei meiner Schreibblockade zu beobachten.

Sophia war geistig frühreif und beherrschte mit achtzehn Monaten das Alphabet. Unser Kinderarzt war der Meinung, das sei neurologisch unmöglich, und behauptete steif und fest, sie ahme lediglich Laute nach. Zum Beweis zog er eine große Tafel mit einem komplizierten Schaubild hervor, auf dem die Buchstaben in Form von Schlangen und Einhörnern dargestellt waren. Der Arzt blickte auf die Tafel, dann auf Sophia, dann wieder auf die Tafel. Listig deutete er auf eine Kröte mit Nachthemd und Mütze.

«Q», piepste Sophia.

Der Arzt knurrte und drehte sich zu mir um. «Nicht einsagen», befahl er.

Ich war erleichtert, als wir beim letzten Buchstaben angelangt waren: einer von zahlreichen roten Zungen umflatterten Hydra, die Sophia korrekt als «I» identifizierte.

In der Vorschule war Sophia mit Abstand die Beste ihrer Gruppe, vor allem in Mathematik. Während die anderen Kinder auf die kreative amerikanische Art mit Stäben, Kugeln und Kegeln bis zehn zählen lernten, brachte ich ihr Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Bruchrechnen und Dezimalzahlen nach der auf Auswendiglernen und Einüben beruhenden chinesischen Art bei. Schwierig war dann nur, die korrekten Antworten anhand der Stäbe, Kugeln und Kegel darzustellen.

Als wir heirateten, trafen Jed und ich die Vereinbarung, dass unsere Kinder Mandarin-, also Hochchinesisch sprechen und jüdisch aufwachsen sollten. (Ich bin katholisch aufgewachsen, aber ich hänge nicht daran: Der Katholizismus ist in meiner Familie nicht sehr verwurzelt; doch davon später.) Im Nachhinein betrachtet, kommt mir unsere Abmachung komisch vor, denn ich selbst spreche gar nicht Mandarin – meine Muttersprache ist der Hokkien-Dialekt –, und Jed ist kein bisschen religiös. Aber irgendwie klappte es. Ich stellte eine chinesische Kinderfrau ein, die mit Sophia ausschließlich Mandarin sprach, und wir feierten unser erstes Chanukka, als Sophia zwei Monate alt war.

Als sie älter wurde, sah es so aus, als bekäme sie das Beste von beiden Kulturen. Von der jüdischen Seite hatte sie ihren unerschöpflichen Wissensdrang. Und von meiner, der chinesischen Seite, bekam sie Fertigkeiten mit – jede Menge Fertigkeiten. Damit meine ich keine angeborenen Talente, sondern die auf fleißige, disziplinierte, das Selbstvertrauen stärkende chinesische Art erworbene Leistungsfähigkeit. Mit drei Jahren las Sophia Sartre in englischer Übersetzung, löste einfache Aufgaben der Mengenlehre und konnte einhundert chinesische Schriftzeichen. (Was Jed so übersetzt: Sie erkannte die Wörter «No exit», konnte zwei einander überschneidende Kreise zeichnen und – okay, hundert chinesische Schriftzeichen mag stimmen.) Als ich sah, wie amerikanische Eltern ihre Kinder für die geringste Leistung –für einen hingekritzelten Schnörkel, ein Wedeln mit einem Stock – mit Lob überschütteten, wurde mir klar, dass chinesische den westlichen Eltern zweierlei voraushaben: 1. höherfliegende Träume für ihre Kinder und 2. mehr Achtung vor ihren Kindern insofern, als sie wissen, wie viel sie ihnen zutrauen können.

Natürlich wollte ich Sophia auch von den besten Aspekten der amerikanischen Gesellschaft profitieren lassen. Natürlich sollte sie nicht als einer dieser verschrobenen asiatischen Roboter enden, die derart unter elterlichem Druck stehen, dass sie Selbstmord begehen, wenn sie in der staatlichen Beamtenprüfung als Zweite abschneiden. Sie sollte eine abgerundete Persönlichkeit werden und Hobbys und Freizeitaktivitäten pflegen. Nicht irgendein Hobby, das nirgendwohin führt, wie «Handarbeit» oder, noch schlimmer, Schlagzeug, das automatisch in Drogen mündet –, sondern eine sinnvolle und hochkomplexe Tätigkeit, die das Potential zu Perfektion und Meisterschaft birgt.

So kamen wir auf das Klavier.

1996, als sie drei war, traten zwei Neuerungen in Sophias Leben: Sie bekam ihre erste Klavierstunde und eine kleine Schwester.

3     Louisa

 

 

 

Es gibt einen Country-Song, in dem es heißt: «She’s a wild one with an angel’s face». Eine treffende Charakterisierung meiner jüngeren Tochter Lulu: Das ist sie wirklich, ein Wildfang mit Engelsgesicht. Bei ihr habe ich oft das Gefühl, ich müsste ein wildes Pferd zähmen. Schon vor ihrer Geburt trat sie mich so fest, dass Abdrücke in der Bauchdecke zu sehen waren. Lulu heißt eigentlich Louisa, was «berühmte Kriegerin» bedeutet. Woher wir das wohl so früh wussten …

Lulus chinesischer Name lautet Si Shan, «Koralle»; darin schwingt die Vorstellung von Empfindsamkeit mit. Auch das passt zu Lulu. Heikel war sie vom Tag ihrer Geburt an. Die Formula-Milch, mit der ich sie fütterte, schmeckte ihr nicht, und die Sojamilch, die der Kinderarzt als Alternative vorschlug, empörte sie derart, dass sie in Hungerstreik trat. Aber anders als Mahatma Gandhi, der selbstlos und meditierend hungerte, hatte Lulu Koliken und schrie wild um sich schlagend mehrere Stunden pro Nacht. Jed und ich stopften uns die Ohren zu und rauften uns die Haare, bis zu unser aller Glück und Rettung unsere chinesische Kinderfrau Grace einschritt. Sie bereitete einen in leichtem Abalone und Shiitake-Soße geschmorten Seidentofu mit Koriandergarnierung zu, was Lulu schließlich recht gut schmeckte.

Wie soll ich meine Beziehung zu Lulu beschreiben? «Totale atomare Kriegführung» trifft es nicht ganz. Die Ironie ist, dass Lulu und ich einander sehr ähnlich sind: Sie hat mein hitziges, scharfzüngiges, rasch verzeihendes Temperament geerbt.

Apropos Temperament: Ich glaube nicht an die Astrologie – und ich denke, dass jemand, der daran glaubt, ein echtes Problem hat –, aber der chinesische Tierkreis beschreibt Sophia und Lulu perfekt. Sophia kam im Jahr des Affen zur Welt, und Affenmenschen sind neugierig, intellektuell und können «im Allgemeinen jede gestellte Aufgabe lösen. Sie schätzen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die sie als anregend empfinden.» Demgegenüber sind Menschen, die im Jahr des Schweins geboren sind, «eigensinnig» und «hartnäckig» und häufig «aufbrausend», aber «hegen niemals Groll», denn sie sind grundsätzlich aufrichtig und warmherzig. Genau so ist Lulu.

Ich bin im Jahr des Tigers geboren. Ich will jetzt nicht prahlen, aber Tigermenschen sind großzügig, furchtlos, selbstsicher, zuverlässig und anziehend. Außerdem sind sie angeblich Glückspilze. Beethoven und Sun Yat-Sen waren Tiger.

Meine erste Konfrontation mit Lulu hatte ich, als sie drei war. Es war ein eiskalter Winternachmittag in New Haven, Connecticut, einer der kältesten Tage im Jahr. Jed war in der Uni – er ist Professor an der juristischen Fakultät der Yale University – und Sophia in der Vorschule. Der Zeitpunkt erschien mir günstig, um Lulu mit dem Klavier bekannt zu machen. Voller Vorfreude auf die gemeinsame Arbeit – mit ihren braunen Locken, ihren runden Augen, ihrem Porzellanpuppengesicht war Lulu trügerisch niedlich – setzte ich sie mit ein paar bequemen Kissen auf den Klavierhocker. Dann zeigte ich ihr, wie man mit einem einzelnen Finger einen einzelnen Ton spielt, gleichmäßig, drei Mal, und forderte sie auf, es nachzumachen. Eine kleine Bitte, aber Lulu wollte nicht. Stattdessen hämmerte sie mit beiden Handflächen viele Töne gleichzeitig in die Tasten. Als ich sie aufforderte, das sein zu lassen, hämmerte sie noch schneller und fester. Als ich sie vom Klavierhocker fortzuziehen versuchte, begann sie zu brüllen, zu weinen und wild um sich zu treten.

Eine Viertelstunde später brüllte, weinte und trat sie immer noch, und mir reichte es. Den strampelnden Füßen ausweichend, zerrte ich den kreischenden Dämon zur hinteren Verandatür und riss sie auf.

Draußen herrschten sechs Grad unter null, und mir brannte in der eiskalten Luft schon nach ein paar Sekunden das Gesicht. Aber ich war entschlossen, ein gehorsames chinesisches Kind zu erziehen, und sollte es mich umbringen. Im Westen wird Gehorsam oft mit Hunden und dem Kastensystem in Verbindung gebracht, in der chinesischen Kultur jedoch gilt er als eine der höchsten Tugenden. «Du kannst nicht im Haus bleiben, wenn du nicht auf die Mama hörst», sagte ich streng. «Wirst du jetzt ein braves Mädchen sein? Oder willst du raus?»

Lulu trat hinaus. Trotzig sah sie mich an.

Eine dumpfe Furcht breitete sich in mir aus. Lulu trug nur einen Pullover, einen Faltenrock, eine Strumpfhose. Sie weinte nicht mehr. Im Gegenteil, sie war unheimlich still.

«Okay, gut, du willst dich also anständig aufführen», sagte ich rasch. «Dann kannst du jetzt wieder reinkommen.»

Lulu schüttelte den Kopf.

«Sei nicht dumm, Lulu.» Ich fühle Panik in mir aufsteigen. «Es ist eiskalt. Du wirst doch nur krank. Komm jetzt rein!»

Lulus Zähne klapperten, aber sie schüttelte wieder den Kopf. Und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich hatte Lulu unterschätzt, hatte nicht begriffen, aus welchem Holz sie ist. Sie würde lieber erfrieren als nachgeben.

Ich musste auf der Stelle die Taktik wechseln; auf diese Weise konnte ich nicht gewinnen. Außerdem konnte mich das Jugendamt in die Pflicht nehmen. Fieberhaft nachdenkend, vollführte ich eine Kehrtwende: Jetzt bat ich, flehte, verhätschelte, bestach sie, nur damit sie ins Haus zurückkam. Als Jed und Sophia heimkamen, fanden sie Lulu zufrieden in der Badewanne, wo sie Schokokuchen mit Marshmallows in heißen Kakao tunkte.

Aber Lulu hatte auch mich unterschätzt. Ich rüstete neu auf. Die Fronten waren abgesteckt, nur wusste sie das noch nicht.

4     Die Chuas

 

Mein Nachname lautet Chua – Cài auf Mandarin –, und ich bin sehr stolz auf ihn. Meine Familie stammt aus der südchinesischen Provinz Fujian, die für ihre vielen Geistes- und Naturwissenschaftler berühmt ist. Einer meiner direkten Vorfahren auf väterlicher Seite, Chua Wu Neng, war Philosoph und Dichter, außerdem Hofastronom des Ming-Kaisers Shen Zong. Wu Neng, der offenbar über ein weites Spektrum an Fähigkeiten verfügte, wurde 1644 angesichts des drohenden Einmarsches der Mandschuren vom Kaiser zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte ernannt. Das kostbarste – eigentlich unser einziges – Familienerbstück ist eine zweitausend Seiten starke handschriftliche Abhandlung von Wu Neng über das I Ging, das Buch der Wandlungen, einen der ältesten chinesischen Klassiker. Auf meinem Couchtisch liegt heute, würdig zur Schau gestellt, ein ledergebundenes Exemplar von Wu Nengs Traktat, auf dem Buchdeckel das Schriftzeichen für «Chua».

Alle meine Großeltern wurden in Fujian geboren, und alle wanderten zu verschiedenen Zeitpunkten der zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts per Schiff auf die Philippinen aus, wo sie sich bessere Chancen versprachen. Mein Großvater mütterlicherseits war ein freundlicher, sanftmütiger Schullehrer, der Reishändler wurde, um seine Familie ernähren zu können. Religiös war er nicht, und er war auch kein begnadeter Geschäftsmann. Seine Frau, meine Großmutter, war eine wahre Schönheit und fromme Buddhistin, doch trotz der Lehren der von ihr verehrten Göttin Guanyin wider den Materialismus hat sie sich oft gewünscht, ihr Mann hätte mehr Erfolg.

Mein Großvater väterlicherseits, ein gutmütiger Mann, der mit Fischpasten handelte, war ebenfalls nicht religiös und ebenfalls kein geborener Geschäftsmann. Seine Frau, meine Dragon-Lady-Großmutter, machte nach dem Zweiten Weltkrieg ein Vermögen mit Plastik; ihren Gewinn investierte sie in Goldbarren und Diamanten. Nachdem sie wohlhabend geworden war – ihr Durchbruch war, dass sie sich als Verpackungslieferantin für den Pharmazie- und Konsumgüterproduzenten Johnson & Johnson etablieren konnte –, erstand sie eine ausgedehnte Hazienda in einem der nobleren Viertel von Manila und verbannte meinen Großvater in den Keller. Sie und ihre Söhne investierten nun in Tiffany-Gläser, Kunst (Mary Cassatt und Georges Braques) und Wohneigentum in Honolulu. Außerdem konvertierten sie zum Protestantismus und aßen nicht mehr mit Stäbchen, sondern mit Messer und Gabel, um den Amerikanern ähnlicher zu sein.

Meine Mutter, die 1936 in China geboren wurde, kam im Alter von zwei Jahren mit ihrer Familie in die Philippinen. Während der japanischen Okkupation verlor sie ihren kleinen Bruder noch im Säuglingsalter, und nie werde ich ihre Schilderung der japanischen Soldaten vergessen, die ihrem Onkel den Kiefer aufzwangen, Wasser in die Kehle schütteten und lachten, weil er wie ein stark aufgeblasener Ballon zu platzen drohte. Als General Douglas MacArthur 1945 die Philippinen befreite, lief meine Mutter stürmisch jubelnd den amerikanischen Jeeps hinterher, von denen aus die Soldaten Dosenfleisch an die Bevölkerung verteilten. Nach dem Krieg besuchte sie eine Sekundarschule der Dominikaner und wurde zum Katholizismus bekehrt. Sie studierte chemische Verfahrenstechnik an der Universität von Santo Tomas und schloss als Jahrgangsbeste summa cum laude ab.

Mein Vater war derjenige, den es nach Amerika zog. Als brillanter Mathematiker, der sich in die Astronomie und Philosophie verliebt hatte, hasste er die geldgierige, hinterhältige Plastikgeschäftswelt seiner Angehörigen und widersetzte sich jedem Plan, den sie für ihn hatten. Er bewarb sich beim Massachusetts Institute of Technology um einen Studienplatz und wurde angenommen: Ein Kindheitstraum ging in Erfüllung. 1960 verlobte er sich mit meiner Mutter, und noch im selben Jahr trafen meine Eltern in Boston ein. Sie kannten keine Menschenseele im Land, und weil sie ausschließlich von ihren Studienstipendien lebten, überstanden sie die ersten beiden ungeheizten Winter nur mit vielen Decken. In nicht einmal zwei Jahren machte mein Vater seinen Doktor und wurde Assistenzprofessor an der Purdue University in West Lafayette, Indiana.

Dass wir anders waren als alle unsere Mitbürger im Mittleren Westen, zwischen denen wir aufwuchsen, war meinen drei jüngeren Schwestern und mir immer klar. Mit chinesischem Essen in Thermosgefäßen wurden wir in die Schule geschickt, was ich demütigend fand – wie gern hätte ich Fleischwurst-Sandwiches gehabt wie alle anderen! Zu Hause mussten wir Chinesisch reden; die Strafe für jedes englische Wort, das uns versehentlich über die Lippen kam, war ein Schlag mit den Essstäbchen. Jeden Nachmittag übten wir Mathe und Klavier, und nie durften wir bei Freundinnen übernachten. Wenn mein Vater abends nach Hause kam, brachte ich ihm seine Pantoffeln und zog ihm die Straßenschuhe aus. Unsere Zeugnisse mussten erstklassig sein; während andere Kinder auch für ein B eine Belohnung erhielten, war bei uns zu Hause schon ein A minus undenkbar. In der achten Klasse wurde ich bei einem Geschichtswettbewerb Zweite und kam mit meiner Familie zur Preisverleihung. Jemand anderes hatte den Kiwanis-Preis als Jahrgangsbester in allen Fächern erhalten, und nach der Feier sagte mein Vater zu mir: «Mach mir nie, nie wieder solche Schande.»

Wenn ich Freunden diese Geschichten erzähle, schließen sie daraus, dass ich eine grauenhafte Kindheit hatte. Das Gegenteil ist richtig: Meine ungewöhnliche Familie gab mir Kraft und Selbstvertrauen. Als Außenseiter hatten wir gemeinsam angefangen, gemeinsam entdeckten wir Amerika und wurden dabei selbst Amerikaner. Ich weiß noch, wie mein Vater jeden Tag bis drei Uhr nachts arbeitete und so besessen war, dass er es gar nicht merkte, wenn eine von uns ins Zimmer kam. Aber ebenso gut weiß ich noch, mit welcher Begeisterung er uns mit Tacos und Sloppy Joes bekannt machte, mit den Dairy-Queen-Fastfood-Lokalen und diesen Endlosbuffets, bei denen man essen durfte, so viel man konnte, zu schweigen von Schlitten- und Skifahren, Krabbenfang und Kampieren. Und ich weiß noch, wie in der Grundschule ein Junge Schlitzaugen machte und unter Gejohle meine Aussprache von «Restaurant» (rest-AU-rant) imitierte – und wie ich mir in dem Moment schwor, meinen chinesischen Akzent loszuwerden. Aber ich erinnere mich auch an die Pfadfinderinnen und Hula-Hoop-Reifen, an Rollschuhfahren und Leihbüchereien, an den ersten Preis in einem Aufsatzwettbewerb, den die «Töchter der Amerikanischen Revolution» veranstalteten, und an den denkwürdigen, stolzgeschwellten Tag, an dem meine Eltern amerikanische Staatsbürger wurden.

1971 nahm mein Vater ein Angebot der University of California in Berkeley an, und wir brachen unsere Zelte ab und zogen in den Westen. Mein Vater ließ sich die Haare wachsen und trug das Friedenszeichen auf der Jacke. Dann begeisterte er sich für das Sammeln erlesener Weine und legte sich einen Tausend-Flaschen-Keller zu. Als er mit seiner Arbeit in der Chaostheorie international bekannt wurde, begannen wir um die Welt zu reisen. Mein elftes Schuljahr verbrachte ich in London, München und Lausanne, und unser Vater fuhr mit uns zum nördlichen Polarkreis.

Aber er war auch ein chinesischer Patriarch. Als es so weit war, dass ich mich um einen Studienplatz bewerben musste, beschied er, ich hätte in Berkeley zu studieren (wo ich bereits akzeptiert war) und zu Hause zu wohnen. Und das war’s – für mich gab es keine Campus-Besichtigungen und keine Qual der Wahl. Ich widersetzte mich, wie er sich seiner Familie widersetzt hatte, fälschte seine Unterschrift und bewarb mich heimlich an einer Universität an der Ostküste, von der ich einiges gehört hatte. Als ich ihm gestand, was ich getan hatte – und dass ich jetzt einen Studienplatz in Harvard hätte –, verblüffte mich seine Reaktion: Buchstäblich über Nacht schwenkte er von Zorn auf Stolz um. Genauso stolz war er, als ich später mein Jurastudium an der Harvard Law School abschloss und als Michelle, seine zweite Tochter, das Yale College und die Yale Law School absolvierte und damit ebenfalls Juristin war. Am stolzesten (wenn auch gemischt mit leiser Trauer) war er, als seine dritte Tochter Katrin auszog und nach Harvard ging, um dort Medizin zu studieren und zu promovieren.

Eine neue Umgebung verändert den Menschen. Als ich vier war, sagte mein Vater zu mir: «Solange ich lebe, heiratest du keinen Nichtchinesen.» Aber dann heiratete ich Jed, und heute sind mein Mann und mein Vater die besten Freunde. Als ich klein war, hatten meine Eltern kein Mitgefühl mit Behinderten. In weiten Teilen Asiens gelten Behinderungen noch heute als Schande, und als meine jüngste Schwester Cynthia mit Down-Syndrom zur Welt kam, rieten etliche Verwandte, wir sollten sie doch in die Philippinen schicken und dort in einem Heim unterbringen. Stattdessen deckte sich meine Mutter mit Literatur über Lernschwächen aller Art ein und engagierte sich in Behindertenorganisationen. Auch waren meine Eltern, solange wir klein waren, nicht an Politik interessiert; die wichtigste Organisationseinheit war für uns die Familie. Das alles stimmt wohl nach wie vor, doch sind meine Eltern heute politisch interessierte Staatsbürger, und mein Vater zitiert sogar gelegentlich die Verfassung.

In einem abgelegenen Winkel meines Bewusstseins sitzen ein kleines Bedauern, dass ich keinen Chinesen geheiratet habe, und die Sorge, dass ich mich von einer viertausendjährigen Zivilisation abgekoppelt habe. Aber der allergrößte Teil von mir ist unendlich dankbar für die Freiheit, die Amerika mir ermöglicht hat, und für die Chance, mein Leben zu gestalten. Meine Töchter fühlen sich nicht als Außenseiterinnen. Ich manchmal schon noch. Aber das empfinde ich eher als Auszeichnung denn als Last.

5     Degeneration

 

 

Ich als Neugeborene und meine mutigen Eltern zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Amerika

 

Eine meiner größten Ängste ist der Leistungsabfall von einer Generation zur nächsten. «Wohlstand überdauert kei-ne drei Generationen», lautet eine alte chinesische Weisheit, und ich wette, dass ein Empiriker, der eine Längsschnittstudie über das Leistungsniveau in verschiedenen Generationen durchführt, bei chinesischen Einwanderern der letzten fünfzig Jahre, die das Glück hatten, als Studenten oder Facharbeiter in die Vereinigten Staaten zu kommen, ein bemerkenswert einheitliches Muster feststellen würde. Es sähe mehr oder weniger folgendermaßen aus:

 

– Die Generation der Einwanderer (wie meine Eltern) ist die fleißigste. Viele fangen bei ihrer Ankunft in den USA praktisch mittellos an und arbeiten unermüdlich, bis sie erfolgreiche Ingenieure, Wissenschaftler, Ärzte, Akademiker oder Geschäftsleute geworden sind. Als Eltern sind sie extrem streng und geradezu fanatisch sparsam. («Der Teller wird leer gegessen!» – «Wieso verwendest du so viel Spülmittel?» – «Du brauchst keinen Frisör, ich schneide dir das Haar noch viel hübscher.») Sie investieren in Grundbesitz. Sie trinken wenig. Alles, was sie tun und verdienen, fließt in die Erziehung und die Zukunft ihrer Kinder.

– Die Angehörigen der nächsten Generation (meine), die ersten in Amerika Geborenen, sind in der Regel stark leistungsorientiert. Meist spielen sie Klavier und/oder Geige und besuchen eine Ivy-League-Eliteuniversität. Häufig wählen sie einen der freien Berufe, sind Anwälte, Ärzte, Banker, Fernsehmoderatoren, und sie verdienen mehr als ihre Eltern, was zum Teil allerdings daran liegt, dass sie mit mehr Geld angefangen und ihre Eltern so viel in sie investiert haben. Sie sind weniger genügsam als ihre Eltern. Sie lieben Cocktails. Die weiblichen Angehörigen dieser zweiten Generation heiraten gern Weiße. Alle, ob männlich oder weiblich, sind gegenüber ihren Kindern weniger streng, als sie selbst erzogen wurden.

– Die dritte Generation (zu der Sophia und Lulu gehören) ist diejenige, die mir schlaflose Nächte bereitet. Dank der enormen Anstrengung ihrer Eltern und Großeltern wird diese Generation in die Annehmlichkeiten des gehobenen Bürgertums hineingeboren. Schon als Kinder besitzen sie zahlreiche gebundene Bücher (aus der Sicht eingewanderter Eltern ein fast schon krimineller Luxus). Ihre Freunde sind Kinder aus wohlhabendem Haus, die schon für ein B plus eine Belohnung bekommen. Ob Privatschüler oder nicht, sie erwarten jedenfalls teure Markenkleidung. Und am problematischsten ist schließlich, dass sie der Meinung sind, individuelle, von der Verfassung garantierte Rechte zu besitzen, weshalb sie viel eher geneigt sind, sich über ihre Eltern und deren berufliche Ratschläge hinwegzusetzen. Kurzum, alle diese Faktoren deuten darauf hin, dass diese Generation direkt auf den Abgrund zusteuert.

 

Aber nicht mit mir. Von dem Augenblick an, als Sophia auf der Welt war und ich in ihr entzückendes, kluges Gesicht blickte, war ich entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen, kein verzärteltes, Ansprüche stellendes Kind aufzuziehen. Ich war entschlossen, den Niedergang meiner Familie zu verhindern.

Das ist einer der Gründe, weshalb ich darauf bestand, dass Sophia und Lulu ein klassisches Instrument lernten. Mir war klar, dass ich ihnen nicht künstlich das Gefühl vermitteln konnte, sie seien arme Einwandererkinder. Es ließ sich nicht leugnen, dass wir in einem weitläufigen alten Haus lebten, zwei ansehnliche Autos besaßen und im Urlaub in schönen Hotels wohnten. Hingegen konnte ich dafür sorgen, dass Sophia und Lulu kultivierter aufwuchsen als meine Eltern und ich. Klassische Musik war das Gegenteil von Niedergang, das Gegenteil von Trägheit, Vulgarität und Verwöhntheit. Meinen Kindern bot sie eine Chance, etwas zu erreichen, das ich nicht erreicht hatte. Und zugleich knüpfte sie an die hohe kulturelle Tradition meiner frühen Vorfahren an.

Meine Kampagne wider den Niedergang hatte noch andere Bestandteile. Wie meine Eltern verlangte ich von Sophia und Lulu, dass sie fließend Chinesisch sprachen und reine A-Schülerinnen waren. Um sicherzugehen, dass Sophia und Lulu nicht verhätschelt und dekadent wurden wie die Römer in der Endphase ihres Imperiums, bestand ich auch auf körperlicher Arbeit.

«Ich habe mit vierzehn Jahren ganz allein, mit Spitzhacke und Schaufel ein Schwimmbecken für meinen Vater ausgehoben», sagte ich meinen Töchtern mehr als einmal. Das stimmt wirklich. Das Becken war zwar eine vorgefertigte Schale, nur knapp einen Meter tief und drei Meter im Durchmesser, aber das Loch dafür habe ich eigenhändig geschaufelt; es befand sich auf dem Grundstück mit Sommerhäuschen unweit des Lake Tahoe, das mein Vater (nach jahrelangem Sparen) gekauft hatte. «Jeden Samstagmorgen», war eine weitere beliebte Leier von mir, «habe ich die eine Hälfte des Hauses gesaugt und meine Schwester die andere. Ich habe Toiletten geputzt, Unkraut gejätet und Holz gehackt. Einmal habe ich für meinen Vater einen Steingarten angelegt und musste dafür Felsbrocken schleppen, von denen jeder mindestens zwanzig Kilo schwer war. Deswegen bin ich heute so zäh.»

Ich zwang sie zwar nicht, Holz zu hacken oder Gruben auszuheben, aber weil ich ihnen so viel körperliche Aktivität wie möglich abverlangen wollte, mussten sie schwere Lasten schleppen, so oft es ging: aufgetürmte Wäschekörbe die Treppen hinauf und hinunter, sonntags den Müll hinaus und, wenn wir unterwegs waren, unsere Koffer. Interessanterweise tendierte Jed genau in die entgegengesetzte Richtung: Er konnte es nicht mit ansehen, wie die Mädchen sich abmühten, und machte sich immer Sorgen um ihren Rücken.

Und schließlich versuchte ich von Sophia und Lulu so viel Respekt zu fordern wie einst meine Eltern von mir. Darin hatte ich am wenigsten Erfolg. Als Kind war meine größte Angst, ich könnte das Missfallen meiner Eltern erregen. Sophia und vor allem Lulu schert mein Missfallen wenig. Offenbar vermittelt Amerika den Kindern etwas, das der chinesischen Kultur fehlt: Dort fiele es keinem Kind ein, Anweisungen zu hinterfragen, ungehorsam zu sein oder den Eltern zu widersprechen. In der amerikanischen Kultur punkten die Kinder mit Aufmüpfigkeit und frechen Antworten – so erzählen es alle Bücher, Fernsehprogramme, Filme. Und dort sind es typischerweise die Eltern, die eine Lektion fürs Leben brauchen: von ihren Kindern.