Karin Pfolz

AutorInnen der Sinne

 

Sinne

Der geheime Sinn

 

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Impressum:

Teil 6 der 6-teiligen Serie DIE SINNE

© Karina-Verlag, Wien

www.karinaverlag.at

Layout, Textüberarbeitung: Bruno Moebius

Covergestaltung: Karin Pfolz, Detlef Klewer

Lektorat: Bruno Moebius

 

 

© 2019, Karina Verlag, Vienna, Austria,

 

 

Der geheime Sinn, Vorwort

Karina Moebius

 

So wie es unzählige Schreibweisen für ›Dschuang Dschou‹, den chinesischen Philosophen gibt, erhält man zahllose unterschiedliche Antworten, wenn man nach unserem sechsten, dem ›geheimen‹, Sinn fragt. Im Falle dieses letzten Bandes aus der Reihe ›Die Sinne‹, erhält man Geschichten.

Was ist Wahrheit? Was Einbildung, Fiktion oder gar ein Traum?

Jener Dschuang Dschou träumte, er sei ein Schmetterling. Als er aufwachte, war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Was blieb, war die Frage, ob er nun Dschuang Dschou war, der von einem Schmetterling geträumt hatte, oder ob er ein Schmetterling war, der geträumt hatte, er sei Dschouang Dschou ...

Ich persönlich kenne diese Frage recht gut. Immer wieder passiert es, dass ich überlege, ob eine Lebenssituation real ist, oder ob ich mich inmitten eines skurrilen Traumes befinde. Umgekehrt habe ich mich in so manchem seltsamen Traum ernsthaft gefragt, ob ich träume oder wache. Manchmal dauert es beim Erwachen eine ganze Weile, bis ich zu erkennen glaube, wo der Traum endet und das ›wirkliche‹ Leben beginnt.

Auch der ›geheime‹ Sinn erscheint immer wieder seltsam und unwirklich; unpassend in unserer rationalen Welt. Sicherheitshalber wird er gerne als Hirngespinst abgetan. So mancher wurde ob seiner Wahrnehmung schon für verrückt erklärt. Und doch ist er da, der geheime Sinn, und zeigt seine unzähligen Gesichter. Manchmal als prophetischer Traum, als unsichtbares Band zwischen zwei Menschen, als intensives Spüren von etwas, das eigentlich, wenn es nach unserem Verstand geht, gar nicht sein kann. So manches Déjà-vu oder unerklärliche, mysteriöse Vorkommen lässt an unserem Geisteszustand zweifeln.

Lassen Sie sich überraschen, liebe Leserin, lieber Leser, welche Geschichten unseren Autoren zum Thema ›Der geheime Sinn‹ eingefallen sind.

Was ist Wahrheit? Was Einbildung, Fiktion oder gar ein Traum?

Gute Unterhaltung wünscht

Ihre Karina Moebius.

 

Das Praemortalium

Bruno Moebius

 

Größere Menschenansammlungen waren mir immer schon zuwider gewesen und auch diesmal fühlte ich mich äußerst unbehaglich, als ich wie ein Tropfen im Rinnsal inmitten einer unübersehbaren Menge den langen Gang entlang trieb.

Es gab kein Hasten, kein Drängeln, eher ein ruhiges aber zielstrebiges Schreiten, nicht im Gleichschritt, dennoch mit gleichbleibendem Abstand von einem zum anderen.

Der Gang mündete in eine Halle, wo sich der Strom mehrfach teilte, und ohne darüber nachzudenken, fand ich mich im äußerst rechten Arm wieder. Die Tür eines gläsernen Aufzugs öffnete sich und ließ mich mit einigen meiner Mitschwimmer ein, und als sich die Tür hinter uns geschlossen hatte, glitt der Aufzug geräuschlos nach oben.

Die Fahrt war schnell und ging hoch hinauf, wie mir schien, und ohne zu wissen, wo ich war, fühlte ich doch, dass ich am Ziel angelangt war, als ich beim ersten Halt den Aufzug verließ und an das Empfangspult trat, das sich dem Ausstieg gegenüber befand.

»Ja, bitte …«

Es klang fragend.

»Ich werde erwartet«, sagte ich mit fester Stimme.

»Es tut mir leid, aber ich kann deine Reservierung nicht finden«, sagte die hübsche Blondine und tippte auf einer Tastatur herum, sah auf den Flachbildschirm, tippte wieder …

»Nein, da ist nichts«, stellte sie schließlich fest und sah mir in die Augen.

Ich hielt ihrem Blick stand. Sie hatte wunderschöne blaue Augen.

»Sehen Sie bitte noch einmal genau nach!«

»Das habe ich bereits getan – die Reservierung ist für das Jahr 2042 eingetragen – und jetzt haben wir 2007.«

Nun wurde ich doch etwas unsicher.

»Ich bin aber doch hier«, sagte ich trotzig.

Sie lachte, dass ihre Zähne nur so blitzten, und ich fand die Grübchen an ihren Wangen sehr süß.

»Du siehst zwar nicht so aus, aber …«, sagte sie dann und tippte wieder auf der Tastatur.

Ich unterdrückte die Frage darnach, wie ich nicht aussähe.

»Heureka!«, rief sie plötzlich.

»Also doch gefunden«, stellte ich erleichtert fest.

»Ja, aber – in einer anderen Abteilung!«

»Abteilung? Sie meinen bestimmt eine Dependance?« Sie lachte wieder.

»So kann man es auch nennen!« Sie drückte eine Taste. Aus einem Drucker kam ein Blatt Papier und sie reichte es mir.

»Melde dich dort. Dein Kommen ist avisiert! Vielleicht sehen wir einander später noch!«

Ich brauchte eigenartigerweise gar nicht erst auf das Blatt zu sehen, um zu wissen, wohin ich gehen musste. Mit der Erinnerung an das helle Lachen, die blitzenden Zähne und die neckischen Grübchen trat ich durch eine Tür mit der Aufschrift: Praemortalium.

*

»Paul - da bist du ja!«

Ein großer dunkelhaariger Mann in einem weißen Anzug stand von seinem Platz hinter einem nobel wirkenden Schreibtisch auf und kam auf mich zu, als wollte er mich umarmen.

»Ja … ähm … die Dame am Empfang konnte meine Reservierung nicht finden.«

Er stand vor mir, drückte meine Rechte mit beiden Händen, dann schob er mich zum Besucherstuhl diesseits des Schreibtisches und ich setzte mich.

»Ein bedauerlicher Fehler«, sagte er, während er sich ebenfalls setzte. »Das kommt hin und wieder vor – wir arbeiten noch mit der Betaversion einer neuen Software.«

»Ach, das macht doch nichts.«

Auf dem Tisch befand sich ein Namensschild. Darauf stand schlicht: Gabriel.

»Du bist fünfunddreißig Jahre zu früh gekommen«, wechselte er das Thema abrupt.

»Fünfund… zu früh …?«

Er nickte.

»Deshalb wird es von unserer Unterhaltung abhängen, wo wir dich unterbringen werden. Hier oder …« Er zeigte mit dem Daumen nach unten.

Mich fröstelte, obwohl angesichts der zweiten Option ein Schweißausbruch passender gewesen wäre, wie mir plötzlich bewusst wurde.

»Nun erzähle, warum du zu früh gekommen bist«, forderte er mich auf und sein Ton war durchaus freundlich.

»Ich … nun ja … es … ich fand, es wäre an der Zeit«, stotterte ich und wusste, dass ihm das nicht genügen würde.

»Warum fandest du das?«

»Das ist wohl meine Sache.«

»Ist dies dein letztes Wort?«

Hoppla! So ging das wohl nicht, wenn ich nicht den Aufzug nach unten besteigen wollte.

»Nein, selbstverständlich nicht! Ich meine, es hat mir eben gereicht!«

»Was hat dir gereicht?«

Gabriel war ziemlich hartnäckig.

»Ich dachte, ihr seid allwissend hier oben.«

»Deine Firma machte Pleite«, gab er eine Kostprobe seiner Allwissenheit zum Besten.

Ich nickte.

»Du warst unglücklich verliebt.«

Ich nickte wieder.

»Was meinst du, wie vielen Menschen es ergeht wie dir? Und wie hoch der Anteil derer ist, die hier bei mir landen?«

»Ich habe keine Ahnung«

Hatte ich wirklich nicht.

»Ein halbes Prozent«, sagte er und sah mich streng an.

»Bei den anderen ist es wohl nicht so schlimm«, sagte ich, »sonst wären sie auch hier.«

»Also war es bei dir schlimmer?«

»Und ob!«

»Was war denn in deinem Fall schlimmer?«

»Nun, dass … ich wusste einfach nicht mehr weiter!«

»Floskeln«, sagte Gabriel milde. »Die habe ich schon tausende Male gehört.«

»Es war aber genauso«, bestand ich auf meiner Version. »Ich konnte nicht mehr.«

»Du kannst arbeiten«, sagte Gabriel, »und wenn es nicht deine eigene Firma ist, dann eben anderswo.«

»Ja, schon, aber es war ja nicht nur das.«

»Ich weiß schon, aber auch das war für dich nichts Neues. Du hattest …«

Er wischte mit den Fingern über die Schreibtischplatte, sah auf seinen Bildschirm.

»… ähnliche Situationen schon einige Male recht gut überstanden.«

»Ähnliche Situationen? Recht gut überstanden? Ich war unten, oben, wieder unten, wieder oben – und jetzt war es endgültig genug!«

»Wir wollen doch nicht laut werden«, mahnte er und blickte nach unten. Ich verstand den Wink.

»Es geht immer wieder nach oben«, sagte er, als er meine betretene Miene sah.

»Ja, aber … die Frage ist nur, wie tief man zuvor unten ist.«

»Manchmal muss man ganz nach unten, um wieder nach oben zu kommen«, sagte er.

Wieder der Blick nach unten …

»Bei mir war es jedenfalls so weit«, sagte ich, »und ich hatte keine Hoffnung mehr …«

»Ich sehe schon: Du bist eine harte Nuss.« Gabriel wischte wieder über die Tischplatte. An der linken Seite des Raumes öffnete sich eine Tür, die ich bisher noch nicht bemerkt hatte.

»Wir setzen unsere Unterhaltung morgen fort. Bis dahin ruhe dich aus!«

Ich erhob mich folgsam und schritt auf die Tür zu. Ich drehte mich noch einmal um, doch Gabriel war verschwunden.

 

*

 

Das Zimmer war nicht groß aber hell und freundlich und das Bett lud zu einem Schläfchen ein. Ich legte mich probeweise hin und war nicht sehr überrascht, als im selben Moment das Licht ausging. Ich entspannte mich und glitt mühelos in wohligen Schlummer.

»Du warst meine erste Liebe, aber du warst ein Arschloch!«

Ich fuhr hoch.

Sie stand in bläulichem Dämmerlicht neben meinem Bett und sah aus wie damals.

»Wir waren doch noch Kinder«, sagte ich schlaftrunken.

»Es ist keine Frage des Alters, sondern des Charakters«, entgegnete sie, »und du warst ein Charakterschwein!«

Sie sah mich – ganz im Gegensatz zu ihren Worten – lächelnd an. Dann verblasste ihre Gestalt und an ihrer statt stand auf einmal ein junger Mann vor mir.

»Ich habe dich gesucht, weil ich dich kennenlernen wollte, aber du wohntest nicht mehr an der Adresse, die ich herausgefunden hatte.«

»Ich … bin oft umgezogen.«

»Dafür hat das Geld wohl gereicht«, meinte er, »aber für mein Pfadfinderlager hattest du keines!«

»Das ist wahr. Ich …«

»Ich habe nie ein Geburtstagsgeschenk von dir bekommen.«

Es war eine Anklage, die wie ein beiläufiges »danke, es geht« klang.

Ehe ich mich verteidigen konnte, verblasste mein Sohn und zwei Mädchen erschienen an seiner Stelle.

Ich erkannte beide sofort wieder …

»Ich war verrückt nach dir«, sagte die Blonde, »aber du wolltest es ja unbedingt noch einmal mit deiner Frau versuchen!«

»Dränge dich nicht vor - ich war zwei Jahre vor dir dran«, sagte die Schwarzhaarige mit den goldenen Kreolen.

»Es … es tut mir ja so leid. Ich wollte ja wirklich ein anderes Leben, aber …!«

»Du hattest die Möglichkeit, aber du hast dich für das alte entschieden«, sagten sie unisono, als hätten sie es einstudiert.

»Es war ein Fehler«, gestand ich ein.

»Zwei Fehler«, verbesserte mich die Blonde.

»Zweimal der gleiche Fehler«, brachte es die Schwarzhaarige auf den Punkt.

Darauf wusste ich keine Antwort mehr.

Sie hätten sie wohl auch nicht mehr gehört, denn sie verblassten und eine Brünette erschien, die einfach umwerfend aussah.

»Wer … wer bist du?«, fragte ich.

»Du kennst mich nicht mehr? Nun, das überrascht mich nicht sehr – du hast mich schon damals nicht wirklich gekannt.«

»Damals?« Ich forschte in den Tiefen meines Gedächtnisses und wurde fündig. Sie hatte sich wirklich enorm verändert.

»Ja, damals. Ich war ja so stolz darauf, dass du mit mir geredet, mit mir herumgealbert hast … aber du sagtest immer, ich wäre so etwas wie deine kleine Schwester.«

»Ja, ich kann mich erinnern. Ich mochte dich wirklich sehr!«

»Und ich habe dich geliebt! Du hättest von mir alles haben können.«

»Ich hatte keine Ahnung …«

»Ja, das musste ich auch erkennen!«

Allmählich wurde es langweilig zuzusehen, wie sie alle verblassten, aber ich war gespannt, wer als nächstes erscheinen würde.

»Künstler, Popstar, aber kein Geld für nichts, du Totalversager!«

»Ach verschwinde doch!«

Das langmähnige Model löste sich so schnell in Nichts auf, wie es aufgetaucht war.

Die Gestalt, die ihr nachfolgte, war eine Überraschung für mich.

»Du? Ich dachte, du wärst in Griechenland!«

»Ja. Und du verstehst doch bestimmt, dass ich gehen musste«

»Ich habe gelitten wie ein Hund«, sagte ich und spürte einen dumpfen Druck auf meiner Brust. »Aber ich verstehe es.«

»Es wäre nicht gut gegangen mit uns«, sagte sie.

»Ich weiß, aber ich wollte es nicht wissen.«

»Deshalb musste ich für uns beide entscheiden!«

Und weg war sie …

Ich hatte mich schon auf weitere Gäste eingestellt, doch es kamen keine mehr.

»Der Reisende Paul Müller wird gebeten, sich im Zimmer Gabriel einzufinden!«

Die Stimme klang wie eine Durchsage auf einem Flughafen, und dazu passte, dass der Aufruf in englischer Sprache wiederholt wurde.

Nun denn – es musste wohl sein …

 

*

 

Gabriel blickte kaum von seinem Bildschirm auf und deutete kurz mit einer Hand auf den Besucherstuhl. Ich setzte mich und wartete.

»Viel Positives wussten deine Kontaktpersonen nicht zu sagen«, meinte er nach einer Weile.

»Ja eben! Genau das ist das Problem«, sagte ich.

»Wenn ich es richtig sehe, liegen all diese Dinge weit zurück – aber aus jüngerer Vergangenheit ist niemand erschienen.«

»Ja, das ist mir auch aufgefallen«, sagte ich. Worauf wollte er wohl hinaus?

»Es scheint mir, dass seit einiger Zeit niemand mehr Grund zur Klage hat … obwohl ich hier noch einige weitere Kontaktpersonen sehe.«

»Nun ja - sie wissen vermutlich nicht, dass ich hier bin.«

Er überging meinen Einwand.

»Ich habe hier keine Beschwerden verzeichnet, aber auch keine positiven Aussagen. Es muss an der Software liegen!«

»Es liegt eher daran, dass ich für sie nicht so wichtig war. Ich hatte jedenfalls mehr und mehr den Eindruck. Ich war zwar da, aber entbehrlich.«

»Niemand ist entbehrlich. Jeder hat seinen Platz, seine Bestimmung, seine Aufgabe«, wies er mich zurecht.

»Dann waren es eben mein Platz, meine Bestimmung und meine Aufgabe, die mich dazu getrieben haben! Wer kann schon mit so etwas leben, ohne zu verzweifeln?«

»Was war denn 'so etwas'?«

»Sieh doch auf deinem dämlichen Bildschirm nach!«

»Wir wollen doch nicht schon wieder laut werden«, mahnte er.

»Ja, entschuldige«, sagte ich kleinlaut, »aber das hatten wir doch schon gestern!«

»Ich habe hier nur sehr oberflächliche Informationen … die Software …«

Ich war gestern in friedlicher Stimmung hier angekommen, war dann mit Gespenstern aus meiner Vergangenheit konfrontiert worden – und in gewisser Weise waren sie mit die Ursache, weshalb ich hier war –, und nun wollte dieser Psychofritze mich ausquetschen.

Ich begann die Geduld zu verlieren.

»Ich denke, es reicht schon - ich habe Gründe genug hier zu sein. So viel wissen wir doch bereits.«

»Du hast ein Problem mit deiner jüngsten Vergangenheit«, stellte er fest.

»Ja sicher! Sonst wäre ich doch nicht hier!«

Ich schrie es.

»Dann ergänze bitte meine Informationen – für die Datenbank …«

»Ich scheiße auf die Datenbank! Was interessieren mich deine Informationen? Ich will von alldem nichts mehr hören, nichts mehr wissen!«

Ich sprang auf, stützte mich auf den Schreibtisch und starrte Gabriel aus nächster Nähe ins Gesicht. Er regte sich kaum.

»Deine Erregung bestätigt meine Behauptung von vorhin«, sagte er ruhig.

Mir platzte der Kragen.

»Alles lief schief! Alle haben mich angeschissen – von oben bis unten! Und warum? Weil ich ein Arsch bin, ein Versager, eine Niete, ein Niemand – einfach überflüssig auf dieser Welt!«

Er tippte auf seinen Bildschirm.

»Niemand hört mir zu! Niemand interessiert sich für mich! Ich hab‘s einfach satt, der Fußabstreifer für euch zu sein! Und wenn ich jetzt nach unten muss, soll es mir auch recht sein!«

Ich drehte mich um und konnte eben noch den Händen ausweichen, die nach mir griffen.

Ich rannte zwischen zwei großen, kräftig aussehenden Burschen in grünen Anzügen hindurch auf die geöffnete Tür zu – und sie hinter mir her.

Ich hastete einen langen Gang entlang in die Richtung, in der ich den Aufzug vermutete, und hinter mir hallten die Schritte meiner Verfolger.

»Schneller! Wir dürfen ihn nicht verlieren!«, hörte ich.

»Ich tu, was ich kann«, keuchte der andere.

Ich wandte mich um, doch das war ein Fehler. Ich stolperte, schlug lang hin, und dann waren sie über mir. Ich konnte mich sträuben so viel ich wollte – sie drehten mich auf den Rücken, rissen mein Hemd auf und dann kam eine Hand mit einem Elektroschocker auf mich zu …

 

*

 

Ich lauschte dem Summen und dem gleichmäßigen Piepton für eine Weile mit geschlossenen Augen.

Dies war also der Ort, den die meisten fürchteten, den sie Hades, Hölle, Unterwelt oder wie auch immer nannten; wo die einen das Fegefeuer, die anderen die ewige Mühsal immer wiederkehrender und unerfüllbarer Aufgaben oder sonstige Qualen vorzufinden erwarteten.

Ich hatte Angst, aber ich verspürte zugleich eine leise Vorfreude auf das, was ich sehen würde, sobald ich die Augen öffnete.

Wie viele Lebende hätten alles dafür gegeben, das noch zu ihren Lebzeiten sehen und davon berichten zu können …

Noch schien alles still und friedlich zu sein, so still, dass ich bemerkte, dass ich meinen eigenen Atem hören konnte, der im gleichen Takt mit dem Piepton schwang.

»Er ist aufgewacht«, sagte eine weibliche Stimme.

»Ja. Er hat es wohl geschafft! Passen Sie gut auf ihn auf!« Das war eine männliche Stimme.

»Tu ich doch immer!«

Ich hörte Schritte, dann das Geräusch einer sich öffnenden und sich wieder schließenden Tür.

Ich öffnete die Augen.

»Na, wie geht es uns?«, fragte die Frau, die am Fußende des Bettes stand, in dem ich lag. Sie trug ein kleines Häubchen auf dem hochgesteckten Haar und sah sehr besorgt drein.

»Sehr gut«, sagte ich, ohne nachzudenken.

Die Worte kamen viel langsamer über meine Lippen, als ich sie dachte …

»Es ist auch alles gut verlaufen – bis auf eine Kleinigkeit – aber machen Sie sich darüber keine Gedanken! Ruhen Sie sich aus!«

»Was ist gut verlaufen?«

Der Satz war gar nicht einfach zu artikulieren.

»Die Operation natürlich« sagte sie.

Operation? Was für eine Operation?

»Wo … bin ich denn hier?«

»Im Aufwachraum – wo denn sonst?«

»Ach ja …«

Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war der Elektroschocker, der auf meine Brust zielte. Man hatte wohl, als ich bewusstlos war, irgendeine Operation an mir vorgenommen …

»Was für eine … Operation?«

Nun machte ich mir doch Sorgen.

»Ihre Blasendivertikel – schon vergessen?«

»Ich … und was meinten Sie mit ›bis auf eine Kleinigkeit‹?«

»Ich dürfte Ihnen das jetzt nicht sagen, aber … wenn Sie versprechen, es für sich zu behalten …«

»Ich verspreche es.«

Sie kam an die Seite des Bettes und beugte sich ein wenig über mich, dann sagte sie leise:

»Sie hatten einen Herzstillstand, als die OP schon so gut wie zu Ende war … aber es hat nur Sekunden gedauert«

»Nur Sekunden …« flüsterte ich. In ihren Augen sah ich mein Spiegelbild.

»Nur Sekunden …«

 

Das Licht der Liebe

Karina Moebius

 

Christian war anders als andere Menschen und nicht nur einmal hielt man ihn für verrückt. Doch er konnte und wollte nichts dagegen tun. Was hätte er auch dagegen tun sollen und vor allem warum? Er sah die Welt nun einmal mit anderen Augen. Seine Wahrnehmung wich erheblich von der seiner Zeitgenossen ab. Christians Welt war belebter und vor allem bunter als die seiner Mitmenschen. Sein ganz besonderes ›Sehen‹ war der Grund, warum er einen einzigartigen Lebensweg eingeschlagen hatte.

Auch sein Erinnerungsvermögen war bemerkenswert. Christian erinnerte sich schon als Kind an Dinge, die er – wenn es nach seinen Eltern gegangen wäre – unmöglich wissen hätte können. So behauptete er als Dreijähriger eines Tages, dass seine Mutter, während sie mit ihm schwanger ging, von einem Pferd getreten wurde. Ja, das war tatsächlich passiert, doch niemand hatte ihm jemals von diesem Vorfall erzählt. Christians Eltern vermuteten, dass er die Geschichte irgendwo ›aufgeschnappt‹ haben musste, doch er beharrte darauf, dass er das ganz genau wüsste, weil er ja schließlich dabei gewesen war. Als Christians Mutter eines Tages mit ihm in alten Familienfotos wühlte und ihm über seine verstorbene Oma zu erzählen begann, wusste er alles, was sie ihm berichten wollte, schon im Vorhinein. Die Großmutter starb, als Christian gerade einmal sechs Monate alt war und so konnte er doch nichts über sie wissen.

»Du kannst dich nicht erinnern, du glaubst es nur, weil du von ihr gehört hast und gerade die Bilder siehst!«, erklärte ihm seine Mutter.

»Nein, die Oma kommt doch immer zu mir ans Bett, wenn ich schlafen gehe, und erzählt mir Geschichten! Aber ich hab’ nicht gewusst, dass die Frau die Oma ist«, widersprach der Vierjährige.

So gab es Episode um Episode und Christians Eltern wunderten sich immer mehr über ihr seltsames Kind.

Als sein Vater krank wurde, wusste es der Junge mit nur fünf Jahren als erster.

»Ich kann das an deinem Licht sehen«, kam die für die Eltern unverständliche Auskunft.