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Nadushka Kalinina

Kraken
in der Spree

Inhalt

Vorwort

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Epilog

Freigabevermerk

Impressum

Vorwort

Verehrte MitbürgerInnen draußen im Lande,

wiewohl dieses Amt seinen Sitz in Bonn hat, so sind unsere Mitarbeiter überall im Einsatz. So verschlägt es die Mitarbeiter regelmäßig nach Mittelerde (Smaug lebt, dies nur am Rande!) und selbst in Bayern und Sachsen wurden die Einsatzwagen des Amtes bereits gesichtet.

Mit der vorliegenden Veröffentlichung wirft das Amt einen intensiven Blick in soziale und magische Strukturen in der Hauptstadt Berlin. Dortselbst lebt eine Hexerfamilie in eher prekären Verhältnissen und die hoffnungsvollen Sprösslinge des dem Alkohol verfallenen Fenrir Paluschke haben mit äußerst widrigen Umständen zu kämpfen, bevor … aber das Ende soll hier nicht vorweggenommen werden.

Auf dem Weg zur Wiederherstellung funktionierender familiärer Strukturen kommt Kraken Paluschke, dem ältesten Sohn, große Verantwortung zu und wie das unter Heranwachsenden im Stress der Pubertät nicht selten ist, geht das mit Vorstellungen und auf teilweise gar krummen Wegen einher, die die männliche Hexe Kraken dazu bringen, die Hilfe von Domovoi, eines russischen Hausgeistes, in Anspruch zu nehmen.

Ob das reicht, um den wegen offener pekuniärer Verpflichtungen in einen Goldfisch verwandelten Fenrir Paluschke wieder in den Stand zu versetzen, seinen väterlichen Aufgaben nachzukommen und wie Domovoi, dessen wirklicher Name aus Sicherheitsgründen erst später genannt wird, mit Hilfe eines einsatzfreudigen Baseballschlägers und seines geliebten roten BMW den charmanten Kraken dabei unterstützt, ist das Thema dieser äußerst empfehlenswerten Publikation.

Das Amt ordnet vergnügliche Lektüre an.

Edmund F. Dräcker,

Präsident des Bundesamtes für magische Wesen

Prolog

Man wusste, dass man ziemlich tief in der Klemme steckte, wenn man von einem Kobold aus einem Fenster im dritten Stock geworfen wurde. Während in spektakulären Hollywood-Filmen solche Fensterstürze meist kein Problem waren, existierten in der realen Welt physikalische Gesetze. Alles, was irgendwie in die Luft befördert wurde, musste früher oder später auch wieder herunterkommen, und da ich kein Vogel war, war ich somit komplett im Arsch.

Obwohl mein Sturz nicht sonderlich lange dauerte, war der Aufprall die Hölle. Knochen knackten, als ich mit dem Gesicht voran wie eine menschliche Pizza auf dem feuchten Asphaltboden eines verlassenen Parkplatzes landete. In meinem Mund explodierte der Geschmack von Blut, während sich um mich herum die zersplitterten Reste eines ehemaligen Fabrikfensters wie scharfkantiges Konfetti verteilten. Über mir wurde kurz wütend gebrüllt, da mein ausbleibender Tod jemandem mächtig die Nacht versaute. Leider war der spitzohrige Rausschmeißer nicht mein einziges Problem. Kobolde waren nie allein und mischten einen immer mit der kompletten Gang auf. Wenn man sich mit einem dieser überempfindlichen Bastarde anlegte, konnte man fest damit rechnen, gleich von einem ganzen Dutzend dieser schnell beleidigten Punks zusammengeschlagen zu werden.

Ich war somit nicht im Geringsten überrascht, als gleich mehrere schwarze Stiefelpaare laut knirschend um mich herum auftauchten. Die schweren Schuhsohlen pulverisierten die herumliegenden Glassplitter, und mir wurde mehrmals hart in die Seite getreten. Es war der Anführer höchstpersönlich, der meine Rippen mit brachialer Wut zu Brei verarbeitete, während zwei weitere Kobolde rasch meine Taschen nach Wertsachen durchsuchten. Da die Suchaktion absolute Zeitverschwendung war und man auch beim dritten Durchlauf nichts von Wert fand, hörten die wütenden Tritte schließlich auf. Der Anführer, ein drahtiger Kobold mit roten und verfilzten Haaren, ging langsam neben meinem Körper in die Knie. Seine abgewetzte Patch-Lederjacke sah aus, als wäre sie bereits vor dem Urknall aus der Mode gekommen.

»Ich sollte dir deine beschissenen Hoden abschneiden und sie als Selfmade-Ohrringe auf Etsy verkaufen«, ätzte der Kobold und schnippte mir mehrmals hart gegen das rechte Ohr. Für einen kurzen Moment war ich froh, dass meine Nase wegen des schmerzhaften Aufpralls ziemlich zermatscht war, denn die meisten Kobolde stanken nach altem Bier, Zigaretten und Schweiß. Keine besonders wohlduftende Mischung. »Oder ich hacke dir einfach gleich deinen Schwanz ab, Hexe. Was denkt ihr, Männer? Was sollen wir mit diesem verfluchten Penner machen?«

Lautes Gebrüll lärmte über das verlassene Gebiet der stillgelegten Reifenfabrik, als sämtliche Gangmitglieder lautstark verkündeten, was man ihrer Meinung nach mit mir anstellen sollte. Vom schmerzhaften Verlust meiner Männlichkeit bis hin zur qualvollen Enthauptung war so ziemlich jede kranke Idee dabei. Was einem Kobold an Humor fehlte, glich er mit fragwürdiger Kreativität schön aus.

»Schlitzen wir ihn auf und fressen sein Herz!«, schlug mein Rausschmeißer-Kumpel aus dem dritten Stock vor. Sympathischer Typ. »Hexenherze sind gut für die Gesundheit!«

»Wahre Worte!«, brüllte ein anderer Kobold leicht lallend. »Meine Oma hat mal das Herz einer Hexe gefressen und wurde über vierhundert Jahre alt!«

»Blödsinn!«, schrie eine Stimme vom vollgesprayten Eisentor der verlassenen Fabrikhalle herüber. »Deine Oma war eine verdammte Vegetarierin, ey! Die hat nie im Leben ein Herz gegessen!«

»Herz ist kein Fleisch!«, kam es rechthaberisch aus dem dritten Stock. »Genau wie Fisch, Ed!«

»Schwachsinn!«, empörte sich Ed, der Zweifler. »Kompletter Schwachsinn, ey!«

»Die heißen Pescetarier, verdammt nochmal!«, mischte sich nun auch der Anführer der Gang in das laute Streitgespräch ein. »Vegetarier, die Herzen und Fische essen, heißen korrekterweise Pescetarier. Die sind eine anerkannte Untergruppe, Ed!«

»Pescetarier sind Blödsinn!«, schrie Ed. »Genau wie Ovo-Lacto-Vegetarier und Veganer! Alles Schwachsinn!«

Kobolde waren die wohl größten Klugscheißer aller Zeiten. Durch ihren schnell gekränkten Stolz und ihre humorlose Immunität gegen Sarkasmus galten sie ohne jeden Zweifel als verflucht gefährliche Rechthaber. Diese spitzohrigen Punks pflegten zwar eine tiefe Abneigung gegen das von Regeln gegängelte Kleinbürgertum, waren aber unter gar keinen Umständen, wirklich niemals, politisch oder sozial unkorrekt.

Kaum hatte dieser Ed also gesagt, was er nun mal gesagt hatte, geriet meine am Boden liegende Gestalt schlagartig in Vergessenheit. Ich verschwendete keine Sekunde und fing an, langsam, aber sicher aus der Gefahrenzone zu kriechen, während die Kobolde ihr unkorrektes Gangmitglied verbal auseinandernahmen. Obwohl ich erst kürzlich aus einem Fenster geworfen worden und hart auf dem Asphalt gelandet war, wo man auch noch schön auf mich eingetreten hatte, war mein Körper relativ intakt. Abgesehen von meinem Gesicht, weil ich natürlich mit der Nase voran direkt auf meiner verdammten Visage landen musste.

»Deine kleingeistige und sexistische Art kotzt mich an, Ed!«, brüllte der Anführer der Gang, und die restlichen Kobolde stimmten grölend mit ein. Ich kroch, so schnell ich konnte. »Wegen selbstgefälligen Kerlen wie dir nimmt niemand die Identifizierung durch den Ernährungsstil ernst, und meine Schwester wird als reines Sexobjekt verspottet!«

»Mimimi!«, äffte Ed den Jammertonfall eines wahren Diplomaten nach. »Deine Schwester würde nicht wie ein Sexobjekt behandelt werden, wenn sie sich nicht wie eines verhalten würde! Immerhin hat sie diesem Hexenwichser den Schwanz gelutscht und… Ey, der Penner haut ab!«

Das war mein Stichwort. Ob mit Schmerzen oder ohne, jetzt hieß es zu rennen, was meine verdammten Beine hergaben. Ich drückte mich mit voller Kraft vom feuchten Asphaltboden ab und rannte wie Forrest Gump in seinen besten Tagen. Die Kobolde setzten fluchend nach, wobei sie sich beim Rennen immer noch brüllend mit Ed stritten. Den Rest ihrer aggressiven Sozial-Debatte verstand ich jedoch nicht mehr, da ich viel zu sehr mit meiner Flucht beschäftigt war. Vielleicht konnten diese verdammten Punks mit ihren schweren Stiefeln ordentlich zutreten, dafür aber nicht besonders schnell rennen. Ich hingegen flog über den verlassenen Parkplatz, über den alten Maschendrahtzaun und dann die lange und schlecht beleuchtete Straße entlang.

Die alte Reifenfabrik befand sich im hintersten Winkel von Spandau, und die nächste Bahnstation war gefühlte tausend Kilometer entfernt. Jedoch war es erstaunlich, wie man mit schmerzenden Knochen und einer gebrochenen Nase rennen konnte, wenn man den wütenden Pöbel mit Klappmessern auf den Fersen hatte. Mein Kopf dröhnte, und ich musste mehrmals dagegen ankämpfen, mich nicht einfach vor Schmerzen zu übergeben. Die scharfen Glassplitter hatten mich während des Fenstersturzes spürbar brennend verletzt, und die eine oder andere Rippe war definitiv gebrochen. Ein normaler Mensch wäre vermutlich bei dem Fenstersturz draufgegangen, aber als Hexe hielt man ordentlich was aus. Die Magie, welche wie eine ewig latente Krankheit in meinem Körper abhing, schützte und heilte. Knochen waren stabiler, Organe überdurchschnittlich gesund, und die meisten Krankheiten juckten eine Hexe recht wenig. Ich hatte noch nie eine Erkältung oder eine Grippe gehabt, und genau wie der Rest meiner Familie erfreute ich mich bester Gesundheit.

Besonders meinem versoffenen Vater kam der sich selbst heilende Körper sehr gelegen, denn dieser Idiot kippte sich regelmäßig eine solche Menge billigen Schnaps und Wodka hinter die Binde, dass die Leber eines Normalsterblichen längst den Geist aufgegeben hätte. Ironischerweise war mein Erzeuger ein Säufer, ohne dass er wirklich jemals besoffen gewesen wäre. Die Organe einer Hexe arbeiteten nicht nur überdurchschnittlich lange, sondern auch verflucht schnell. Besonders Alkohol wurde unfassbar zügig aus dem Körper gespült. Mein alter Herr konnte locker drei Flaschen Wodka kippen, ohne deswegen wie der Rest der Welt auf der verdammten Notaufnahme zu landen. Er musste davon höchstens pinkeln wie die Sau.

Natürlich kam auf einen solch großen Vorteil auch ein verflucht großer Nachteil. Bei Hexen war es der Umstand, dass man schlichtweg nicht zaubern konnte. Es war einfach nicht möglich, auch wenn die Normalen, die nicht magisch Begabten, dank fiktiven Geschichten über Zauberei und Magie glaubten, man würde einfach nur einen überteuerten Holzstab und ein paar Worte auf Pseudolatein brauchen – und schon konnte man Gegenstände magisch schweben lassen. Es gab jedoch weder Zauberstäbe noch alberne Zaubersprüche, und ich konnte Dinge mit reiner Magie in etwa so sehr beeinflussen wie mein großer Zeh meine Frisur. Die einzige magische Gabe, die ich mehr oder weniger anwenden konnte, war, dass man mich nicht so leicht um die Ecke bringen konnte. Was gar nicht mal so einfach war, wenn man bedachte, dass eine komplette Koboldgang hinter mir her war.

Das nächste Mal, wenn mir eine Frau mit Mütze schöne Augen machte, würde ich erst mit akribischer Genauigkeit ihre versteckten Ohren inspizieren, bevor sich mein Verstand mit euphorischer Nutzlosigkeit verabschiedete. Egal, wie scharf die Braut auch war, man fasste niemals eine Koboldin an. Vor allem dann nicht, wenn man sich unbewusst in ihrem Hoheitsgebiet befand und es die Schwester des Anführers der Gang war.

Es sich mit Kobolden zu verscherzen war verflucht gefährlich, denn diese spitzohrigen Mistkerle beherrschten die Straßen von Berlin. Selbst wenn ich sie hier und jetzt abschütteln konnte, würden mich diese miesen Arschlöcher irgendwo anders erwischen. Kobolde zogen stets mit den zwei großen M – Mütze und Messer – durch die Straßen und schnorrten mit Pappbechern um Geld. Es gab in Berlin sogar erstaunlich viele von ihnen. In der Regel war jeder vierte Punk oder Obdachlose ein verdammter Kobold.

Sie versteckten sich dort, wo normale Menschen lieber wegschauten. Niemand sah sich einen Obdachlosen oder einen Punk genauer an, welcher in der U-Bahn die mürrischen Fahrgäste um einen Euro anschnorrte. Selbst wenn Kobolde keine Mützen tragen würden und man dadurch ihre merkwürdigen und spitzen Ohren sehen könnte, würde es dem durchschnittlichen Berliner kaum auffallen. Menschen waren blind, besonders in großen Städten. Hier fielen weder Kobolde noch Untote oder Gestaltwandler auf.

»Du bist ein toter Mann, Hexe!«

Der Anführer der Kobolde erwies sich trotz der schweren Stiefel als verdammter Langstreckenläufer. Während der Rest seiner Gang hinter mir weit zurückgefallen war, ließ er selbst sich nicht so leicht abschütteln. Er war vielleicht nicht ganz so schnell wie ich, dafür aber umso wütender.

»Hörst du, du Wichser? Niemand pimmelt meine Schwester an! Du bist tot!«

Meine alten und grünen Chucks machten klatschende Geräusche auf dem feuchten Asphalt, als ich trotz furchtbarem Seitenstechen nochmal einen Zahn zulegte. Ich vergrößerte mit Hilfe meines puren Überlebensinstinkts den Abstand zwischen mir und meinem irren Verfolger. Der Anführer brüllte wütend, als er schließlich ebenfalls weit hinter mir zurückblieb.

Ich, Kraken-Paluschke – oder besser bekannt als der Umwerfende Krake –, lief meinem Feind mal wieder schön davon. Ich war zwar kein Feigling, aber ich zog es durchaus vor, nicht völlig sinnlos zu sterben. Außerdem mochte ich mein Gesicht. Es war ein gutes Gesicht, und abgesehen davon, dass es wegen dem Fenstersturz ein wenig zermatscht war, würde es den Frauen und Männern dieser Welt auch noch lange Freude bereiten. Vorausgesetzt, ich fiel den Kobolden nicht erneut in die Hände.

Die Nacht war feucht und kühl, und ich fühlte mich trotz der stechenden Schmerzen großartig. Zumindest für diesen einen flüchtigen Moment, denn keine drei Stunden später sollte ein Fluch nicht nur meinen Vater in einen verdammten Goldfisch verwandeln, sondern auch meine gesamte Familie in Gefahr bringen.

Eine Gefahr, bei der ich mich im Nachhinein doch lieber von den Kobolden hätte kaltmachen lassen sollen.