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Heinz G. Konsalik

Im Tal der
bittersüßen Träume

Roman

hockebooks

Die Trockenheit war überall. In dem zerrissenen, staubenden morschen Boden, in den kahlen Felsen, den braungrauen, versengten Bäumen und Sträuchern, dem glutenden, erbarmungslosen, strahlendblauen Himmel, in den Hütten, die zu Bratöfen wurden, und in den verzweifelten Herzen.

Es hatte seit sieben Monaten nicht mehr geregnet.

In der kleinen erbärmlichen Steinkirche von Santa Magdalena knieten die Menschen und beteten – Gerippe nur noch, in schlotternden Kleidern, Totenschädel unter pergamentener Haut, aus denen groß die Augen glänzten. Gebete wie Staubwolken, tonlos, aus ledernen Gaumen: »Maria, schick uns Regen! Jesus Christus, lass eine Wolke über Santa Magdalena ziehen! Gott im Himmel, lass uns nicht von deiner Sonne verbrennen …«

Pater Felix Moscia stand hinter dem Altar und überlegte, was er noch sagen sollte. Die Sonne schob sich jeden Morgen mit ungeminderter Glut über die Berge, und wenn sie versank, konnte er nur vor dem Bild des Erlösers knien und fragen: »Herr, ist das Dein Wille? Warum? Warum hast Du solches Elend über diese Menschen geschickt, gerade über diese Menschen? Leiden sie nicht schon genug? Sind sie nicht arm und rechtlos, krank und ausgebeutet, armseliger als ein streunendes Tier und duldsamer als ein blinder Esel? Herr im Himmel, warum diese Strafe für Menschen, die nur einen Besitz noch haben: den Glauben an Dich?«

Aber es kam keine Antwort … die Sonne stieg, die Sonne versank, und der Himmel blieb unendlich blau und glühend.

Es gab ein paar Brunnen, natürlich. Aber was sind sechs Brunnen für achthundertfünfundsiebzig Menschen, siebenhunderteinunddreißig Kühe, eine Hammelherde und unzählige Hühner? Ein Brunnen gehörte zur Kirche, aus drei Brunnen trank das Dorf Santa Magdalena, mit einem Brunnen musste das Hospital ›Henri Dunant‹ auskommen, aber der größte Brunnen, ein tiefer Schacht, der aus dem Bauch der Erde herrliches, klares Wasser sprudeln ließ, gehörte Jack Paddy.

»Ich habe viel von der Welt gesehen, aber Santa Magdalena muss die irdische Niederlassung des Teufels sein!« Dies sagte der Bischof von Chihuahua, als er Altar, Kirche und die Gemeinde weihte und Pater Felix mit ehrlicher Bewunderung die Hand drückte. »Und Sie meinen, Pater, dass Sie daraus eine Gemeinde Gottes machen können?«

»Wo Menschen die Hände falten können, ist nichts verloren«, hatte Pater Felix Moscia geantwortet. »Aber mit dem Händefalten allein ist’s nicht getan, – ich werde den Menschen beibringen, dass sie Menschen sind.«

Der Bischof verstand das damals nicht richtig. Er begriff es erst, als Jack Paddy bei ihm in der Residenz Chihuahua auftauchte, einen Beutel mit Geld auf den Tisch setzte und sagte: »Exzellenz, Sie kennen mich noch nicht. Das ist auch weiter nicht nötig. Ich stifte Ihnen dreißigtausend Pesos.«

»Danke, Mr. Paddy«, hatte der Bischof gesagt. »Gott segne Sie.«

»Mit den dreißigtausend Pesos verbinde ich die Bitte, dass Sie Ihren komischen Pater Felix aus Santa Magdalena abberufen.«

Der Bischof hatte sich diesen Mr. Paddy genau betrachtet und fand ihn widerlich. Groß, breitschulterig, muskelbepackt, mit kalten graublauen Augen, stand Jack Paddy vor dem Schreibtisch, den kantigen Schädel etwas vorgestreckt, und wartete auf Antwort.

»Mr. Paddy«, hatte der Bischof dann gesagt, »ich verkaufe Ihnen keinen meiner Priester. Auch nicht für eine Million Pesos.«

»Ich will den Narren nicht kaufen, er soll gehen!«, hatte Paddy geschrien. »Wissen Sie überhaupt, was für ein Priester das ist? Mit der einen Hand segnet er, mit der anderen verteilt er Flugblätter mit einem Schwulst von sozialistischen Schlagworten. Die vervielfältigt er selber! Ist das Ihre moderne Kirche, Exzellenz? Die Schäfchen zum Altar holen und dort umfunktionieren zu wilden Hunden? Was soll der Blödsinn mit Ausbeuterei, Mitbestimmung, Tariflohn! Ich beschäftige auf meiner Pflanzung vierhundertsechzig Indios. Sie leben gut im Vergleich zu dem, was sie leisten, sie waren zufrieden mit ihrem Leben, bis dieser Flegel Pater Felix auftauchte! Aber man kennt das ja aus der Geschichte: Wo sich die Kirche niederlässt, werden Revolutionen geboren. Fünfzigtausend Pesos, Exzellenz, und Sie stecken Ihren Pater ins Kloster zurück!«

»Das geht nicht, Mr. Paddy«, hatte der Bischof ruhig geantwortet. »Pater Felix ist eingesetzt vom ›Orden der Dornenkrone Christi‹. Ich bin ein sogenannter weltlicher Priester, habe ein gütiges Auge auf sein Wirken, aber keine Befehlsgewalt.«

»Und wo sitzen diese Jünger von der Dornenkrone?«, brüllte Paddy.

»Ihr General wohnt in Rom.«

»Damit wir uns richtig verstehen …« Paddy hatte den Sack mit den dreißigtausend Pesos wieder an sich genommen: »Santa Magdalena ist mein Dorf! Wenn Pater Felix seine Dornenkrone durchaus haben will – er kann sie bei mir bekommen!«

Nach diesem Besuch, vor zwei Jahren, hatte sich der Bischof diskret erkundigt, was jener Pater eigentlich so trieb. Und dabei erfuhr er etwas, was ihn entsetzte, was er aber nicht verwerten konnte, weil es ihm ein Indio unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses gesagt hatte: Die Pflanzung des Amerikaners Jack Paddy bestand nur für gelegentliche Besucher aus künstlich bewässerten Baumwollfeldern und einigen Kaffeeplantagen. Dort aber, wo kein anderer hinkam als die bei Paddy unter Vertrag stehenden Indios, in den Seitentälern und auf den einsamen Hochebenen, erstreckten sich Felder mit Paddys ungeheurem Reichtum: Hanf. Hanf für die Herstellung von Marihuana. Und wo es ganz einsam wurde und so glühend, dass selbst die Indios wie auf einer Pfanne schmorten, wuchsen kleine runde Kakteen, halbkugeligen Rettichen gleich, krautlos, hässlich: Peyotl. Der Rausch-Kaktus, das Gewächs der Hölle, aus dem man das Mescal destilliert, ein Rauschgift, das wilde Halluzinationen hervorruft.

»Herr im Himmel«, hatte der Bischof damals gesagt. »Hier muss etwas getan werden. Wir haben die Hölle direkt vor der Nase – und keiner kümmert sich darum!«

Kam daher die Trockenheit? Ließ Gott es deshalb sieben Monate nicht regnen? Wollte er die Privathölle des Jack Paddy austrocknen?

Auch Pater Felix wagte nicht, darauf eine Antwort zu geben.

Er verteilte an die Indios so viel von seinem Wasser, wie es der Brunnen zuließ. Aber es wurde immer weniger. Aus dem Boden sickerte es nur noch langsam nach; die Glut der unbarmherzigen Sonne schien die Erde zu spalten und bis in die Tiefe zu dringen.

Jack Paddy hatte seinen Kampf gegen Pater Felix damit begonnen, dass er jedem Indio, der die Kirche nicht mehr betrat, pro Stunde einen Zuschlag von zwanzig Centavos anbot. Das war erbärmlich, aber für einen Indio, der auf Paddys Hanf- und Peyotl-Feldern schuftete, war es, auf eine Woche zusammengezählt, ein Vermögen.

Die Kirche leerte sich wirklich. An den Sonntagen predigte Pater Felix vor fast leeren Bänken. Nur die ganz Alten, die Invaliden, die Mütterchen, die nicht mehr von Paddy abhängig waren, hockten herum, und auch sie hatten Ponchos über die Köpfe gezogen, damit man sie nicht erkannte. Denn an der Kirchentür stand Antonio Tenabo.

Tenabo war eine Kreatur, ein treffenderes Wort gibt es nicht. Ein dicker, breiter, hirnloser, muskulöser, von keinen Skrupeln belasteter Knecht seines Herrn. Grinsend, mit wulstigen Lippen, stand er vor der Kirche und gab jedem, der herauskam, einen Tritt in den Hintern. Die alten Leute fielen in den Staub, erhoben sich stumm und trotteten zu ihren ärmlichen Häusern aus groben Felssteinen. Pater Felix konnte nichts dagegen tun. Ein Zweikampf mit dem gewaltigen Tenabo wäre sinnlos gewesen.

Die Kirche aber war nicht die einzige Sorge Jack Paddys. Es gab noch eine andere Institution, zwar außerhalb Santa Magdalenas, aber doch zur Gemeinde gehörend, die ihn jedes Mal, wenn er daran vorbeiritt, wütend aufbrausen ließ: ein Hospital.

Dass jemand hier, in der schäbigsten und dreckigsten Ecke Mexikos, ein Krankenhaus baute, war schon unvernünftig genug. Paddy hatte zuerst nicht begriffen, was die Leute, die da auf staatlichem Boden ausschachteten und Mauern hochzogen, eigentlich wollten und woher denn die Patienten kommen sollten. Aber dann, als das Hospital fertig war, kamen von allen Seiten so viel Indios aus den Bergen und aus den wüsten Hochebenen, dass Paddy mit dem großen Fluchen begann.

Er wartete ab. Was taten die Schwarmgeister da drüben im Hospital? Wurden sie ihm gefährlich? Versorgten sie die Regierung mit Berichten über die Hanffelder und die Peyotl-Plantagen? Wie verhielten sich die Indios, die nicht von ihm abhängig waren, weil sie nicht bei ihm arbeiteten?

Nichts geschah, bis zu dem Augenblick, da die mexikanische Mannschaft das Hospital verließ und ein neues Schild über die Einfahrt montiert wurde:

›Hospital Henry Dunant.‹

Zwei Tage später traf der neue Arzt ein. Dr. Richard Högli, ein Schweizer aus St. Gallen. Er machte vier Tage später seinen Antrittsbesuch bei Mr. Paddy, so wie es sich für einen guten Nachbarn gehörte. Aber da wusste Paddy bereits von seiner Kreatur Tenabo, dass Dr. Högli ein paar Tage zuvor mit einem Jeep in die Berge gefahren war und einige Peyotl-Felder besichtigt hatte.

»Sie leben wie im Paradies«, sagte Dr. Högli, nachdem er einen eisgekühlten Fruchtcocktail getrunken hatte. Das war nicht übertrieben. Paddys Haus lag in einem üppigen Park, in dem das Wasser durch künstliche Bachläufe plätscherte, gespeist von einem Tiefbrunnen, der unermüdlich Wasser hergab. Und wo Wasser ist, verschenkt die Natur all ihren Zauber an Blüten und Duft. An diesem luxuriösen herrschaftlichen Besitz störte nur die hohe Mauer, und die um die Mauer verteilten Wachttürme störten noch mehr. Es war eine paradiesische Festung, eine kleine, abgeschlossene Welt voll Saft und Kraft inmitten einer sandigen, felsigen, glutenden Einöde.

»Sie leben auch nicht schlecht, Doktor«, sagte Paddy und musterte den Arzt nachdenklich. Ein anderer Typ als Pater Felix, dachte er. Der Priester ist ein hagerer Asket – das sind die gefährlichsten Aufwiegler. Dr. Högli ist jung, mit jungenhaftem Charme, hat einen sportlichen Körper und treue Augen. Ein Arzt, der bei seinem Leisten bleiben und nicht wie dieser Priester mit dem Sozialismus kokettieren wird. Tenabo ist ein Rindvieh!

»Gestern wurde ich beschossen.« Dr. Högli winkte ab, als Paddy ihm eine Kiste mit Zigarren hinschob. »Oben in den Bergen. Ich ritt an einem Kaktusfeld vorbei, da pfiff es mir um die Ohren …«

»Indios!« Paddy lächelte milde. »Sie jagen dort und können doch nicht schießen. Es ist immer das Gleiche.«

»Sie wurden auch schon beschossen?«, fragte Dr. Högli.

Paddy hob die dicken Augenbrauen. »Nein! Vielleicht jagten da gerade keine Indios.«

»Ihr Glück!« Dr. Högli stand auf, der Antrittsbesuch war beendet. Man hatte sich berochen, und man mochte sich nicht, das war jetzt klargeworden. »Kennen Sie 3,4,5-Trimethoxyphenyl-β-aminoethan?«

»Nein!«, sagte Paddy steif.

»Es ist der chemische Name für Meskalin. Es wächst vor Ihrer Haustür. Sie sollten so einen kleinen Kaktus nie zu Gemüse verarbeiten …«

Von diesem Augenblick an wusste Jack Paddy, dass Dr. Högli der zweite große Gegner geworden war.

Man sah sich nun nicht mehr. Die Indios ließen sich im ›Hospital Henri Dunant‹ behandeln, die Frauen brachten dort ihre Kinder zur Welt, die armseligen Behausungen wurden dank Dr. Höglis Aufklärungsarbeit sauberer, es gab sogar Badetage im Hospital, einmal wurden die Männer, ein anderes Mal die Frauen in großen Holzbütten gewaschen.

›Padre Riccardo‹ – so nannten die Indios bald Dr. Högli. Vater Riccardo.

»Es ist zum Kotzen!«, sagte Jack Paddy, als ihm ein bestochener Indio verriet, dass am Sonntag zwar die Kirche leer war, dass nun aber die Gläubigen nach Einbruch der Dunkelheit ins Gotteshaus schlichen, wann immer sie wollten. Pater Felix war zur Stelle, taufte und schloss Ehen, tröstete die Verzweifelten und predigte über Gerechtigkeit und Menschenwürde. »Der eine salbadert, der andere macht’s mit Spritzen und Tabletten«, sagte Jack Paddy. »Der eine wäscht die Seele rein, der andere steckt sie einfach in Bottiche. Und beide sind Narren! Man sollte sie in Ruhe lassen; ein Esel, den man nicht prügelt, schlägt nicht zurück.«

Nun aber hatte es sieben Monate lang nicht geregnet. Santa Magdalena verdorrte. Das Vieh starb dahin, die Menschen schrumpften zusammen … Nur die Rausch-Kakteen wuchsen auf den heimlichen Bergfeldern. Paddy rechnete sich aus, was er verdienen würde. Es war weniger als erhofft, denn der Hanf stand schlecht. Die automatischen Sprühanlagen blieben ohne Wasser, weil sich die Indios unter die Strahlen stellten und es in ausgehöhlten Kürbissen oder Ledersäcken auffingen.

Wasser! Wasser!

Eine Woche lang hieben Antonio Tenabo und seine Aufseher mit Lederpeitschen auf die Indios ein – es nützte nichts. Wo Wasser auftauchte, wurde es gestürmt. Man war sogar bereit, sich dafür zum Krüppel schlagen zu lassen. Nur trinken … Herr im Himmel, einmal richtig trinken, die dick geschwollene Zunge im Wasser baden, den sandigen Rachen ausspülen … Trinken!

»Abstellen!«, hatte Paddy befohlen. »Alle Sprühanlagen abstellen! Die Löhne werden um die Hälfte gekürzt.«

Dann ließ er das große Tor in der hohen Mauer schließen, besetzte die Wachttürme mit Scharfschützen und wartete ab. Sein großer tiefer Brunnen versiegte nie. In seinem Garten drehten sich die Rasensprenger, plätscherten die künstlichen Bäche, blühten Sträucher und Blumen in geradezu satanischer Pracht.

»Es gibt Wasser«, sagte Jack Paddy, als eine Abordnung der Indios von Santa Magdalena bei ihm erschien und beim Anblick des im Garten wegfließenden Wassers fast in die Knie sank. »Zehn Liter für jedes schöne Mädchen, das ihr mir bringt. Sie nimmt es am nächsten Morgen mit, wenn ich sie wieder gehen lasse!«

Die Abordnung der Indios verschwand lautlos hinter dem zuklappenden Tor. Ihre Töchter! Ihre stolzen Töchter für zehn Liter Wasser!

Man ließ sich ausbeuten, man arbeitete für den Americano bis zum Umfallen, man nahm seine Pesos, man duldete alles, sogar die Peitschenhiebe Tenabos, man kroch vor ihm im Staub, denn er war hier der Herr, und keiner war über ihm. Wer von den Behörden kümmerte sich denn um die Indios von Santa Magdalena, wo blieb der Gouverneur von Chihuahua, was tat der Polizeichef Mendoza Femola in Nonoava? Nein, niemand kümmerte sich um sie – und so hatten sie gelernt, auch die schlimmsten Demütigungen zu ertragen.

Aber die Töchter hergeben für zehn Liter Wasser? Hermanos, Amigos, dann lasst uns verdorren, wie unsere Bäume, unser Vieh, unser Land!

Sieben Monate Sonne …

»Die Lage spitzt sich gefährlich zu«, sagte Pater Felix. »Wir müssen etwas unternehmen, sonst entgleiten uns diese Menschen.«

Pater Felix war mit seinem alten, klapperigen Jeep, den er sich von Spenden aus einer Aktion ›Priesterhilfe in Mexiko‹ hatte kaufen dürfen, zum ›Hospital Henri Dunant‹ gefahren. Nun saß er in dem von drei Ventilatoren kaum gekühlten Sprechzimmer Dr. Höglis und trank heißen Tee, das beste Mittel gegen die grauenhafte Hitze. Eine Klimaanlage gab es im Hospital nicht, dazu hatten die Mittel der Schweizer Stiftung nicht gereicht. Man war froh, dass der ärztliche Versorgungsdienst aufrechterhalten werden konnte, dass es einen halbwegs funktionsfähigen OP–Saal gab, saubere Betten mit weißer Bettwäsche und eine gut gefüllte Apotheke. Das war gar nicht so selbstverständlich, denn der Weg nach Santa Magdalena ist weit … Ob man von Mexico City herüberkommt, von El Paso an der amerikanischen Grenze oder sogar aus der nähergelegenen Hauptstadt Chihuahua – immer verschwinden auf diesem Weg Kartons und Kisten, Säcke und Konserven, und keiner weiß, wo sie geblieben sind. Man muss sich in Mexiko an das Wunder gewöhnen, dass Dinge sich plötzlich in Nichts auflösen.

Dr. Högli blickte hinaus auf den staubigen Vorplatz des Hospitals. Dort wartete wieder, unter notdürftigen Sonnendächern aus Balken und Blättergeflechten, eine lange Reihe Indios; geduldig hockten sie auf der Erde, in ihre Ponchos eingewickelt trotz der glühenden Hitze, die runden schwarzen oder dunkelgrünen Hüte ins Gesicht gezogen. Menschen, für die es keine Zeit mehr zu geben schien.

In der Ambulanz, wie man den großen Raum nannte, in dem fünf Kranke gleichzeitig behandelt wurden, ihre Spritzen, ihre Tabletten, ihre Verbände bekamen, arbeitete der Krankenpfleger Juan-Christo Ximbarro, ein Mestize, der die Krankenpflegerschule in Chihuahua besucht hatte und mehrere indianische Dialekte sprach. Ohne ihn wäre Dr. Högli im ersten Jahr seiner Tätigkeit völlig hilflos gewesen. Als man ihm die ärmlichen Baracken übergab, waren die mexikanischen Ärzte schon weggefahren, keiner war da, der ihn in seine Arbeit hätte einweisen können, alles sah wie nach einer Flucht aus. Flucht vor dieser Einsamkeit, vor diesem schrecklichen Land, vielleicht auch eine Flucht vor Jack Paddy?

Juan-Christo war ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren mit dem schönen Gesicht der Mischlinge, lackschwarzen Haaren und einer Haut, die in der Sonne wie Bronze glänzte. Er war der Einzige, der einen Zusammenstoß mit Antonio Tenabo riskiert hatte, obwohl er nur mittelgroß war. Aber er kannte einige indianische Tricks, war klug und scharfäugig, schnell wie ein Wiesel, und warf Tenabo, der ihn mit der Faust schlagen wollte, mit einem blitzschnellen Schwung so hart auf den steinigen, aufstaubenden Boden, dass Tenabo Mühe hatte, aufzustehen, zu seinem Pferd zu wanken und fortzureiten.

– Von diesem Tag an war Juan-Christo so etwas wie der Boss der Indios. Paddy erkannte es sofort. »Er ist ein unfallgefährdeter Idiot!«, sagte er zu Tenabo. »Es wird sich machen lassen, dass er irgendwann verunglückt.«

»Etwas fällt mir auf«, sagte Dr. Högli. »Die Indios haben sich verändert.«

»Ich weiß, was es ist«, sagte Pater Felix. »Sie haben es mir gebeichtet. Verdammt ja, es ist ein Beichtgeheimnis – aber Arzt und Priester sollten zusammenhalten.« Er holte aus der Tasche seiner langen weißen Soutane ein paar dünne Scheibchen getrockneter Kakteen hervor und warf sie vor Dr. Högli auf den Tisch. »Eine neue Teufelei von Paddy. Er lässt an alle Arbeiter, die noch für ihn schuften, jeden Tag fünf dieser Scheiben verteilen. Die Indios kauen sie, und plötzlich ist die Welt für sie ein Paradies, sie schwelgen im Glück, haben keinen Durst mehr, baden sich in riesigen Seen. Die Luft ist voll Duft, als strömten Millionen Blüten ihre Süße aus; auf den Feldern wachsen schillernde Edelsteine an gläsernen Sträuchern, aus der Sonne tropft das Licht wie Honig …«

»Peyotl«, sagte Dr. Högli dumpf.

»Ja. Aus dem chlorophyllhaltigen Mittelstück der Kaktee werden Scheiben geschnitten, getrocknet und dann verteilt. Das macht man seit Jahrhunderten. Man nennt sie Mescal buttons. Paddys teuflischer Plan ist, seine Indios dadurch von ihm abhängig zu machen. Früher kauten sie die Mescal buttons aus Vergnügen, um einen billigen Rausch zu haben, denn Alkohol ist teuer. Paddy aber teilt ihnen so große Mengen zu, dass sie wie in einem Wahn leben, von Halluzinationen erfüllt werden, den Durst nicht mehr spüren, bis zum Umfallen arbeiten und sich mit Begeisterung und umnebeltem Gehirn kaputt machen.«

»Wir müssen die Indios über die Folgen aufklären, Pater«, sagte Dr. Högli und sprang auf. Pater Felix hielt ihn an seinem Arztkittel fest.

»Worte sind jetzt völlig unnütz. Ich habe alles Nötige schon von der Kanzel gesagt – es war umsonst. Wenn das Wort von der Kanzel nichts mehr ausrichtet, was wollen Sie dann noch mit Ihren Erklärungen? Paddy nimmt den Indios den Durst – ohne Wasser! Dass sie zu Wracks werden, kümmert sie nicht. Sie leben für den heutigen Tag, nicht für die Zukunft wie wir. Und heute sind sie satt und ohne Durst.«

»Ich werde ihnen etwas demonstrieren.« Dr. Högli trat an das Fenster. Die Schlange der wartenden Indios war kleiner geworden. Juan-Christo in der Ambulanz war ein fleißiger Arbeiter. »Ich werde durchs Dorf gehen und mir einen herausholen, der schon ein Meskalin-Wrack ist. Und den führe ich ihnen vor.«

»Und?« Pater Felix lächelte mühsam. »Sie kennen ihn doch, Doktor. Er lebt doch mitten unter ihnen. Diese Menschen haben sich in einen Fatalismus geflüchtet, der schon einem Scheintod gleicht. Wir müssen an die Basis.«

»Paddy?«

»Ja!«

»Wie denn? Er lässt uns hinausprügeln – wenn er uns überhaupt empfängt.«

»Sie sollten der Regierung melden, dass auf Paddys Bergfeldern Rauschgifte angebaut werden.«

»Mein lieber Pater Felix«, sagte Dr. Högli. Sein jungenhaftes Gesicht schien plötzlich gealtert. »Ich habe vier Berichte an den Polizeikommandanten von Nonoava, der zuständig ist, geschickt. Señor Mendoza Femola hat nicht einmal geantwortet.«

»Die Regierung in Chihuahua?«

»Zwei Schreiben.« Dr. Högli zeigte auf die Briefordner im Regal. »Dort können Sie die Antwort lesen, wenn Sie sich die Mühe machen wollen, die Briefe herauszusuchen! Weitergegeben an den zuständigen Polizeikommandanten von Nonoava. Er hat jetzt sechs Berichte da, dieser Femola. Anscheinend stopft er damit sein Kopfkissen.«

»Dann helfen wir uns selbst, Doktor. Gott hat gesagt: Tue kein Leid, aber verhindere jedes Leid! – Über die Waffen, mit denen man Leid verhindern kann, steht allerdings nichts in der Bibel!«

»Wollen Sie Paddy erschlagen, Pater? Das wäre der einzige Weg.«

»Warum verstehen die Menschen unter Revolution immer nur Blut und Tod?«

»Nennen Sie mir eine Revolution, die unblutig war! Sogar die Reformation hat Millionen Tote gekostet – und es hört nicht auf!«

»Ich will nur, dass sich die Indios auf ihre Menschenwürde besinnen!«, rief Pater Felix. »Helfen Sie mir dabei?«

»Gern. Aber vergessen Sie nicht: Ich bin Arzt! Ich rette Leben, ich opfere keine!«

»Wie sieht es mit Ihren Wasservorräten aus?«

»Mies! Der Hospitalbrunnen sickert so dahin. Tageweise ist nur noch der Boden bedeckt. Es reicht kaum für die Stationären.«

»Und Paddy lässt seine Blumen besprengen und hält seine künstlichen Bäche in Betrieb!«

»Ich weiß. Gestern hat er demonstrativ seinen Springbrunnen angestellt. Der Strahl zischte bis über die Mauer. Die Indios standen draußen, starrten das in der Sonne sprühende Wasser an, und dann schlichen sie sich davon.«

»Sie schlichen davon! Das ist es!«, schrie Pater Felix. »Warum hat keiner das Haus gestürmt?«

»Auf den Wachttürmen stehen Paddys Männer mit Maschinenpistolen. Was haben die Indios? Ihre Hände, ein paar Knüppel, Beile, Jagdgewehre …«

»Fahren Sie mit mir zu Mendoza Femola!«

»Den Weg können wir uns sparen. Wissen Sie, ob er nicht von Paddy bezahlt wird?«

»Er ist getaufter Christ. Ich werde als Priester mit ihm reden und ihm notfalls ein paar Ohrfeigen geben.«

»Auch diese individuelle Spielart des apostolischen Segens wird ihn nicht vergessen lassen, wieviel Pesos er von Paddy erhält. Aber gut.« Dr. Högli griff nach seinem geflochtenen, bunt bemalten Sombrero. Er zog den Arztkittel aus und schnallte sich seine Pistole um. Pater Felix blickte ihn erstaunt an.

»Ihre neue Injektionsspritze?«

»Ich bin ein paarmal beschossen worden. Aus dem Hinterhalt.

Und ich pflege auf Fragen immer eine Antwort zu geben.«

»Sie sind mir ein Rätsel, Doktor.« Pater Felix hielt die Tür auf. Von draußen drang die Hitze wie eine schwere Wolke herein. »Sie sehen sanft wie ein Lamm aus, leben asketisch nur für Ihre Kranken, halten es hier im Vorhof der Hölle freiwillig aus – und nun lassen Sie sich auch noch beschießen und wollen zurückballern. Wie alt sind Sie?«

»Zweiunddreißig, Pater.«

»Wie ich. Scheint ein guter Jahrgang zu sein.«

In der Ambulanz arbeitete Juan-Christo wie am Fließband. Ein angelernter Indio stand ihm mit Handreichungen zur Seite.

»Ich muss nach Nonoava«, sagte Dr. Högli. »Schaffst du es allein?«

»Heute schon, Padre Riccardo.« Juan-Christos Gesicht glänzte vor Schweiß. »Sie müssen eben länger warten.«

Dr. Högli und Pater Felix gingen, vorbei an den herumhockenden Indios, zu ihren Jeeps. Jeder fuhr mit seinem Wagen, falls einer auf den höckrigen Straßen ausfallen sollte.

Die Indios hoben die Köpfe nicht, die steifen Hüte waren ihnen in die Stirn gerutscht. Nur ein paar Alte grüßten. Högli blieb stehen und griff einem der Indios unters Kinn. Glänzende, weltferne, glückliche Augen starrten ihn an – zwei Lichter in einem ausgemergelten, verfallenden Körper.

Meskalin. Der Rausch des Paradieses …

»Fahren wir, Pater Felix!«, sagte Dr. Högli heiser. »Vielleicht helfe ich Ihnen, Mendoza Femola zu ohrfeigen!«

Jack Paddy kam vom Swimmingpool zurück und fühlte sich wunderbar erfrischt. Er machte einen kleinen Dauerlauf durch den blühenden, duftenden Park, übersprang dreimal einen seiner künstlichen Bäche und kam sich jung und voll ungenutzter Kraft vor. Seine knappe Badehose mit dem Hawaii-Muster verdeckte kaum seine Blöße, der muskelbepackte Körper glänzte in der Sonne, als die Wassertropfen von ihm abperlten und verdunsteten.

Heute war ein schöner Tag. Das erste hübsche Indiomädchen war über Nacht bei ihm geblieben und hatte am Morgen das Haus wieder verlassen – mit zehn Litern Wasser. Damit es sich herumsprach, hatte Paddy das Wasser sogar mit Orangensaft versetzen lassen – das musste für die Indios ein Getränk aus einer anderen Welt sein. Sieben Monate ohne Wasser, sieben Monate nur glühende Sonne und Staub, seit einem Monat das höllische Paradies der Mescal buttons – da sind zehn Liter orangengewürztes Wasser für ein paar Stunden Stillhalten in den Armen Paddys geradezu ein königliches Geschenk.

Auf der Terrasse unter den kühlenden Bögen, in denen sich große Ventilatoren drehten, war der Kaffeetisch gedeckt. Matri, das Hausmädchen, machte einen Knicks, als Paddy herangelaufen kam, die Arme angewinkelt, als wolle er, wie auf einem Sportfest, demonstrieren, wie man schulmäßig einen Dauerlauf macht. Dann ließ er sich lachend in einen der breiten Korbsessel fallen, streckte die Beine von sich und knotete sich ein Frottierhandtuch um die kantigen Schläfen. Matri schielte zu dem ›Viereckschädel‹ hin und goss eine Tasse mit Kaffee randvoll.

Paddy schnippte mit dem Finger und winkte dem Mädchen zu. »Warum hast du eigentlich noch nicht mit mir im Bett gelegen?«, rief er mit seinem dröhnenden Bass, der, wie alles an ihm, Ausdruck einer Vitalität war, die ihre Kraft aus dem Elend der Indios sog. »Eine Schönheit wie du … Mädchen, du bist das schönste Weib zwischen El Paso und Los Moschis!«

»Sie wissen, Señor, ich bin verlobt.«

»Mit diesem Kretin Juan-Christo? Dem Pissflaschenschwenker vom ›Henri Dunant‹?« Paddy lachte schallend und biss in ein knackfrisches Brötchen. »Matri, wir sollten es uns überlegen!«

»Nie, Señor.«

»Wie lange bist du bei mir?«

»Neun Jahre, Señor.«

»Neun Jahre?« Paddy schnitt ein dickes Stück Schinken ab, schob es in den Mund und betrachtete Matri wie eine Stute, die zum Verkauf steht. »Ich erinnere mich. Du warst das dreckige, magere Balg, das man mir eines Tages ins Haus brachte. Sie haben dich oben in den Bergen gefunden, ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen.«

Matri schälte eine dicke Orange und brach sie in Stücke, die sie Paddy auf einem Teller hinschob. »Das stimmt nicht ganz, Señor«, sagte sie. »Ihre Leute haben meine Sippe überfallen und verjagt. Meine Mutter ließ mich fallen, sie musste mich damals tragen, weil ich mir den Fuß an einem Kakteenstachel verletzt hatte, und als sie mich holen wollte, hat man sie mit Peitschen weggetrieben. Ich habe sie nie wiedergesehen.«

»Und dein Vater?«

»Er war schon ein Jahr tot. Ein Stier hat ihn zu Tode getrampelt.«

Paddy aß ein paar Orangenscheiben und tätschelte seinen nackten Bauch. »Was wärst du heute ohne mich?«, sagte er. »Matri Habete. Vom Stamme der Tarahumara-Indianer. Ich erst habe einen Menschen aus dir gemacht! Und was für einen Menschen! Wie alt bis zu jetzt?«

»Ich müsste einundzwanzig sein, Señor.«

»Eine Schande! Läuft eine einundzwanzigjährige Schönheit Tag und Nacht bei mir herum – und war noch nicht in meinem Bett! Ist das Dankbarkeit, Mädchen?« Paddy trank den starken heißen Kaffee mit kleinen Schlucken, begann zu schwitzen und tupfte den Schweiß mit einem Zipfel des um den Kopf geknoteten Handtuchs ab. Plötzlich wurde er ernst, sein joviales Lachen verschwand aus seinem eckigen Gesicht, die Augen bekamen jene Härte, die alle fürchteten, die mit Paddy in nähere Berührung kamen. »Und wenn ich dir’s befehle?«, sagte er laut.

»Sie können mir alles befehlen, nur das nicht, Señor!« Matri goss neuen Kaffee ein. Ihre Hand zitterte nicht. Paddy achtete genau darauf. Ein Indianer-Luder, dachte er. Wie sie sich in der Gewalt hat, diese schwarze Katze!

»Wer will mich daran hindern?«, rief er und griff nach ihrem Arm. Sie war schneller, sprang zurück, ihr schlanker, schöner Körper spannte sich unter dem dünnen Kattunkleid. Eine Wildkatze, die sich zum Sprung anschickt. »Komm her!«, sagte Paddy gedämpft.

»Nein, Señor.«

»Verdammt! Nein? Nein in meinem Haus?! Ich lasse dich auspeitschen!«

»Sie können mich totschlagen, Señor, aber Ihre Hure werde ich nicht.«

Paddy blieb sitzen. Entgegen seiner Art schrie er nicht nach Antonio Tenabo, der alles ausführte, was in das Fach des Henkers fiel. Seine gute Laune verflog nicht. Er aß weiter, schnitt Schinken ab und rieb die nackten Fußsohlen aneinander. Matri blieb in sicherer Entfernung stehen.

»Ich habe mir immer genommen, was ich wollte, Matri«, sagte Paddy kauend. »Bekam ich es nicht durch überzeugende Worte, habe ich dafür bezahlt. Nutzte auch das Geld nichts, so gab es immer noch Mittel genug, meinen Wunsch durchzusetzen. Nur eines habe ich nie getan: eine Frau mit Gewalt genommen! Warum auch? Sie kommen allein. Zurzeit ist ihr Preis zehn Liter Wasser. In New York kostete mich eine Gräfin, uralter Adel, hunderttausend Dollar. Verstehst du, was ich meine, schönes Luder?«

»Sie können mich nie kaufen, Señor«, sagte Matri ruhig.

»Aber es gibt diesen Juan-Christo.« Paddy wählte nach einigem Zögern einen Toast und frischen Schafskäse.

»Was – was wollen Sie von Juan-Christo?«, fragte Matri leise.

»Er hetzt die Leute auf. Was dieser Himmelskomiker Pater Felix in seiner Kirche predigt, das setzt dieser Juan beim Pillengeben fort.«

»Er hilft den Leuten!«, sagte Matri. »Er tröstet sie, er macht ihnen Mut!«

»Sehr schön!« Paddy blickte zu Matri hinüber und biss in den Käsetoast. »Jetzt hör mir mal zu. Ich bin heute Morgen bester Stimmung, und ich will sie mir nicht verderben lassen. Obwohl mir zum ersten Mal klar wird, wen ich da all die Jahre über als meine persönliche Bedienung im Haus habe! Darüber sprechen wir noch. Aber diesen Juan-Christo lege ich noch heute in die Pfanne und werde ihn mir braten. Los, hau ab! Schick Tenabo zu mir! Und noch eins«, er rief es Matri nach, die davonrannte, »wenn du das Haus verlässt, lasse ich dich suchen! Es macht mir nichts aus, ganz Santa Magdalena einzureißen, um dich zu finden!«

Paddys gute Morgenlaune wurde doch noch gestört. Ein Boy erschien auf der Terrasse und brachte den Telefonapparat. »Ein Gespräch aus Nonoava, Señor Paddy. Dringend!«

Polizeichef Mendoza Femola rief an.

Vor der Tür der Polizeipräfektur in Nonoava hielten Dr. Högli und Pater Felix mit ihren staubüberzogenen Jeeps. Femola beobachtete sie aus seinem Zimmer und stotterte hilflos ins Telefon: »Señor Paddy, was soll ich tun? Der Doktor und der Pfaffe!«

Er putzte sich die Nase, wedelte sich Luft zu und sank auf seinen Stuhl zurück.

Es war jetzt knapp vor elf. Eine unpassende Zeit, Mendoza Femola zu besuchen, denn ab elf Uhr war er betrunken, und das bedeutete: das Polizeibüro war geschlossen bis zum Sonnenuntergang.

Polizeichef Mendoza Femola ließ seine Besucher zunächst eine halbe Stunde lang im stickigen Vorzimmer warten. Dort saß ein pockennarbiger Polizist, polkte in der Nase, rauchte schwarze Zigarillos und beantwortete alle Telefongespräche mit der lapidaren Empfehlung: »Versuchen Sie es in einer Stunde noch einmal. Wir sind im Augenblick überlastet.«

»Ein Saustall!«, sagte Dr. Högli erschüttert. »Das also ist die Exekutive dieses Distrikts?«

»Die Verwaltung in den Städten und Kleinstädten ist auch in Mexiko vorzüglich.« Pater Felix beobachtete den Pockennarbigen, der immer wieder zu ihm hinschielte und sich anscheinend nicht wohlfühlte. Immerhin ist ein Priester für die strenggläubigen Katholiken Mexikos ein Stellvertreter Gottes auf Erden, und ihn einfach warten zu lassen wie einen Eseltreiber, das war von Mendoza Femola schon eine große, mutige, aber unverständliche Tat. »Je weiter Sie aber in die Einsamkeit kommen«, fuhr Pater Felix fort, »in die reinen Indiogebiete, in die Bezirke der großen Hacienderos und Großgrundbesitzer, die, trotz Bodenreform, noch ihre Macht behalten haben, je weiter Sie also ins Elend kommen, um so elender wird auch die Staatsmacht. Da ist der Peso in der Hand wichtiger als der Paragraf in einem Gesetzbuch.«

Pater Felix griff in seine Soutane und holte eine Trillerpfeife hervor. Dr. Högli starrte sie entgeistert an. »Was wollen Sie denn damit, Pater?«

»Dass Femola uns warten lässt, das ist der uralte Trick aller Beamten auf der ganzen Welt: Wer wartet, schrumpft! Passen Sie mal auf, wie gut ein bisschen Aufsässigkeit tut.«

Er setzte die Pfeife an den Mund und blies. Ein unerträglich lautes Trillern zerriss die heiße Stille. Der Pockennarbige grinste und hielt die Hände an seine Ohren.

Die Tür sprang auf und krachte gegen die Wand. Mendoza Femola stand im Rahmen und schwankte leicht. Sein schwammiges Gesicht war gerötet, die schmuddelige Uniform über seinem dicken Bauch hatte sich verschoben. Der dritte Knopf von oben fehlte, die Jacke klaffte auseinander, das grauweiße Unterhemd wurde sichtbar.

»Wer ist das?«, brüllte Femola. »Festnehmen! Abführen!«

Pater Felix setzte die Trillerpfeife ab. Sein hageres Gesicht drückte tiefste Zufriedenheit aus. Er stand auf, auch Dr. Högli erhob sich.

»Gott segne dich, mein Sohn!«, sagte der Pater. Dabei hob er die rechte Hand. Femola konnte nicht anders, als den Kopf senken und »Gelobt sei Jesus Christus!« flüstern. Pater Felix sah Dr. Högli triumphierend an.

Der trat zwei Schritte vor, musterte Femola eindringend und nickte dann mehrmals. »Ich bin Dr. Högli vom ›Hospital Henri Dunant‹. Habe ich es mir doch gedacht, Señor Femola: Sie haben eine portale Cirrhosis hepatis.«

Mendoza Femola seufzte tief, machte die Tür frei, zeigte in seinen Raum und ließ die Herren eintreten.

Die Unterredung war kurz, und es zeigte sich, dass Dr. Högli offenbar mit seiner Vermutung recht gehabt hatte, Mendoza Femola stopfe mit unliebsamen Briefen seine Kissen.

»Eingaben?«, rief Femola theatralisch und hakte die Daumen in den Gürtel. »Anzeigen? An mich – und über die Regierung in Chihuahua auf dem Dienstweg hierher? Señores, das ist mir völlig unbekannt! Bei mir ist nichts dergleichen angekommen! Bei der Mutter Maria.«

»Femola, lästern Sie nicht die Gottesmutter!«, sagte Pater Felix scharf.

»Bei allen Heiligen, Pater, ich kann es auf mich nehmen: Ich kenne keine Anzeigen! Rauschgift in den Bergen? Hanffarmen und Peyotl? Bei Señor Paddy? Unerhört! Ich werde in den nächsten Tagen einen Überraschungsbesuch machen! Wir alle wissen, Señores, dass Rauschgift … nein, so etwas! Ich nehme ein Protokoll auf.«

Femola holte ein Blatt Papier und eine alte Schreibmaschine und ließ sich von Dr. Högli und Pater Felix die erforderlichen Angaben diktieren. Trotz seiner Trunkenheit konnte Femola fließend Maschine schreiben. Er ratterte das Protokoll herunter, wie es keine Stenotypistin besser gekonnt hätte.

Was sie nicht sahen, war, was Femola wirklich schrieb. Als Dr. Högli diktierte: »Als ich an einem Peyotlfeld vorbeiging, wurde ich aus den Felsen heraus beschossen …«, schrieb Femola flott und mit ernster Miene: sjckeosg shezwps shwqools, aww westkstel. AAAAfshejsons kezs wpsüsshj …

Er hackte willkürlich und sinnlos auf den Tasten herum.

»Gut so«, sagte er, als die Aussagen beendet waren. »Das genügt. Das wird seine Wirkung auch beim Gouverneur in Chihuahua nicht verfehlen. Ich danke Ihnen, Señores, für diese ungeheuer wichtige Information.«

Er faltete das ›Protokoll‹ zusammen und schob es in eine Schublade.

»Müssen wir die Aussagen nicht unterschreiben?«, fragte Dr. Högli.

»Wir sind hier nicht in der Schweiz, Doktor«, sagte Femola und verbeugte sich. »Ich zeichne es; die Unterschrift eines mexikanischen Beamten ist Dokument genug. Wir sind nicht so misstrauisch wie die Europäer.«

»Ich habe ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache«, meinte Dr. Högli, als sie wieder zu ihren Jeeps gingen. Vom Fenster, hinter einer schmutzigen Gardine, blickte ihnen Mendoza Femola nach.

»Was wird er jetzt tun?«

»Paddy anrufen. Das ist sicher.«

»Und das Protokoll?«

»Bleibt in der Schublade.« Pater Felix schwang sich auf den glühheißen Sitz. Ein Rudel Straßenjungen, das die Jeeps umlagert hatte, war auseinandergestoben, als es den Priester hatte kommen sehen. »Aber dass er Paddy anruft, ist ein voller Erfolg! Paddy wird den Fehdehandschuh aufnehmen. Dazu kenne ich ihn viel zu gut.« Er ließ den Motor an. »Sie fahren wieder direkt zurück nach Santa Magdalena?«

»Ja. Sie nicht, Pater?«

»Ich will noch meinen Amtsbruder hier in der Kirche besuchen.« Pater Felix gab Dr. Högli die Hand. »Seien Sie vorsichtig, Doktor. Es kann sein, dass Paddy schon unseren Rückweg als Kampfplatz benutzt.«

»Ich passe schon auf mich auf, Pater.«

Dr. Högli wartete, bis der Priester um die Straßenecke verschwunden war, dann stieg auch er ein und fuhr zurück in die glühende Einsamkeit.

Kurz vor Santa Magdalena, wo aus der Straße ein Geröllweg wird, sah er schon von Weitem etwas Dunkles am Straßenrand stehen. Er holte seine Pistole aus dem Futteral und hielt sie schussbereit in der Rechten, während er weiterfuhr.

Näherkommend erkannte er, dass es ein großer amerikanischer Reisewagen war, eines jener unerhört langen und luxuriösen Autos, in denen man fährt, als sitze man in einem Clubsessel. Das automatische Dach war halb geöffnet, die Fenster waren heruntergekurbelt. Eine Gestalt hatte sich in den Motorraum gebeugt und schien dort herumzuwerken.

Billige Falle, dachte Dr. Högli. So etwas hat man schon hundertmal im Kino gesehen. Er bremste scharf und sprang sofort aus seinem Jeep. Eine dichte Staubwolke, die sich im Nu bildete, nebelte ihn ein. Er riss die Pistole vor und rannte durch den Staubnebel, bereit, sofort zu schießen.

Dann aber ließ er die Waffe sinken und blickte verlegen seinen Gegner an. Es war eine Frau, wie sie Dr. Högli noch nicht gesehen hatte. Um die langen schwarzen Locken schlang sich ein buntes Chiffontuch, ihre schlanke Gestalt umhüllte ein rotgelb-gestreifter Hosenanzug, unter dem die Bluse so weit aufgeknöpft war, dass man die Hälfte ihrer vollen Brust in zwei Schalen aus feinster weißer Spitze sehen konnte. Das schmale Gesicht mit den nachgezogenen Brauen und dem rot geschminkten Mund erinnerte Dr. Högli sofort an ein Gemälde von Velasquez, an eine jener stolzen, unnahbaren, unbegreiflich schönen Damen der altspanischen Aristokratie.

»Ich glaube, ich habe kein Benzin mehr«, sagte die Frau. Ihre Stimme passte zu ihrer Erscheinung: dunkel, melodisch, wie Celloklang. »Ich glaube nicht, Señor, dass Sie den Wagen mit einer Pistole flottmachen können.«

Seine Verblüffung war so groß, dass er erst nach ein paar Sekunden begriff, wie dumm er aussehen musste, mit der schussbereiten Pistole in der Hand, den Lauf auf die schöne Unbekannte gerichtet, den Finger am Abzug. Er lächelte verlegen, steckte die Pistole wieder in das Futteral und deutete eine Verbeugung an. Das machte in dieser Lage und dieser trostlosen Umgebung einen kläglichen Eindruck, aber tapfer sagte er: »Dr. Högli. Ich bin Arzt, Señora.«

»Señorita.« Sie erwiderte sein Lächeln und zeigte wieder auf den riesigen Wagen. »Dieses Monstrum braucht keine Diagnose. Es hat kein Benzin mehr. Es verschlingt unheimliche Mengen. Natürlich ist weit und breit keine Tankstelle, nicht wahr!«

»Hier? Wenn Sie weiterfahren, vergessen Sie, dass Sie sich noch auf unserer Erde befinden. Eine Tankstelle? Nein, Señorita …«

»Evita Lagarto.« Sie klopfte sich den Staub von dem auffälligen Hosenanzug, band das Chiffontuch ab, schüttelte ihre langen schwarzen Haare aus und war sich bewusst, wie schön sie war und wie sie auf Männer wirkte. »Kann man bei Ihnen Benzin zapfen, Doktor?«

»Natürlich. Ich habe drei Ersatzkanister bei mir.«

»Sie sind auf Patientenbesuch?«

»So kann man es auch nennen.« Dr. Högli dachte an Mendoza Femola und dessen schon an der Färbung des Gesichts erkennbare Säuferleber. »Im Allgemeinen kommen die Patienten zu mir.«

»Sie haben hier, in dieser Einsamkeit, eine Praxis?«

»Ein ganzes Krankenhaus sogar. Oben in den Bergen leben viele Indios, vergessene Menschen – wenn sich keiner um sie kümmern würde.« Dr. Högli ging zu seinem Jeep, schnallte zwei Benzinkanister los und kehrte zu dem riesigen Amerikaner zurück. Evita Lagarto hatte den Tankverschluss aufgeschraubt und spielte mit ihm wie ein kleines Mädchen mit einem Ball, sie warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf.

»Wie weit komme ich damit?«, fragte sie, als Högli den Inhalt des ersten Kanisters einfüllte.

»Bis zum Hospital bestimmt.« Er stützte den gekippten Kanister auf sein angehobenes Knie und blickte Evita erstaunt an. »Sie wollen diese Straße weiterfahren? Ich dachte, Sie hätten sich verfahren. Wo wollen Sie denn hin?«

»Zu Señor Paddy«, sagte sie. Dr. Högli setzte den Kanister ab. »Die Richtung stimmt doch?«

»Es gibt nur diese eine Straße nach Santa Magdalena. Das Hospital und Mr. Paddys Hacienda liegen sich gegenüber. Dazwischen ist das Dorf. Kennen Sie Jack Paddy?«

»Nein.«

»Und warum besuchen Sie ihn?«

Evita Lagarto lehnte sich an den Wagen und drehte den Tankverschluss zwischen den schönen schmalen Händen. Die langen, lackierten Nägel glänzten, als habe sie ihre Fingerspitzen in Blut getaucht.

»Ich könnte jetzt antworten, Doktor: Was geht das Sie an? Aber Sie haben einen Ton in Ihrer Stimme gehabt, der mich neugierig macht. Ist es so außergewöhnlich, dass man Señor Paddy besucht?«

»Ich glaube nicht. Er wird oft Besuch bekommen, er ist ja ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann …«

»Wieder dieser Zwischenton, Doktor.«

»Werden Sie länger in Santa Magdalena bleiben?«

»Nein. Mein Vater hat einen Auftrag für Señor Paddy. Ich bin so eine Art Bote. Natürlich gibt es Telefon und Fernschreiber, aber mir macht’s Spaß, herumzufahren. Es ist die einzige Tätigkeit, die mir erlaubt wird – neben Partys, Tennis, Reiten und Flirten.« Sie lachte dieses dunkle, faszinierende Lachen, das ihn ins Herz traf. »Wir haben den größten Südfrucht-Export und -Import in New Mexico. Waren Sie schon einmal in El Paso?«

»Nur auf der Durchreise.« Dr. Högli füllte weiter ab. Südfrüchte, dachte er, schöne Früchte werden das sein! Natürlich ist die Peyotl-Kaktee eine Südfrucht, alles kann man Südfrüchte nennen, auch den Hanf und das Haschisch. Und diese Frau, die wie ein Engel aussieht, reist herum, in der Tasche die Aufträge für Kreaturen wie Paddy, und ist mitschuldig am Verfall von Tausenden von Menschen. Ob sie das überhaupt weiß?

Er schielte zu Evita hinüber. Sie hatte das Autoradio angestellt. Tanzmusik eines amerikanischen Senders, hämmernde Rhythmen aus Saxofonen und Klarinetten. Sie wippte im Takt auf den Zehenspitzen, ihre vollen Brüste unter der offenen Bluse hüpften.

Dr. Högli warf den leeren Kanister zur Seite, schraubte den zweiten auf und konzentrierte sich ganz auf das Gluckern des Benzins.

»Paddy hat keine Südfruchtfarm«, sagte er unvermittelt.

»Nein?« Die Frage klang ehrlich erstaunt. Von einem Augenblick zum anderen wurde er unsicher. Sie hat wirklich keine Ahnung, dachte er und spürte, wie ihn das erleichterte. Man benutzt sie als unwissenden Boten, weil sie eben so gern in der Welt herumfährt. Sie erteilt Aufträge für die Hölle und bleibt doch ein Engel.

Blödsinn, diese Gedanken! Romantisierendes Gestammel. Hölle, Engel – die Hitze brennt einem das Hirn weg! Sieben Monate kein Wasser, keinen Schatten, nur diese leuchtende Glut vom Himmel. Da muss man ja blödsinnig werden.

»Paddy baut Baumwolle und Kaffee an«, sagte er. »Und anderes.«

»Mit Baumwolle haben wir gar nichts zu tun«, sagte Evita erstaunt. »Gibt es hier noch einen anderen Paddy in der Gegend?«

»Um Himmels willen, nein! Der eine genügt!«

Der Kanister war leer. Dr. Högli ließ ihn auf die harte, zerrissene Erde poltern. Mit dem Unterarm wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

»Jetzt wird Ihre Riesenkiste wieder schnurren!«, sagte er. »Fahren Sie hinter mir her, ich zeige Ihnen den Weg, bis Sie abbiegen müssen zu Paddy.«

»Sie halten nicht viel von Señor Paddy?«, fragte Evita. Sie machte keine Anstalten, die Motorhaube zu schließen und in den Wagen zu steigen. »Was ist er für ein Mann?«

»Was hat Ihnen Ihr Vater über ihn erzählt?«

»Nichts. Ich soll ihm ein dickes Kuvert übergeben und, wenn ich Lust habe, weiterfahren bis Acapulco. Drei herrliche Wochen am Ozean. Acapulco ist märchenhaft schön. Kennen Sie es?«

»Nein. Ich habe einen Ozean kranker Menschen um mich.«

Sie sah ihn wortlos an, so wie man ein ganz seltenes Gemälde betrachtet, warf den Tankverschluss wieder in die hitzeflimmernde Luft, fing ihn auf und schraubte ihn auf den Stutzen. »Ist Paddy ein Ekel, Doktor?«

»Sie werden ihn ja kennenlernen.«

»Wird er mich belästigen?«

»Wäre er der erste Mann, der das versucht?«

»Nein!« Sie lachte wieder und schob die dünne Jacke des Hosenanzuges zur Seite. Über der Hüfte, an den Gürtel geschnallt, hing ein kleiner Revolver in einem offenen Halfter. »Ich habe schon einmal einem zu feurigen Liebhaber in den Fuß geschossen.« Sie sagte es geradezu fröhlich, es gab einen neuen Farbtupfer auf dem Bild, das Dr. Högli sich von dieser Evita Lagarto gemacht hatte. Sie war zwar eine Luxuspuppe, aber die Abenteuerlust und der zähe Mut ihrer spanischen Vorfahren, der Konquistadoren, lebten in ihr noch weiter.

»Fahren wir?«, fragte er. Die Gegenwart dieser Frau begann ihn zu verwirren. Er empfand plötzlich den Wunsch, sie möge jetzt sagen: Kann ich bei Ihnen wohnen, im Hospital? Und dann sollte sie bleiben, tagelang, wochenlang, bis sie sagen würde: Ich habe mich an Santa Magdalena gewöhnt … Kann ich für immer bleiben?

Dr. Högli wandte sich ab. Diese verfluchte Sonne! Die Gedanken schlagen Blasen wie ein zerplatzender Hefeteig im überhitzten Ofen. Er kletterte in seinen Jeep, ließ sich auf den heißen Sitz fallen und drehte den Zündschlüssel.

Evita blieb verblüfft stehen, bückte sich dann, hob die leeren Kanister auf, warf sie in ihren Kofferraum und schloss knallend die Motorhaube. Ein merkwürdiger Knabe, dieser Dr. Högli. Die meisten Männer benahmen sich in ihrer Gegenwart anders. Sie wurden zu balzenden Hähnen und merkten nicht einmal, wie lächerlich sie wirkten mit ihrer Geziertheit, den hochgeschraubten Reden, der vorgetäuschten Gescheitheit und dem Bemühen um eine besonders sonore Stimme. Nur dieser Dr. Högli – dem Namen nach müsste er Schweizer sein – benahm sich, als habe er nicht einer ungewöhnlich schönen Frau Benzin, sondern einer verirrten Alpkuh eine Handvoll Gras gegeben.

»Sind Sie Schweizer?«, rief sie, als Dr. Högli langsam an ihr vorbeifuhr.

»Ja. Aus St. Gallen!«, rief er zurück. »Warum?«

»Ich dachte mir’s!«

Er zuckte die Schultern; es war eine Antwort, mit der er nichts anfangen konnte. Evita stieg in ihren Riesenwagen.

Sie fuhren drei Stunden lang in einer einzigen, heißen Staubwolke, bis sie in den weiten Talkessel kamen, in dem Santa Magdalena lag. Von der Hochebene senkte sich die ›kriminellste Straße der Welt‹, wie Pater Felix sie nannte, in dieses Tal, das nun vor ihnen lag wie eine riesige Pfanne, in der Mensch und Vieh gebraten wurden.

Evita Lagarto hielt an und stieg aus. Dr. Högli legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zu ihr.

»Das ist ja eine Hölle«, sagte sie leise. Eine dicke Staubschicht bedeckte sie; sie war die ganze Zeit mit offenen Fenstern und zurückgeklapptem Dach gefahren.

»Geologen meinen, das sei ein großer vulkanischer Trichter, etwa wie der Ngorongoro-Krater in Tansania. Sehen Sie sich die Bergformationen an! Das waren einmal Vulkane.«

»Ich sehe mir Santa Magdalena an.« Evita zeigte ins Tal. »Das da hinten, die weißen langgestreckten Gebäude …«

»Das ist mein ›Hospital Henri Dunant‹.«

»Und Paddys Haus?«

»Ist von hier aus nicht zu sehen. Mir gegenüber ist ein Einschnitt, ein zweites, langgestrecktes Tal …«

»Ich sehe den Eingang.«

»In diesem Tal liegt seine Hacienda. Ein Märchenbesitz. 1001 Nacht in Mexiko. Paddy hat einen Tiefbrunnen gebohrt und holt das Wasser mit einem Pumpwerk herauf. Da strotzt alles vor Blüte und Saft.«

»Und das Dorf hat nichts davon?«

»Señorita, fangen Sie jetzt bloß nicht an, sozial zu denken«, sagte Dr. Högli mit Bitterkeit. »Nein. Das Dorf und rund neunhundert Indios haben nichts davon. Und es hat seit sieben Monaten nicht mehr geregnet.«

»Sieben Monate?« Sie starrte ihn entsetzt an. »Wovon leben sie denn?«