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Für meine Mutter,

die mir das Grab von Heinrich Heine zeigte.

Und so vieles andere,

an das ich mich immer erinnern werde.

Danke für alles.

 

Meine Geliebte, ach komm,

dass ich dich wiederhab’

wie einst im Mai.

Prolog

Am Montmartre, diesem berühmten Hügel im Norden von Paris, wo Touristen sich auf der Place du Tertre um Straßenmaler drängen, die Bilder von zweifelhafter Qualität auf die Leinwand bannen, wo im Frühling Liebespaare Hand in Hand durch die belebten Gassen streifen und sich, vielleicht ein wenig außer Atem, schließlich auf den Stufen von Sacré-Cœur niederlassen, um staunend über diese Stadt zu schauen, die in einem letzten zarten Rosa aufschimmert, bevor die Nacht hereinbricht – dort liegt auch ein Friedhof. Es ist ein sehr alter Friedhof mit erdigen Wegen und langen schattigen Alleen, die unter Linden und Ahornbäumen hindurchführen und Namen und Nummern haben wie in einer richtigen kleinen Stadt. Einer sehr stillen Stadt. Einige Menschen, die hier liegen, sind berühmt, andere wiederum gar nicht. Es gibt Gräber mit kunstvollen Monumenten und engelhafte Gestalten in langen steinernen Gewändern, die ihre Arme sanft ausbreiten und den Blick nach oben richten.

Ein Mann mit dunklem Haar betritt den Friedhof. Er hat einen kleinen Jungen an der Hand und bleibt vor einem Grab stehen, das nur wenige Leute kennen. Hier liegt keine bedeutende Persönlichkeit. Kein Schriftsteller, Musiker oder Maler. Auch keine Kameliendame. Nur jemand, der sehr geliebt wurde.

Der Engel auf der Bronzeplatte, die auf dem Marmorstein angebracht ist, ist dennoch einer der schönsten hier. Ein Frauenkopf, der ernst, vielleicht auch gelassen zurückschaut, das lange Haar umweht das Gesicht, als ob ein Wind von hinten käme. Der Mann steht still da, während das Kind zwischen den Gräbern umherhüpft und bunten Flügeln nachjagt.

»Sieh mal, Papa, ein Schmetterling«, ruft es. »Ist der nicht wunderschön?«

Der Mann nickt kaum merklich. Für ihn ist nichts mehr schön, und an Wunder glaubt er schon längst nicht mehr. Wie soll er auch ahnen, dass hier, genau hier, etwas so Wunderbares passieren wird, dass es tatsächlich einem Wunder gleichkommt. Im Moment hält er sich noch für den unglücklichsten Menschen auf Erden.

Auf dem Friedhof von Montmartre hat er seine Frau kennengelernt. Vor fünf Jahren, am Grab von Heinrich Heine. Es war ein heller Tag im Mai, und der Anfang von etwas, das seit einiger Zeit unwiederbringlich zu Ende ist.

Der Mann wirft einen letzten Blick auf den Bronzeengel, der die vertrauten Züge trägt. Er schreibt heimlich Briefe. Aber auf das, was passieren wird, ist er nicht vorbereitet. So wenig, wie man eben auf das Glück oder die Liebe vorbereitet ist. Und doch ist beides immer da. Das müsste er als Schriftsteller eigentlich wissen.

Der Mann heißt Julien Azoulay.

Und Julien Azoulay, das bin ich.

Kapitel 1

Die Welt ohne dich

Gerade hatte ich mich an den Schreibtisch gesetzt, um mein Versprechen einzulösen und Hélène endlich, endlich zu schreiben, da klingelte es an der Tür. Ich beschloss, das Klingeln zu ignorieren, schraubte bedächtig meinen Füllfederhalter auf und rückte das weiße Blatt Papier zurecht. »Liebe Hélène«, schrieb ich und starrte dann einigermaßen hilflos auf die beiden Wörter, die so verloren dastanden, wie ich mich in diesen letzten Wochen und Monaten gefühlt hatte.

Was schreibt man einem Menschen, den man über alles liebte und den es tragischerweise nicht mehr gibt? Schon damals hatte ich geahnt, dass es eine Schnapsidee war, ihr dieses Versprechen zu geben. Aber Hélène hatte darauf bestanden. Und wie stets, wenn meine Frau sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man schwer dagegen argumentieren. Am Ende setzte sie sich immer durch. Hélène war sehr willensstark. Nur gegen den Tod hatte sie sich nicht behaupten können. Der hatte einen noch stärkeren Willen gehabt als sie.

Wieder klingelte es, aber ich war schon ganz weit weg.

Ich lächelte bitter und sah noch genau ihr blasses Gesicht mit den grünen Augen vor mir, die über den eingefallenen Wangen von Tag zu Tag größer zu werden schienen.

»Ich möchte, dass du mir nach meinem Tod dreiunddreißig Briefe schreibst«, hatte sie gesagt und mich eindringlich angesehen. »Für jedes Jahr, das ich gelebt habe, einen Brief, versprich mir das, Julien.«

»Und wozu sollte das gut sein?«, hatte ich erwidert. »Das macht dich doch auch nicht wieder lebendig.« Damals war ich außer mir vor Angst und Schmerz. Ich saß Tag und Nacht an Hélènes Bett, umklammerte ihre Hand und wollte und konnte mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen.

»Warum soll ich Briefe schreiben, wenn ich ja doch niemals eine Antwort bekommen werde? Das ist doch völlig sinnlos«, wiederholte ich leise.

Sie tat, als hätte sie meinen Einwand nicht gehört. »Schreib mir einfach. Schreib mir, wie die Welt ist ohne mich. Schreib mir von dir und von Arthur.« Sie lächelte, und mir stiegen die Tränen in die Augen.

»Es wird einen Sinn haben, vertrau mir. Und ich bin mir sicher, dass es am Ende eine Antwort für dich geben wird. Außerdem werde ich – von wo auch immer – deine Briefe lesen und ein Auge auf euch haben.«

Ich schüttelte den Kopf und schluchzte auf.

»Ich schaffe es nicht, Hélène, ich schaffe das einfach nicht!«

Und damit meinte ich natürlich nicht die dreiunddreißig Briefe, sondern alles. Mein ganzes Leben ohne sie. Ohne Hélène.

Sie hatte mich sanft angesehen, und das Mitleid, das aus ihrem Blick sprach, brach mir das Herz. »Mein armer Liebling«, sagte sie, und ich spürte, wie viel Anstrengung es sie kostete, meine Hand aufmunternd zu drücken. »Du musst jetzt stark sein. Du musst dich um Arthur kümmern. Er braucht dich so sehr.« Und dann sagte sie das, was sie in den Wochen seit der letzten niederschmetternden Diagnose schon mehrfach gesagt hatte und was ihr, anders als mir, offenbar die Kraft gab, dem Ende gelassen entgegenzusehen.

»Wir sterben doch alle, Julien. Das ist ganz normal und gehört zum Leben dazu. Nur bin ich eben etwas früher dran. Nicht dass mich das besonders glücklich machen würde, das kannst du mir glauben, aber so ist es nun mal.« Sie hob hilflos die Schultern. »Komm, gib mir einen Kuss.«

Ich strich ihr eine kupferblonde Locke aus der Stirn und drückte ihr sanft einen Kuss auf die Lippen. Sie war so zerbrechlich geworden in diesen letzten Monaten ihres viel zu kurzen Lebens, und wenn ich sie vorsichtig umarmte, hatte ich immer Angst, etwas kaputtzumachen, dabei war schon alles zerstört. Nur ihr Mut nicht, der war viel stärker als der meine.

»Versprich es mir«, sagte sie wieder, und ich sah ein kleines Funkeln in ihren Augen. »Ich wette, wenn du den letzten Brief geschrieben hast, wird dein Leben eine Wendung zum Guten genommen haben.«

»Ich fürchte, diese Wette wirst du verlieren.«

»Ich hoffe, das werde ich nicht.« Ein wissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und ihre Augenlider flackerten. »Und dann will ich einen riesigen Rosenstrauß von dir – den größten, den der ganze verdammte Friedhof am Montmartre zu bieten hat.«

So war Hélène. Sie brachte einen selbst in den schlimmsten Momenten noch zum Lachen. Ich weinte und lachte zugleich, während sie mir ihre schmale Hand hinhielt und ich einschlug und ihr mein Wort gab.

Das Wort eines Schriftstellers. Schließlich hatte sie nichts darüber gesagt, wann ich ihr diese Briefe schreiben sollte. Und so war aus Oktober November geworden und aus November Dezember. Ein trauriger Monat folgte auf den nächsten, die Jahreszeiten wechselten ihr Gefieder, aber mir war alles eins. Die Sonne war vom Himmel gefallen, und ich wohnte in einem tintenschwarzen Loch, in dem es keine Worte mehr gab. Inzwischen hatten wir März, und ich hatte noch keinen einzigen Brief geschrieben. Nicht einen.

Nicht dass ich es nicht versucht hätte. Ich wollte ja mein Verspechen halten, es war immerhin Hélènes letzter Wunsch gewesen. Mein Papierkorb war voll mit zerknüllten Seiten, auf denen lauter Sätze standen, die ich nicht zu Ende geführt hatte. Sätze wie:

Meine über alles geliebte Hélène, seit du nicht mehr da bist, gibt es für mich kein …

Geliebte, ich bin so müde geworden von all dem Schmerz, und immer öfter frage ich mich, ob das Leben überhaupt …

Liebste, gestern habe ich die kleine Schneekugel aus Venedig gefunden. Sie lag ganz hinten in deinem Nachttisch, und ich musste daran denken, wie wir beide …

Liebster Mensch auf der ganzen Welt, ich vermisse dich jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, weißt du überhaupt …

Liebe Hélène, gestern hat Arthur gesagt, er möchte keinen so traurigen Papa und dass es dir doch jetzt gut ginge bei den Engeln …

Hélène, Mayday, mayday, dies ist der Hilfeschrei eines Ertrinkenden, komm zurück, ich kann nicht …

Mein Engel, heute Nacht träumte ich von dir und war ganz verwundert, als du am Morgen nicht neben mir …

Meine Liebste, so sehr Vermisste, denk bitte nicht, ich hätte mein Versprechen vergessen, aber ich …

Aber ich hatte einfach nichts zu Papier gebracht, was über dieses hilflose Gestammel hinausging. Ich saß da, übermannt von meinem Unglück, und war einfach sprachlos geworden. Ich hatte überhaupt nichts mehr geschrieben – nicht gerade von Vorteil für einen Schriftsteller –, und das war wohl auch der Grund, weshalb es draußen inzwischen Sturm läutete.

Seufzend legte ich den Füllfederhalter auf den Schreibtisch zurück, stand auf und trat ans Fenster. Unten, in der Rue Jacob, stand ein elegant gekleideter kleiner Herr in einem dunkelblauen Regenmantel, der offenbar beschlossen hatte, seinen Finger nicht mehr von der Klingel zu nehmen. Ich hatte es befürchtet.

Der Mann blickte hoch in den nassen Frühlingshimmel, an dem der Wind die Wolken vor sich hertrieb, und ich zog eilig den Kopf zurück.

Es war Jean-Pierre Favre, mein Verleger.

Seit ich denken kann, habe ich mich in der Welt der schönen Worte bewegt. Erst arbeitete ich als Journalist, dann als Drehbuchautor. Und schließlich schrieb ich meinen ersten Roman. Eine romantische Komödie, die wohl einen Nerv traf und für uns alle überraschend zum Bestseller wurde. Man sagt immer, dass Paris die Stadt der Liebe sei, doch dies gilt nicht unbedingt für die Stoffe, welche die Pariser Verleger suchen. Ich bekam damals eine Absage nach der anderen oder ich erhielt erst gar keine Antwort, doch dann meldete sich eines Tages tatsächlich ein kleiner Verlag bei mir, der in der Rue de Seine seinen Sitz hatte. Während seine Kollegen nach hochliterarischen und intellektuellen Stoffen Ausschau hielten, hatte sich Jean-Pierre Favre, Verleger der Éditions Garamond, in mein amüsantes kleines Manuskript voller tragikomischer Verwicklungen verliebt, das der Romantik Rechnung trug.

»Ich bin jetzt dreiundsechzig Jahre alt, und es gibt immer weniger, was mich zum Lachen bringt«, hatte er gesagt, als wir uns zum ersten Mal im Café de Flore trafen. »Ihr Buch, Monsieur Azoulay, hat mich zum Lachen gebracht, und das ist mehr, als man heute von den meisten Büchern sagen kann. Man lacht sowieso immer weniger, je älter man wird, das können Sie mir glauben.« Er ließ sich mit einem Stoßseufzer gegen die lederne Rückbank vor dem Fenster im ersten Stock des Cafés fallen, wo wir einen ruhigen Tisch gefunden hatten, und hob die Hände in komischer Verzweiflung. »Ich frage mich, wo sind sie denn alle hin, die Autoren, die noch richtig gute Komödien schreiben können? Etwas mit Herz und Esprit. Aber nein! Alle wollen über die Hoffnungslosigkeit schreiben, den Zerfall, das große Drama. Drama, Drama, Drama.« Er schlug sich ein paar Mal gegen die Stirn, wo seine grauen Haare, die sich bereits zu lichten begannen, elegant nach hinten gekämmt waren. »Großstadtdepression, mordende Kindermädchen, Visionen des Schreckens inspiriert von El Kaida und Co.« Er fegte ein paar Brotkrümel vom Tisch. »Hat alles seine Berechtigung, aber …« Er beugte sich vor und sah mich mit seinen hellen Augen durchdringend an. »Ich will Ihnen mal etwas sagen, junger Mann. Eine gute Komödie ist sehr viel schwieriger zu schreiben, als man denkt. Etwas herbeizuzaubern, das nicht voller Plattitüden ist und doch jene wunderbare Leichtigkeit hat, die uns mit dem Gefühl zurücklässt, dass das Leben trotz allem lebenswert ist – das ist die wahre Kunst! Ich jedenfalls bin zu alt für Geschichten, nach deren Lektüre man denkt, es wäre besser, man suchte sich gleich das nächste Hochhaus, um sich hinunterzustürzen.« Er riss ungeduldig drei Päckchen Zucker auf, schüttete sie in seinen frisch gepressten Orangensaft und rührte wie ein Besessener in seinem Glas. Dann kam ihm offenbar ein neuer Gedanke.

»Oder das Kino! Nehmen Sie das Kino!«

Er legte eine Kunstpause ein, und ich wartete gespannt, was als Nächstes kommen würde. Dieser Mann war ein brillanter Rhetoriker, so viel hatte ich schon begriffen.

»Nichts als Tristesse und ambitionierte Abgedrehtheit. Jeder möchte heute vor allem eines sein: singulär. Aber ich möchte lachen, verstehen Sie. Ich möchte etwas, das mein Herz zum Schlagen bringt.« Er fasste sich an seine himmelblaue Weste, die er unter dem Sakko trug, und trank einen großen Schluck Orangensaft. Plötzlich stahl sich ein jungenhaftes Grinsen auf sein Gesicht.

»Haben Sie diesen Film mit dem japanischen Metzger gesehen, der sich in sein Schwein verliebt, und am Ende begehen die beiden Doppelselbstmord durch Harakiri? Ich meine, wer denkt sich so etwas aus?« Er schüttelte den Kopf. »Die Menschen sind verrückt geworden. Ich trauere wirklich Leuten wie Billy Wilder oder Peter Bogdanovich nach. Das waren gute Leute.« Er schnalzte ein paar Mal affirmativ mit der Zunge. »Man kann nur hoffen, dass Woody Allen noch ein bisschen durchhält. Midnight in Paris war doch einfach großartig, oder? Das hat einen verzaubert, intelligent unterhalten, zum Lächeln gebracht. Meine Frau und ich, wir sind förmlich aus dem Kino geschwebt

Ich nickte zustimmend. Ich hatte den Film auch gesehen.

»Glauben Sie mir, Monsieur Azoulay, das Leben ist kein großer Spaß, und deswegen brauchen wir mehr Bücher wie Ihren Roman«, schloss er seine flammende Rede und hielt mir seinen Montblanc-Füller zum Unterschreiben hin. »Ich glaube an Sie.«

Dies alles war nun sechs Jahre her. Mein Roman wurde ein Bestseller, ich bekam einen Drei-Buch-Vertrag bei Garamond, der mich für die nächsten Jahre finanziell absicherte und mir den Luxus erlaubte, mich nur dem Schreiben zu widmen. Ich lernte die rothaarige Hélène kennen, die Gedichte von Heinrich Heine liebte und unter der Dusche Lieder von Sacha Distel sang. Sie wurde Lehrerin, sie wurde schwanger, sie wurde meine Frau, und wir wurden die Eltern eines kleinen Jungen, der, wie Hélène stets betonte, das Glück gehabt hatte, meine dunkelblonden Haare zu erben und nicht ihren Karottenschopf.

Das Leben war hell wie ein Sommertag, und was wir auch anfassten, schien uns zu gelingen.

Bis das Unglück hereinbrach.

»Blut an der falschen Stelle«, sagte Hélène eines Morgens zu mir, als sie aus dem Bad kam. »Na ja, wird schon nichts Schlimmes sein.«

Und dann war es doch schlimm. Schlimmer als schlimm. Ich war Schriftsteller von romantischen Komödien, die sich gut verkauften, ich verdiente mein Geld damit. Und mit einem Mal wurde mein Vokabular durchsetzt von zutiefst verstörenden Worten wie »kolorektales Karzinom« »Tumormarker«, »Cisplatin«, »Metastasen«, »Morphiumpumpe«, »Hospiz«.

Dass das Leben kein großer Spaß war, erfuhr ich nun aus nächster Nähe, auch wenn Hélène sich tapfer hielt und die Prognose am Anfang sehr optimistisch aussah. Nach einem Jahr schien die Krankheit besiegt. Es war Sommer, wir fuhren mit Arthur in die Bretagne, ans Meer. Das Leben war kostbarer denn je, ein Geschenk. Wir waren gerade noch mal davongekommen.

Dann klagte Hélène über Rückenschmerzen. »Ich werde langsam eine alte Frau«, scherzte sie, als sie sich am Strand ihren bunten Pareo umband. Da waren die Metastasen schon überall, hatten sich in ihrem Körper festgekrallt wie kleine Krebse und ließen sich nicht mehr vertreiben. Mitte Oktober war alles vorbei. Die Metastasen waren zerfallen und mit ihnen auch Hélène. Meine stets optimistische, lebensfrohe Frau, die so gern lachte, und mit ihr alle Träume, die wir hatten.

Ich blieb zurück mit unserem kleinen Sohn, mit einem tonnenschweren Herzen, einem nicht eingelösten Versprechen und einem Bankkonto, das allmählich dahinschmolz. Es war März, ich hatte seit einem Jahr keine Zeile mehr geschrieben, von meinem neuen Roman gab es ganze fünfzig Seiten, und nun stand – verständlicherweise – mein Verleger vor der Tür und wollte wissen, wie es weiterging.

Das Klingeln hatte aufgehört.

Monsieur Favre war ein feiner Mann. Er war äußerst verständnisvoll gewesen. Er hatte mich in all den Monaten niemals bedrängt. Er hatte mir Zeit gelassen, um mich wieder zu fangen, um über alles hinwegzukommen, um mich wieder zu sortieren, wie man so schön sagt. Er hatte mit keiner Silbe von dem Roman gesprochen, den er ursprünglich für die diesjährige Rentrée eingeplant und dann wohl stillschweigend auf das nächste Frühjahr verschoben hatte.

Erst vor zwei Wochen hatte er versucht, Kontakt aufzunehmen. Die Schonzeit war offenbar vorbei. Vorsichtiges Nachfragen auf meinem Anrufbeantworter, der Tag und Nacht lief. Ein mitfühlender Brief, an dessen Ende eine Frage stand. Seine Nummer auf meinem Mobiltelefon, immer wieder.

Ich hatte mich totgestellt, und irgendwie war ich das ja auch. Meine Kreativität war erloschen. Mein Sprachwitz hatte sich in Zynismus verwandelt. Ich taumelte durch die Tage und war nicht zu sprechen, und was hätte ich ihm denn auch sagen sollen? Dass ich nie wieder etwas Brauchbares zu Papier bringen würde? Dass ich keine Worte mehr hatte? Ein zutiefst unglücklicher Mann, der auf lustige Komödien abonniert war – Ironie des Schicksals.

Wer dachte sich so etwas Perfides aus? Gott war ein sadistischer Spaßvogel, und ich war rettungslos verloren.

»Drama, Drama, Drama«, murmelte ich mit einem bitteren Lächeln und spähte wieder aus dem Fenster. Monsieur Favre war verschwunden, und ich atmete erleichtert auf. Offenbar hatte er aufgegeben.

Ich zündete mir eine Zigarette an und sah auf die Uhr. Noch drei Stunden, dann musste ich Arthur aus dem Kindergarten abholen. Arthur war der einzige Grund, warum es mich überhaupt noch gab. Warum ich überhaupt noch aufstand, mich anzog, im Supermarkt etwas zu essen kaufte. Redete.

Der kleine Kerl ließ nicht locker. Das hatte er von seiner Mutter. Er zog mich mit seinen kleinen Händen, um mir zu zeigen, was er aus Legosteinen gebaut hatte, er krabbelte nachts zu mir ins Bett und schmiegte sich vertrauensvoll an mich, er verwickelte mich in Gespräche, stellte tausend Fragen, machte Pläne. Er sagte »Ich will in den Zoo, die Giraffen schauen« oder »Papa, du kratzt« oder »Du hast versprochen, mir etwas vorzulesen« oder »Ist Maman jetzt leichter als Luft?«.

Ich drückte die Zigarette aus und setzte mich wieder an den Schreibtisch. Ich rauchte zu viel. Ich trank zu viel. Ich ernährte mich von Magentabletten. Ich zog eine neue Zigarette aus der Schachtel, auf der mich das abstoßende Bild einer Raucherlunge ansprang. Na bitte! Es würde auch mit mir zu Ende gehen, aber vorher würde ich wenigstens noch diesen Brief schreiben – den ersten von dreiunddreißig Briefen, die mir so überflüssig erschienen wie ein Kropf. Briefe an eine Tote. Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare. »Ach, Hélène, warum … warum?«, flüsterte ich und starrte auf das gerahmte Foto, das auf der dunkelgrünen Lederbespannung des Schreibtischs stand.

Das Ding-Dong der Wohnungsklingel ließ mich zusammenfahren. Vor Schreck zog ich an der kleinen Kette der altmodischen grünen Bankerlampe und löschte das Licht, das überflüssigerweise seit dem frühen Morgen dort brannte. Wer war das jetzt? Eine Sekunde später hämmerte jemand mit der Faust energisch gegen die Tür.

»Azoulay? Azoulay, machen Sie auf, ich weiß, dass Sie da drin sind!«

Ja, ich war da drin, in meinem selbstgewählten Gefängnis in der dritten Etage, und musste mit einem Mal daran denken, wie ich mit Hélène und der Maklerin vor ein paar Jahren in den leeren Räumen ebendieser Altbauwohnung stand, die wir von der ersten Honorarabrechnung tatsächlich anzahlen konnten. Eine Traumwohnung, hatte die Maklerin gesagt, sonnig, nur ein paar Schritte vom Boulevard Saint-Germain entfernt und doch ruhig. Aber ohne Aufzug, hatte Hélène eingewandt, da werden wir im Alter ganz schön schnaufen, wenn wir all die Treppen hochkraxeln müssen. Wir hatten gelacht – »im Alter«, das war noch so weit weg gewesen.

Schon seltsam, worüber man sich manchmal Gedanken macht – und dann kommt doch alles ganz anders.

Jean-Pierre Favre war es jedenfalls gelungen, sich irgendwie Zutritt in das Haus zu verschaffen, und er hatte auch alle Treppenstufen behände überwunden.

Wahrscheinlich hatte er bei einem der Nachbarn geklingelt. Hoffentlich nicht bei Cathérine Balland, bei der ein Schlüssel unserer Wohnung deponiert war – für den Notfall.

Cathérine war die beste Freundin meiner Frau. Sie wohnte allein ein Stockwerk unter uns mit ihrer Katze Zazie und versuchte mir Beistand zu leisten, so gut sie konnte. Sie hatte selbst fünf Tage vor Hélènes Tod noch daran geglaubt, dass alles wieder gut werden könnte. Manchmal passte sie auf Arthur auf und spielte mit ihm stundenlang ein Kartenspiel namens Uno, dessen Reiz sich mir nie erschlossen hatte. Sie war wahnsinnig nett, aber sie vermisste Hélène selbst viel zu sehr, als dass sie mich wirklich hätte trösten können. Im Gegenteil – manchmal konnte ich ihr »Ach Julien …« und den traurig-vielsagenden Blick ihrer halbmondförmigen Julie-Delpy-Augen nicht ertragen.

So weit käme es noch, dass ich mich bei ihr ausheule, besten Dank!

»Azoulay? Azoulay, seien Sie nicht albern. Ich hab Sie doch eben am Fenster gesehen. Machen Sie die Tür auf! Ich bin’s, Jean-Pierre Favre, Ihr Verleger. Erinnern Sie sich? Jetzt lassen Sie mich doch nicht so blöd hier im Flur stehen. Ich will nur mit Ihnen reden. Machen Sie auf!« Erneutes Hämmern.

Ich blieb mucksmäuschenstill sitzen. Erstaunlich, was der kleine Mann mit den stets perfekt manikürten Händen für eine Schlagkraft hatte.

»Sie können sich doch nicht ewig so verkriechen«, tönte es wieder von draußen.

Doch, kann ich, dachte ich trotzig.

Auf Zehenspitzen schlich ich zur Wohnungstür und hoffte, seine Schritte zu hören, die sich über die Holztreppe entfernten. Aber ich hörte nichts. Vielleicht standen wir beide so da, ich drinnen, er draußen, mit angehaltenem Atem und lauschten angestrengt.

Dann erklang ein Geräusch, als ob jemand eine Seite aus einem Heft reißen würde. Sekunden später schob sich ein weißes Blatt unter der Tür durch.

Azoulay? Geht es Ihnen gut? Bitte sagen Sie mir wenigstens, dass alles in Ordnung ist. Sie müssen mich nicht hereinlassen, aber ich werde nicht eher weggehen, bis Sie mir ein Lebenszeichen geben. Ich mache mir Sorgen um Sie.

Offenbar vermutete er mich schon auf einem Stuhl, mit der Schlinge um den Hals, wie der depressive Held aus Brot und Tulpen, einem seiner Lieblingsfilme.

Ich lächelte wider Willen und schlich zum Schreibtisch zurück.

Es ist alles in Ordnung, schrieb ich in Druckbuchstaben und schob das Blatt durch die Tür.

Warum machen Sie dann nicht auf?

Ich überlegte einen Moment.

Ich kann nicht.

Postwendend kam die Antwort.

Was soll das heißen, Sie können nicht? Sind Sie nackt? Oder betrunken? Haben Sie etwa Damenbesuch?

Ich schlug die Hand vors Gesicht, presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Damenbesuch – so ein altmodisches Wort konnte auch nur Favre benutzen.

Nein, kein Damenbesuch. Ich schreibe.

Ich schickte das Blatt wieder durch den Spalt unter der Wohnungstür und wartete.

Das freut mich zu hören, Azoulay. Es ist gut, dass Sie wieder schreiben. Das wird Sie ablenken, Sie werden schon sehen. Dann will ich nicht stören. Schreiben Sie, mein Freund! Und lassen Sie von sich hören. Bis bald!

Ja. Bis bald! Ich melde mich, schrieb ich zurück.

Jean-Pierre Favre blieb noch einen Moment unschlüssig vor der Tür stehen, dann hörte ich seine Schritte auf der Treppe. Ich hastete ans Fenster und sah, wie er aus dem Haus trat, seinen Mantelkragen hochschlug und mit energischen kleinen Schritten die Rue Jacob in Richtung Boulevard Saint-Germain davonging.

Und dann setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb.

Liebe Hélène,

die Beerdigung hätte dir gefallen. Das klingt so, als wäre es erst gestern gewesen, und für mich ist es auch so, obwohl du nun schon sechs Monate fort bist. Seit jenem goldüberglänzten Oktobertag, der so unpassend für eine Beerdigung war und doch so passend für dich, die immer so strahlend war, ist die Zeit stehengeblieben. Ich hoffe, du siehst es mir nach, dass ich dir erst jetzt schreibe. Den ersten Brief von dreiunddreißig sinnlosen Briefen. Nein, entschuldige, ich will nicht zynisch sein. Du hast es dir so gewünscht, ich habe dir meine Hand darauf gegeben, und ich werde dieses letzte Versprechen halten. Du hast dir etwas dabei gedacht, da bin ich mir sicher. Auch wenn ich im Moment nicht genau weiß, was.

Alles ist so sinnlos geworden, seit du fort bist.

Aber ich versuche es. Ich versuche es wirklich. Du hast damals gesagt, du würdest meine Briefe von wo auch immer lesen. Ich würde es so gerne glauben. Dass dich meine Worte irgendwie erreichen.

Es wird bald Frühling, Hélène. Aber Frühling ohne dich ist kein Frühling. Draußen ziehen die Wolken vorbei, es regnet, dann scheint wieder die Sonne. Dieses Jahr werden wir nicht zusammen im Jardin du Luxembourg spazieren gehen und Arthur an den Händen fassen und »eins-zwei-drei-hoooch« durch die Luft fliegen lassen.

Ich fürchte, ich mache mich nicht besonders gut als alleinstehender Vater. Arthur beklagt sich schon, weil ich nie lache. Neulich haben wir einen alten Disney-Film zusammen angeschaut, Robin Hood, du weißt schon, den mit den Füchsen, und als die Szene kam, wo Robin Hood und seine Bande dem bösen King John die Geldsäcke per Seilzug entwenden, während dieser im Bett liegt und schnarcht, sagte er plötzlich: »Papa, du musst lachen, das war jetzt ganz lustig.« Und da hab ich den Mund verzogen und so getan, als ob.

Ach Hélène! Ich tue die ganze Zeit so, als ob. Ich tue, als ob ich fernsehe, ich tue, als ob ich lese, ich tue, als ob ich schreibe, telefoniere, einkaufe, esse, spazieren gehe, zuhöre. Ich tue, als ob ich lebe.

Es ist so verdammt schwer geworden, das Leben. Ich gebe mir schon Mühe, das musst du mir glauben. Ich versuche stark zu sein, wie du es gesagt hast, und weiterzumachen, ohne dich.

Doch die Welt ohne dich ist eine so einsame, Hélène. Ohne dich bin ich so verloren. Ich habe das Gefühl, ich bekomme rein gar nichts mehr hin.

Aber die Beerdigung hätte dir gefallen. Alle haben gesagt, dass es eine schöne Beerdigung war. Ein Widerspruch in sich, ich weiß, aber dennoch … Ich habe alles so gemacht, wie du es dir gewünscht hast. Darauf zumindest kann ich stolz sein.

Ich habe einen wunderbaren Platz auf dem Friedhof Montmartre gefunden, direkt neben einer alten Kastanie. Sogar das Grab von Heinrich Heine ist nicht weit, das würde dir gefallen. Und ich habe allen gesagt, dass sie nicht in Schwarz kommen sollen, so wie du es wolltest. An diesem Oktobermorgen, nur wenige Tage nach deinem dreiunddreißigsten Geburtstag, den du gerade noch so erlebt hast, wäre alles vollkommen gewesen, wenn es nicht den endgültigen Abschied von dir bedeutet hätte. Die Sonne schien, die Blätter leuchteten in Gelb und Rot, es war alles so friedlich, fast heiter, und eine lange Prozession bunt gekleideter Menschen spazierte hinter deinem blumengeschmückten Sarg her, als ginge es zu einem Fest. Ich habe mich gefragt, ob etwas Buntes gleichzeitig auch traurig sein kann. Und ja, es kann.

Alle sind gekommen. Dein Vater, dein Bruder und deine Tanten und Cousinen aus dem Burgund. Meine Mutter und ihre Schwester Carole, die sogar den alten Paul mitbrachte, ihren verwirrten Mann, der alle paar Minuten fragte: »Und wer ist jetzt gestorben?« Und es sofort wieder vergaß. Alle unsere Freunde waren da. Sogar deine Jugendfreundin Annie ist aus Honfleur angereist und hechtete auf den Friedhof, nachdem die Zeremonie in der Kapelle bereits vorbei war und wir schon am Grab standen. Sie war viel zu spät dran, weil sich irgend so ein lebensmüder Idiot vor den Zug geworfen hatte, und hatte tatsächlich noch einen Taxifahrer aufgetrieben, der sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit die letzte Strecke nach Paris fuhr. Ihr Gesteck aus Rosen und Lilien war völlig zerrrupft, aber immerhin hat sie es noch geschafft, die treue Seele.

Viele deiner Kollegen sind gekommen und die Schüler aus deiner Klasse. Der Direktor hat ein paar nette Worte gesprochen in der Kapelle, und auch der Geistliche hat seine Sache sehr gut gemacht. Der Schulchor sang herzergreifend schön das Ave Maria. Cathérine hat eine wunderbare Rede auf dich gehalten, die allen sehr nahegegangen ist. Sie war ganz ruhig und gefasst, ich habe das wirklich bewundert. Später hat sie mir gestanden, sie hätte ein Beruhigungsmittel genommen. Ich selbst wäre nicht in der Lage gewesen, auch nur ansatzweise so etwas wie eine Rede herauszubringen, das verstehst du sicher. Aber ich habe in der Kapelle ein großes Bild von dir aufgestellt – das Foto, wo du vor diesem riesigen Lavendelfeld stehst, die Hände vor der Brust verschränkt, und so ausgelassen in die Kamera lachst. Unser erster gemeinsamer Urlaub in der Provence, weißt du noch? Du siehst darauf so glücklich aus, es war immer eines meiner Lieblingsbilder, auch wenn du stets moniert hast, dass du gegen die Sonne blinzeln musstest.

Und ich habe ein Lied für dich ausgesucht, das gespielt wurde, während wir am Grab standen – Tu es le soleil de ma vie. Denn das bist du immer für mich gewesen, mein Liebling, die Sonne meines Lebens.

Arthur hat schrecklich geweint, als der Sarg in die Erde gelassen wurde. Er klammerte sich erst an mich, dann an Mamie. Es war wohl für uns alle schrecklich. Dich so verschwinden zu sehen in diesem tiefen Loch, unwiderruflich und für immer. Alexandre stand neben mir wie ein Fels in der Brandung und drückte meinen Arm. »Glaub mir, das ist der schlimmste Moment«, sagte er. »Schlimmer wird es nicht.«

Mit fielen die Worte von Philippe Claudel ein, der mal geschrieben hat, dass wir am Ende alle hinter Särgen hergehen.

Ich stand da wie erstarrt und sah all die Blumen und Kränze mit den letzten Grüßen, ich sah mein weinendes Kind, das nun keine Mutter mehr hatte, und dann sah ich nichts mehr, weil meine Augen von Tränen blind waren. Später, als wir im Restaurant waren, wurde alles leichter. Die Leute haben angeregt miteinander geredet, tüchtig zugelangt, sogar gelacht, alle waren erleichtert, dass es vorbei war, und das schuf eine vorübergehende Vertrautheit und Herzlichkeit, wie man sie manchmal auf einem fröhlichen Fest nicht findet, wo Menschen aus so unterschiedlichen Lebenskreisen aufeinanderstoßen. Sogar ich habe mich unterhalten und ein paar Happen gegessen, weil ich plötzlich ganz hungrig war, und Arthur ist von einem zum anderen gesprungen und hat erklärt, dass du jetzt mit deinen sämtlichen Koffern im Himmel Einzug hältst, weil du auch dort schön sein willst. Und dass du dich sicher freust, deine Maman endlich wiederzusehen (bei Letzterem war ich mir nicht ganz so sicher, ich weiß ja, wie schwierig deine Mutter war – ich hoffe einfach mal, ihr werdet nicht auch noch im Himmel weiterstreiten, wo ja, wie man hört, der große Friede herrschen soll).

Jedenfalls stellt Arthur sich vor, dass du inzwischen wie durch einen Zaubertrick deinen Sarg verlassen hast und nun über den Wolken schwebst. Er ist überzeugt davon, dass es dir gut geht, weil du nun ein Engel bist, und dass du da oben jeden Tag Clafoutis aux cerises zu essen bekommst, diesen warmen Kirschkuchen, den du so sehr magst.

Neulich, als ich ihm Spaghetti mit Lieblingssauce machte (ein bisschen Tomatensauce mit Sahne verrühren und alles in einem Topf erwärmen, das kann sogar ich), sagte Arthur plötzlich, du hättest ihm erzählt, dass du eine sehr, sehr lange letzte Reise machst, und dass man dich dort, wo du dann bist, leider nicht anrufen kann, nicht mal auf dem Mobiltelefon, weil der Empfang so schlecht ist. »Aber du musst dir keine Sorgen machen, Papa«, hat er hinzugefügt, »am Ende sehen wir uns dort alle wieder, und bis dahin besucht uns Maman in unseren Träumen, hat sie gesagt. Ich treffe sie ganz oft im Traum«, versicherte er mir eifrig, und ich war mir nicht sicher, ob er nicht doch einfach flunkerte, um mich zu trösten. »Sie sieht aus wie ein Engel und hat jetzt ganz lange Haare.«

Gestern wollte er wissen, ob du wohl auch Flügel hast und ob du wirklich ALLES vom Himmel aus sehen kannst. Ich glaube, er hatte nach dem Zähneputzen noch heimlich Schokolade gegessen und war etwas beunruhigt.

Ich wünschte, ich könnte mit deinem Tod so gut umgehen wie Arthur, Hélène. Auch er ist manchmal traurig und vermisst seine Maman, aber er hat sich doch sehr viel schneller damit abgefunden, dass es dich hier unten nicht mehr gibt. Er fragt mich oft, was Maman jetzt wohl sagen würde – und das frage ich mich auch. Ich habe so viele Fragen und keine Antworten, mein geliebtes Wesen. Wo bist du jetzt?

Ich vermisse, vermisse, vermisse dich!

Ich setze ein Ausrufezeichen, aber eigentlich müssten dort tausend stehen.

In meinem Schmerz bin ich bescheiden geworden. Ich wäre schon zufrieden, wenn ich dich nur einen Nachmittag im Monat ausleihen könnte von »da oben«, wenn wir nur ein paar Stunden zusammen sein könnten. Wäre es nicht wunderbar, wenn so etwas möglich wäre?

Stattdessen schreibe ich dir nun endlich. Immerhin.

Ich bin froh, dass Mamie so nah wohnt, so kann sie sich um Arthur kümmern. Sie hilft mir wirklich sehr. Und auch sie vermisst dich. Sie mochte dich von Anfang an, gleich als ich dich zum ersten Mal mit nach Hause gebracht habe, weißt du noch? Sie ist wirklich das Gegenteil einer bösen Schwiegermutter. Und wie jede gute Oma vergöttert sie ihren kleinen Enkel. Er wickelt sie um den Finger mit seinem unentwegten Geplapper, und sie kann ihm kaum einen Wunsch abschlagen. Man könnte direkt neidisch werden. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mit mir immer so geduldig und nett gewesen wäre. Wenn es wärmer wird, wollen die beiden für zwei Wochen nach Honfleur fahren, ans Meer. Das wird dem Kleinen guttun, wenn er nicht immer meine Trauermiene sehen muss.

Heute Morgen stand plötzlich Favre vor der Tür. Er ist übrigens auch zur Beerdigung gekommen mit seiner Frau Mathilde, die eine sehr nette, warmherzige Person zu sein scheint. Natürlich will er wissen, was mit dem neuen Roman ist. O je, ich weiß nicht, ob ich ihn jemals zu Ende schreiben werde. Du würdest jetzt sicher sagen, ich sollte mich zusammenreißen, aber ich brauche einfach noch Zeit. Die Zeit gibt, die Zeit nimmt. Die Zeit heilt alle Wunden. Ich habe selten noch so einen dummen Spruch gehört. Meine Wunde ist jedenfalls noch nicht verheilt.

Ich kann nur hoffen, dass es dir besser geht, mein Engel! Übrigens wird es dich vielleicht freuen zu hören, dass ich einen Grabstein aus Marmor habe anfertigen lassen, der eine Bronzeplatte mit dem Kopf eines Engels trägt. Alexandre, unser Superästhet, kannte einen Steinmetz, der mit einem Bildhauer zusammenarbeitet, und der hat das Relief nach einem Bild von dir angefertigt. Es ist sehr schön geworden. Auch Arthur hat dich gleich erkannt, als wir neulich am Grab waren. Ich habe ihm erzählt, dass wir uns auf diesem Friedhof zum ersten Mal begegnet sind, du und ich, am Grab von Heinrich Heine. Ohne diesen Dichter würde es dich vielleicht gar nicht geben, habe ich gesagt. Das fand er sehr komisch.

Morgen werde ich also zum Friedhof von Montmartre fahren und dir meinen ersten Brief bringen. Verzeih, dass es so lange gedauert hat. Jetzt, da der Bann gebrochen ist, wird der nächste rascher folgen. Und du wirst staunen, denn ich habe mir für unsere doch sehr einseitige Korrespondenz etwas ganz Besonderes ausgedacht.

Bis bald, meine geliebte Hélène, bis zum nächsten Brief – bis ich dich wiederhab’ wie einst im Mai.

Julien

Kapitel 2

Jeder Mensch muss doch irgendwo hingehen können

Der frühlingshafte Himmel hatte mich an der Nase herumgeführt. Als ich am nächsten Morgen die Métrostation Abbesses verließ, gab es einen Platzregen, der die jungen Mädchen, die sich gerade vor dem Belle-Époque-Schild Métropolitan