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Bewusst freier atmen

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Dank

Mein erster Dank geht an meine ehemaligen Kommilitoninnen und Kommilitonen der Atem- und Körperpsychotherapie-Ausbildung Pina Augustin, Patricia Candinas, Sieglinde Czycz, Verena-Barbara Gohl, Denise Lischer, Thomas Monn und Roger Stutz für das initiale Brainstorming in Sedrun, als die Idee für das Atembuch gerade erst geboren war. Danke vielmals, Roger, dass ich die Textauszüge aus unserer Arbeit (siehe Anhang) verwenden durfte. Ein weiterer grosser Dank geht an Dr. med. Thomas Walser, auf dessen Website www.dr-walser.ch ich mir Informationen zum Thema Rauchen holen durfte. Dr. med. Thomas Rothe danke ich dafür, dass er den wissenschaftlichen Teil gegengelesen hat. Ein inniger Dank geht an meinen Lehrer und Ausbildner Stefan Bischof sowie an die Thalwiler Atemtherapeutin und Ausbildnerin Anita Rieder, bei der ich in der Ausbildung und Lehrtherapie so viel lernen durfte. Meiner Lektorin Christine Klingler Lüthi danke ich herzlich für das wiederum so liebevolle und professionelle Begleiten, Mitatmen und Lektorieren der Texte.

Nicht zuletzt bin ich so dankbar für euch, meine Liebsten, Fabio, Lara, Diana, Noah und Nele Sophie, und für eure Geduld mit mir, wenn es mal wieder hiess: «Seid ruhig – Mama schreibt!»

Dieser Ratgeber stellt keinen Ersatz für psychotherapeutische oder ärztliche Beratung dar. Der Verlag und Autorin lehnen jede Haftung ab für allfällige nachteilige Auswirkungen, die mit dem Ausführen der Übungen in diesem Buch in Zusammenhang stehen könnten.

Beobachter-Edition

© 2019 Ringier Axel Springer Schweiz AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

www.beobachter.ch

Herausgeber: Der Schweizerische Beobachter, Zürich

Lektorat: Christine Klingler Lüthi, Wädenswil

Reihenkonzept: buchundgrafik.ch

Coverbild: iStock

Fotos: iStock

Infografiken Seiten 16, 24, 31, 115: Andrea Klaiber, Schaffhausen;

Seite 175: Bruno Bolliger, Gudo

Layout: Rebecca De Bautista

Herstellung: Bruno Bächtold

e-Book: mbassador GmbH, Basel

ISBN 978-3-03875-161-8

eISBN 978-3-03875-222-6

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Inhalt

Vorwort

image Wie aus Luft Atem wird, und was dieser im Körper bewirkt

Die Reise der Atemluft

Mit dem Einatmen beginnt die Reise

Die Stimmbänder

Bronchien und Co

Wie die Alveolen das Gewebe in Bewegung bringen

Reinigender Schleim

Sauerstoff und Kohlendioxid im Zusammenspiel

Die Herausforderung bei Asthma

Was hält den Atem in Gang?

Das Zwerchfell, der grosse Atemmuskel

Einatmen, ausatmen

Zwerchfell und Haltung

Zwerchfellaktivität und Blutfluss

Das Zwerchfell kann brechen

Mit Übungen das Zwerchfell unterstützen

Im Fokus der Wissenschaft: Faszien

Faszienpflege in Eigenregie

Die Wirkung tiefer Atmung

Mal wieder kräftig durchatmen

Was ist paradoxe Atmung?

Richtig atmen – gibts das?

Der richtige Atem – und es gibt ihn doch

Wichtige Voraussetzungen für die Atemarbeit

Eine eindrückliche Geschichte aus der Praxis

image Der Atem im Fokus der Forschung

Alles verbindender Atem

Kurioses aus der chinesischen Sicht

Die westliche Perspektive

Die Möglichkeiten des Unbewussten

Die Klugheit des Leibes

Drei notwendige Anti-Stress-Gewissheiten

Die gefährliche Form von Stress

Tschüss Stress: die Polyvagaltheorie

Die Heilkraft des Atems in der Forschung

Wirkung von Atemarbeit auf den Körper

... und auf die Psyche

Effektive Atemachtsamkeit

Atemreduktion – eine alte Atemheilmethode

Stickstoffmonoxid – lebensnotwendiges Gift

image Praktische Atemarbeit

Atemübungen für den Alltag

Der Atem bewegt uns bis in die Zehenspitzen

Die Atemräume

Praktische Atemübungen zum Ausprobieren

Emotionalem Kontrollverlust begegnen

Themenbezogene Atemübungen

Atem und Imagination – eine magische Mischung

Atem und Haltung

Atem, Stimme und Präsenz

Atmen beim Sport

Atem und Schmerz

Atem und Gebären

Atem, Vertrauen und Trauma

Atem und Verbundenheit in der Partnerschaft

Atem und Sex

Atem, Düfte und Begegnung

Atem und Rauchen

Schlecht riechender Atem

Atem und Gefühle im Zusammenspiel

Der Atem begleitet die Gefühlsentstehung

Das maskierte Gefühl

Gefühle, Körper und Atem stehen in ständiger Wechselwirkung

Ich-Stärke fördern

Trauer und Traurigkeit begegnen

Unserem Organismus Freude antrainieren

image Atemarbeit – wer hats erfunden?

Atemtherapie gestern und heute

Ein innovativer Südtiroler: Leo Kofler

Der Einfluss C. G. Jungs

Die Körperkultur der Jugendbewegung

Atemarbeit während der Nazizeit

Die Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren

Atem, Körper und Spiritualität

Was kann Atemtherapie?

Woran erkenne ich einen guten Atemtherapeuten?

Wer zahlt?

Methoden der Atemtherapie

Atemtherapie nach Ilse Middendorf

Integrale Atemschulung nach Klara Wolf

Atemtherapie nach Volkmar Glaser

Ganzheitliche Integrative Atemtherapie nach Yvonne Maurer

Atmungsorthopädie System Schroth

Atemtherapie nach Herta Richter

Personale Initiatische Therapie nach Dürckheim und Graubner

Buteyko-Atemtechnik

Papworth-Atemtherapiemethode

Atem- und Entspannungstherapie nach van Dixhoorn

Atemtherapie nach Kozo Nishino

Qigong

image Anhang

Links

Literatur

Quellen

Übungen: Übersicht

Vorwort

Ich muss Sie gar nicht fragen, ob Sie gerade atmen. Natürlich atmen Sie. Das tun Sie, seit Sie ein Fötus sind. Geborgen in der Wärme und im Halbdunkel der Gebärmutter, umgeben vom Rauschen des Blutes Ihrer Mutter und ihres Herzschlages haben Sie Fruchtwasser eingeatmet und ausgeatmet und dabei die Kraft für diese lebensnotwendige Funktion trainiert.

Wenn wir mit anderen Menschen in Kontakt treten, uns unterhalten, schnuppernd an einem klaren Frühlingsmorgen die frischen Düfte erkunden, wenn wir gebären, weinen, Liebe machen, schlafen, uns sportlich betätigen, stehen, gehen, mit Schmerzen zurechtkommen müssen – immer ist er da, unser Atem. Mal fliessend, mal stockend, mal kraftvoll, mal kaum wahrnehmbar, flach oder tief, hörbar oder unhörbar, schnarchend, stossend, prustend, hustend, pfeifend, immer ist er da und begleitet und unterstützt uns bei unseren täglichen Herausforderungen. Ständig gibt er uns wertvolle Hinweise – die wir nicht selten übersehen.

Oft werden wir unserer Atmung erst dann gewahr, wenn sie in irgendeiner Weise ins Stocken gerät. Dann begegnen wir dem Atem bewusst. Normalerweise aber läuft er einfach wie ein braver Hund mit, ohne dass wir auf ihn achten.

Stellen Sie sich vor, Sie würden sich auf das Experiment einlassen, Ihren Atem nach und nach immer klarer wahrzunehmen, zu lernen, ihn gezielt in Ihren Alltag miteinzubeziehen, ihn bewusst einzusetzen in all den vielfältigen Herausforderungen, die das Leben jeden Tag an die Ufer Ihres Daseins schwemmt.

Zu diesem Experiment lädt dieses Buch Sie ein: Werden Sie sich der magischen Kraft Ihres eigenen Atmens bewusst und lernen Sie, damit zu zaubern – für mehr Energie, tiefere Freude, erholsameren Schlaf, mehr Ruhe, erfüllteren Sex, um nur ein paar Geschenke zu nennen, die der bewusste Atem für Sie bereithält.

Delia Schreiber

im Mai 2019

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Wie aus Luft Atem wird, und was dieser im Körper bewirkt

Damit wir mit dem Atem «arbeiten» können, ist es hilfreich zu verstehen, was im Körper passiert, wenn wir atmen, was aus der Luft in unserem Körper wird und von wo aus der Atem gesteuert wird. Wissenschaftlich gesprochen geht es um die Physiologie des Atems und darum, was tiefe Atmung genau ist und was sie im Erleben bewirkt.

Die Reise der Atemluft

Unsere Atmung besteht aus unwillkürlichen, unbewussten, manchmal auch aus bewusst ausgeführten Bewegungen. Gesteuert wird sie vom Hirn. Wir verfügen nicht nur über eine äussere, sondern auch über eine innere Atmung. Der Atem ist eng verknüpft mit dem vegetativen Nervensystem, das für die Stressregulation zuständig ist. Schmerzen, Gefühle, Situationen, andere Menschen beeinflussen ihn und begleiten die Atemluft, die auf ihrer Reise zu der Energie wird, die uns Bewegung überhaupt erst ermöglicht.

Es ist ein wunderschöner Tag im August, und ich sitze mit meinen Freunden und Kollegen Regula und Roger am Vierwaldstättersee. Beide sind erfahrene, langjährige Atemtherapeuten. Mit Roger habe ich eine wissenschaftliche Arbeit zum Thema «Wirkung von Atemtherapie» geschrieben. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Physiologie der Atmung, also mit den Abläufen und Funktionen im menschlichen Organismus. Nun sitzen wir unter raschelnden Birken, und ich lausche gespannt der wohltönenden Stimme meines Kollegen, der mein Wissen darüber auffrischt, wie die Atmung funktioniert.

Mit dem Einatmen beginnt die Reise

Idealerweise atmen wir nicht durch den Mund, sondern durch die Nase ein. In der Nasenhöhle wird die Luft auf Körpertemperatur erwärmt, befeuchtet und gereinigt. Die Schleimhäute der Nase beherbergen ein Venengeflecht, das ähnlich wie eine Bodenheizung wirkt. Ausserdem geben sie Feuchtigkeit in die Atemluft ab. Mit der Nase riechen wir, und sie ist ein Teil des Resonanzraumes für unsere Stimme.

imageINFO Vor allem Asthmatiker, aber auch Menschen mit sehr empfindlichen Atemwegen sollten bei Temperaturen unter 4 Grad Celsius draussen keinen Sport treiben. Bei Anstrengung brauchen wir mehr Luft, atmen schneller und tiefer ein, die Luft hat weniger Zeit, sich zu erwärmen. Oft lassen wir uns auch dazu verführen, durch den Mund einzuatmen. So wird die trockene Winterluft nicht mehr befeuchtet und kann Asthmaanfälle provozieren.

Das Leben und das Denken in allen lebendigen
Wesen ist bewirkt durch die Luft, welche sie einatmen,
und an diesen Stoff geknüpft.

Diogenes von Apollonia (Philosoph und Arzt,
ca. 499 bis 428 v. Chr.)

Lesen Sie weiter auf Seite 17.

INTERVIEW MIT ROGER STUTZ

Atemtherapeut SBAM, Basel

Roger, du arbeitest seit 25 Jahren als Atemtherapeut in eigener Praxis. Für welche Krankheitsbilder ist die Atemtherapie nach deiner Erfahrung besonders geeignet?

Wir haben verschiedene wissenschaftliche Studien und einen Review über den Einsatzbereich und die Wirksamkeit der Atemtherapie durchgeführt. In diesen Studien zeigte sich, dass die Atemtherapie besonders wirksam ist bei Rückenbeschwerden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen sowie bei verschiedenen psychischen Erkrankungen wie Depression, Angst- und Panikstörungen, Burn-out und vor allem auch bei psychosomatischen Beschwerden. Der Atem ist das Bindeglied zwischen der körperlichen und der psychischen Ebene eines Menschen. Daher eignet sich die Atemtherapie besonders gut für die Behandlung von psychosomatischen Symptomen.

Kannst du ein Beispiel aus deiner Praxis erzählen?

Ein 54-jähriger Mann kam nach einem mehrwöchigen Klinikaufenthalt wegen einer Erschöpfungsdepression und einer Panikstörung zu mir in atemtherapeutische Behandlung. Zusätzlich litt er unter einer arteriellen Hypertonie (Bluthochdruck), einem Asthma bronchiale und einer schweren Belastungsdyspnoe (Atemnot infolge Belastung) – nach drei Stockwerken Treppensteigen geriet er jeweils in starke Atemnot. Er beschrieb ein konstantes Druck- und Engegefühl im Brustbereich und wiederkehrende, periodische Asthmaanfälle, die ihn vor allem während der Nacht heimsuchten und ihn am Durchschlafen hinderten. Zum damaligen Zeitpunkt musste er drei- bis fünfmal täglich zwei verschiedene Asthmamedikamente inhalieren.

Bei Therapiebeginn hatte der Mann eine starke muskuläre Anspannung im ganzen Körper und eine ausgeprägte Zwerchfelldysfunktion, was eine physiologische Atmung verunmöglichte. Mithilfe von Atem- und Wahrnehmungsübungen lernte er, seinen Körper besser zu spüren und seinen Atem besser fliessen zu lassen. Nach und nach wurde sein Körper durchlässiger für eine physiologische Atembewegung. Dadurch wurde er auch empfindsamer und wacher für seine unterdrückten Gefühle, die er aufgrund von belastenden Ereignissen aus seiner Kindheit lange abgespalten hatte. Im Rahmen der begleitenden Gespräche gelang es ihm, seine Gefühle von Trauer, Wut und Schmerz über den Suizid seines Vaters und den emotionalen Missbrauch durch die Mutter und den Stiefvater zuzulassen und seelisch zu verarbeiten.

In der Folge sind seine Ängste und seine Panikattacken verschwunden, und seine Asthmasymptomatik ist in der Intensität und Häufigkeit deutlich zurückgegangen. Der Mann kann nachts wieder durchschlafen und auf die Asthmamedikamente weitgehend verzichten. Seine blutdrucksenkenden Medikamente konnte er um drei Viertel der Anfangsdosis reduzieren, und auch seine körperliche Leistungsfähigkeit hat wieder deutlich zugenommen.

DIE REISE DER LUFT

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Von der Nase geht die Luft via den hinteren Teil der Mundhöhle in den Rachenraum. Die Grenze zwischen dem oberen und dem unteren Atemweg bildet der Kehlkopf. Das ist der am Hals von aussen sichtbare sogenannte Adamsapfel, der sich beim Schlucken bewegt. Der Kehlkopfdeckel (die Epiglottis) sorgt dafür, dass die Luft in die Luftröhre geht und die Nahrung in die Speiseröhre und nicht umgekehrt. So wird das Eindringen von Fremdkörpern in die Atemwege verhindert. Wenn Sie sich verschlucken, hat dieser Schliessreflex versagt – ein Hustenreiz packt Sie und katapultiert den Eindringling mit explosiver Kraft wieder raus aus der Luftröhre.

Wenn Sie den vorderen Halsbereich vorsichtig abtasten, spüren Sie unter dem Kehlkopf ringförmige knorpelige Strukturen. Das ist der Ringknorpel. Hinter diesem sind im Kehlkopf die beiden Stimmbänder aufgespannt; sie bilden die Stimmritze. Kommen wir kurz auf den Husten zurück: Um ordentlich abhusten zu können, braucht es Druck. Diesen erzeugt der Körper mit tiefem Einatmen. Die Stimmritze wird dann vollständig geschlossen und zum Lösen des Drucks wieder blitzartig geöffnet. Dies, kombiniert mit der Hustenkraft der Atemmuskulatur, erzeugt Druckkräfte, die die Luft beim Ausatmen auf Hurrikangeschwindigkeit beschleunigen können, also weit über 100 km/h. Schleim und Fremdkörper werden so effizient aus den Atemwegen hinausgeschleudert.

Die Stimmbänder

Die Stimmbänder sind es, die mithilfe der Atemluft beim Reden, Singen, Schreien, Summen, Stöhnen und so weiter Töne produzieren. Der Ton entsteht beim Ausatmen, denn dabei geraten die Stimmbänder in Schwingung.

Je nachdem, wie stark die Spannung der Bänder ist, verändert sich der Ton. Wie bei einem Instrument braucht es zudem einen Resonanzraum, wo die Töne sich entwickeln und hörbar werden. Unser körpereigener Resonanzraum umfasst den Brustraum, den Mund- und Kopfraum und die Nebenhöhlen. Diese Strukturen verstärken die Schwingungen der Stimmbänder. Sie sind sozusagen das Gehäuse des Lautsprechers, und die Stimmbänder sind somit seine Membrane. Je stärker die Spannung der Stimmbänder, umso höher der Ton. Je geringer die Spannung, umso tiefer auch der Ton.

Bronchien und Co.

Nachdem die Luft Kehlkopf und Stimmritze passiert hat, tritt sie in die Bronchien ein. Diesen Teil der Atemwege kann man sich wie einen umgekehrten Baum vorstellen. Der Stamm des Baumes ist die Luftröhre, die sich in zwei grosse Äste teilt, den linken und rechten Hauptbronchus. Diese Äste liegen innerhalb der Lunge, wo sie sich in immer kleinere Äste weiter aufteilen, genau wie die Äste eines Baumes. Diese kleinsten Verästelungen nennt man Bronchiolen. Am Ende dieser Ästchen liegen die Alveolargänge mit den «Früchtchen», den Alveolen. Sie messen gerade mal 0,4 Millimeter – und das in ihrem gedehnten Zustand, also beim Einatmen.

Wie aus Sauerstoff Energie wird

Hier, in diesen winzigen Lungenbläschen, findet der Gasaustausch statt. Aus sauerstoffarmem wird arterialisiertes Blut; das heisst, das CO2-reiche Blut gibt das Kohlendioxid wieder ab, wird mit Sauerstoff angereichert und fliesst nun zum Herzen zurück. Der Sauerstoff bindet sich in den Blutgefässen an den roten Farbstoff der roten Blutkörperchen, das Hämoglobin, und der Abfallstoff des verbrauchten Sauerstoffs, das Kohlendioxid, geht den umgekehrten Weg zurück in die Lunge, wo es via Atemwege mit dem Ausatmen den Körper wieder verlässt. Dieser Weg der Atemluft nennt sich äussere Atmung.

Daneben gibt es auch eine innere Atmung, die sogenannte Zellatmung. Dabei nehmen die Zellen den Sauerstoff über feinste Gefässe, die Kapillaren, auf. In den Mitochondrien – sie werden auch die Kraftwerke der Zellen genannt – ist Endstation für den Sauerstoff. Hier wird er zusammen mit Nährstoffen (z. B. Glukose) verwendet, um nutzbare Energie zu produzieren (biologische Oxidation). Der Sauerstoff wird also bei der Energieversorgung des Körpers verbraucht und als Kohlendioxid wieder zurück in das Blut gegeben. Man spricht von aerober Atmung. Bei der anaeroben Atmung dienen nicht Sauerstoffmoleküle, sondern andere Substanzen als Oxidationsmittel.

Milchsäuregärung – Energiegewinnung ohne Sauerstoff

Im Haushalt funktioniert die Energieversorgung mit dem Strom aus der Steckdose. Beim Menschen kommt die Energie in Form von ATP (Adenosintriphosphat) aus den Minikraftwerken in den Zellen, den Mitochondrien. Besonders die Muskeln benötigen ständig Energie, auch im Ruhezustand. Durch die Spaltung des ATP-Moleküls wird Energie frei. Beim aeroben Stoffwechsel erfolgt die Energiegewinnung dank der Sauerstoffzufuhr.

Steht nicht genügend Sauerstoff zur Verfügung, wechselt der Körper auf die anaerobe Energiegewinnung, für die kein Sauerstoff notwendig ist. Nehmen wir an, Sie rennen mit letzter Energie im Dauerlauf mit Aktentasche, Schirm und Kleinkind auf dem Arm zum Perron, um Ihren Zug noch zu erwischen. Bereits nach ein paar Sekunden ist aufgrund dieser hohen muskulären Belastung der Energievorrat in Ihren Muskeln aufgebraucht, und genügend Sauerstoff steht dem Organismus bei diesem Stress zur Energiegewinnung nicht zur Verfügung. Also schaltet der Körper auf den schnelleren anaeroben Stoffwechsel um. Dafür greift er auf die Zuckerreserven (Kohlenhydrate) zurück und wandelt diese mittels blitzschneller Milchsäuregärung in Laktat und ATP um – und voilà, es steht wieder genügend Energie zur Verfügung, damit Ihre Beinmuskulatur Sie (wenn Sie auch völlig ausser Puste sind) rechtzeitig zum Zug bringen kann.

Lebenselixier Sauerstoff

Sauerstoff gelangt im Gegensatz zu Stickstoff (siehe Kasten oben) direkt via Atemluft in den Körper. Für die Energiegewinnung braucht es ihn. Er steigert die körperliche und psychische Leistungsfähigkeit, fördert die Wundheilung, verbessert den Stoffwechsel und wirkt gegen Bakterien und Viren.

Bei einem normalen Atemzug wird lediglich ein kleiner Teil der Kapazität der Lunge genutzt, und wir atmen nur etwa einen halben Liter ein. Die Lunge eines Erwachsenen könnte allerdings fünf bis sechs Liter Luft aufnehmen. Pro Minute atmen wir etwa 16-mal und verbrauchen damit ungefähr 12 000 Liter Atemluft pro Tag; das entspricht etwa vier Dezilitern Sauerstoff pro Minute. Sauerstoff ist erforderlich, damit die Nahrung, die wir aufnehmen, in Energie für unseren Körper umgewandelt werden kann. Der Energieumsatz des Körpers wird in Kilojoule oder Kilokalorien berechnet; der Bedarf variiert je nach Grösse, Alter, Geschlecht und körperlicher Aktivität.

Wie die Alveolen das Gewebe in Bewegung bringen

Je nach Grösse besitzt die Lunge zwischen 200 und 600 Millionen Alveolen (Lungenbläschen). Wenn man sie alle aufspannen würde, ergäbe sich die Fläche eines Tennisfeldes! Die Lungenbläschen vergrössern und verkleinern sich, wenn wir ein- und ausatmen. Stellen Sie sich vor, diese unglaubliche Masse von Alveolen dehnt sich und zieht sich wieder zusammen. Damit wird klar, wie die Atembewegung auch ausserhalb des Lungenraumes im Körper zustande kommt. Dehnen sich die Alveolen, so dehnt sich das Gewebe, in dem sie beheimatet sind. Dieses Gewebe wiederum stösst auf das umliegende Gewebe des Bauchraumes und bringt auch dieses in Bewegung, drückt und massiert es sanft. Je entspannter unsere Muskulatur ist, umso besser kann sich diese Atembewegung von einem Gewebeareal zum anderen fortsetzen. Bei Menschen, die sich eingehend mit ihrem Atem beschäftigt oder vielleicht auch eine Atemtherapie besucht haben, sieht man diese Atembewegung manchmal bis in die Zehenspitzen. Das ist anfangs schwer vorstellbar, gerade für Atem- und Körpertherapeuten aber ein bekanntes Phänomen.

imageINFO Eine Atemweise, bei der man so oberflächlich atmet, dass der Atem lediglich einen Teil der Lunge belüftet, jedoch nicht bis in die Alveolen vordringt, besitzt einen ganz fürchterlichen Namen: Man nennt dies die Totraum-Atmung oder Totraum-Ventilation. Dass der dabei tatsächlich beatmete Teil der Bronchien als toter Raum bezeichnet wird, ist kaum korrekt. Tatsache ist aber, dass eine oberflächliche Atmung wenig wirksam ist. All die Vorzüge einer tieferen Atmung wie guter Gasaustausch, Aktivierung unseres Entspannungssystems, natürliche Aufrichtung des Oberkörpers und die massierende Wirkung der Atembewegung auf unsere Eingeweide bleiben dabei aus.

Reinigender Schleim

Fast unser ganzer Respirationstrakt bis in die feinsten Ästchen des «Bronchienbaumes» ist mit dem sogenannten respiratorischen Epithel beschichtet, einer Schicht von spezialisierten Zellen, die dafür sorgen, dass Schleim produziert wird (daher die Bezeichnung «Schleimhaut»). Dieser Schleim ist zweischichtig: An der Oberfläche ist er klebrig, darunter flüssiger. Der klebrige Teil des Schleims fängt Staub- und Schmutzpartikel ein. Im flüssigeren Teil des Schleims befinden sich die Zilien. Das sind Flimmerhärchen, die den Schleim mit einer schlagenden Bewegung in Richtung Rachen befördern. Ungefähr 120 Milliliter reinigender Schleim werden pro Tag aus den Atemwegen hinausbefördert. Wir merken kaum etwas davon, denn dieser Schleim wird, wenn er im Rachen angekommen ist, einfach wieder geschluckt – angehmerweise unter Umgehung der Geschmacksknospen. Die Muskelzellen in Zwerchfell und Bronchien transportieren den Schleim nach aussen, indem sie sich erweitern und zusammenziehen.

Die Aktivität der Flimmerhärchen wird durch Zigarettenrauch, Kälte, aber auch durch Stress und bestimmte pharmakologische Wirkstoffe behindert. In diesem Fall kommt es zu einem Sekretstau. In diesem können gesundheitsschädigende Bakterien, Viren und Pilze sehr gut gedeihen.

Will man den Schleimstau lösen, so hilft es, langsam und vollständig auszuatmen. Gleichzeitig kann man die Ausatmung noch verlängern. Der Physio- oder Atemtherapeut lässt einen dann z.B. in eine Wasserflasche blasen, was den Widerstand erhöht und die Ausatemphase verlängert. Im Einatmen weiten sich die Bronchiolen, im Ausatmen verengen sie sich wieder, wobei Schleim aus den kleinen Atemwegen hinausgepresst wird.

imageTIPP Reizhusten kann zu akuten Bronchialkrämpfen führen. Nicht nur Menschen mit Asthma, sondern auch denen, die gerade an einer Bronchitis (Entzündung der Bronchien mit starker Schleimbildung) leiden, kann es helfen, den Schleim morgens nach dem Aufstehen gezielt und geführt abzuhusten. Dabei wird nicht einfach explosionsartig die Luft ausgestossen. Atmen Sie erst langsam tief ein, atmen Sie ungefähr die Hälfte bis zwei Drittel der Atemluft unter leichtem Räuspern wieder aus. Der letzte Drittel darf normal ausgehustet werden.

Sauerstoff und Kohlendioxid im Zusammenspiel

Damit wir leistungsfähig und wach im Geiste bleiben, braucht es ein ausgewogenes Verhältnis von Sauerstoff und Kohlendioxid. Sauerstoff ist also nicht einfach gut und Kohlendioxid schlecht. Kohlendioxid, das Produkt der Energieverbrennung im Körper, bewirkt die Abgabe von Sauerstoff aus dem Blut an die Zellen. Es führt zu einer Dehnung der glatten Muskulatur der Atemwegswände und Blutgefässe, und es reguliert den pH-Wert des Blutes mit.

imageINFO Der aufgenommene Sauerstoff kann nur dann effektiv vom Körper genutzt werden, wenn Kohlendioxid in ausreichender Menge in der Lunge, im Blut, im Gewebe und in den Zellen zur Verfügung steht. Man nennt dies den Bohr-Effekt: Das Hämoglobin in unserem Blut setzt nur dann Sauerstoffmoleküle frei, wenn die Kohlendioxidkonzentration im Blut passt.

Weniger ist mehr

Wenn wir zu tief einatmen, also zu viel Luft aufnehmen – man nennt das «überatmen» –, wird zu viel Kohlendioxid abgegeben. Als Folge davon lässt das Hämoglobin den Sauerstoff nicht mehr los, und unsere Muskel-, Gewebe- und Organzellen sind unterversorgt.

Es fühlt sich für eine Weile sehr gut an, mit viel Luft lange und tief einzuatmen. Aber es bringt nichts. Im Gegenteil: Wir schwächen damit die Leistungsfähigkeit unserer Muskulatur und trainieren uns unter Umständen sogar allmählich das Hyperventilieren an.

imageINFO Bei den meisten Menschen reichen zwei Minuten schweren Atmens aus, um die Blutzirkulation in Gehirn und Körper zu reduzieren. Dann fühlt man sich benommen und schwindelig. Der Durchmesser der Gefässe für die Blutversorgung kann bis zu 50 % abnehmen. Überatmung kann also die Durchblutung beeinträchtigen.

Mundatmer sind meistens Überatmer und daher sauerstoffunterversorgt, gerade wenn sie auch in der Nacht durch den Mund atmen. Sie kommen morgens schlecht in die Gänge und fühlen sich beim Aufwachen erschöpft. Tagsüber leiden sie oft unter Stimmungstiefs und mangelnder Leistungsfähigkeit.

Wenn die Konzentration von Kohlenstoffdioxid wieder ansteigt, so öffnet dies die Atemwege, der Sauerstofftransfer in die Zelle ist gewährleistet, diese sind gut mit Energie versorgt, und die Atmung wird auch als angenehmer empfunden.

Die Herausforderung bei Asthma

Bei Menschen mit Asthma ist die Bronchialschleimhaut entzündungsbedingt geschwollen, und es kann zu einem Zusammenziehen der Ringmuskeln kommen, die die Bronchien umschnüren. Durch diese Mechanismen steigt der Atemwiderstand. Betroffene müssen sich viel mehr anstrengen, um ein- und vor allem ausatmen zu können, obwohl die Verästelungen der Bronchien eigentlich weit genug wären. Die Schleimzellen produzieren ausserdem mehr Schleim, der legt sich in die Bronchien und erschwert das Atmen zusätzlich. Menschen mit Asthma verfügen im Grunde genommen über ein überreagierendes Reinigungssystem.

Durch den empfundenen Lufthunger (siehe dazu den Kasten auf Seite 26) tendieren Asthmakranke nun dazu, noch mehr Luft einzuatmen, was – wie oben geschildert – dazu führt, dass die Kohlendioxidkonzentration nachlässt und das Hämoglobin sich an den Sauerstoffmolekülen festklammert. Die Zellen sind unterversorgt, was den Lufthunger noch mehr ankurbelt. Deshalb ist es so wichtig, unbedingt die Hyperventilation (Überatmen) zu verhindern. Medikamente, die die Bronchien erweitern (sogenannte Dilatatoren), helfen dabei.

imageTIPP Was Menschen mit Asthma tun können bei Atemnot: die Lippenbremse anwenden. Sie ist im Kasten «Atem-Notfälle» auf Seite 26 beschrieben.

Was hält den Atem in Gang?

Unser Atem fliesst von selbst: Wir brauchen nicht daran zu denken, wir brauchen ihn nicht zu steuern. Etwas in uns macht das von alleine. Diese Steuerfunktion des Atems sitzt im Atemzentrum, das sich im verlängerten Teil des Halsrückenmarks befindet. Die Atembewegungen entstehen, indem die Nervenzellen des Atemzentrums rhythmisch von übergeordneten Zentren im Hirn erregt werden. Moduliert wird die Atmung über das vegetative Nervensystem. Dieses Nervensystem steuert die Balance zwischen Stress und Entspannung und ist damit zentral für unser Wohlbefinden (Ausführliches dazu im Kapitel «Tschüss Stress: die Polyvagaltheorie», Seite 80).

Fein abgestimmter Vorgang

Damit der Atem sich den momentanen Gegebenheiten im Organismus optimal anpassen kann, verfügt der Körper über Chemorezeptoren. Sie befinden sich einerseits im Hirn, andererseits in der Nähe des Herzens, im Aortenbogen und im Sinus caroticus (einer bestimmten Stelle der inneren Kopfschlagader). Die Aufgabe der Chemorezeptoren ist es, laufend den Sauerstoff- und CO2-Gehalt zu messen. Mit der Abatmung von Kohlendioxid wird Säure aus dem Körper entfernt. Wenn nun der pH-Wert im Blut sinkt, also zu viel Säure vorhanden ist, nehmen dies die Chemorezeptoren wahr und geben Meldung, dass die Atemfrequenz erhöht werden muss. Ein zu niedriger Sauerstoffgehalt bewirkt längere Zeit erst mal nichts; es ist vor allem der zu hohe CO2-Wert, der für den Atemantrieb sorgt.

Der Atemantrieb wird ausserdem durch die Körpertemperatur, durch emotionale Erregung und Schmerz beschleunigt, ebenso durch Hormone wie Adrenalin. Wenn wir unsere Skelettmuskulatur aktivieren, steigt die Atemfrequenz ebenfalls, sodass der erhöhte Sauerstoffbedarf gedeckt werden kann. Emotionale und physische Entspannung dagegen verlangsamen die Atmung.

Nach wie vor nicht restlos geklärt ist die Frage, weshalb die Atmung zwar unwillkürlich, das heisst automatisiert und von der Aufmerksamkeit unabhängig abläuft, jedoch trotzdem von dieser beeinflusst werden kann. Dies ist ein einzigartiges Phänomen im menschlichen Organismus, denn jede andere unwillkürlich arbeitende Muskulatur, etwa die des Herzens oder des Darms, lässt sich nicht direkt mit dem Willen steuern.

imageINFO Aus atemtherapeutischer Sicht kann man sagen, dass die bewusste Steuerungsmöglichkeit vor allem dann sinnvoll ist, wenn es darum geht, starke Emotionen zu regulieren und sich so in einer herausfordernden Situation bewusst stabilisieren zu können. Mehr Informationen dazu finden Sie im Kasten über Atem-Notfälle (siehe Seite 24) sowie im Kapitel «Atem und Gefühle im Zusammenspiel» (Seite 162).