An der „Knatter“

Geschichten
einer Kindheit und Jugend

Erinnerungen
an die in Kyritz an der Knatter
erlebten 1930er, 40er und 50er Jahre

Eine Auswahl

authentischer „Kyritzer Geschichten“

Vorwort

Eine Stadt lebt von ihren Geschichten und von den Menschen, die diese erzählen.

Heinz Neumann kam 1934 in Kyritz zur Welt. Schon lange nicht mehr in Kyritz lebend, erzählt er uns einfühlsam und authentisch die Geschichten seines Lebens in den 30iger, 40iger und 50iger Jahren in seiner Heimatstadt Kyritz.

Diese, schon einmal in den 90iger Jahren für den Privatgebrauch aufgeschrieben, veröffentlichte er in den letzten zwei Jahren ausschnittsweise auf der Facebookseite: „Du bist ein echter Kyritzer“. Das positive Echo, das diese Erzählungen auslöste, veranlasste uns diese, seine Erlebnisse vor, während und nach dem 2. Weltkrieg in seiner Heimatstadt, den Bürgern der Stadt und ihren Besuchern mit diesem Buch neu zu präsentieren.

Dieses Werk entstand in Zusammenarbeit mit der Kulturbeauftragten der Stadt, Frau Manuela Bismark, den Mitarbeitern des Kyritzer Heimatvereins, Frau Städicke-Karavidaj, Herrn Helmut Wagner sowie dem Stadthistoriker Herrn Herbert Brandt. Mein besonderer Dank gilt dem Initiator und Organisator, Herrn Dr. Haßfeld, der das Buch gestaltet, redigiert und herausgegeben hat. Nicht zuletzt danke ich Herrn Heinz Neumann, der uns seine Geschichten zur Verfügung stellte.

 

Kyritz, im Juni 2019

Nora Görke

 

Bürgermeisterin der Stadt Kyritz

Inhalt

Zur Einführung

Die „Zugmaschinen“ hießen Liese, Lotte oder Felix

Geselligkeit auf Kyritzer Art

In der Waldeinsamkeit der Strüwe

Der Beinbruch und seine Folgen

Entdeckungen abseits vom Trubel der Stadt

Wo die kleinen Lokomotiven fauchten

Wo einst die Franziskaner - Mönche lebten

Auf Entdeckungstour im Rathaus

Über viele Brücken muss man gehen

Waschechte Knatterstädter

Das Sparsamkeitsprinzip des kleinen Mannes

"Kartoffelferien" - Spiel und Arbeit zu gleich

Karambolage mit dem Gendarmen

Erfüllte Wünsche in rauchigen Schmieden

Schulgeschichten - kleine Ausrutscher inklusive

Am See

Im alten Konsum-Laden an der Ecke

In der Uniform der „ Pimpfe“

Hinter verdunkelten Fenstern

Der Panzerzug der weinseligen Soldaten

Furcht und Stille

Unter weißen Fahnen

Hoffnung und Ernüchterung

Sieger und Besiegte

Schlagbäume, Befehle und Scheiterhaufen

Die Trompete

Ein Sommer an der Jäglitz

Und über Gräber strich der Wind

Geschichten aus der Weihnachtszeit

Wintersport auf Kyritzer Art

Im Banne des Kinos

Und wieder lockte der See

Der Feldhüter

Blaubeerernte

Zwischen Herbst und Winter

Es war an einem Heiligabend

Auf waghalsiger Expedition

Wie bescheidene Wünsche wieder erfüllt wurden

Vaters Offenbarung

Übers Land zur Erntezeit

Auf der Suche nach einer sinnerfüllten Freizeit

Die misslungene Wiedergutmachung

Auf dem Bordstein gesessen und Alt-Kyritz gemalt

Häuslebauer

Beim Friseur

Erfolgserlebnisse und neue Erkenntnisse

Onkel Paul

Ein Nachwort

Zur Einführung

Nichts ist beständiger als die Erinnerung.

Sie führt dich zurück in die Zeit deiner Kindheit und Jugend und vermittelt dir die Gewissheit, dass du eine Heimat hast, ein Zuhause, wo alles einst begonnen hat. Sie trägt dir aber auch auf, das Aufeinander zugehen, die Nähe zu den Gespielen, Freunden und Mitbürgern von einst und zu den Orten des gemeinsam Erlebten zu suchen, auf dass die wiedererkannten Gemeinsamkeiten ein vorurteilsfreies, uneigennütziges, von Heimatliebe getragenes Miteinander bestimmen. Sie verpflichtet dich, deinen Kindern und Enkeln, sowie allen Nachgeborenen zu erzählen, was du einst erlebt hast – des Fazits wegen: Wider das Vergessen!

Wohin mich mein Weg auch geführt und wo mir das Leben auch immer meinen Platz zugewiesen hatte – diese Erkenntnisse haben mich stets begleitet. Sie haben mich motiviert, aufzuschreiben, was mich an meine Heimatstadt Kyritz an der „Knatter“ erinnert … und warum es mich immer wieder einmal dort hinzieht. In einfacher Sprache und des öfteren auch so, „wie mir mein Kyritzer Schnabel gewachsen ist“, habe ich versucht, meine Erlebnisse aus den 30iger, 40iger und 50iger Jahren so authentisch wie möglich widerzuspiegeln. Schauen Sie hinein in den Erzählband und lernen Sie jenes Kyritz an der „Knatter“ kennen, wie ich es als Kind und als Jugendlicher erlebt habe … und das seinen „Knatter“-Scherznamen einigen Wassermühlen verdankt, die früher einmal an dem Flüsschen Jäglitz so laut geknattert hatten, dass der Volksmund es prompt in die „Deutschen Lande“ getragen hatte: „Kyritz an der ‚Knatter‘“.

„Da haben wir aber einen Wonneproppen“, soll sich die Kyritzer Hebamme sichtlich überrascht in ihrer derbfröhlichen Art gewundert haben, nachdem sie mich in einer

Juni-Nacht des Jahres 1934 in mein irdisches „Knatter“-Dasein geholt und auf der Skala der Waage „10 Pfund“ abgelesen hatte. Und eben dieser „Wonneproppen“-Statur zufolge war es mir scheinbar erst kurz nach der Vollendung meines zweiten Lebensjahres bewusst geworden, dass die Beine außer dem Gebrauch beim Krabbeln durch das Erdbeerbeet und beim Planschen an den seichten Ufern der Kyritzer Gewässer sicherlich auch noch eine andere wichtige Aufgabe erfüllen könnten: mich dorthin zu tragen, wohin mich meine kindliche Neugier zog und wo bestimmt noch viele Erlebnisse auf mich warteten – in der mir vertrauten, bald aber schon zu eng gewordenen Wohnumgebung und dementsprechend dann vielerorts in der Stadt, an den Ufern der Jäglitz, der Dosse und der Seen … in den Jahren, bevor auch mein Vater im September 1939 wieder einmal in den Krieg ziehen musste … und danach in der Schulzeit und zu der Zeit, als wir Kinder wohl das Spielerlebnis suchten, jedoch auch zunehmend von dem Strudel der Kriegswirren erfasst wurden …bis hin in die von Not und Schwernissen gezeichneten Jahre danach.

Bild: Heinz Neumann

Quelle: Heinz Neumann

Heinz Neumann

Die „Zugmaschinen“ hießen Liese, Lotte oder Felix

Kyritzer Pferdegespann

Quelle: H. Brandt

Wenn Hermann Dühr vor der Düßlerschen Mühle in der Mühlenstraße seinen Planwagen mit Mehlsäcken vollgeladen hatte und wenn die beiden kräftigen Pferde dem „Hüjo“ des Kutschers gehorchten, um dann aber schon frühmorgens in gewohnter Weise vor den Backstuben der Kyritzer Bäcker wie beispielsweise Eichhorst, Borchert, Fiedler und Busse während des Abladevorganges aus den ihnen umgehängten Hafersäcken ihr „Frühstück“ serviert zu bekommen, dann stieß des öfteren auch meine Frage nach einem eventuellen „Mitfahren“ auf die offenen Ohren des Hermann Dühr. Wortkarg, wie er nun mal war, bedeutete sein Kopfnicken aber jedes Mal so viel wie: „… nun kletter schon rauf auf den Kutscherbock.“

Oder wenn sowohl die Milchhändler Buske und Haase als auch der mit Braunbier handelnde Kolonialwarenhändler Prohl mit ihren, jeweils von einem frisch gestriegelten Pferd gezogenen, Kofferwagen vor bestimmten Häusern – so auch vor unserem Haus gleich neben der Post – zum „Abfassen der begehrten Frischwaren“ aufforderten, dann stand es für mich von vornherein fest, dass ich unter den wachsamen Augen des einen oder anderen von mir mit „Onkel …“ angesprochenen Händlers die Pferde in ihrer Mähne kraulen, aber vorzugsweise auch Buskes Liese auf der flachen Hand manches Stück Würfelzucker reichen durfte.

Dass Albert Meier, der Kyritzer Aschenfahrer mit seinem flachen, seinerzeit jedoch schon gummibereiften Kasten-Pferdewagen genauso das Bild reger Betriebsamkeit in den engen Kyritzer Straßen mitprägte wie die rundlichen Pferde vor den Pritschenwagen der Brauerei-Niederlassungen „Schraube“ und „Dessow“ und dass die schweren Pferde des Spediteurs Wernicke mehrmals am Tage die eisenbereiften Rollwagen zur Güterabfertigung des Bahnhofs und dann wieder retour zu irgendwelchen Abladestellen zogen – das alles empfand ich Steppke wohl als „äußerst interessant“, dennoch aber bald schon als eine „selbstverständliche Kyritzer Alltäglichkeit“.

Aber damit noch nicht genug der Geschäftigkeit mittels "Zugmaschinen mit Hafermotor“, wie der Volksmund die Pferdegespanne zu bezeichnen pflegte. Denn nicht nur die Kyritzer „Ackerbürger“, die mit ihren, von Pferden gezogenen Acker-, Pritschen- und Kutschwagen, sowie zeitweise auch mit ihren landwirtschaftlichen Geräten das Stadtbild belebten, auch die aus den umliegenden Dörfern und Gütern des öfteren per „Pferd und Wagen“ in die Kreisstadt der Ostprignitz gekommenen Bauern oder deren Gespannführer trugen wesentlich dazu bei, dass das „Knatter“-Städtchen an jedem normalen Wochentag als „quicklebendig“ erschien.

Der somit zu einem großen Teil landwirtschaftlich geprägte Charakter der Stadt war auch mir willkommen. Denn dadurch wurde es mir möglich, verschiedentlich neben dem Kutscher des Landwirtes und Kohlenhändlers Glaser auf dem Ackerwaren zu sitzen und sogar die Zügel zu halten.

Nicht unerwähnt lassen darf ich in der Aufzählung der in meiner Erinnerung noch deutlich gezeichneten „Kyritzer Stadtbilderscheinungen“ zudem auch die von uns mit Respekt betrachteten, an manchen Tagen unter dem Geläut der Kirchenglocken von schwarz umhüllten Pferden durch die Straßen gezogenen Begräbniswagen, im Kyritzer Sprachgebrauch schlicht aber keineswegs pietätlos „Leichenwagen“ genannt. Ehrfurchtsvoll verharrten wir Jungen am Straßenrand, wenn ein mit gerafftem schwarzem Trauerflor versehener Baldachin-Wagen vorüberrollte.

Liese, Lotte oder Felix – so oder anders hießen also all jene den Begriff „Zugmaschinen mit Hafermotor“ mitgeprägten Pferde, die zum Beispiel aber auch täglich in langer Reihe vor der Rampe der Kyritzer alten Molkerei auf dem Bahnhofsvorplatz ausharren mussten bis die auf den Milchwagen aus den Dörfern herbeigebrachten vollen Milchkannen in der Molkerei entleert waren. Gleichermaßen zumeist liebevoll genannte Namen trugen aber auch jene Pferde, die besonders in der Kartoffelernte über die Fuhrwerkswaage der Stärkefabrik hinein stampften, um schließlich entweder vor den Gaststätten „Schützenhaus“, „Stadtgarten“, „Blaue Maus“ oder vor anderen „Kneipen“ der Stadt nach getaner Arbeit sozusagen in den Genuss einer kurzen Rast zu gelangen.

Einmal war es, dass Mutter mich mit gestrenger Miene und derben Worten ermahnen musste, nachdem wir dem Vater am Pförtnerhaus der Stärkefabrik die Aluminiumschüssel mit dem Mittagessen ausgehändigt hatten: „Es gehört sich nicht, dass du Knirps immer nur den Kutschern am Jackenzippel hängst und bettelst, dass sie dich ein Stückchen mitnehmen durch die Stadt; was soll denn das, spann deine Freunde vor den Handwagen und spiel Kutscher solange du willst.“

Aber nach einer kurzen Pause meinte sie doch wieder beschwichtigend: „Lass man, wir fahren ja bald wieder mal mit dem Milchwagen nach Tramnitz – ich werde schon darauf achten, dass du dann vorn beim Kutscher sitzen darfst, um dann sicherlich auch die Pferdeleine zu halten und womöglich sogar mit der Peitsche zu knallen.“

An Zahl schon beachtlich zugenommen, und somit unbedingt auch von der Moderne kündend, waren natürlich auch schon zu meiner Kindheit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die Wietz'schen Omnibusse, die vorwiegend von der Firma Kotsch vertriebenen und betreuten Opel-PKWs, verschiedene Autos der Marken von “Autounion“, ein oder zwei “Tempo“-Dreirad- Kleintransporter, die LKWs der Stadtmühle und des Fuhrunternehmers Prohl, die von der Firma Staats in der Poststraße reparierten “Bulldog“ -und “Deutz“-Trecker sowie überdies aber auch verschiedene Motorräder mit und ohne Soziussitz oder Beiwagen, die in verschiedenen Kyritzer Werkstätten ihre Pflege,-und Reparaturpartner hatten…und unübersehbar somit aus dem Stadt-und Straßenbild der Prignitz normalerweise nicht mehr wegzudenken waren. Dass dann aber auch nach dem Krieg in Kyritz schon bald wieder einige neu aufgebaute ältere Kraftfahrzeuge wie zum Beispiel ein “Steyer“-Lkw, den der neu in der Strüwestraße ansässig gewordene Fuhrunternehmer Kugler als ein ausrangiertes Wehrmachtsfahrzeug von irgendwo herbekommen hatte …und später dann schon einige neue Fahrzeugtypen wie der Lkw “Horch“, Pkw “DKW… F8 und F9, der “P 70“ und die Kleintransporter “Granit“ und “Framo“ - um nur einige Ersterzeugnisse aus der damaligen “Sowjetisch besetzten Zone“ und der jungen DDR zu nennen - schon wesentlich das Verkehrsaufkommen mitbestimmten, sollte unbedingt auch von dem Fleiß und dem Entwicklungsgeist der Menschen, die zweifellos ihrem Dasein unter erschwerten Bedingungen wieder mehr Sinn und Freude verleihen wollten, künden. So, wie beispielsweise auch der in zweifacher Ausfertigung produzierte Fahrradhilfsmotor - genannt “Hühnerschreck“ - auch noch in den 1950er Jahren des öfteren mit seinem Knattern wahrlich nicht nur das Federvieh erschreckte. Aber nichtsdestotrotz ging aus diesem Motorgefährt irgendwie schon bald das “hochbeinige “Moped“ SR1“ hervor.

Wie gesagt, dank des seinerzeit unmittelbar nach dem Krieg entwicklungsfördernden und optimistisch stimmenden Denkens und Tuns der Menschen.

Geselligkeit auf Kyritzer Art

Ehemaliger Logengarten

Quelle: Heimatverein Kyritz

Schon als kleiner Junge horchte ich auf, wenn Vater und Mutter von ihren Erlebnissen „auf den Tanzböden“ erzählten. Und so erfuhr ich, wie es sich verhalten hat, mit der Geselligkeit in Kyritz, als man in den 20er Jahren und auch zu Beginn der 30er Jahre wohl „den Groschen zweimal umdrehen musste“, aber dennoch auf das gesellige Beieinander sein nicht verzichten wollte.

Vor Begeisterung verfärbten sich Vaters Wangen jedes Mal tiefrot, wenn er bei so mancher Gelegenheit unter anderem auch von den Kyritzer Maskenbällen erzählte: „Ob im Wanderheim, im Schützenhaus, im Logengarten (später Stadtgarten), im Saal des Ausfluglokals ‚Blechern Hahn‘, bei ‚Friede‘ im Hotel ‚Deutsches Haus‘, bei Hemmerlings in der Waldkolonie oder auch in den Gaststätten ‚Rheinischer Hof‘ und ‚Blaue Maus‘ (vis a vis vom Stadtgarten in der Pritzwalker Straße) – hoch hergegangen ist es jedes Mal, wenn wir uns in unseren selbstangefertigten Kostümen ins Gewühl des Maskenballs gestürzt haben.“

Als Vater jedoch wieder einmal voller Begeisterung von dem erlebten „Trubel auf den Kyritzer Tanzböden“ schwärmte, fiel meine Mutter ihm ins Wort und kicherte: „ … und die Plage, die Männer wieder nach Hause zu bugsieren, hatten immer wir Frauen.“

Und dann war für mich kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges die Zeit herangekommen, dass ich an Vaters Seite an so manchem Sonntagvormittag zum Frühschoppen gehen und somit auch in die vom Vater gesuchten „geselligen Runden“ hinein lauschen durfte. Mutter sah uns hinterher, wenn wir beide losspazierten – Vater mit Sonntagshut und Krawatte und ich entweder in meinem Matrosenanzug und dazugehörenden weißen Troddel-Kniestrümpfen oder, wenn die Witterung es verlangte, in eine wärmende „Bleyle“–Strickkombination „hineingesteckt“, zu der ich zu meinem Leid dann aber auch noch kratzende selbstgestrickte lange Strümpfe tragen musste.

Wenn bei Eckert in der Bahnhofsgaststätte nicht der gewünschte Personenkreis zusammengekommen war, dann gingen wir weiter zu Erich Plagemann in das Bahnhofshotel. Oder Vater hatte schon von vornherein die Route festgelegt: „Zuerst mal kurz in Minna Schröders Kneipe am Markt und dann vielleicht noch kurz vor dem Mittagessen, schnell mal rein in den ‚Rheinischen Hof‘ zu Haases in der Wilhelmstraße.

Für mich bedeutete das in jedem Falle so viel wie „eine gewinnträchtige Sonntagvormittagstour“. Denn: wo wir auch „landeten“ innerhalb der uns von der Mutter genehmigten Zeit – für mich gab es schäumende Fassbrause und meistens noch dazu eine dampfende Bockwurst. Bei Minna Schröder am Markt fielen häufig sogar noch ein dickes Stück Streuselkuchen und einige neue Bierdeckel mit bunten Aufdrucken ab.

Weil Vater aber in den 20er Jahren bei der Kyritzer Likör-Firma „Hilliges“ als angelernter Destillateur beschäftigt gewesen war und zu der Zeit auch die Kyritzer Gaststätten mit Spirituosen zu beliefern hatte, war es ihm während unserer gemeinsamen „Frühschoppen-Ausflüge“ des öfteren noch eingefallen, die „Tour“ zu erweitern, um somit, wie er es ausdrückte, „den alten Kunden nur mal kurz ‚Guten Tag‘ zu sagen.“

Davon und dementsprechend auch von Vaters Neigung, derartige „Kurzbesuche“ des öfteren sogar bis in die Nachmittagsstunden auszudehnen wusste natürlich auch meine Mutter. Und so kam es ‚ dass sie mich immer dann „fein rausputzte“, wenn Vater schon am Sonntagfrüh vor dem gemeinsamen sonntäglichen Kaffeetrinken seine guten Halbschuhe geglänzt, den Sonntagshut abgebürstet und die nur für Sonn- und Feiertage bestimmte Krawatte hervorgeholt hatte.

Dass aber auch mein Vater von Mutters „vorbeugender Handlungsweise“ wusste, hatte ich schon gleich zu Beginn unserer gemeinsamen „Frühschoppen-Touren“ bemerkt. Denn Vater hatte an einem der ersten Sonntage, als wir von Minna Schröder noch zum „Thüringer Hof!“ gehen wollten, zu mir gesagt: „Eine halbe Stunde bleibt uns noch, denn um Punkt Zwölf müssen wir zu Hause sein – weißt doch, Mutter wartet auf uns. Kleine Jungs müssen nun mal pünktlich ihr Essen bekommen.“

Aber auf diese Weise hatte ich sie kennengelernt, die von den Kyritzer Arbeitern, Handwerkern, Landwirten und Geschäftsleuten besuchten Gaststätten, in deren Räumen es besonders sonntags recht gemütlich, aber auch manchmal turbulent zuging. Laut gelacht wurde, wenn die neuen Witze die Runde machten oder wenn Vaters Stärkefabrik-Kollegen irgendwelche lustigen Begebenheiten aus dem Fabrik-Alltag erzählten.

Aber auch „hitzig“ ging es zu, wenn verschiedene „Streithähne“ von den Wirtsleuten auf den Hof hinaus oder in die Toilette verwiesen werden mussten, weil deren allzu lautstark geführten Debatten die sonntägliche Gemütlichkeit zu stören und vielleicht sogar noch die geselligen Runden der „kleinen Leute“ zu gefährden drohten. Dass es zum Ende der 30er Jahre gefährlich war, in einer Gaststätte oder auch anderswo abfällig über die Rundfunk-Ansprachen des „Führers“ und womöglich auch noch geringschätzig über die Aufmärsche der braun und schwarz uniformierten Ostprignitzer „SA“ (Sturm-Abteilungen), „SS“ (Sturm-Staffel) und „HJ“ (Hitlerjugend) zu diskutieren, hatte ich schon aus einem Gespräch, das mein Vater mit dem Konsum-Inhaber Hermann Redlich geführt hatte, aufgeschnappt. Obwohl sie recht leise miteinander gesprochen hatten, hatte ich es dennoch verstanden, was Hermann Redlich dem Vater zugeraunt hatte: „Der Krieg steht vor der Tür, siehst doch, immer mehr Kyritzer werden zur Wehrmacht eingezogen, das wird bestimmt noch mal ganz schlimm. Aber sagen darfst du dagegen nichts, sonst holen die Braunen oder die ’SS‘ dich einfach ab.“ Vater hatte gleich daraufhin geantwortet, dass man sich jetzt besonders auch in der Kneipe vorsehen müsse; die Schnauze sollte man lieber halten, weil die Nazis es fertigkriegten, einen, der was gegen sie sagt, einfach zu verhaften … oder dass sogar noch der „Kneiper“ deswegen Scherereien bekommen könnte.

Als ich daraufhin meinen Vater gefragt hatte, ob es wirklich so sei, wie er und Hermann Redlich sich unterhalten hatten, hatte Vater sich zu mir runter gebeugt, mir über meinen Schopf gestrichen und ruhig, aber mit leicht bebender Stimme gesagt: „Was meinst du denn? Hast wohl was gehört? Wir haben doch bloß Spaß gemacht. Ist alles nicht wahr. Hast es falsch verstanden.“

Ich hatte mich fürs Erste damit zufrieden gegeben und über alles, was ich gehört hatte, auch nicht mehr nachgedacht. Nicht einmal meiner Mutter hatte ich von dieser Begebenheit etwas erzählt.

Aber viel später, als ich einige Jahre nach dem Krieg mit Vater zusammen bei Walter Probst in der Gaststätte saß, kamen wir auf unsere gemeinsamen „Frühschoppen-Touren“ und dementsprechend auch auf das von mir belauschte Gespräch zwischen meinem Vater und Hermann Redlich zu sprechen. Vater sah mich erstaunt an, als ich ihm erzählte, was ich seinerzeit mitgehört hatte.

„Donnerwetter, das weißt du noch? Das ist doch schon solange her. Hm, aber er hat recht gehabt, der Hermann Redlich, nicht wahr? Tja, was hätte ich dir denn damals sagen sollen? So war es schon ganz gut – ich hatte so getan, als wäre an der Sache gar nichts dran und du hattest nicht mehr danach gefragt.“

Erinnern kann ich mich aber auch, dass es in den 30er Jahren in Kyritz bestimmte Gaststätten gab, an deren Eingängen und weit geöffneten Fenstern mein Vater grundsätzlich mit forschem Schritt vorüberging. Denn nicht nur die aus den Fenstern auf die Straße hinausziehenden Tabakdunstwolken sowie auch die Bier- und Schnapsgerüche, sondern vorwiegend auch die aus den Gaststättenräumen nach draußen dringende quäkende Musik aus einem Grammophon-Schalltrichter oder der nicht gerade wohlklingende Gesang aus heiseren Männerkehlen zu irgendwelchen auf einem Klavier gehämmerten „zackigen“ Märschen waren für Vater scheinbar jedes Mal ein Grund, beispielsweise in der Hamburger Straße und auch in der Pritzwalker Straße seine Schritte zu beschleunigen.

Als ich ihn einmal fragte, warum wir nicht auch noch einmal dort hineinschauten, wo es, wie ich es mir vorstellte, doch so lustig zuging, schüttelte Vater zuerst nur energisch mit dem Kopf. Doch dann sagte er: „Ach weißt du, da ist es für mich zu laut. Komm nur, wir gehen woanders hin.“

Und wieder erfuhr ich es erst viel später, warum mein Vater diese Art Gaststätte gemieden hat. Nach dem „Zusammenbruch Hitler-Deutschlands“ war er von ganz allein noch einmal darauf zu sprechen gekommen. Ich erinnere mich noch genau an seine Worte:

„Kannst du dich noch erinnern, dass ich um bestimmte Kneipen immer einen Bogen gemacht hatte oder so schnell wie möglich an diesen vorübergegangen war? Jetzt kann ich es dir ja sagen: In solchen Gaststätten waren wir Arbeiter, die wir weder eine braune Uniform noch ein Parteiabzeichen trugen, nicht willkommen. Die ‚SA“-Leute sagten ‚Sturmlokal‘ zu einer derartigen Kneipe, wo nur sie das Sagen hatten. Die hätten unsereins schief angeguckt, provoziert sogar. Klamauk hätte es gegeben, weil die ja nur ihren ‚Führer‘ und ihre Parolen wie ‚Deutschland erwache!‘, ‚Juda verrecke!‘, ‚Führer befiehl, wir folgende dir!‘ und ihr unsinniges Siegesgeschwafel im Kopf gehabt haben.“

Aber auch noch zu der Zeit, als die gewohnten sonntäglichen „Biertischrunden“ aufgrund der zugestellten Briefe mit den Einberufungsbescheiden zur Deutschen Wehrmacht und auch wegen der immer häufiger aufheulenden Fliegeralarmsirenen schon merklich an Zuspruch und Fröhlichkeit verloren hatten, kramte ich des öfteren meine, während der unvergessenen „Frühschoppen-Ausflüge" gesammelten, bunten Bierdeckel hervor, um, wie ich es mir erhoffte, angesichts dieser schon recht umfangreichen und somit auch erinnerungsträchtigen Sammlung meinen Vater zu bewegen, seinen Sonntagshut und die Krawatte hervorzuholen. Doch all mein diesbezügliches Bemühen verlief erfolglos. Einmal fauchte er mich sogar ziemlich ungehalten an: „Nun lass doch endlich den Mist! Ich weiß genau, was du willst – aber merke dir: ich habe jetzt ganz andere Sorgen als nur an die Kneipen zu denken. Vielleicht muss ich bald schon an die Front.“

Bevor er aber an diesem Sonntagmorgen seine Mütze vom Kleiderriegel und den Gartenschlüssel vom Schlüsselhaken nahm, beugte er sich aber doch noch einmal über meine Bierdeckelsammlung. Er schmunzelte als er sagte: „War immer schön, ja? Aber lass man – der Krieg muss ja auch einmal zu Ende gehen; dann machen wir es uns wieder gemütlich, abgemacht?“

Doch ich musste lange darauf warten.

In der Waldeinsamkeit der Strüwe

In der Strüwe

Quelle: Dr. M. Haßfeld

Ob im Winter, Frühjahr Sommer oder Herbst – beeindruckend war es allemal, von der „Katzensteig“-Anhöhe hinter der Strüwestraße aus über die Wiesen und Felder zu blicken, wenn die Sonne sich allmählich anschickte, ihre Tagesbahn zu beenden. Da musste man nicht unbedingt schon erwachen sein, um die Schönheit zu erkennen, die die stille Landschaft und vor allem die sich vor dem nahen Horizont ausbreitende Waldkulisse zu dieser abendlichen Stunde wiederspiegelten: ….. die schemenhaft auf den Wiesen liegenden langen Schatten der Erlen und Weiden in der Wiesenniederung und dahinter die von der Sonnenscheibe noch einmal in ein mattes Rot getauchten Baumkronen der Strüwe – die sanft gewölbte Silhouette jenes auf dem sandigen „Landschaftsbuckel“ zwischen Klosterhof, Holzhausen und der Gemarkung Kyritz förmlich „thronenden“ Bauern-Waldes, in dem die Nauru nicht gegeizt hatte mit einer mannigfaltigen Pflanzenwelt und vielen, sich in der Stille des Waldes geborgen fühlenden einheimischen Tieren. War es daher ein Wunder, dass sich mancher Naturfreund aus den der Strüwe nahen Ortschaften, also auch manche Kyritzer Familie von diesem wahrlich in vielerlei Hinsicht „ergiebigen“ Wald hinter dem Strüvgraben angezogen fühlte?

Nicht wenige Male war ich schon als kleiner Junge an der Hand meiner Eltern, aber auch als „geduldeter“ Begleiter meines Bruders den „Katzensteig“ und den Strüweweg entlang oder auch querfeldein und über Koppelzäune hinweg „uff Strüwe zu“ marschiert. Im Winter mit dem Schlitten, im Frühjahr mit und ohne Handwagen, im Sommer mit Gefäßen für die Früchte des Waldes im Rucksack und im Herbst entweder ganz in Familie, um noch einmal die würzige herbstliche Waldluft zu schnuppern, oder nach den jahreszeitgemäßen „Produkten des Waldes“ Ausschau zu halten. Das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, das Spiel und das geruhsame Spazieren also auch mit dem „Einholen der Produkte des Waldes“ zu verknüpfen, das war Vaters Devise.

Wenn der von Klosterhof herüber wehende eisige Wind den Hohlweg oberhalb des Strüvgrabens mit Schneewehen zugedeckt hatte und unsere Schlittenspuren sich tief in den Schnee eindrückten, bevor wir die Rodelhänge in den Kieskuhlen der Strüwe erreichten, war auch schon zu der Zeit, als ich mich unter der Obhut meines älteren Bruders den größeren Jungen anschließen durfte, ein unverrückbarer Auftrag mit im Gepäck, sozusagen: Knüppel-Feuerholz und „Kienäppel“ nach den ausgelassenen Rodelpartien zu sammeln und auf die Schlitten zu laden.

Kurz bevor dann aber die wildwachsenden Birken an den Rändern der Kieskuhlen oder auf den Lichtungen der, nur durch schmale Felder voneinander getrennten, Kiefernwaldparzellen ihr junges leuchtendes Grün zeigten, war auch ich in so manchem Frühjahr einer von jenen Kyritzern, die zusammen mit dem Vater und dem Handwagen auf dem zerfurchten Strüweweg unterwegs waren, um „Erbsbusch“ zu holen – mühsam gebündeltes Birkenreisig für die Erbsenbeete im Garten. Aber auch der Eigennutz dominierte in der Art, daß ich dann jedesmal nach dicken Kiefernborkenstücken suchte, aus denen ich dann entweder mit Vaters Hilfe oder auch schon allein die verschiedensten „Flottillen kleinerer Borkenboote“ schnitzte – mit und ohne Papiersegel für das Bootsspiel am Graben unter den knorrigen Pappeln hinter Gerstenbergers Garten in der Strüwestraße.

Des Öfteren wurde aber auch an Moos für die Osternester gedacht, aber meist nur dann, wenn Mutter nicht mehr ausreichendes grünes Papierostergras zur Verfügung hatte. Oder auch, wenn es Vater gerade mal wieder so zumute war, seine „Osterversion“ zum Besten zu geben, wonach die uns Kindern als „durch die Strüwe hoppelnde Osterhasen vorgestellten Wildkaninchen ja auch nur das weiche Moos zur Verfügung hätten, um darin ihre „Eier“ zu legen.

Sommer in der Waldeinsamkeit der Strüwe. Wo hinter der Brücke über den Strüvgraben die Mücken und Fliegen in der Sonne tanzten und wo aus der nahen Kiefernschonung am Weg zur großen Kieskuhle ein würziger, strenger Harzduft aufstieg, begann so manche Mal das sonntägliche Picknick; zuerst mit einem „verdammt mühsamen“ Pflücken von Waldhimbeeren – süße rote und sogar recht große gelbe Früchte, die ich nur in der Strüwe in so üppigem Wuchs entdeckt hatte.

Aber auch während dieser Sommerausflüge wurden „Kienäppel“ gesammelt, noch bevor Vaters auf Pfifferlinge ausgerichteter Geruchssinn eine andere „nützliche Ausflugsvariante“ hervorbrachte.

Pfifferlinge aus der Strüwe – welch eine Tortur ging dem späteren Schmaus doch voraus! In die Kiefernschonungen jenseits des Hauptweges auf Holzhausen zu mußte ich hinein, um unter dem Moos und den abgelagerten trockenen Kiefernnadeln die Pilzbrutstätten zu suchen. Kurz davor hatte Vaters Unterweisung, speziell an mich gewandt, so begonnen: “du bist der Kleinste, du krabbelst zuerst in die Schonung und wühlst mal das Moos zur Seite; wenn du Pilze findest, rufst du.“

Und ich rief, jammerte sogar – der Ameisen und der spitzen Kiefernnadeln wegen, die meinen nackten Beinen schon tüchtig zugesetzt hatten.

Im Spätsommer begann die Brombeerernte. In der nicht mit Brombeerbüschen zugewachsenen älteren Kieskuhle am südlichen Zipfel des Waldes durfte ich anfangs noch aus den am Rande der Kuhle irgendwann einmal abgeladenen Blechteilen eine Bude bauen – später half jedoch kein „Pardon“ mehr: „Hier hast du einen Hakenstock und einen Gürtel mit einer Blechbüchse daran; du kommst mir immer hinterher in dem Brombeerdickicht, ziehst die Ranken mit dem Haken auseinander und pflückst die Brombeeren in die die Büchse hinein; Mutter und Günter fangen an der anderen Seite an zu pflücken; Feierabend ist erst, wenn der große Wassereimer voll ist!“ So hatte mein Vater gesprochen. Und da gab es kein „Pardon“.

Noch im September, wenn sich durch das dichte Geäst der Erlen am Strüvgraben schon die ersten, mit Tauperlen geschmauchten, Spinnweben zogen, wurden Holunderbeeren gepflückt. „Der Saft ist gut gegen Erkältungen“, war Mutters Grundsatz …. Und somit wurden die Trauben in einem Wassereimer nach Hause gebracht. Nur trinken mußten Vater und Mutter zumeist den mit Sirup gesüßten Holundersaft allein, obwohl die Mutter es uns später verraten hat, daß sie des Öfteren die Himbeer-Saftsuppe und auch das Gelee heimlich mit Holundersaft „gestreckt“ hatte.

Daß ich aber auch in so manchen Kaninchenbau hineingestochert und beim Brombeerpflücken immer ängstlich zu einem großen Dachsbau hinüber geschielt hatte, gehörte ebenso zu dem herbstlichen Strüwe-Ausflug, wie auch das Belauschen der Rehe und eines Eichelhäherpärchens weit hinten im Wald, wo, wie Vater es sagte, „Fuchs und Hase sich ´Gute Nacht´ sagen.“

Aber immer wieder empfand ich es als faszinierend schön, wenn zu dieser Herbstzeit die Ebereschen ihr flammendes Rot und die Birken ihr leuchtendes Gelb unter die Farben des Kiefernwaldes mischten. Nur an das Pilzesuchen in der Kiefernschonung und an die beim Brombeerpflücken davongetragenen Schrammen an Armen und Beinen, daran mochte ich – in welchem Jahr es auch war – überhaupt nicht denken.

Doch was half´s. Oftmals machte Mutter uns schon im Winter darauf aufmerksam, daß die eingekochten Vorräte allmählich zu Ende gingen; worauf Vater dann zumeist ungefähr so reagierte: „Kommt Zeit, kommt Rat – es wird ja wieder Sommer und auch wieder Herbst, mit vereinter Kraft werden wir schon für Nachschub sorgen. Oder seid ihr da anderer Meinung?“

Widerspruchslos nahmen wir in einer derartigen Situation von dieser, auf diese Weise schon vorangekündigten, Order Kenntnis – mit einem gewissen Anteil an Erwartung und Vorfreude allerdings auch. Denn von dem Wort „Strüwe“ ging nun mal ein besonderer Reiz aus.

Der Beinbruch und seine Folgen

Kreiskrankenhaus Kyritz

Quelle: H. Brandt

Im Herbst, genauer gesagt im November 1940, war es passiert, dass ich mir beim Toben auf einem Feld am Strüweweg das linke Bein gebrochen hatte. Und da halfen auch kein Jammern und kein Bitten: Die restliche Herbstzeit, die Adventszeit und auch das Weihnachtsfest musste ich im Krankenhaus verbringen. Und zu diesem Dilemma kam noch hinzu, dass ich noch einmal eingeschult werden musste, nachdem ich – noch nicht einmal sechs Jahre alt – gleich nach Ostern in die Schule gekommen war, aber wegen des verhältnismäßig langen Krankenhausaufenthaltes keine Chance hatte, die 1. Klasse „mit Erfolg“ abzuschließen. Aber einen Trost fand ich dennoch: Noch einmal winkte eine Zuckertüte.

Doch jetzt die ganze Geschichte …

Am Strüweweg hatte ein Kyritzer Landwirt zwei „riesige Strohberge“ aufgeschichtet. Und da waren mein Bruder, mein Freund Wolfgang und ich dann losgezogen, um sie auszuprobieren, „die bestimmt zehn Meter hohen Strohrutschbahnen“, wie wir die Strohberge in unserer übertriebenen Betrachtungsweise beurteilten

Einige Male war es gutgegangen, das Hinaufklettern, wie aber auch das waghalsige, jedoch „mächtigen Spaß machende“ Herunterrutschen. Die Trainingsjacke hatte ich ausgezogen und auch den wollenen Pullover darunter – so warm war es mir geworden während des Tobens hoch droben auf dem Schober und beim „Bergsteigen“ an den glatten Seiten, zumal auch die Sonne an diesem Herbsttag noch einmal mithalf, unsere Körper tüchtig zu erhitzen.

Doch dann das Verhängnis: Mein lauter „Aua“-Aufschrei wegen des stechenden Schmerzes in der Wade des linken Beines, nachdem ich an der Rückseite des Strohschobers heruntergerutscht und mit dem Bein in ein mit Stroh abgedecktes Pfluggestänge hineingeraten war.

Und weil ich danach nur noch jammerte und auch nicht mehr auftreten konnte, stand es für Wolfgang und meinen Bruder fest: „Wir nehmen dich abwechselnd ‚Huckepack‘, zu Doktor Müller müssen wir mit dir!“

Eine Woche später sah ich dann vor dem großen Fenster der Kinderstation des Kyritzer Krankenhauses die ersten Schneeflocken tanzen, nachdem Doktor Müller an dem Tag, als Wolfgang und mein Bruder mich bis in seine Praxis in der Bahnhofstraße geschleppt hatten, nur kopfschüttelnd gesagt hatte: „… das geht ambulant nicht zu machen, du musst sofort ins Krankenhaus.“ Und da halfen auf kein Jammern und kein Bitten; wenige Stunden danach lag ich schon in einem Krankenhausbett und schluchzte unentwegt.

Und so blickte ich auch wehmütig zum Fenster hinaus, aber auch auf mein in einem Streckverband aufgehängtes Bein, als der Stationsarzt, Dr. Laschinsky, an mein Bett trat und sagte: „So, mein Junge, die starke Erkältung und das Fieber scheinen jetzt abzuklingen, heute noch gibt’s einen Gipsverband.“

Die Adventszeit kam heran. Von der Decke des von Glaswänden umgebenen Krankenzimmers hing ein großer Adventskranz herab. Und abends, wenn es draußen schon dunkel geworden war, zündete Schwester Frieda, eine Diakonissen-Krankenschwester, eine Kerze auf dem Tisch an, auf dem ein Strauß aus Tannenzweigen seinen würzigen Duft verbreitete. Meistens trat sie dann auch an mein Bett heran, um mir über den störrischen Haarschopf zu streichen. Einmal sagte sie, indem sie sich zu mir herunterbeugte: „Musst nicht weinen, mein Kleiner, bald kommt wieder deine Mutti zur Besuchszeit, … und bis dahin hast du ja mich.“

Wenn der Chefarzt, Dr. Neu, und der Stationsarzt Dr. Laschinski zur Visite kamen, war Schwester Frieda immer dabei. Einige Pfefferkuchen hielt ich oftmals danach in meiner Hand. Und sonntags, ganz früh schon, sangen die Schwestern Weihnachtslieder.

Heiligabend. Schwester Frieda war schon früh an die Zimmertür gekommen und hatte mir lachend zugerufen: „Heute wirst du große Freude erleben, bevor noch in der Stadt die Glocken läuten.“

Ich konnte es kaum fassen, vor Freude liefen mir wieder die Tränen an den Wangen herunter. Der Gipsverband wurde von meinem Bein genommen. Aber die größte Freude war, dass Dr. Laschinski zu mir sagte: „Brauchst jetzt nicht mehr zu liegen, kannst mit einer Gehhilfe umher humpeln.“ Und von der Tür her meinte er noch, dass ich Glück gehabt hätte – „…erst die Erkältung und immer wieder das Fieber, trotz allem aber doch eine schnelle Heilung des Bruches. Wirst sehen, bald bist du wieder zu Hause.“

Und dann meine Überraschung für die Mutter, aber auch für meinen Vater, der extra meinetwegen Urlaub bekommen hatte von den Soldaten: Von Schwester Frieda gestützt humpelte ich ihnen auf dem Flur entgegen – glücklich, dass ich nun bald wieder nach Hause durfte. Als dann die Glocken zu läuten begannen vom Turm der St. Marienkirche und als ich dann ein großes Paket auspacken durfte im Schein der Kerzen eines Weihnachtsbaumes, den Schwester Frieda noch vor dem Mittagessen in der Fensterecke aufgestellt hatte, da jubelte es aus mir heraus: „Der Kaufmannsladen, den ich im Schaufenster bei Weißensee gesehen habe, ist es – danke, danke, danke!“

Silvester war ich wieder zu Hause. Bloß Vater war nicht mehr da. Mutter sagte aber: „Er kommt bestimmt bald für immer wieder nach Hause – die Stärkefabrik hat eine Freistellung erwirkt ‚Reklamierung‘ sagt man wohl dazu.“

Es dauerte nicht lange bis ich wieder ohne Stock laufen konnte. Und in die Schule brauchte ich vorerst auch nicht zu gehen, weil ich ja gleich nach Ostern wieder eine Zuckertüte bekommen sollte – erneut eingeschult in eine erste Klasse bei einem Lehrer Steinert.

Gestehen muss ich allerdings, dass ich das der Schwester Frieda gegebene Versprechen, „nie wieder auf einen Strohschober zu klettern, um von diesem herunterzurutschen“, nur schwerlich einhalten konnte. Zu groß war die Versuchung überall dort, wo auf den abgeernteten Feldern, an den Feldscheunen und auf dem Gelände des Häckselwerkes die Strohschober förmlich zum Toben herausforderten. In jedem Jahr aufs Neue.