Für Carsten, Elias,
Eleanor und Avery

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Umschlaggestaltung: Michael Beautemps

1. Auflage 2019

ISBN (Print): 978-3-8280-3483-9

ISBN (E-Book): 978-3-8280-3484-6

Printed in Germany

Inhalt

Meine Lieben!

Wie Ihr mir schreibt, habt Ihr schon seit einiger Zeit mit einem gewissen Erstaunen festgestellt, dass mich trotz meines schon ziemlich fortgeschrittenen Alters immer noch etwas zu beschäftigen scheint, was sich – nun über 70 Jahre zurückliegend – in Deutschland abspielte. Da ich zu jener Zeit noch ein Kind war, stehe ich nicht einmal im Verdacht, irgendwie aktiv an dem damaligen Geschehen beteiligt gewesen zu sein, sondern ich war höchstens ein kindlich Betroffener und ein kindlicher Zuschauer. Gemeint habt Ihr meine wiederholten Auslassungen über den sogenannten Zweiten Weltkrieg und die zusätzliche und willkürliche Tötung von Millionen von Menschen, von Zivilpersonen, die an dem Krieg nicht direkt oder sogar überhaupt nicht beteiligt waren. Bei nahezu jedem Besuch bei Euch – so meint Ihr jedenfalls – habe es nur eines kleinen Anstoßes bedurft, um mich auf dieses Thema zu führen, und dann sei ich auch nicht mehr so leicht davon abzubringen gewesen. Zum Teil hättet Ihr in der Vergangenheit dieses Verhalten – wie Ihr mir gesteht – mehr amüsiert zur Kenntnis genommen, doch seit Kurzem habe Euch dieses Thema – der Zweite Weltkrieg und der Holocaust – aufgrund von Unterhaltungen mit Altersgenossen mehr »in den Bann gezogen«. Nun möchtet Ihr nichts weniger von mir als eine schriftliche Darlegung meiner Ansichten zu diesem Thema, damit Ihr gleichsam eine Diskussionshilfe zur Verfügung habt, auf die Ihr gegebenenfalls zurückgreifen könnt.

Ich soll Euch also darlegen, wie ich persönlich die Ursachen jenes Krieges sehe und jener zusätzlich erfolgten Massenvernichtung von Menschen, vor allem Menschen jüdischen Glaubens. Einerseits legt Ihr Wert auf meine Ansicht aufgrund dessen, dass ich sozusagen ein »noch lebender Zeitzeuge« bin, andererseits aufgrund dessen, dass ich mir – wie Ihr meint – so einiges »angelesen« habe, auch wenn ich selbst kein Historiker bin. Natürlich verspüre ich eine gewisse Genugtuung hinsichtlich Eures nun erwachten Interesses, zumal Ihr im Gegensatz zu mir Euch unbelastet fühlen könnt von jeglicher Betroffenheit über das Geschehene und zumal Ihr zusätzlich in einer Gesellschaft mit einer langen demokratischen Tradition nicht nur aufgewachsen seid, sondern gleichsam in sie »hineingeboren« wurdet.

Obgleich Euer Anliegen eine ziemliche Herausforderung für mich bedeutet, komme ich diesem Anliegen nicht ganz ungern nach; zwingt es mich doch zu dem Versuch, mir selbst einmal schriftlich Klarheit über meine Gedanken zu den Ereignissen zu verschaffen und den möglichen Ursachen jener Katastrophen, Weltkrieg und Holocaust, und auch über die Gedanken, aus welchem menschlichen Verhalten heraus sich das Geschehen verstehen ließe. »Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke!«, soll die amerikanische Autorin Susan Sontag einmal gesagt haben. Das Gleiche könnte für mich gelten – ohne dass ich natürlich in Anspruch nehmen möchte, wie eine Susan Sontag zu schreiben.

Der Versuch, sich Klarheit darüber zu verschaffen, welches menschliche Verhalten letztlich zu den Ereignissen vor und während des Zweiten Weltkrieges in Deutschland führte und dann von Deutschland ausgehend in anderen Ländern Europas, hat natürlich auch Beziehung zu Euerm zweiten Anliegen: Ihr schreibt, dass zusätzlich die Frage unter Euch aufkam, ob sich derartige Ereignisse nicht doch irgendwann und irgendwie wiederholen könnten. Dies ist eine Frage, der ich in Deutschland schon seit meiner Schulzeit immer wieder begegnet bin zusammen mit der Frage, wie man einer Entwicklung wie jener vor 1933 in Deutschland rechtzeitig entgegenwirken könnte, als es damals zur Herrschaft einer einzigen Partei kam, deren Mitglieder sich als eine »Nationalsozialistische Bewegung« aufspielten. (Ein Name, den ich übrigens im Folgenden für diese Gruppierung beibehalten möchte.)

Die Frage, wie man einer derartigen Entwicklung in einem Land zukünftig rechtzeitig entgegentreten könnte, fand ich meistens dahin gehend beantwortet, dass es allein darauf ankäme, die Erinnerung an die Geschehnisse der damaligen Zeit aufrechtzuerhalten. Obgleich ich dieses ebenfalls als wichtig ansehe, denke ich doch, dass es nicht ausreichend ist, um eine Entwicklung zu Derartigem, wie es sich zwischen 1933 und 1945 in Deutschland zugetragen hat, von vornherein unterbinden zu können. Es ließe sich sogar behaupten – worauf ich an dieser Stelle nicht näher eingehen möchte –, dass sich Ähnliches seitdem schon wieder zugetragen hat, mit ähnlicher Absurdität, nur nicht in dem Ausmaß und mit der »Effizienz«, wie es damals unter der Herrschaft der »Nationalsozialistischen Bewegung« geschah. Ich möchte mir in diesem Zusammenhang die Worte des französischen Philosophen Paul Ricoeur zu eigen machen, der in einem Zeitungsinterview einmal sagte: »Ich möchte davor warnen, dass man sich Gedanken hingibt, durch bloß wiederholende Erinnerung könne man unterbinden, dass sich Gräuel wiederholen.« (1)

Wie Ihr sehen werdet, werde ich hier nicht auf die politischen Zusammenhänge eingehen, die unmittelbar zum Zweiten Weltkrieg führten und eben auch zu den Verbrechen der systematischen Vernichtung von Juden, Mitgliedern anderer Volksgruppen und von politischen Gegnern der »Nationalsozialistischen Bewegung«. Dieses alles könnt Ihr besser in historischen Abhandlungen nachlesen – falls Ihr dieses nicht schon getan habt. Ich bin auch der Meinung, dass in dem Bemühen, derartige Verbrechen in der Zukunft abzuwenden, es nicht so bedeutend ist aufzuzählen, was in der Zeit von 1933 bis 1945 diese oder jene »ermächtigte« Person an den großen und kleinen Schalthebeln im damaligen Deutschen Reich getan hat und wohin dieses letztlich führte. Entscheidend dürfte doch sein, wie eine derartige Gruppierung von Leuten wie die »Nationalsozialistische Bewegung« so bedeutsam werden konnte, dass sie die Regierung in einem Staat wie Deutschland übernehmen und diese »Machtübernahme« mehr und mehr in die Herrschaft eines einzelnen Mannes ausbauen konnte, der sich dann »Führer« nannte und als solcher bezeichnet werden musste. Rückblickend – so lässt sich wohl sagen – waren mit der sogenannten »Ermächtigung« 1933 schon sowohl Krieg wie auch Unterdrückung und Vernichtung anderer Menschen vorgezeichnet; denn Krieg und Unterdrückung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen sowie deren Ausgrenzung waren ein zentraler Bestandteil im Denken dieses »Führers« und seiner »Bewegung«.

Die von Euch gewünschte »Zusammenfassung meiner Gedanken« dürfte wohl erheblich umfangreicher ausgefallen sein, als Ihr sie Euch vorgestellt habt. Ich habe ihr den Titel »Über Irrationales« gegeben, da ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass sich mit dem Begriff »irrational« bestimmte Aussagen und Verhaltensweisen am besten charakterisieren lassen. Dabei möchte ich einerseits unter diesem Begriff etwas verstehen, was »mit dem Verstande nicht erfassbar« ist und sich deshalb nicht begreifen und beurteilen lässt, wie etwa eine Vorstellung von übernatürlichen Mächten. Anderseits sehe ich aber »irrational« vor allem gerade hier in dem zu besprechenden Zusammenhang auch als etwas, was »in sich selbst widersprüchlich« und »vernunftwidrig« ist. In irrationalen Ausdrucks- und Verhaltensweisen, in irrationalen Vorstellungen und in der anscheinend weit verbreiteten Bereitschaft, Irrationales in der Öffentlichkeit nicht nur zu dulden, sondern es – aus welchen Gründen auch immer – mehr oder weniger bereitwillig aufzunehmen und sich dabei einer vermeintlichen Mehrheit von Menschen anzupassen, würde ich letztlich die »Wurzel des Übels« sehen, welches in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in so verheerendem Maße über diese Welt kam. Jene besonderen absurden Vorstellungen der »Nationalsozialistischen Bewegung« und ihrer Vordenker sind zwar weitgehend mit dem Ende dieser »Bewegung« verschwunden, grundsätzlich jedoch scheint die Bereitschaft der Menschen, sich irrationalen Vorstellungen hinzugeben und sich denen anderer anzupassen, sich von ihnen leiten zu lassen und sie zu verbreiten, auch in den sogenannten »zivilisierten Staaten« ungebrochen zu sein.

Ich halte es deshalb für wichtig, mich im Folgenden nicht nur mit den Irrationalitäten der Zeit vor und während der Herrschaft der »Nationalsozialistischen Bewegung« auseinanderzusetzen, sondern jene Irrationalitäten zum Anlass zu nehmen, Euch allgemein auf Ungereimtheiten in unserem täglichen Leben hinzuweisen, wie sehr dieses weiterhin von irrationalen Verhaltens- und Denkweisen durchzogen ist, auch wenn sich die heutigen von den damaligen inhaltlich zu einem großen Teil unterscheiden mögen. Irrationale Vorstellungen und ein irrationales Verhalten mögen sich nur auf das Persönliche, Private beziehen – wie etwa religiöse Vorstellungen – und sie mögen keinerlei Auswirkung auf die Allgemeinheit haben und viele der irrationalen Äußerungen und Verhaltensweisen dürften belanglos und harmlos und eher erheiternd sein. Nicht selten aber wird wie selbstverständlich Allgemeingültigkeit für die eigenen irrationalen Vorstellungen verlangt und man fordert die Anerkennung solcher mehr oder weniger nachdrücklich von der Umgebung ein. Ich möchte Euch mithilfe verschiedener Beispiele auch aus »unserer Zeit« – harmlosen und nicht so harmlosen – gewissermaßen sensibilisieren und Euch darauf aufmerksam machen, wie vor allem in unserer Umgangssprache immer wieder irrationale Ausdrucksweisen verwendet werden. Häufig natürlich, wenn es um die Verkündung politischer Vorstellungen oder religiöser Überzeugungen geht, die man der Öffentlichkeit »unbedingt« mitteilen muss. Doch auch in mehr allgemeinen Meldungen und Berichten stößt man immer wieder auf Ungereimtheiten. Bei genauem Hinhören oder Hinsehen könnt Ihr bei Unterhaltungen, in Zeitungen, in Rundfunk und Fernsehen – vom Internet ganz zu schweigen – nahezu täglich diese Erfahrung machen. In der Regel scheint niemand daran Anstoß zu nehmen, und solche Äußerungen bleiben unwidersprochen. Aber lässt sich nicht fragen, ob nicht schon anscheinend mehr harmlose irrationale Formulierungen und Behauptungen unser kritisches Denken korrumpieren? Ob sie nicht eine innere Bereitschaft fördern, auch solche Irrationalitäten zu dulden oder sogar bereitwillig aufzunehmen, die dann nicht mehr so harmlos sind und mehr von der Art, wie sie so folgenschwer von der »Nationalsozialistischen Bewegung« verbreitet wurden? »Bleibe nüchtern und vergiss nicht, skeptisch zu sein!«, rief Mitte des 18. Jahrhunderts der schottische Philosoph David Hume seinen Zeitgenossen zu. Wenn Ihr weite Teile meines Briefes gelesen habt, mögt Ihr Euch die Frage selbst beantworten, wie sehr diese Worte Humes in der Allgemeinheit bisher Berücksichtigung gefunden haben, nicht nur vor, sondern auch nach der Zäsur, die der »Führer« und seine »Nationalsozialistische Bewegung« mit Krieg und industriell effizientem Morden im kollektiven Bewusstsein der Nachwelt hinterlassen haben oder wenigstens hinterlassen haben sollten.

***

Ich habe diesem Schreiben eine Literaturliste angehängt, falls Ihr über die eine oder andere Verhaltens- und sprachliche Ausdrucksweise, die ich als irrational anführe, Näheres nachlesen möchtet. Ich möchte hier aber gleich hinzufügen, dass diese Liste wohl nicht vollständig ist. Von vielem Irrationalen, dem ich so in der Vergangenheit begegnet bin, habe ich mir nur eine kurze Notiz gemacht ohne einen genauen Vermerk hinsichtlich des Autors oder des genauen Datums, an dem ich eine bestimmte Aussage vernommen oder gelesen hatte. Das gilt besonders für solche Irrationalitäten, die ich zufällig im Laufe von Vorträgen, im Radio oder im Fernsehen hörte. Ich glaube, im Allgemeinen ist das auch nicht so wichtig, und es kommt mir auch nicht darauf an, in jedem Fall »mit dem Finger auf jemanden zeigen« zu können, weil der Betreffende eine eigentlich irrationale Aussage gemacht hat.

Irrationale Vorstellungen und irrationale Sprache

Irrationales von der mehr heitereren Seite

Bevor ich auf die meiner Meinung nach nicht so harmlosen Irrationalitäten zu sprechen komme und auf die, welche sich in der Vergangenheit als folgenschwer erwiesen haben, möchte ich – sozusagen als Einführung – mit einigen Irrationalitäten menschlicher Denk- und Verhaltensweisen beginnen, die Ihr wohl eher amüsant finden dürftet. Michael Shermer hat in seinem Buch »The Believing Brain« einige solcher Beispiele erwähnt (2), die auch zeigen, was für gefühlsbetonte Wesen wir Menschen doch sind und wie sehr uns diese Gefühle vielfach davon abhalten, vernünftige, also rationale, Entscheidungen zu treffen. So berichtet Michael Shermer über Versuche des Psychologen Bruce Hood, in denen dieser einer Gruppe von Erwachsenen Bilder von Personen vorlegte, die neben anderen Besonderheiten auch nach Attraktivität beurteilt werden sollten. Danach sollte man bewerten, wie bereitwillig man wäre, von den zu beurteilenden Personen ein Herztransplantat zu erhalten, sollte man eines benötigen. Nach dieser Bewertung wurde den Urteilenden mitgeteilt, dass die Hälfte der auf den Bildern dargestellten Personen verurteilte Mörder seien, und es wurde danach eine erneute Bewertung durchgeführt. Bei dieser fiel dann die Attraktivität der Abgebildeten nicht mehr so hoch aus, aber vor allen Dingen nahm die Bereitschaft ab, von einer dieser Personen ein Herztransplantat zu empfangen. Man muss wohl das Empfinden gehabt haben, es könnten einem mit dem Herzgewebe so etwas wie Anteile einer mörderischen Gesinnung übertragen werden, und offensichtlich glaubt auch allgemein ein Drittel der wirklichen Tranplantationspatienten, wie Michael Shermer in diesem Zusammenhang berichtet, dass ihnen mit einem fremden Organ ebenfalls des Donors Wesen mit eingepflanzt wird.

Übertroffen wird diese Art von doch leicht absurdem Denken wohl nur noch durch die Ergebnisse einer anderen Untersuchung von Bruce Hood, die ergab, dass die Mehrzahl von befragten Personen angewidert den Gedanken von sich wies, jemals den Pullover eines Mörders tragen zu können, als ob hier sogar an dem Material eines Pullovers nach Waschen oder sonstiger Reinigung etwas von der Gesinnung und dem Wesen seines früheren Trägers hängen geblieben sein könnte.

Ein erheiterndes Beispiel menschlicher Irrationalität dürfte auch der »Juliakult« in der italienischen Stadt Verona sein, auf den ich an einer anderen Stelle stieß. (3) An die 5.000 Menschen – offensichtlich aus der ganzen Welt – sollen jährlich Briefe an Julia schreiben, jene Gestalt, die angeblich Luigi da Porto Anfang des 16. Jahrhunderts ersann (wohlgemerkt: ersann!), die Shakespeare mit seinem Drama »Romeo und Julia« dann weltberühmt und somit »unsterblich« machte. Julia ist also eine erfundene Gestalt, die – sofern es überhaupt eine ihr ähnliche Person gegeben hat – seit Jahrhunderten tot sein müsste. Was treibt aber nun Menschen an, und keineswegs nur Menschen jüngeren Alters, Briefe an eine nicht existente Person zu schreiben, adressiert an »Julia, Verona, Italia«, um dann einen Antwortbrief zu erhalten, von jemandem aus einer Gruppe ehrenamtlich tätiger Veroneserinnen, die alle mit »Sekretärin von Julia« unterschreiben?

Wenn auch der erste Drang, einen Brief an Julia zu schreiben, sich als eine momentane Intuition verstehen ließe, dass man in einem Gefühl von »Liebesglück« – oder wie zu lesen ist: sogar häufiger von »Liebesschmerz« – sich einem anderen Menschen gegenüber äußern möchte, so ist doch von außen betrachtet die ganze Ausführung einer solchen Maßnahme wie die des Briefschreibens in diesem Zusammenhang schwer nachvollziehbar. Man muss sein kritisch-analytisches Denken abgeschaltet haben – oder zumindest bestimmte Bereiche dieses Denkens; denn das Formulieren von Sätzen verlangt doch zumindest eine gewisse intellektuelle Leistung. Ob die Antworten der »Sekretärinnen von Julia« dann unter den ursprünglichen Briefschreibern die »Glücklichen« in ihrem Glücksgefühl stärken und die »Unglücklichen« trösten können, wenn die »Glücklichen« wie auch »Unglücklichen« sich letztlich bewusst werden, dass dies alles mit Wirklichkeit nichts zu tun hat? – Im Übrigen befestigt man auch Zettel mit Nachrichten an Julia an die Juliastatue in Verona, offensichtlich ähnlich wie Gläubige in Jerusalem Zettel in die Ritzen der Klagemauer stecken, welche dann wohl für den Gott der Gläubigen zum Lesen bestimmt sein sollen. Ein wenig erinnert das Ganze an das Briefscheiben kleiner Kinder an den Nikolaus oder Weihnachtsmann, wobei man hier davon ausgehen kann, dass sich trotz der schon vorhandenen Fähigkeit zu schreiben ein analytisch-kritisches Denken noch nicht entwickelt hat.

Manches irrationale Verhalten und manche irrationalen Vorstellungen – und nicht nur religiöse – reichen bis in die Antike zurück und konnten von einer zunehmend wissenschaftlichen Einstellung der Gesellschaft offenbar nicht in nennenswerter Weise zurückgedrängt werden. Zum einen sind das die »alternativen Heilmethoden« – oder angebliche Heilmethoden; Methoden, für die es keinerlei wissenschaftlich nachprüfbare Begründung gibt. Zum anderen erfreut sich die Astrologie einer anscheinend ungebrochenen Popularität. In Zeitungen und Zeitschriften – in Letzteren vielleicht sogar als Sonderbeilage (4) – und natürlich auch in den Internetnachrichten finden sich regelmäßig Horoskope und Artikel über bekannte Leute im Hinblick auf die Sternzeichen, unter denen diese geboren wurden. (Wäre nicht eigentlich die Stellung der Sterne zum Zeitpunkt ihrer Zeugung wichtiger für die spätere Laufbahn?) Man kann auch allgemein gehaltene Artikel über das Thema Astrologie finden, wie etwa »Die erogenen Zonen der Sternzeichen«. (5) Offensichtlich werden solche astrologischen Artikel wie auch Horoskope von vielen Menschen mit Begeisterung aufgenommen, sonst würden sie wohl nicht mit einer derartigen Regelmäßigkeit veröffentlicht werden. Bemerkenswert fand ich auch zu lesen, dass gemäß Konrad Heiden, einem bekannten Journalisten und Gegner des späteren »Führers« in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland, ein Überhandnehmen der Astrologie und Wahrsagerei in jener Zeit zu beobachten war. (6)

Manchmal ist man überrascht zu erfahren, dass offensichtlich intelligente Leute, deren Denkleistung allgemein bewundert wird, sich andererseits als Anhänger irrationaler Ansichten herausstellen. So hat ein berühmter Computerspezialist und Firmengründer seinen Bauchspeicheldrüsenkrebs so lange »alternativmedizinisch« behandelt, bis die operative Behandlung zu spät kam (7) und der Tumor offensichtlich schon Tochtergeschwülste gebildet hatte. Dabei ist die Heilungsrate bei der Art des betreffenden Tumors, einem Insulinom, relativ hoch, sofern der Tumor nach seiner Feststellung schnellstmöglich chirurgisch entfernt wird. – Ich möchte hier jedoch ergänzend hinzufügen, dass ich eine Behandlung, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nicht bewiesen ist, nicht grundsätzlich ablehnen würde, solange sie nicht zu einem zusätzlichen Schaden des Patienten führt und eine als erfolgreich erwiesene Therapie verzögert oder sofern es keine andere Behandlungsmöglichkeit gibt oder eine erwiesene Behandlungsmethode nicht eingesetzt werden kann aufgrund einer zusätzlichen Erkrankung des Patienten. Dass »alternative Heilmethoden« – und dazu rechne ich auch die traditionelle chinesische Medizin – in anderer Hinsicht ebenfalls nicht ganz harmlos sind, zeigt das Schicksal des afrikanischen Nashorns. Irgendwie muss die Stellung des Horns über dem Maul des Nashorns alternde Männer im Osten und Südosten Asiens zum Träumen angeregt haben, und so setzte sich in der traditionellen chinesischen Medizin der Glaube fest, dass das Pulver dieses Horns der mit dem Altern nachlassenden männlichen sexuellen Potenz entgegenwirken würde. Diese Illusion hat inzwischen dazu geführt, dass ein Kilogramm Nashornpulver mehr kostet als ein Kilogramm Gold und das Nashorn auf dem afrikanischen Kontinent weitgehend ausgerottet wurde. (8)

Wenn schon dieses Beispiel irrationalen Denkens wegen seines Auswirkens auf den Bestand der afrikanischen Nashörner von einer weniger heiteren Seite ist, so dürfte Euch das nächste Beispiel trotz einer auch leicht erheiternden Note vielleicht noch mehr Grund zum Nachdenken geben hinsichtlich menschlichen Verhaltens, wenn Anschauungen übernommen werden, die eigentlich der eigenen bisherigen Einstellung oder sogar der eigenen Wahrnehmung widersprechen. Wenn Ihr heute den Kopf schüttelt nicht nur über die absonderlichen und eben irrationalen Vorstellungen in Deutschland vor und während der Herrschaft der »Nationalsozialistischen Bewegung« und Euch vor allem wundert, weshalb diese Vorstellungen eine derartige Verbreitung finden konnten, so mag zu einem großen Teil jenes menschliche Bestreben eine Rolle gespielt haben, sich der Gemeinschaft anzupassen, der man sich zurechnet, und der Gruppe von Menschen, in der man sich gerade befindet; mit diesen Menschen in Übereinstimmung zu sein, mit ihnen konform zu sein: Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts hatte man bei entsprechenden Untersuchungen in der Sozialpsychologie festgestellt, dass viele Menschen offensichtlich bereitwillig ihre Meinung änderten, wenn sie hörten, dass eine Mehrheit von Leuten oder bestimmte »Autoritäten« anderer Meinung waren. Man beobachtete sogar, dass dieser Meinungswechsel sich auch vollziehen konnte, ohne dass irgendein neues Argument geliefert worden war. Anscheinend aber blieben derartige Untersuchungen weitgehend unbeachtet und mir ist nicht bekannt, ob die Ergebnisse jemals ein mehr öffentliches Nachdenken, geschweige denn eine breitere Diskussion ausgelöst hätten. In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurden diese Untersuchungen von Solomon Asch aufgegriffen und ihm gelang es als Erstem, sie in gewisser Weise zu quantifizieren. (9)

Solomon Asch zeigte College-Studenten zwei Karten mit Linien. Auf der einen Karte war eine einzelne dunkle Linie abgebildet, auf der anderen drei dunkle Linien verschiedener Länge. Die Versuchsperson sollte nun sagen, welche der drei Linien auf der zweiten Karte die gleiche Länge hatte wie die einzelne Linie auf der ersten Karte. Während bei alleiniger Befragung weniger als 1 % der Versuchspersonen eine falsche Linie nannte, konnte sich dieses Fehlurteil in unterschiedlichem Maße bis auf 75 % der Versuchspersonen steigern (durchschnittlich lag der Anteil bei etwa 36 %), wenn die Versuchsperson sich in einer Gruppe von mehr als drei weiteren Personen befand, die zuvor vom Versuchsleiter und ohne Wissen der Versuchsperson dazu angeleitet worden war, ein falsche Linie auf der zweiten Karte als gleichlang mit der Linie auf der ersten Karte zu benennen. Nur eben 25 % der Versuchspersonen in dieser Studie ließen sich nie von der Meinung der Mehrheit beeinflussen und ordneten die richtigen Linien einander zu.

Man darf aus diesen Ergebnissen den Schluss ziehen, dass – wie auch Solomon Asch es ausgedrückt hat – der Hang zur Konformität so stark ist, dass sogar intelligente und gutwillige junge Menschen (wie in seiner Untersuchung eben College-Studenten) bereit sind, »weiß« gegebenenfalls als »schwarz« zu bezeichnen.

Ein derartiger Hang zur Konformität, wie er sich in den Versuchsergebnissen von Solomon Asch zeigt, dürfte wohl auch die »Nationalsozialistische Bewegung« vor der »Machtübernahme« in Deutschland und vielleicht auch noch während der Konsolidierungsphase der Macht, den Jahren 1933/34, begünstigt haben. Viele von denen, die sich in jener Zeit von der »Größe« dieser »Bewegung« »überzeugen« ließen, waren wohl nicht nur von der »Sprachgewalt« des »Führers« beeindruckt, sondern wurden sicherlich auch davon beeinflusst, dass die eine oder andere Person in gesellschaftlich gehobener Stellung oder sogar der persönliche Vorgesetzte sich positiv über die »Völkische Bewegung« und deren »Führer« äußerte. Und im Falle des Vorgesetzten muss es auch nicht immer nur Opportunismus gewesen sein, wenn man sich als Untergeordneter der Meinung des Übergeordneten anschloss.

Rassenlehre und Antisemitismus

Außer einem uns heute als überzogen erscheinenden Nationalismus mit seinem »Deutschland zuerst« war die Rassenlehre eines der zentralen Anliegen der »Nationalsozialistischen Bewegung«. Diese Lehre startete vor etwa 250 bis 300 Jahren und zunächst wohl einfach nur als eine Theorie über »menschliche Rassen« und anfangs aus einem vielleicht gänzlich vorurteilsfreien Bedürfnis heraus, die Menschen – ähnlich wie Tiere und Pflanzen – auf der Basis ihres körperlichen Erscheinungsbildes zu systematisieren. Man hielt sich dabei verständlicherweise an bestimmte äußerliche Merkmale. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal war natürlich die Hautfarbe, mit der man Menschen im Wesentlichen drei Gruppen zuordnen zu können glaubte: Weiß, Schwarz und Gelb. Des Weiteren spielten Haar-, Nasen- und Schädelform bei den Klassifizierungsversuchen eine Rolle. Bei dem letzten Merkmal ging es darum, ob jemand lang- oder kurzschädelig war. Die einzelnen »Rassenforscher« gelangten bei der angestrebten Systematisierung der angeblichen Rassen erwartungsgemäß – würde man heute wohl sagen – zu unterschiedlichen Ergebnissen, was die Zahl menschlicher Rassen betraf. Das allein hätte schon darauf hinweisen müssen, dass sich keine klaren Grenzen zwischen den angeblichen Rassen ziehen ließen und dass eine exakte Systematisierung eigentlich ein nutzloses Unterfangen war. Man hatte eine Anzahl typischer Vertreter für jede Rasse – wie Ihr sie vielleicht schon in fotografischen Zusammenstellungen früherer Jahre gesehen habt –, doch die Mehrheit der Menschen ließ sich erwartungsgemäß einfach nicht mit Bestimmtheit der einen oder anderen Rasse zuordnen. Der französische Anthropologe Paul Topinard hat dieses Problem schon in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts folgendermaßen ausgedrückt: »Die Rasse ist eine Abstraktion, eine Kontinuität in der Diskontinuität, eine Einheit in der Mannigfaltigkeit. Rassen existieren; wenn man gedanklich alle Kreuzungen ausschließt, sieht man sie als Folge kollektiver Vererbung mit all ihren anatomischen und physiologischen Merkmalen erscheinen, aber nirgends sind sie wirklich greifbar.« (10) Andere Rassenforscher räumten ebenfalls ein, dass es im Grunde nur Mischrassen gäbe.

Hatten die Beschreibungen von Rassen wohl anfänglich noch vorwiegend den Anschein von Wissenschaftlichkeit, da sie sich auf äußere objektive Merkmale bezogen, so änderte sich dieses bald, als man mit bestimmten Rassen bestimmte charakterliche Eigenschaften und geistige Fähigkeiten verbinden wollte. Dieses Bestreben spiegelt sich beispielsweise in der Definition von »Rasse« wider, die Hans F. K. Günther, ein zu seiner Zeit bekannter Rassentheoretiker, in seinem Buch »Die Rassenkunde des deutschen Volkes«, das 1922 erstmals erschien, so formulierte: »Eine Rasse stellt sich dar in einer Menschengruppe, die sich durch die ihr eigene Vereinigung körperlicher und seelischer [sic!] Eigenschaften von jeder anderen Menschengruppe unterscheidet und immer wieder nur ihresgleichen zeugt.« (11)

Ist es nach unserer heutigen Ansicht – und wie sie es bereits vor Günther die des zuvor erwähnten Topinard war – praktisch schon unmöglich, nach äußeren anatomischen Eigenschaften die Mehrheit der Menschen bestimmten Rassen zuzuordnen vor allem wegen des unterschiedlichen Auftretens der zu beurteilenden Merkmale, so scheint eine darüber hinausgehende Zuordnung von charakterlichen (»seelischen«) Eigenschaften zu bestimmten Rassen geradezu grotesk – oder eben irrational. Wie will man etwa Eigenschaften wie »Urteilsfähigkeit, Wahrhaftigkeit und Tatkraft« messen – nach Günther »Kerneigenschaften des nordischen Menschen« – und danach entsprechend festlegen, wer mehr und wer weniger davon besitzt? (12) Die sprachlichen Begriffe, die man zur Beschreibung eines Charakters oder eines Seelenzustandes verwendet, lassen sich – jedenfalls bis jetzt – nicht auf irgendwelche anatomischen oder physiologischen Verhältnisse in einem menschlichen Organismus zurückführen. Im täglichen Umgang miteinander sind wir aber auf solche Begriffe angewiesen. Irgendwie müssen wir uns über bestimmte Gemütszustände von uns selbst oder von anderen verständigen können. Wie schwierig wird es jedoch in besonderen Fällen, wie etwa wenn in Gerichtsverhandlungen objektiv und neutral über die geistige Zurechnungsfähigkeit eines Angeklagten geurteilt werden soll?

Die früheren Beschreibungen der geistigen und charakterlichen Eigenschaften der einzelnen (angeblichen) menschlichen Rassen erinnern lebhaft an die Klassifizierungen der angeblichen Charaktereigenschaften von Menschen gemäß den astrologischen Sternenzeichen, unter denen sie geboren wurden und nach denen sie sich entsprechend unterscheiden sollen. In beiden Klassifizierungen, der astrologischen wie auch der nach Rassen, wird mit vieldeutigen Begriffen gearbeitet, dass ein Großteil der Einzelbeschreibungen untereinander austauschbar erscheint; dennoch bestanden früher viele Rassentheoretiker – wie auch weiterhin die Astrologen – auf der »Wissenschaftlichkeit« ihrer Klassifizierungen, selbst wenn man in Deutschland von der Periode 1933 bis 1945 absieht, in der es nur bedingt eine freie Wissenschaft gab. So schrieb Hans F. K. Günther in seinem schon zitierten Buch »Die Rassenkunde des deutschen Volkes« in dem Kapitel »Die seelischen [!] Eigenschaften der nordischen Rasse«: »Wären die Menschenrassen ungleich nur in Bezug auf ihre leiblichen Erbanlagen, so käme ja der Betrachtung rassischer Erscheinungen eine viel geringere Bedeutung zu.« (13) – Man könnte hinzufügen: »Wie wahr! Wie wahr!« Doch eine Hinzudichtung von Unterschieden in geistigen Eigenschaften wertet diese »Lehre« nicht auf. (Zu Hans F. K. Günther lässt sich vielleicht hier zusätzlich vermerken, dass er 1930 – also noch vor der »Machtübernahme« in Deutschland durch die »Nationalsozialistische Bewegung« – an die Universität Jena auf den ersten Lehrstuhl für Rassenkunde in Deutschland berufen wurde.)

Doch selbst mit einer Klassifizierung nach geistigen und charakterlichen Eigenschaften gaben sich viele der Rassentheoretiker nicht zufrieden. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts und offensichtlich gefördert durch die teilweise Verschmelzung der Rassentheorie mit dem Nationalismus gewinnt eine Bewertung der Rassen nach den angeblich vorhandenen oder nicht vorhandenen charakterlichen und geistigen Eigenschaften zunehmend Anhänger. Rassentheorie wurde damit noch mehr zu einer »Rassenideologie«, bei der eine Wissenschaftlichkeit nur dann gefragt war, wenn sie die vorher gefasste Meinung stützte. Man glaubte, wie der Historiker Fritz Stern schreibt, »mehr oder weniger buchstäblich, dass die Rasse Charakter und Geschichte entscheidend bestimme.« (14) Es entwickelte sich ein Rassismus, welcher zur Ausgrenzung sogenannter »minderwertiger Rassen« aufrief. Dabei verwundert es nicht, dass die Rassenideologen diejenige Rasse als die wertvollste ansahen, der sie sich selbst zugehörig fühlten. In der Regel war dieses die sogenannte »nordische Rasse«, die man auch als »Arier« bezeichnete, ein Begriff, der von den Sprachforschern übernommen worden war und unter dem diese eine Reihe verwandter Sprachen zusammengefasst hatten. Es schien bei der Übernahme des Begriffes »Arier« keineswegs zu stören, dass die Volksgruppen, bei denen eine arische Sprache gesprochen wurde, nach den Kriterien der Rassentheoretiker durchaus verschiedenen Rassen angehören mussten. In etwa gleichbedeutend mit dem Begriff »Arier« redeten in entsprechenden Zusammenhängen die Rassentheoretiker in Deutschland einfach von »Germanen« und in England von »Sachsen«. Im letzteren Fall bezogen sich die »Forscher« – wie Euch vielleicht geläufig ist – auf jenen Germanenstamm, der sich zusammen mit dem Stamm der Angeln im 4./5.Jahrhundert unserer Zeitrechnung auf der Britischen Insel niedergelassen hatte. In der Folge dieses Denkens setzte man dann zunehmend »Rasse« mit »Volk« gleich (15). In Deutschland traten somit bald solche Rassentheoretiker auf, die unverblümt die »Deutschen« an die Spitze der Wertetabelle stellten, sozusagen als die »absolute Spitze« der an und für sich schon »wertvollsten« »nordischen« oder »Germanen-Rasse«. Wurde einer solchen Beurteilung dann noch von einem gebürtigen Nichtdeutschen oder einem Mitglied einer als minderwertig eingestuften Rasse beigepflichtet (16) – aus welchen Gründen auch immer –, dann erhielt eine derartige Vorstellung damit offensichtlich den Stempel der Tatsächlichkeit, d. h., eine derartige Meinung gewann in den Augen vieler die Aussagekraft eines Naturgesetzes und entsprechend häufig wurde auf die Aussage des Nichtdeutschen hingewiesen. Vermutlich geschah das dann noch mit der zusätzlichen Bemerkung: »Wenn der schon sagt, dass …«

Hatte man in der »Rassenforschung« mit der Zuordnung geistiger und charakterlicher Eigenschaften und deren Bewertung bereits den Boden der Rationalität weitestgehend verlassen, so verstärkte sich diese Tendenz dadurch, dass man zur Unterscheidung der Rassen noch ein ästhetisches Kriterium hinzuzog, nämlich die Schönheit. Für die Anhänger der Rassenlehre zeigte sich natürlich auch hier ganz klar, dass die »nordische Rasse« mit ihren großen, blonden, blauäugigen und langschädeligen Exemplaren die schönsten Menschen hervorgebracht hatte.

Weiterhin gesteigert wurde diese Absurdität innerhalb der »Rassenbewegung« mit dem zuvor schon erwähnten Bezug auf eine »Seele« durch die Einführung des Begriffes »Rassenseele«. Da die Rassenideologen feststellten, dass – wie der Historiker George Mosse schreibt – »nicht alle Deutschen so aussahen, wie es sich für einen Arier gehörte, war es wohl am besten, sich auf die Rassenseele zurückzuziehen, die sie ja alle teilten«. (17) Die »großartigen« charakterlichen Eigenschaften traten angeblich besonders bei Reinrassigkeit deutlich hervor. Man definierte offensichtlich Rasse einmal nach bestimmten äußeren Eigenschaften, dann aber auch andererseits wieder nach gewissen charakterlichen Eigenschaften, die man für besonders wertvoll hielt. Jede Mischrassigkeit bedeutete in den Augen dieser Rassenideologen einen Abstieg. Man war sich der Mischrassigkeit des eigenen Volkes durchaus bewusst und sah es durch eine kontinuierliche Mischrassigkeit in geradezu hysterischer Weise dem angeblichen Untergang geweiht. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts sann man nach Methoden, die Reinrassigkeit der »arischen Rasse« zu fördern, was auch die Versklavung und Vernichtung der als minderwertig erachteten Rassen mit einschloss. (18) Mittels Methoden, die man dann offensichtlich zwischen 1933 und 1945 in Deutschland gefunden zu haben glaubte.

Wie bedeutsam die »Rassenseele« für die Rassenzugehörigkeit sein sollte, geht wohl aus den Worten Houston Stewart Chamberlains hervor, einem der vielleicht prominentesten Vertreter einer Rassenideologie: »Unmittelbar überzeugend wie nichts anderes ist der Besitz der ›Rasse‹ im eigenen Bewusstsein. Wer einer ausgesprochen reinen Rasse angehört, empfindet es täglich.« (19) Einer der führenden Vertreter der »Nationalsozialistischen Bewegung« sprach auch von der Rasse als der »mystischen Synthese von Blut und Boden, von Leib und Seele« (20). Von Wissenschaftlichkeit, die von Rassentheoretikern doch gern in Anspruch genommen wurde, kann bei derartigen Äußerungen wohl keine Rede sein. Chamberlain ging bei seiner Art des Fantasierens so weit, dass er – nach Mosse – Jesus Christus zu einem Arier erklärte; denn Christi Anlagen würden eine arische Seele enthüllen, da er Liebe, Mitleid und Ehre verkörpere und Juden auch niemals in Galiläa gesiedelt hätten, jenem Gebiet, in dem nach neutestamentarischer Überlieferung Jesus geboren wurde. (21)

Der erstaunliche Gedanke, dass Jesus kein Jude gewesen sein soll, führt in gewisser Weise zum Kernpunkt der Rassenideologie der »Nationalsozialistischen Bewegung«, dass nämlich Juden eine besondere Rasse verkörpern würden, die gleichsam eine »Gegenrasse« zur »arischen Rasse« sei, und dass Juden darauf bedacht seien, die »arische Rasse« zu vernichten. Die Vorstellung von einer »jüdischen Rasse« war wohl in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts entstanden durch die Verschmelzung von Rassentheorie und dem sich ausbreitenden Antisemitismus. Nach einigen Autoren zu urteilen (z. B. 22) wählte man den Begriff »Antisemitismus« bewusst, um der Ablehnung der Juden eine mehr wissenschaftliche Note zu verleihen, obgleich der Begriff »Semiten« sich auf Sprecher einer bestimmten Sprachgruppe bezieht, die nach den gängigen anatomischen Kriterien verschiedenen Rassen angehören können, wie dieses ebenfalls bei der Sprachgruppe der »Arier« der Fall ist. Es half nichts, dass der damals bekannte Sprachforscher Friedrich Max Müller spöttisch bemerkte, von einer »arischen« und einer »semitischen Rasse« zu sprechen sei genauso unsinnig, als würde man von einem »langschädeligen Wörterbuch« und einer »kurzschädeligen Grammatik« reden. (23) Der Begriff »Antisemitismus« setzte sich fest und blieb – wie Ihr wisst – bis heute die Bezeichnung für einen Antijudaismus.

Jüdische Intellektuelle und Gelehrte hielten sich in der Rassendebatte weitgehend zurück. Verständlicherweise, könnte man sagen, da erstens die Lehre von den Rassen wenig Wissenschaftlichkeit besaß und zweitens mit ihrer Hilfe Juden als minderwertig hingestellt und damit ausgegrenzt werden sollten. Es gab aber nach Mosse nicht wenige prominente Juden in Europa, die wie die Antisemiten an die Existenz einer »jüdischen Rasse« glaubten. Mosse zitiert den langjährigen Premierminister von Großbritannien Benjamin Disraeli, der gesagt haben soll: »Alles ist Rasse, eine andere Wahrheit gibt es nicht.« (24) In Deutschland veröffentlichte ein Autor mit Namen Max Besser 1911 im Jüdischen Verlag einen Aufsatz, in dem er von »nun einmal nicht hinwegzudisputierenden Unterschieden zwischen Juden und der Bevölkerung ihrer Umgebung« schrieb. (25) An welche Unterschiede er dachte, verriet er dabei nicht. Er kritisierte jedoch seine Glaubensbrüder, da sie angeblich eine »Vogel-Strauß-Politik« gegenüber den europäischen Rassentheoretikern betrieben und nicht unterschieden »zwischen der wohlbegründeten naturwissenschaftlichen Betrachtung der Rassenfrage und den phantastischen Übertreibungen der Rassentheoretiker«. Obgleich Besser eben auch eine »jüdische Rasse« sah, wendete er sich verständlicher- und berechtigterweise dagegen, Juden als Angehörige einer minderwertigen Rasse darzustellen. Aus unserer heutigen Sicht würde man sagen, dass Bessers Glaubensbrüder durchaus recht hatten, wenn sie sich aus der ganzen absurden Debatte heraushielten und stattdessen – wie Besser bedauernd ausführt – »alle Rassenwissenschaft für Humbug und Schwindel erklärten«.

Es gibt wohl gewisse körperliche Merkmale, die bei Juden häufiger zu finden sein mögen als in der übrigen europäischen Bevölkerung in ihrer Umgebung. Jedoch nicht in der Weise, dass man einen jeden Juden von einem jeden Nichtjuden unterscheiden könnte. In den Siebziger- und Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts führte der bekannte Arzt und Wissenschaftler Rudolf Virchow im Auftrag der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft an mehr als 6,7 Millionen Schulkindern eine Untersuchung durch, bei der Lehrer auf Fragebögen Auskunft gaben über Augen-, Haar- und Hautfarbe der Kinder. (Ursprünglich gewünschte Schädelmessungen wurden – wie Mosse berichtet – nicht so ernst genommen. Interessanterweise verweigerte auch die Hansestadt Hamburg die Mitarbeit; denn nach ihrer Ansicht verstieß die Untersuchung gegen die persönliche Freiheit.) (26) Nach den 1886 veröffentlichten Ergebnissen zu urteilen ergab die Untersuchung lediglich, dass es unter den christlichen gegenüber den jüdischen Kindern einen höheren Anteil an blondhaarigen gab, während man unter den jüdischen Kindern einen höheren Anteil an dunkel- und schwarzhaarigen feststellte. Der Anteil der Mischtypen machte bei beiden Gruppen ungefähr die Hälfte aus. Virchow urteilte aufgrund dieser Untersuchung, dass die Juden ein Volk, aber keine Rasse seien. (27)

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