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Arne Burchartz, Diplom-Pädagoge und Theologe, ist Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut mit eigener Praxis, Dozent und Supervisor am Psychoanalytischen Institut Stuttgart, am Würzburger Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie und an der Süddeutschen Akademie für Psychotherapie sowie KBV-Gutachter.

Arne Burchartz

Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen

Psychodynamisch verstehen und behandeln

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032037-6

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-032038-3

epub:      ISBN 978-3-17-032039-0

mobi:      ISBN 978-3-17-032040-6

Geleitwort von Frank Dammasch Es gibt kein Trauma außerhalb der Omnipotenz

 

Ein Ursprung der Psychoanalyse liegt im Verstehen und Behandeln von Patienten, deren psychische Integrität früh durch übergriffige, traumatische Beziehungserfahrungen gestört wurde. Sigmund Freuds Erkenntnis, dass seine Patientinnen im Kern an den Erinnerungsspuren früher sexueller Überstimulationen ihres Körpers und ihrer Seele leiden, brachte ihn zur Entwicklung der analytischen »talking cure«, die in der Aufdeckung bisher unerkannter Reminiszenzen bestand. Betonte er zunächst die große Bedeutung der familiären Außenwelt für die Entwicklung des Kindes, so fügte er später die Bedeutung der Innenwelt und ihrer Phantasien hinzu. Aus der Psychoanalyse als detektivischer Ereignisanalyse wurde eine hermeneutisch szenische Erlebnisanalyse. Die Aufdeckung der objektiv zu erfassenden Erfahrungen wurde abgelöst durch die interaktive Erkundung der inneren Erlebniswelt. Dieser Paradigmenwechsel basierte auf der auch durch die Selbstanalyse erwachsenen Erkenntnis, dass die Seele sowohl von innen als auch von außen überstimulierende Reize erhalten kann, die zum Bestandteil unseres bewussten, vorbewussten und unbewussten Gedächtnisses werden. Mehr noch: Die äußeren Ereignisse treffen auf eine intrapsychische Erlebnismatrix, die durch frühe Erfahrungen geprägt ist und das äußere hoch affektiv aufgeladene Ereignis entsprechend unserer inneren Struktur bearbeitet. So baut sich unser Körperbild, unsere Selbst- und Objektbilder in einem interaktiven Prozess von äußeren und inneren Beziehungserfahrungen auf, die dann wieder als Erwartungshaltung in die nächste Interaktion eingehen.

War der Begriff des Traumas zunächst alleine definiert als eine heftige äußere Stimulation, die den Reizschutz durchbricht, so erkannten Freud und die Psychoanalyse schon früh, dass das Trauma dialektisch als ein Zusammenwirken äußerer Ereignisse und innerer Phantasien zu denken ist, die zu einer subjektiv unterschiedlichen Erlebnisverarbeitung führen. Wir unterscheiden nun also zwischen dem Akt der äußeren Traumatisierung, der in einem überwältigenden Zuviel an Stimulation in zu kurzer Zeit besteht, dem traumatischen Zustand, der Gefühle extremer Ohnmacht und Hilflosigkeit beinhaltet und den anhaltenden strukturellen Veränderungen, die sich in unsere inneren Beziehungsmuster und Erlebnismatrix eingravieren. Die psychischen Auswirkungen des Traumas beinhalten immer den zeitweisen oder dauerhaften Zusammenbruch einer basalen Beziehung und erschüttern dadurch Ich-Stabilität und Selbstgefühl. In der Praxis sehen wir uns weniger mit den Auswirkungen von singulären Extremtraumatisierungen konfrontiert, sondern haben es häufiger mit Kindern und Jugendlichen zu tun, deren Entwicklung anhaltend durch ein schwieriges vernachlässigendes oder missbräuchlich aggressiv bzw. sexuell überstimulierendes Umfeld beeinträchtigt wurde. Obwohl es bei offensichtlichem Versagen der Umwelt manchmal schwerfällt, die eigene Wahrnehmung offenzuhalten für die psychischen Umformungen von objektiven Erfahrungen in subjektive Erlebnisse, ist es unsere professionelle Verpflichtung, das Kind und den Jugendlichen sowohl als passives Opfer der Verhältnisse als auch als aktiven Täter seiner aktuellen und zukünftigen Lebensentwürfe zu betrachten.

Genau so ist D. W. Winnicott zu verstehen, der beeindruckend klar formuliert: Es gibt »kein Trauma, das außerhalb der Omnipotenz des Individuums liegt. Alles kommt am Ende unter die Herrschaft des Ichs und wird so mit sekundären Prozessen verknüpft« (Winnicott 1960, S. 47).

Arne Burchartz nimmt Winnicotts Idee implizit auf und beginnt sein Kapitel über die Definition des Traumas mit einem Zitat von Henri Parens: »Da wo der Schmerz das Erträgliche übersteigt, die Psyche in Schock versetzt, das Gehirn und den Körper außer Gefecht setzt, wie ein Blitz unauslöschlich einschlägt: Dort wird der Schmerz augenblicklich zu einem Teil von uns…« (S. 35) In diesem Geiste ist Arne Burchartz ein wunderbares Buch gelungen, das im Kern die vielfältigen Varianten eines Prozesses beschreibt, wie ein äußeres Trauma in einem intensiven Prozess von Introjektionen, Projektionen, Dissoziationen und Identifikationen langsam und systematisch Besitz von unserem Innenleben ergreift und das Opfer so ohne es zu bemerken allmählich auch zum Täter wird. Die Seele kann absolute Ohnmacht, Hilflosigkeit und dauerhaften seelischen Schmerz nicht repräsentieren und ist als Überlebensstrategie darauf angewiesen, sei es in Schuldgefühlen, sei es in sich zwanghaft wiederholenden Handlungen, sich selbst zum aktiven Gestalter des Erlebten umzukonstruieren.

In sorgfältig recherchierender und differenziert formulierender Art und Weise stellt Arne Burchartz sowohl die Perspektiven und Theorien des psychoanalytischen Umgangs mit dem Trauma dar, als auch den praktisch analytischen Umgang mit den Kindern und Jugendlichen, die äußerst schwierige bis schreckliche Erfahrungen mit ihrem Umfeld machen mussten. Anhand vieler kleiner und größerer Falldarstellungen lässt er uns teilhaben an seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz psychotherapeutischer Prozesse. Dabei ist er geprägt von einem unerschütterlichen Optimismus: »In psychodynamischen Psychotherapien bemühen wir uns darum, die gegenwärtigen inneren Objekt- und Selbstbilder der traumatisierenden Vergangenheit zu entreißen und zu transformieren, um eine kreative und lebensbejahende Einstellung zum Dasein zu ermöglichen.« (S. 136) Auch wenn ich selbst in Gedanken an junge traumatisierte Patienten, bei denen dieser Transformationsprozess nur begrenzt gelungen ist und wir uns mit der Möglichkeit eines einigermaßen selbstbestimmten Lebens, das auch das Leiden anerkennt, zufrieden geben mussten, so ist seine optimistische Perspektive durch die Fundierung in psychoanalytischen Verstehensprozessen doch sehr nachvollziehbar und ansteckend. Selten habe ich das Glück gehabt, ein theoretisch so anspruchsvolles Buch voll von psychoanalytischem Wissen – komplex und gut verständlich – lesen zu dürfen, das vom Anfang bis zum Ende nicht nur extrem lehrreich sondern auch spannend ist. Ich jedenfalls habe – was bei Fachbüchern wirklich selten vorkommt – das Buch in einem Stück durchgelesen. Es ist ein aus der Vielzahl der Trauma-Bücher herausstechendes wichtiges Lehrbuch sowohl für die Kandidaten der Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die Masterstudierenden der Sozialen Arbeit, Pädagogik und Psychologie als auch für die praktizierenden psychodynamisch orientierten Psychotherapeuten.

Prof. Dr. Frank Dammasch

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Geleitwort von Frank Dammasch Es gibt kein Trauma außerhalb der Omnipotenz
  2. 1 Einleitung
  3. 2 Das Trauma in der Psychoanalyse
  4. 2.1 Die Anfänge: Die Verführungstheorie von Sigmund Freud
  5. 2.2 Die Triebtheorie
  6. 2.3 Der Ich-Psychologische Ansatz
  7. 2.4 Sandor Ferenczi
  8. 2.5 Objektbeziehungspsychologische Ansätze, Bindungstheorie
  9. 3 Was ist ein Trauma?
  10. 4 Formen der Traumatisierung in Kindheit und Jugend
  11. 4.1 Definitionen und Differenzierungen von Traumata
  12. 4.2 Akuttraumatisierungen
  13. 4.3 Chronische Traumatisierung in familiären Beziehungen
  14. 4.3.1 Trennungstraumata
  15. 4.3.2 Psychische Vernachlässigung, Deprivation
  16. 4.3.3 Sexueller Missbrauch
  17. 4.3.4 Körperliche und psychische Misshandlung
  18. 4.4 Kumulatives Trauma, Sequenzielles Trauma
  19. 4.4.1 Kumulatives Trauma und emotionaler Missbrauch
  20. 4.4.2 Das sequenzielle Trauma
  21. 5 Die Psychodynamik der Traumaverarbeitung
  22. 5.1 Dissoziation
  23. 5.2 Identifikation mit dem Aggressor
  24. 5.3 Das traumatische Introjekt
  25. 6 Traumafolgestörungen
  26. 6.1 Posttraumatische Belastungsstörung oder Persönlichkeitsentwicklungsstörung?
  27. 6.2 Dissoziative Zustände
  28. 6.3 Intrusionen, Flashbacks
  29. 6.4 Wiederholungen des Traumas
  30. 6.5 Bindungsstörungen
  31. 6.6 Angststörungen
  32. 6.7 Depression und Suizidalität
  33. 6.8 Narzisstische Probleme, Identitätsstörungen
  34. 6.9 Agieren der Täter-Opfer-Umkehr, Aggressivierung, Sexualisierung
  35. 7 Die transgenerationale Weitergabe des Traumas
  36. 8 Die Therapie des Traumas
  37. 8.1 Das Trauma in Übertragung und Gegenübertragung
  38. 8.2 Die Beziehung als therapeutisches Medium
  39. 8.3 Halten, Containing und Mentalisierung
  40. 8.4 Die Entwicklung und Stärkung der Symbolfunktion
  41. 8.5 Die eigene Geschichte gewinnen: Ich-Stärkung und strukturelle Reifung
  42. 8.6 Spiel, Kreativität, Bilder, Metaphern, Imagination
  43. 9 Spezifische traumatherapeutische Techniken
  44. 10 Resilienz, Ressourcenaktivierung und Posttraumatisches Wachstum
  45. Literatur
  46. Stichwortverzeichnis

1          Einleitung

 

 

 

Das Thema »Trauma« beansprucht Aktualität. Dazu wird häufig angeführt, dass das 20. Jahrhundert besonders reich an schweren Traumatisierungen war – infolge von Kriegen, Verfolgungen, Vernichtungsfeldzügen, Deportationen, Internierungen und Genozid (vgl. Bohleber 2010, Zwiebel 2003). Dem ist zuzustimmen, gleichwohl dürfte ein historischer Vergleich mit anderen Zeitepochen problematisch sein. Während dieses Buch geschrieben wird, jährt sich der Beginn des »Dreißigjährigen Krieges« zum 400. Mal: Ein Konflikt, der die halbe Bevölkerung Europas ausgerottet hat. Es hat ein Jahrhundert gedauert, bis sich die betroffenen Landstriche davon erholt haben. Oder denken wir an die Millionen Opfer antiker und mittelalterlicher Schlachten und Genozide, tyrannischer Schreckensherrschaften, die mit kaum vorstellbaren Grausamkeiten einhergingen. Ist nicht das Kreuz, Symbol für die Christenheit, selbst ein Zeichen größter menschlicher Grausamkeit, ein »memento crudelitatis«?

Der Mensch, eine »wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist«, (Freud 1930a, S. 471) diese Diagnose Freuds angesichts der »grausamen Aggression« dürfte über die Zeiten hinweg ihre Gültigkeit haben.

Das komplementäre Pendant der destruktiven Aggression ist das Trauma. Es liegt zunächst auf Seiten derer, welche die Grausamkeit erleiden müssen. Besonders nahe geht uns dieses Leiden, wenn es Kinder und Jugendliche betrifft, sind sie doch besonders wehrlos und schutzbedürftig. Im Trauma begegnet uns beides: Das ohnmächtige Leiden und die Destruktivität. Beides gehört zur conditio humana, und wer sich mit dem Trauma beschäftigt, wird immer mit diesen beiden Seiten auch seiner eigenen menschlichen Existenz konfrontiert. Es fällt uns leichter, uns mit dem überwältigten Kind zu identifizieren. Vergessen wir aber nicht, dass die destruktive Bemächtigung des Anderen auch ein Teil unseres Seelenlebens ist – ein von der dünnen Schicht der Zivilisation oft nur mühsam verborgener Teil.

Aber nicht nur »man-made desaster« wirken traumatisch. Seit jeher sind wir Menschen den Gewalten der Natur ausgeliefert. Unsere Vorfahren sahen sich übermächtigen potenziellen Angreifern ausgesetzt, von denen eine ständige Gefahr ausging. Dafür ist die Natur des Menschen nur unzureichend ausgestattet: Er kann nicht besonders schnell laufen, er kann nicht gut klettern, er hat keine »Zähne und Klauen« wie eine Raubkatze, die Fähigkeiten seiner Sinnesorgane fallen im Vergleich mit anderen Lebewesen eher dürftig aus. Der Mensch kann von allem etwas, aber nichts besonders gut – evolutionär ist er Generalist. Sein Überleben hängt vom Zusammenschluss in Gruppen und Clans ab, innerhalb derer wechselseitige Kommunikation und Beziehungsregulation zwingend notwendig sind. Es ist phylogenetisches Erbe der Menschheit, dass archaische Ängste innerhalb von Beziehungen bewältigt werden, im großen Zusammenhang innerhalb von Kultur. Eigentlich traumatisch ist deshalb die überflutende, nicht regulierbare Angst angesichts der Verluste von sicherheitsgebenden Beziehungen.

Das Wort Trauma entstammt dem Griechischen: traúmatos bedeutet (durch Gewalteinwirkung entstandene) Wunde, Verletzung. Seit dem 18. Jhd. wird das Wort in der Wissenschaftssprache der Medizin verwendet und bezieht sich auf körperliche Verletzungen. Von dort hat es Eingang gefunden in die psychologische Fachsprache i. S. einer seelischen Verletzung.

Das Wort Traum ist fast identisch – etymologisch haben beide Begriffe jedoch nichts miteinander zu tun. Es ist althochdeutschen Ursprungs und bedeutet »im Schlaf auftretende Vorstellung, sehnlicher Wunsch«. Gleichwohl hat Zwiebel (2003) interessante Bezüge zwischen beiden seelischen Phänomenen hergestellt.

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit dem psychoanalytischen Verständnis des psychischen Traumas. Sigmund Freud postulierte ein seelisches Trauma am Grunde psychischer Erkrankungen und hat dies als Erster systematisch ausgearbeitet. Inzwischen ist die psychodynamische Psychotraumatologie um eine Fülle von Verstehensansätzen angewachsen. Traumata im Kindes- und Jugendalter gelten als prägend für das ganze Leben, mit dem Risiko nachhaltiger Erkrankungen. Es ist also nur folgerichtig, sich der Therapie gerade in dieser Altersgruppe besonders zuzuwenden.

Neben dem psychodynamischen Zugang gibt es eine Vielzahl von Konzepten, wie man das Trauma im Kindes- und Jugendalter verstehen und wirksam psychotherapeutisch behandeln kann. Viele dieser Ansätze kommen zu vergleichbaren Ergebnissen und ähnlichen Vorgehensweisen, gleichwohl gibt es auch gravierende Unterschiede. Das vorliegende Werk erhebt nicht den Anspruch, diese Konzepte auch nur ansatzweise darzustellen. Das Interesse des Buches ist zu zeigen, wie man heute das Trauma im Kindes- und Jugendalter psychodynamisch versteht und dass eine sorgfältig durchgeführte Psychotherapie auf der Grundlage der Psychoanalyse eine wirksame und nachhaltige Traumatherapie ist. Wenn es zur Erweiterung des gegenwärtigen Diskurses über psychische Traumata beiträgt und zur Vertiefung in das Thema für Fachleute und Ausbildungskandidaten einlädt, hat es sein Ziel erreicht.

Im Konflikt zwischen einer gerechten Sprache und der flüssigen Lesbarkeit eines fortlaufenden Textes habe ich mich für traditionelle Formulierungen entschieden. Eine Missachtung anderer Geschlechter ist damit nicht intendiert.

Öhringen, im Frühjahr 2019

Arne Burchartz

2          Das Trauma in der Psychoanalyse

 

2.1       Die Anfänge: Die Verführungstheorie von Sigmund Freud

Die Psychoanalyse begann als Traumatherapie. Für die Entstehung der Hysterie postulierte Sigmund Freud ein reales sexuelles Kindheitstrauma, das verdrängt wurde und als Symptom in kompromisshafter Weise im Jugend- und Erwachsenenalter wieder auftaucht (Freud 1896c). Diese »Verführungstheorie« beschrieb den traumatischen Prozess bereits als sehr komplexes Geschehen: ein Ereignis, das die »Erregungssumme« im Nervensystem steigert, kann nicht oder nicht vollständig motorisch »abreagiert« werden oder durch »kontrastierende Vorstellungen« kompensiert werden, wie es normalerweise geschieht (Freud 1893h, S. 192f). In der Erinnerung bleiben die Affekte, die mit dem Ereignis verbunden waren, von Freud sogenannte »Reminiszenzen« der unvollständigen Erledigung der Traumen1. Allerdings ist es nicht das reale Erlebnis allein, welches die Krankheit verursacht. Aktuelle Erlebnisse rufen unbewusste Erinnerungen an das frühere Geschehen hervor und verknüpfen sich assoziativ mit diesen, jedoch nicht als bewusste Vergegenwärtigung, sondern als Symptom, einer gleichsam symbolischen Erinnerung, welche das traumatische Ereignis wachruft, ohne die Verdrängung aufzuheben.2 Freud nannte diesen Vorgang die »Nachträglichkeit« (Freud 1885/1950a, S. 444ff)

Gemäß der Verführungstheorie ist das Trauma nicht allein ein überwältigendes Ereignis, sondern ein Zusammenwirken von äußeren Einwirkungen, inneren psychodynamischen und affektiven Vorgängen, Phantasietätigkeit und kompromisshafter Verarbeitung im Symptom, das wiederum in Wechselwirkung zur sozialen Umwelt steht. Dieses Zusammenspiel kann man auch in Form einer »Ergänzungsreihe« beschreiben: Die Intensität der Überwältigung, die Möglichkeiten psychischer Verarbeitung und die Beschaffenheit der Beziehungen ergänzen sich gegenseitig und ergeben dem Trauma seinen je individuellen Charakter auf einer Skala von schwerer, anhaltender Belastung bis zu einer vorübergehenden Irritation. Die Psychoanalyse versteht das Trauma also als Prozess.

Viele heute selbstverständliche Erkenntnisse über traumatische Vorgänge und deren Verarbeitung sind in nuce in der Verführungstheorie enthalten (vgl. Hirsch 2011, S. 20). Mit dem Gewicht, das sie auf (rekonstruierte) Traumata in der Kindheit legt, vertrat Freud implizit die Ansicht, dass Kindheitstraumata besonders tiefgreifend und nachhaltig in die Psyche eingreifen und einen entscheidenden pathogenen Faktor für spätere psychische Erkrankungen darstellen. Auch diese Einsicht wird heute in verschiedenen Fachrichtungen eindrücklich bestätigt. (Hüther 2003; Rauchfleisch 2006; 2008, Wöller 2011)

2.2       Die Triebtheorie

Freud gab 1897 die Verführungstheorie zugunsten der Trieb-Konflikt-Theorie auf. Nicht jede neurotische Erkrankung konnte auf ein reales Trauma zurückgeführt werden. Es mussten also intrapsychische Vorgänge sein, »Reizmengen«, die der physio-psychischen Sphäre entstammen und nicht adäquat abgeführt bzw. nicht vollständig verdrängt werden konnten. In einem Brief an den Arzt Wilhelm Fließ, damals freundschaftlicher Vertrauter und Diskussionspartner von Sigmund Freud, (Nr. 139 vom 21. September 1897) relativiert er die Verführungstheorie und stellt fest, »daß man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann« (Freud 1986, S. 284; vgl. Gay 1999, S. 108, 112f). Dies führte zur Ausarbeitung der Triebtheorie mit ihrem zentralen Theorem, dem Ödipuskomplex (vgl. Burchartz, Hopf & Lutz 2016, S. 53ff). Wiewohl Freud die Möglichkeit realer Traumatisierungen in der Kindheit nie bestritt, so stellte diese Wende doch einen entscheidenden Einschnitt in der Psychoanalyse und speziell in deren Traumakonzepten dar. Zum einen führte sie zu heftigen Vorwürfen gegen die Psychoanalyse, sie vernachlässige die Dimension der realen Traumatisierungen in der Kindheit, insbesondere der sexuellen Traumata und verrate so die Patienten, ja traumatisiere sie sekundär, indem sie die so wichtige Arbeit an der Realität des Traumas, die in dissoziativen und introjektiven Prozessen verloren geht (image Kap. 8), vernachlässige. Zum anderen aber bahnt sie die Erkenntnis, dass innere ungelöste konflikthafte Vorgänge traumatischen Charakter haben können. Fortan spielte die Phantasietätigkeit, die Ausformung des Begehrens im ödipalen Konflikt sowie der Hass auf die ödipalen Objekte und die Verdrängung beider Triebregungen eine größere Rolle im Verständnis der Ätiologie der Neurosen. Der Schrecken des traumatischen Ereignisses gewinnt seine traumatische Dimension aus der Vermischung mit verpönten sexuellen und aggressiven Regungen. Diese theoretische Konzeptualisierung lässt sich sehr plastisch am Fallbericht »Dora« (Freud 1905e) nachvollziehen (vgl. Burchartz, Hopf & Lutz 2016, S 22–25). In einer Fußnote zu dieser Fallgeschichte betont Freud, dass er die Verführungstheorie nicht aufgegeben, jedoch ergänzt hat (Freud 1905e, S. 185). Der Vorwurf, der gegen Freud erhoben wird, er nehme reale (äußere) Traumatisierungen insbesondere aus dem Beziehungsbereich durch seine Konzepte infantiler Sexualität nicht ernst, lässt sich nicht halten. Im Gegenteil: erst aus dem Zusammenwirken äußerer und innerer Faktoren lässt sich der traumatische Prozess verstehen.

C.G. Jung nahm an der Entwicklung der Freud’schen Theoriebildung lebhaften Anteil. Die Abwendung von der Verführungstheorie, die Hinwendung zur »Psychogenität« der Neurose brachte ihn dazu, das Trauma selbst für unwichtig zu halten. Den realen Inzest und seine Auswirkungen hat er wenig ernst genommen (Wirtz 1992, S. 43f). Traumata »scheinen bloß wichtig zu sein, indem sie der Anlaß zur Manifestation eines schon längst abnormen Zustandes sind. Der abnorme Zustand ist … ein anachronistisches Weiterbestehen einer infantilen Stufe der Libidoentwicklung.« (Jung 1971/1913, S. 158). Eine gewisse Tragik liegt darin, dass Jung dies anhand eines Falles darstellt, bei dem ein Trigger für die Wiederbelebung eines ursprünglichen Traumas gesorgt hat. Aber die Zeit war noch nicht reif für solche Erkenntnisse.

Später revidierte Jung seine Ansicht unter dem Eindruck, dass »als eine der Folgen des Krieges, eine wahre Flut von traumatisch bedingten Neurosen in Erscheinung trat«. (Jung 1921/1954, S. 138) »Hier ist das Trauma mehr als nur ein auslösendes Moment; es ist die Ursache im Sinne einer causa efficiens, besonders wenn wir die besondere psychische Atmosphäre des Schlachtfeldes als wesentlichen Faktor mitberücksichtigen.« Damit ist zweifellos die Todesangst der Kombattanten gemeint, eine Angst, der den Reizschutz des Ich überrennt (s. u.). Jung ist hier ganz nahe an einer der Grundbedingungen des Traumas – leider hat er den Gedanken nicht weiterverfolgt.

Schließlich finden wir den Gedanken, die Beschäftigung mit dem infantilen Trauma sei ein Ausweichen vor persönlicher Verantwortung.

»Die Erinnerungsbemühungen sehen aus wie angestrengte Tätigkeit und haben überdies den Vorteil, daß sie vom eigentlichen Thema (den aktuellen Gründen der Neurose, A. B.) ablenken. Weshalb es auch unter diesem Gesichtswinkel empfehlenswert erscheinen mag, die Jagd nach einem möglichen Trauma noch lange fortzusetzen.« (Jung 1926/1969, S. 130)

Es ist Jung darin Recht zu geben, dass »die Jagd nach einem möglichen Trauma« in pädagogischen und therapeutischen Zusammenhängen nicht außer Mode gekommen ist und manche Zerstörungen in Beziehungen anrichtet. Allerdings schüttet er das Kind mit dem Bade aus, wenn die Möglichkeit kindlicher Traumatisierungen damit ironisierend beiseitegeschoben wird.

2.3       Der Ich-Psychologische Ansatz

Im Strukturmodell (Freud 1923b) richtete Freud sein Augenmerk auf das Ich, dem als organisierende Instanz die Vermittlung von innerer und äußerer Realität, von Triebansprüchen und sozialem Gefüge gelingen muss. Dem Ich kommt die Funktion eines Reizschutzes durch seine regulierende Abwehrtätigkeit und die Einwirkung auf die Außenwelt zu. Sind die Reizmengen aber zu groß, gelingt der Reizschutz nicht: »Solche Erregungen von außen, die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heißen wir traumatische« (Freud 1920g, S 29). Ist der Reizschutz erst durchbrochen, wird das psychische System von großen »Reizmengen« gleichsam überflutet, es kommt zu einer Gegenwehr: die »Einbruchstelle« wird mit großen Mengen psychischer Energie »gegenbesetzt« – Energie, die anderen psychischen Funktionen entzogen wird, was im Ergebnis auf eine »Lähmung oder Herabsetzung der sonstigen psychischen Leistung« hinausläuft (ebd, S 30). Der Einbruch überflutender Reize wird begünstigt durch eine fehlende Angstbereitschaft: Fehlt die Angst als Signal für die drohende Gefahr, kommt also das überwältigende Ereignis unvorbereitet über den Menschen, so ist es wahrscheinlicher, dass der Reizschutz durchbrochen wird. Diesen Gedanken arbeitet Freud später weiter aus (1926d): er unterscheidet zwischen traumatischer Angst und Signalangst. Die Signalangst entspringt einer antizipatorischen Funktion der Psyche: Sie reagiert auf eine drohende Gefahr, um ihr zu entgehen oder ihr etwas entgegenzusetzen. Die Signalangst hat damit eine wichtige Schutzfunktion gegen das Trauma. Fehlt der antizipatorische Charakter der Angst, so kommt es zu einer traumatisch überflutenden Angst und das Trauma wird sich besonders schädigend auswirken (»Extremtraumatisierung«).

Ist die Widerstandsfähigkeit des Ich durch ungelöste innere Konflikte, neurotische Verarbeitungsformen etc. herabgesetzt, kommt es auch bei geringeren Reizmengen zu einer traumatischen Erregung. So lässt sich erklären, warum ähnliche Ereignisse bei manchen Menschen ein Trauma auslösen, bei anderen jedoch nicht.

Bei der Verarbeitung des Traumas spielt der Wiederholungszwang eine entscheidende Rolle: nicht allein in Träumen (die »Träume (der Unfallsneurotiker) suchen die Reizbewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen«, [Freud 1920g, S 32]), sondern auch in sozialen Beziehungen durch »Bemühungen, das Trauma wieder zur Geltung zu bringen, also das vergessene Erlebnis zu erinnern, oder noch besser, es real zu machen, eine Wiederholung davon von neuem zu erleben, wenn es auch nur eine frühere Affektbeziehung war, dieselbe in einer analogen Beziehung zu einer anderen Person neu wiederaufleben zu lassen. Man faßt diese Bemühungen zusammen als Fixierung an das Trauma und als Wiederholungszwang« (Freud 1939a S 180).

Anna Freud hat das Traumaverständnis unter Ich-Psychologischen Gesichtspunkten weiter ausgearbeitet. Wesentlich sei das Merkmal, ob ein schädigendes Ereignis eine »innere Katastrophe« ausgelöst hat, »einen Zusammenbruch der Persönlichkeit aufgrund einer Reizüberschwemmung, die die Ichfunktionen und die Vermittlertätigkeit des Ichs außer Kraft gesetzt hat.« (Freud 1967/1964, S. 1834). Klinische Anzeichen eines Traumas sieht sie – ähnlich wie S. Freud – in der Lähmung und Handlungsunfähigkeit, innerer Erstarrung und im Verlust der Affektsteuerung: eine Ich-Regression. Eine sorgfältige Unterscheidung sei zu treffen, welche Ich-Funktionen geschädigt wurden, welche intakt geblieben sind, wie die Abwehr angegriffen bzw. auf frühere Stufen zurückgeworfen wurden. Dabei spiele die (unbewusste) Bedeutung, welche der Mensch dem Ereignis zumisst, eine entscheidende Rolle. Bei Kindern müsse man auch »das traumatische Ereignis zum Entwicklungsprozess in Beziehung …setzen« (a. a. O. S. 1837) und den Prozess der »Wiederherstellung« beobachten, inwieweit die Entwicklung wieder aufgenommen werden konnte und auf welchem Niveau. Auch für Anna Freud stellt die Pathologie einer »traumatischen Neurose« den Versuch der Verarbeitung des traumatischen Ereignisses dar.

In diesem Ich-Psychologischen Modell, das überwiegend eine ökonomische Betrachtungsweise enthält, fehlt die Differenzierung der Trauma auslösenden Situationen: man-made desaster, Naturkatastrophen, Beziehungstraumatisierungen usw. Es scheint lediglich um das Verhältnis von Reizanflutung und psychischer Disposition zu gehen. Gleichwohl sind hier wesentliche Grundlagen des Traumaverständnisses beschrieben: Gegenwehr und reparative Versuche der Psyche gegen das Traumaereignis, die Frage der Ich-Stärke, der Resilienz (etwa Antizipation und Symbolisierungsfähigkeit), die Rolle der Angst, die Traumaverarbeitung durch den Wiederholungszwang in Beziehungen.

Die Ich-psychologische Betrachtungsweise der Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen legt eine Reihe von Überlegungen nahe:

Erstens muss die Empfindlichkeit der seelischen Ausstattung berücksichtigt werden. Manche Kinder bringen von Anfang an einen geringen Reizschutz mit und sind deshalb besonders darauf angewiesen, dass ihn die Eltern zur Verfügung stellen. Solche Kinder sind besonders trennungsempfindlich. Wird durch ein schreckensvolles Ereignis diese Beziehung labilisiert, gestört oder in Frage gestellt, oder geht ein solches Ereignis gar von den Bezugspersonen aus, ist ein solches Kind traumatischer Überflutung besonders ausgeliefert.

Zweitens muss der Stand der Triebentwicklung und der Ich-Entwicklung einbezogen werden. Ein Auftreten erschreckender Naturgewalten wie z. B. ein heftiges Gewitter, ein Orkan o. ä. wird auf einen Vierjährigen anders wirken als auf ein Latenzkind, das über ein größeres kognitives Verständnisrepertoire solcher Phänomene verfügt. Eine anale Überwältigung, wie sie z. B. vorkommt, wenn Eltern ihrem Kind bei Obstipationen Klistiere verabreichen, wird in der entsprechenden Entwicklungsphase anders wirken als in späteren Jahren. Gewaltandrohungen, manifeste Gewalt und sexueller Missbrauch wirken umso destruktiver und nachhaltiger, je größer die reale Ohnmacht und Abhängigkeit ist.

Drittens muss gefragt werden, wie sicher Ich-Funktionen in der bisherigen Ich-Entwicklung etabliert worden sind. Gab es hier schon vor dem Trauma Beeinträchtigungen, so dass das Ich dem Eindringen traumatischer Angst wenig entgegenzusetzen hat?

Viertens muss betrachtet werden, welche »Hilfs-Ich«-Funktionen die soziale Umgebung bereitstellt. Wie reagieren die Eltern, die Geschwister, Verwandte, Freunde, Pädagogen? Stellen sie ein vertrauenswürdiges Milieu zur Verfügung? Gibt es – falls die Traumatisierung in der Familie entsteht – sonstige soziale Ressourcen?

Fünftens fragen wir danach, welche Phantasien sich um das traumatische Ereignis ranken. Auch diese werden je nach Entwicklungsstand in unterschiedlicher Weise die Verarbeitung des Traumas prägen. Ein Kind etwa, das noch weitgehend dem egozentrischen Weltbild mit seinem magischen Denken verhaftet ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit u. a. selbstdestruktive Verarbeitungsweisen entwickeln, die dann sekundär traumatisch wirken.

Schließlich sechstens lässt sich das traumatische Ereignis nicht von Beziehungen trennen. Auch innerhalb der Ich-psychologischen Auffassung ist der Status der Ich-Funktionen verbunden mit den Beziehungen, auf die der junge Mensch bis in die Adoleszenz für sein psychisches (Über-)Leben angewiesen ist. Innerfamiliäre Traumatisierung bedeutet immer auch Beziehungsverlust und somit Existenzangst.

Denkt man den Ich-psychologischen Ansatz konsequent zu Ende, so muss festgehalten werden: Das Trauma ist immer ein komplexes Geschehen. Es lässt sich nicht monokausal reduzieren.

2.4       Sandor Ferenczi

Sandor Ferenczi gilt als der »Pionier der psychoanalytischen Psychotraumatologie« (Hirsch 2011, S. 31). Er war bis zu seinem Tod ein kritischer Weggefährte Freuds. Ferenczi experimentierte mit Varianten der psychoanalytischen Technik, die offensichtlich Patienten mit frühen Störungen entgegenkamen. Wie sein klinisches Tagebuch von 1932 (»Ohne Sympathie keine Heilung«, Ferenczi 1999/1932) zeigt, beschäftigte er sich in jener Zeit verstärkt mit dem Trauma (vgl. Eintrag vom 30. Juli 1932, a. a. O. S. 240–246). Mit seinem bahnbrechenden letzten Aufsatz (»Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind«, Ferenczi 2004/1933, S. 303-313) hat sich Ferenczi der realen Traumatisierung im Kindesalter durch Bezugspersonen als Ursache von Pathologien zugewandt. Nicht unintegrierte Triebansprüche und Phantasien stehen demnach am Beginn des traumatischen Prozesses, sondern die Überwältigung durch Erwachsene. Der Untertitel der Arbeit »Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft« verrät nicht sogleich, worum es geht: Die zärtliche Liebe des Erwachsenen, auf die das Kind angewiesen ist, wird überformt bzw. ersetzt durch die Leidenschaft, womit das sexuelle Begehren und entsprechende Handlungen des Erwachsenen gemeint ist.

Ferenczi geht in seinem Aufsatz von zwei Beobachtungen in der analytischen Praxis aus:

•  Manche Analysanden äußern wider Erwarten keine Kritik an den Einstellungen und Äußerungen des Analytikers, auch dann nicht, wenn diese latent feindselig daherkommen. »Anstatt zu widersprechen, ihn gewisser Verfehlungen und Mißgriffe zu zeihen, identifizieren sie sich mit ihm.« (a. a. O. S. 304, Hervorhebung S.F.). Er schließt daraus, dass die »berufliche Hypokrisie und die dahinter versteckte Antipathie« (S. 306) eine Neuauflage der pathogenen Situation in der Kindheit ist und zur Wiederholung der Symptombildung führt.

•  Der sexuelle Übergriff, das »Sexualtrauma« kommt viel häufiger vor, als gemeinhin angenommen: durch die Eltern selbst, durch Verwandte oder Pflegepersonen aus dem unmittelbaren familiären Umfeld. »Der naheliegende Einwand, es handele sich um Sexualphantasien des Kindes selbst … wird leider entkräftet durch die Unzahl von Bekenntnissen dieser Art« (S. 307/8).

Identifikation mit dem Aggressor

Das erotische Spiel des Kindes, sich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu identifizieren, ein Spiel auf dem »Zärtlichkeitsniveau«, wird von Erwachsenen, insbesondere wenn diese pathologisch vorbelastet sind, verwechselt mit den »Wünschen einer sexuell reifen Person«, sie lassen sich »zu Sexualakten hinreißen. Tatsächliche Vergewaltigungen von Mädchen, die kaum dem Säuglingsalter entwachsen sind, ähnliche Sexualakte erwachsener Frauen mit Knaben, aber auch forcierte Sexualakte homosexuellen Charakters gehören zur Tagesordnung.«

Die Folgen sind nun nicht etwa manifester Protest oder Gegenwehr, vielmehr ist das Kind aufgrund der Überlegenheit des Erwachsenen »durch eine ungeheure Angst paralysiert«.

»Dieselbe Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren. Durch die Identifizierung, sagen wir Introjektion des Angreifers verschwindet dieser als äußere Realität und wird intrapsychisch.« (Ferenczi 2004/1933, S. 308).

Diese Identifikation führt auch zur »Introjektion des Schuldgefühls des Erwachsenen« (Ferenczi 2004/1933, S. 309).

Ferenczi beschreibt hier erstmalig einen bedeutsamen kindlichen psychischen Abwehrversuch der traumatischen Situation: Die Identifikation mit dem Aggressor. Er führt zu einer Verwirrung, zu Spaltungen, zum Misstrauen gegen die eigene Sinneswahrnehmung und zu massiven Schuldgefühlen. Verstärkt wird diese Konfusion durch das Benehmen des Erwachsenen, der das Geschehen verharmlost, verleugnet und schließlich dem Kind als Schuld in die Schuhe schiebt. Häufig findet das Kind auch in dem anderen Elternteil, beispielsweise der Mutter, keinen Rückhalt, »kraftlose Versuche solcher Art werden von ihr als Unsinn zurückgewiesen« (a. a. O., S. 309).

Auch Ferenczi reflektiert die Wirkung auf das noch unreife Ich. Da es nicht im Sinne einer alloplastischen Reaktionsweise die Lebensumstände aktiv verändern kann, kommt es zu einer autoplastischen Verarbeitung. »Wir gelangen so zu einer Persönlichkeitsform, die nur aus Es und Über-Ich besteht, der also die Fähigkeit, sich selbst auch in der Unlust zu behaupten, noch abgeht…« (a. a. O., S. 309).

Eine weitere Folge des Traumas ist nach Ferenczi die Persönlichkeitsspaltung. »Daß ein Teil der Person in die vortraumatische Seligkeit regrediert und das Trauma ungeschehen zu machen versucht, wird keinen Psychoanalytiker überraschen« (a. a. O., S. 311).

Sodann beobachtete Ferenczi, dass unter traumatischen Druck plötzlich Fähigkeiten erwachsen, die dem Stand der Entwicklung (noch) keineswegs entsprechen. »Höchste Not, besonders Todesangst, scheint die Macht zu haben, latente Dispositionen, die, noch unbesetzt, in tiefer Ruhe auf das Heranreifen warteten, plötzlich zu erwecken und in Tätigkeit zu versetzen. … Man darf da getrost, im Gegensatz zur uns geläufigen Regression, von traumatischer (pathologischer) Progression oder Frühreife sprechen« (Hervorhebung S.F.). Und weiter: »Die Angst vor dem hemmungslosen, gleichsam verrückten Erwachsenen macht das Kind sozusagen zum Psychiater…«. (a. a. O., S. 311)

Unter dem Druck sich wiederholender traumatischer Erschütterungen wachse »die Zahl und Varietät der Abspaltungen« (a. a. O., S. 311). Dergestalt kommt es zu einer psychischen Fragmentierung - Ferenczi spricht sogar von Atomisierung. Man hat es mit einzelnen von einander abgetrennten Persönlichkeitsanteilen zu tun, die »einander aber meist gar nicht kennen« (a. a. O., S. 311), ein Vorgang, der in Konfusion mündet.

der Terrorismus des Leidens