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Über dieses Buch:

Marten Hendriksen, Hamburgs bester Privatdetektiv, will endlich einmal abschalten: drei Wochen Ruhe und Einkehr in einem Klosterseminar. Doch sein erholsamer Aufenthalt wird jäh durch den Tod eines Mönches unterbrochen – Bruder Gregorius soll unglücklich vom Kirchturm gestürzt sein. Doch was wollte der Fünfundneunzigjährige dort oben um drei Uhr nachts? Hendriksens Berufsinstinkte sind geweckt und schnell entdeckt er, dass es in diesem scheinbar friedlichen Kloster mit dem Teufel zugehen muss. Seine Spur führt ihn tief in die Vergangenheit des toten Mönchs – doch was Hendriksen dabei herausfindet, bringt ihn bald selbst in tödliche Gefahr …

Nach der Bestseller-Reihe um Jeremias Voss ermittelt in Ole Hansens brandneuer Krimi-Reihe nun der ehemalige Pathologe Marten Hendriksen – und der tritt als Nachfolger des Meisterdetektivs selbstbewusst in große Fußstapfen!

Über den Autor:

Ole Hansen, geboren in Wedel, ist das Pseudonym des Autors Dr. Dr. Herbert W. Rhein. Er trat nach einer Ausbildung zum Feinmechaniker in die Bundeswehr ein. Dort diente er 30 Jahre als Luftwaffenoffizier und arbeitete unter anderem als Lehrer und Vertreter des Verteidigungsministers in den USA. Neben seiner Tätigkeit als Soldat studierte er Chinesisch, Arabisch und das Schreiben. Nachdem er aus dem aktiven Dienst als Oberstleutnant ausschied, widmete er sich ganz seiner Tätigkeit als Autor. Dabei faszinierte ihn vor allem die Forensik – ein Themengebiet, in dem er durch intensive Studien zum ausgewiesenen Experten wurde.

Heute wohnt der Autor in Oldenburg an der Ostsee.

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Der Autor im Internet: www.herbert-rhein-bestseller.de

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Originalausgabe August 2019

Copyright © der Originalausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/bazzier

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96148-122-4

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Ole Hansen

Hendriksen und der falsche Mönch

Der dritte Fall

dotbooks.

Kapitel 1

Dr. Marten Hendriksen, Hamburgs Meisterdetektiv, saß auf der Pritsche in seiner Zelle. Im Augenblick störten ihn weder die grob verputzten Wände noch die auf das Notwendigste reduzierte Einrichtung. Ein kleiner hölzerner Tisch, ein Hocker, ein Schrank und ein Waschbecken, aus dessen Hahn nur kaltes Wasser floss, das war alles, was man den Zellenbewohnern an Komfort bot. Das einzige Zugeständnis an die Bequemlichkeit war ein Chemieklo, wie es auf Campingplätzen benutzt wurde. Der winzige Raum war geradezu geeignet, Platzangst auszulösen. Auf Hendriksen hatte er diese Wirkung allerdings nicht, denn er wusste ja, dass er das Domizil in wenigen Tagen wieder verlassen würde. Er freute sich schon darauf, in sein geliebtes Hausboot an der Bille zurückzukehren.

Er starrte gerade auf einen zerknitterten Fetzen, der aus einer Zeitschrift gerissen worden war. Jemand hatte ihn notdürftig geglättet und unter der Tür seiner Zelle hindurchgeschoben. Mit Lippenstift stand darauf:

Hilfe! Rette mich. Ich bin in …

Die restlichen Buchstaben waren nicht zu entziffern. Anscheinend war der Schreiber gestört worden und hatte sie hastig hingeschmiert. Der Papierfetzen sah aus, als wäre er oft angefasst worden. Aus welcher Zeitschrift er stammte, war nicht zu ermitteln, nur dass er aus einer Seite mit Anzeigen gerissen worden war. Eine der Anzeigen musste den Leser besonders interessiert haben, denn sie war durch einen Strich am oberen linken Rand markiert worden. Leider war der Papierfetzen an dieser Stelle durchgerissen. Zu lesen war da nur:

Haben Sie Sorgen, die Sie plagen, oder …
mit Ihrem Leben nicht mehr zurecht, bei...
Rufen Sie uns an oder schicken Sie …
Unsere Telef…
E-M…

Was hatte das zu bedeuten? So sehr Hendriksen sich auch bemühte, den Hilferuf und den Text der Anzeige zu verstehen, er konnte keinen Sinn darin erkennen. Natürlich war ihm bewusst, dass hier jemand um Hilfe rief. Doch wobei benötigte er Hilfe, und wovor sollte gerade er, Hendriksen, ihn retten? Was meinte derjenige mit Gefahr, und wieso war der Zettel ausgerechnet ihm unter der Tür durchgeschoben worden?

Auf den ersten Blick käme doch niemand auf den Gedanken, ihn als Retter auszuwählen. Er war klein und schmächtig, also nicht gerade die Person, die für eine solche Aufgabe geeignet schien. Dass er durchtrainiert und zäh war und schon etliche Felswände im Free Climbing bezwungen oder auf seinen Abenteuerreisen vielerlei Gefahren überstanden hatte, sah man ihm nicht an. Nein, das Ganze ergab keinen Sinn. Schließlich liefen hier genug Mönche herum, die von ihrer Figur her eher als Retter in Frage kamen. Und warum sollte jemand ausgerechnet in einem Kloster in Gefahr sein? Ein Kloster war doch ein Ort der Einkehr, der Geborgenheit, der Ruhe und Besinnung. Nein, das Ganze ergab überhaupt keinen Sinn.

Noch etwas Anderes bereitete ihm Kopfzerbrechen. Woher wusste der Hilfesuchende, dass er in der Lage war, ihm zu helfen? Niemand hier hatte eine Ahnung, dass er ein gefragter vertraulicher Ermittler war, der eine eigene Agentur mit festen und freien Mitarbeitern leitete. Als er den dreiwöchigen Kurs zur Selbstfindung und Entschleunigung im Kloster gebucht hatte, hatte er sich nur mit Vornamen angemeldet. Das schien dem Verantwortlichen im Kloster zu genügen, zumal er in bar bezahlte. Hier wurde er nur »Bruder Marten« genannt.

Das Läuten der Glocke vom Kirchturm unterbrach seine Gedanken. Sie rief zur Abendvesper, und das löste ein spontanes Hungergefühl in ihm aus.

Hendriksen stand auf und trat auf den Kreuzgang. Die Tür zur Zelle schloss er nicht ab. Warum auch, es gab hier nichts zu entwenden. Alle Wertsachen hatte er bei der Ankunft abgegeben. Nur das Smartphone hatte er heimlich behalten, obwohl auch das eigentlich nicht mit ins Kloster genommen werden durfte. Er wollte nicht ganz von der Außenwelt abgeschnitten sein.

Er schlenderte den Kreuzgang hinunter zum Westflügel, in dem der gemeinsame Speiseraum lag. Seine Unterkunft war im Ostflügel. Der Nordflügel wurde fast komplett von der Kirche eingenommen. Im Südflügel befand sich die doppelflügelige Eingangstür, die abends durch einen schweren Holzbalken gesichert wurde. Im Innenhof war ein Kräutergarten angelegt, den die Mönche liebevoll pflegten. Der Kreuzgang umschloss den Innenhof und verband damit alle Gebäude. Die Fenster der drei Stockwerke öffneten sich zum Innenhof, so dass der Gebäudekomplex von außen wie ein Gefängnis wirkte. Auf jeder Seite ragten die verwitterten Backsteinwände fensterlos über zehn Meter in die Höhe. Bei der Kirche war die Wand noch höher.

Als Hendriksen das Kloster zum ersten Mal von außen gesehen hatte, hatte er gedacht: Ich muss wohl nicht ganz richtig im Kopf sein, hinter diesen Kerkermauern freiwillig drei Wochen zu verbringen. Nun hatte er bereits über die Hälfte hinter sich gebracht, und es hatte ihm sogar gefallen. Von innen wirkten die Gebäude mit den romanischen Fenstern, dem Kreuzgang und dem Innenhof mit den Kräuterbeeten viel anheimelnder, als er es sich vorgestellt hatte. Es war tatsächlich der richtige Ort, um zu entschleunigen.

Als er den Speisesaal betrat, waren die anderen Bewohner schon alle an einem langen Tisch versammelt. Er nickte ihnen zur Begrüßung zu, denn während der Mahlzeit und zwei Stunden danach herrschte ein Schweigegebot. An dem blank gescheuerten Tisch saßen zwei Gruppen, an der Stirnseite der Leiter der jeweiligen Gruppe. Die Ordensmitglieder und deren Gäste schlossen zu beiden Seiten daran an. Mit der Eingangstür im Rücken hatten die Brüder vom Kreuz Jesu Platz genommen, denen das Kloster seit fünf Jahren gehörte. Neben ihrem Leiter, der sich Meister Bertram nannte, saßen neun Brüder. Alle trugen schwarze Kutten mit roter Kapuze und rotem Schal anstelle eines Gürtels. Der Schal des Meisters war golden. Zwischen den neun Brüdern saßen fünf Gäste. Zu ihnen gehörte auch Marten Hendriksen. Zwei von ihnen blieben nur zwei Tage, die anderen drei hatten unterschiedlich lange Zeiten gebucht, wobei Hendriksen mit drei Wochen am längsten blieb.

Gegenüber den Brüdern vom Kreuz Jesu saßen fünf Dominikanermönche. Ihre Vorgänger hatten das Kloster im Jahr 1398 gegründet, und bis zur Übernahme durch die Brüder vom Kreuz Jesu war es ununterbrochen in ihrer Hand gewesen, doch da es keine Neuzugänge gab, war es den fünf Mönchen nicht möglich, das Kloster allein weiterzubetreiben. Es wäre dem Verfall anheimgefallen, hätte es die Bruderschaft nicht gekauft. Von den Mönchen waren vier zu alt, um körperlich anstrengende Arbeiten auszuführen. Der älteste Bruder war fünfundneunzig. Er läutete zu den vorgeschriebenen Zeiten die Glocken im Kirchturm, und obwohl er dazu hundert Stufen hochsteigen musste, ließ er sich diese Aufgabe nicht nehmen. Außerdem betreute er den Garten. Der zweitälteste Mönch war zweiundachtzig. Der Abt zählte neunundsiebzig Jahre, der nächste Mönch war zweiundsiebzig und das jüngste Mitglied sechsundfünfzig.

Hendriksen setzte sich zu den Brüdern des Kreuzes Jesu. Vor ihm lag ein rustikales Brett, daneben ein Messer. Ein Glas stand rechts daneben. Zu essen gab es selbstgebackenes Brot, Käse und Wurst, getrunken wurde Wasser, das aus dem Brunnen im Innenhof stammte und angeblich die gleiche Qualität wie Leitungswasser aufwies. Dies jedenfalls hatte Meister Bertram auf Hendriksens Frage geantwortet. So ganz wollte Hendriksen es nicht glauben, doch er forschte nicht weiter nach, sondern sagte sich, dass, wenn die Brüder es bis jetzt überlebt hatten, auch er es überstehen würde. Außerdem hatte er auf seinen Reisen mit Sicherheit schlechteres Wasser getrunken.

Während des Essens las ein Bruder erbauliche Stellen aus der Bibel vor. Hendriksen hörte nicht hin. Er war nicht das, was man im christlichen Sinne gläubig nennt. Zwar war er getauft und konfirmiert worden, doch danach hatte er kaum noch eine Kirche von innen gesehen, außer er besichtigte sie, weil ihn Architektur und Ausschmückung interessierten.

Die Mahlzeit war rustikal, jeder konnte so viel essen, wie er wollte, allerdings nur bis der Abt der Dominikaner sich erhob. Das war das Zeichen, dass die Vesper beendet war.

Hendriksen erhob sich, nahm das benutzte Geschirr und brachte es zum Abwasch. Da er heute nicht zum Küchendienst eingeteilt war, hatte er den Abend zur freien Verfügung. Als Gast war es ihm freigestellt, an dem abendlichen Gottesdienst um zehn Uhr und am Mitternachtsgebet teilzunehmen.

Während er zu seiner Zelle ging, überlegte er, ob er einen Abendspaziergang durch den Außenbereich des Klosters machen oder lieber in seiner kargen Bleibe in dem Buch lesen sollte, das er sich morgens aus der Klosterbücherei ausgeliehen hatte.

Da es inzwischen stockdunkel war, entschloss er sich für Letzteres, änderte aber auf halbem Weg doch seine Meinung. Er holte seine warme Wetterjacke aus dem Zimmer, ging den Kreuzgang zurück und trat durch die Personentür in den Bereich, den die Mönche Vorkloster nannten. Drei Laternen spendeten gerade mal so viel Licht, dass man die Wege in groben Umrissen erkennen konnte. Wie ihm einer der Mönche erklärt hatte, umfasste das Vorkloster etwa sechs Hektar. Rechts und links waren zwei Gebäude an die Außenwände angebaut, die als Unterkunft für Gäste, aber auch als Verwaltungsgebäude für die Landwirtschaft des Klosterbetriebs dienten. Ein weiteres dreistöckiges Haus sollte als Notfallkrankenhaus ausgebaut werden. Für dieses Projekt gab es sogar einen Hubschrauberlandeplatz außerhalb des Vorklosters. Diese Erklärung hatte ihm der Meister der Bruderschaft gegeben, als Hendriksen sich darüber gewundert hatte, was ein Landeplatz für Hubschrauber im Bereich eines Klosters zu suchen habe. Neben den Gebäuden gab es Scheunen fürs Getreide, Stallungen für Kühe und Schweine, einen Bereich für Geflügel und halb verfallene Bauten für eine Schmiede, Räucherei, Käserei, Brennerei, Brauerei und eine Wäscherei. Außerhalb des Komplexes befanden sich zudem die Ruinen eines längst aufgegebenen Frauenklosters. Als neuestes Bauwerk war eine Biogasanlage hinzugekommen. Wie der Meister erklärt hatte, war es das Ziel der Bruderschaft, dass das Kloster sich selbst versorgen und darüber hinaus noch Gewinn erwirtschaften konnte.

Hendriksen schlenderte ziellos über das Gelände. Dabei fiel ihm immer wieder ein aufleuchtender Punkt auf, als wenn jemand mit einer kleinen, rötlichen Lampe Leuchtzeichen geben würde. Das Blinken kam aus der Richtung, in der die Überbleibsel der einstigen Brennerei lagen.

Neugierig geworden, ging Hendriksen auf das Licht zu. Beim Näherkommen erkannte er, dass das, was er für Lichtsignale gehalten hatte, das Aufglimmen einer Zigarette war.

»Auch noch frische Luft schnappen?«, begrüßte ihn der Raucher.

Es war Torsten Meinrad, einer der Gäste, der einen Aufenthalt von einer Woche gebucht hatte. Meinrad war Vertreter einer Chemiefirma und wohnte mit seiner Familie in Köln. Auch er war hier, um sich vom Stress seines Berufs zu entspannen.

»Nur ein wenig die Beine vertreten«, antwortete Hendriksen. Um nicht unhöflich zu erscheinen, setzte er sich neben Meinrad auf einen Mauervorsprung.

»Ich wollte dich immer schon mal fragen, wie du das hier drei Wochen aushalten kannst. Ich werde hier schon nach einer Woche verrückt. Dieses ewige Schweigen, nicht zum Aushalten. Bin froh, wenn ich übermorgen abreise.«

Hendriksen musste im Dunkeln schmunzeln. Meinrad, oder richtiger ausgedrückt: Torsten, denn alle Brüder und Gäste duzten sich, war ein Dauerredner. Das brachte wohl seine Tätigkeit als Vertreter mit sich. Als Kölner saß ihm die Zunge sowieso locker.

Hendriksen antwortete provokant: »Ich kann dir nicht zustimmen. Es ist doch ein Genuss, eine Zeitlang nicht reden zu müssen. Endlich findet man Zeit, über sich und sein Leben nachzudenken.«

»Ich weiß nicht, ob das hilft. Die beiden Neuankömmlinge sehen jedenfalls nicht so aus, als würde sich durch die verfluchte Stille ihr Leben verbessern. Die sehen aus, als wären ihnen alle Felle davongeschwommen. Nee, Marten, ich sag dir, das hier ist nur was für Penner.«

Hendriksen überging die bewusst oder unbewusst ausgesprochene Beleidigung. Hätte er geahnt, dass er den beiden verzweifelten Besuchern noch einmal unter ganz anderen Umständen begegnen sollte, hätte er Torsten Meinrads Bemerkung nicht so leichtfertig abgetan.

»Wenn dir das hier so zuwider ist, wieso bist du dann hergekommen? Du hättest doch deine Zeit an einem erholsameren Ort verbringen können. Was unsere Neuen angeht, da gebe ich dir allerdings Recht. Die sehen tatsächlich aus, als würden sie von Kummer geplagt.«

»Genau das sage ich ja. Ich habe heute dem einen einen Witz erzählt, nur um ihn zum Lachen zu bringen. Der hat keine Miene verzogen. Der andere war auch nicht viel besser, nicht einmal geantwortet hat er mir.«

»Vielleicht wollen sie nur ihre Ruhe haben. Nicht jeder ist eine Frohnatur.«

»Ich bitte dich, du willst mir doch nicht erzählen, dass jemand lieber brummig vor sich hinstarrt, als herzhaft mit anderen über einen Witz zu lachen?«

»Doch, kann ich mir sogar gut vorstellen. Auch ich hänge lieber meinen Gedanken nach, als mir alberne Geschichten anzuhören.«

»Willst du damit sagen, ich erzähle alberne Geschichten?«, fragte Torsten aggressiv.

»Wie kommst du denn darauf? Ich habe ja noch gar keine von dir gehört.«

»Dann werde ich dir jetzt eine wahre Geschichte erzählen. Ich habe sie selbst erlebt, ob du es glaubst oder nicht.«

»Nee, Torsten, lass man lieber. Augenblicklich bin ich nicht in Stimmung dafür.«

Hendriksen stand auf, winkte Torsten zum Abschied zu und ging in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Mit einem zufriedenen Lächeln registrierte er, wie Torsten hinter ihm »Arschloch« sagte.

Hendriksen war alles andere als ein Eigenbrötler, doch er hasste Kneipengeschwätz und Schluderei über Menschen, die nicht anwesend waren. Allerdings war ihm der bedrückte Gemütszustand der Neuankömmlinge auch aufgefallen, und auch, dass zwei der Brüder sich bemühten, sie von den anderen Gästen fernzuhalten. Es ist schon merkwürdig, dass die, die eine Selbstbesinnung offenbar besonders nötig haben, nur so kurz im Kloster verweilen, dachte er, und schon war seine Neugierde geweckt.

Er hatte gerade den Eingang erreicht, als es zu regnen begann. Schnell schlüpfte er durch die Personentür in den Kreuzgang. Eine Weile blieb er angelehnt an einer Säule, auf deren Kapitell der Rundbogen ruhte, stehen. Es war ein beruhigendes Bild, das sich ihm bot. Der Regen rauschte in den Innenhof, die Tropfen zerstoben an der Abdeckung des fast tausend Jahre alten Brunnens. In Gedanken versunken fragte er sich, was der Brunnen in all den Jahren wohl schon erlebt hatte. Als er trotz seiner Wetterjacke zu frösteln begann, ging er in seine Zelle. Hier war es kalt und feucht. Die dicken Klostermauern verhinderten, dass die Mauersteine jemals ganz austrockneten.

Hendriksen schaltete die Lampe ein. Die von der Decke hängende Sparglühbirne gab gerade so viel Licht ab, dass man in der Bibel lesen konnte. Er schaltete auch den zweiten Luxusgegenstand ein, den ihm einer der Brüder auf seine Bitte hin in die Zelle gestellt hatte. Der elektrische Ofen gab sofort Wärme ab und erzeugte in dem kargen Ambiente eine gewisse Gemütlichkeit. Leider war das Gerät schon so betagt, dass der Ventilator unrund lief und seine Flügel an einer Seite gegen das Gehäuse schlugen. Wenn Hendriksen ins Bett ging, schaltete er ihn aus, weil ihn das scheppernde Geräusch am Einschlafen hinderte. Die Folge war, dass er sich einen Trainingsanzug als Schlafanzug anziehen musste. Bevor er die Bettdecke aufschlug, wollte er den Zeitschriftenfetzen, den er vor der Abendvesper dort hingelegt hatte, wegnehmen. Er war nicht mehr da.

Hendriksen schüttelte verwundert den Kopf. Er war sich sicher, ihn aufs Bett gelegt zu haben. Er schaute auf dem Boden nach. Vielleicht war er durch die Luftbewegungen des Heizofens vom Bett geblasen worden. Doch wo immer er auch suchte, der Zettel blieb verschwunden.

Kapitel 2

Es war undenkbar, dass jemand in sein Zimmer eingedrungen war, um die Zeitschriftennotiz zu stehlen. Mitten in der Nacht stand er noch mal auf, um den Raum zu durchsuchen. Doch wie bereits beim ersten Mal fand er nichts. Auch in den Hosen- und Jackentaschen war nichts. Der Verbleib des Papierfetzens blieb ein Geheimnis.

Wenn es etwas gab, das er nicht leiden konnte, dann waren es Geheimnisse. Die Nachricht an sich hatte seine Neugier schon geweckt, aber jetzt würde er alles daran setzen, herauszufinden, was dahinter steckte.

Durch die Suche war er hellwach geworden. Die Zelle war ihm plötzlich zu klein, um nachzudenken, und da er mit den aufgewühlten Gedanken im Kopf nicht schlafen konnte, zog er die Wetterjacke an und ging hinaus auf den Kreuzgang. Der Regen hatte zugenommen. Wieder beobachtete er, wie die Wassertropfen auf das Dach des Brunnens trommelten und in kleinen Fontänen zersprangen. Das gleichmäßige Geräusch hatte eine hypnotisierende Wirkung. Die sich überschlagenden Gedanken in seinem Kopf beruhigten sich und verschwanden mehr und mehr im Unterbewusstsein. Eine wohltuende Ruhe breitete sich in ihm aus. Er versuchte, dieses Gefühl zu bewahren, indem er sich auf das Trommeln des Regens auf dem Brunnendach konzentrierte.

Wie lange er wie in Trance an der Mauer gelehnt hatte, konnte er später nicht mehr sagen. Er wusste nur, dass ein lautes Geräusch ihn aus der herrlichen Ruhe gerissen hatte.

Es dauerte einige Sekunden, bis er wieder im Hier und Jetzt angekommen war und das Geräusch identifizieren konnte. Es klang, als wäre ein schwerer Gegenstand auf den Boden aufgeschlagen. Kein Stein, dazu war der Laut zu dumpf gewesen. Eher ein Sandsack oder etwas Ähnliches, auf jeden Fall etwas Weiches. Er ging in Richtung des Geräuschs. Im fahlen Licht der Lampe, die den Innenhof beleuchtete, sah er etwas Dunkles am Fuße des Kirchturms liegen. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er wusste instinktiv, was das zu bedeuten hatte. Trotzdem zwang er sich weiterzugehen.

Eine menschliche Gestalt, eingehüllt in eine dunkle Kutte, lag auf dem Boden. Hendriksen blickte nach oben. Über ihm befand sich eine der vier Rundbogenöffnungen des Glockenturms. Die Gestalt musste aus der Öffnung gestürzt sein. Wenn das der Fall war, dann waren Erste-Hilfe-Maßnahmen sinnlos. Die Verletzungen durch den Aufprall auf den Ziegelboden dürften jede Hoffnung auf ein Lebenszeichen zunichte machen. Trotzdem trat er an den Mann heran, beugte sich herunter und überprüfte sicherheitshalber Puls und Atmung, fühlte aber nichts. Er richtete sich auf und rannte zu seiner Zelle, um das Smartphone zu holen. Die Leuchtkraft der LED-Birne musste ausreichen, um den Toten oberflächlich zu untersuchen. Er wollte gerade die Kapuze vom Kopf ziehen, als er hinter sich eine Stimme hörte.

»Halt! Wer sind Sie? Was machen Sie da?«

Hendriksen drehte sich um. Einen Augenblick war er erschrocken, denn er hatte keine Schritte gehört. Unwillkürlich blickte er auf die Füße. Es waren zwei Männer in Filzpantoffeln. Er richtete sich auf. Die Männer trugen weiße Kutten, über die sie schwarze Mäntel gezogen hatten. Die Kapuzen hatten sie über die Köpfe gezogen, so dass Hendriksen ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Er richtete sich vollends auf und leuchtete mit dem Smartphone in die Gesichter. Die Mönche hielten unwillkürlich die Hände vor die Augen, um nicht geblendet zu werden. Trotzdem erkannte er den Abt und den jüngsten Dominikanermönch, der sich Bruder Sebastian nannte.

»Das Gleiche frage ich euch, Bruder Abt und Bruder Sebastian. Drei Uhr ist nicht gerade die Zeit, um spazieren zu gehen.«

Hendriksen leuchtete sich mit dem Smartphone selbst ins Gesicht, damit ihn die Dominikaner erkennen konnten.

»Ich bin Bruder Marten. Ich will wissen, wer der Tote ist, der mir hier quasi vor die Füße flog. Außerdem will ich ihn untersuchen, obwohl ich denke, dass die Todesursache feststehen dürfte. Doch das Offensichtliche muss nicht immer den Tatsachen entsprechen. Wenn ihr mir also bitte mit den Taschenlampen, die ihr da ausgeschaltet in euren Händen haltet, leuchten würdet, könnte ich mit der Untersuchung beginnen. Darf ich euch zuvor noch bitten, meine Frage, wieso ihr zu dieser frühen Morgenstunde hier seid, zu beantworten?«

»Für dich, Bruder Marten, mag es früh sein, für uns ist es die Stunde, unsere Fürbittegebete zu sprechen«, antwortete der Abt, und Bruder Sebastian fügte erklärend hinzu: »Bruder Gregorius ist nicht erschienen, deshalb machten wir uns auf die Suche nach ihm. Und jetzt lass uns bitte zu unserem Bruder, damit wir uns davon überzeugen können, dass er es ist.«

Hendriksen trat bereitwillig zur Seite.

Die Dominikaner traten an den Toten heran und zogen ihm die Kapuze vom Kopf. Dann richteten sie sich auf, bekreuzigten sich und murmelten ein Gebet, dessen Worte Hendriksen nicht verstand.

Unterdessen hatte er sich den Toten oberflächlich angesehen. Der Teil des Gesichts, mit dem er auf dem Boden aufgeschlagen war, war völlig zerschmettert. Nur an der unzerstörten Gesichtshälfte konnte der Tote tatsächlich als Bruder Gregorius, der älteste der Mönche, identifiziert werden. Um den Kopf herum hatte sich nur eine kleine Blutlache gebildet.

Ohne sich um die Dominikaner zu kümmern, rief Hendriksen die Eins-eins-null an. Als sich eine weibliche Stimme meldete, sagte er: »Mein Name ist Dr. Marten Hendriksen. Ich melde mich aus dem Kloster der Brüder vom Kreuz Jesu in Steinförden. Es hat hier einen Toten gegeben. So wie es scheint, ist die Person aus dem Glockenturm gestürzt.«

»Bleiben Sie vor Ort und sorgen Sie dafür, dass nichts angerührt wird. Ein Streifenwagen kommt.«

Die Dominikaner hatten ihr Totengebet beendet, als Hendriksen die letzten Worte an die Polizei durchgab.

»Was hast du gerade gemacht?«, fragte der Abt aufgeregt.

»Die Polizei alarmiert, wie es bei einem so ungewöhnlichen Todesfall erforderlich ist.«

»Das war absolut unnötig und außerdem nicht deine Angelegenheit.«

Hendriksen spürte, wie der Abt seine Erregung unter Kontrolle zu halten versuchte. Natürlich war es ein Drama, dass einer der wenigen Brüder tödlich verunglückte. Aber Bruder Gregorius war fünfundneunzig Jahre alt, so dass mit seinem Tod täglich gerechnet werden musste. Vielleicht war ihm da oben schwindelig geworden.

»Dies ist kein Fall für die Polizei. Unser himmlischer Vater hat unseren Bruder zu sich gerufen. Jetzt sind wir es ihm schuldig, ihm ein würdiges Begräbnis zu bereiten. Die Ruhe des Toten sollte durch keine öffentliche Untersuchung gestört werden.« Er wandte sich an den neben ihm stehenden Mönch. »Komm, Bruder Sebastian, wir tragen unseren heimgegangenen Bruder in die Kirche. Fass du an den Füßen an, ich nehme seine Arme.«

Die beiden Mönche machten Anstalten, zu dem Toten zu gehen. Hendriksen trat ihnen energisch entgegen.

»Halt! Niemand kommt in die Nähe des Toten oder bewegt ihn, bevor die Polizei ihn nicht freigegeben hat.«

Jetzt verlor der Abt den Rest seiner Beherrschung.

»Wer gibt dir das Recht, uns in unserem Haus vorzuschreiben, was wir tun dürfen und was nicht? Du bist Gast hier, zwar nicht von uns, aber der unserer Brüder vom Kreuz Jesu. Also verhalte dich entsprechend. Und nun gib uns den Weg frei.«

Hendriksen rührte sich nicht von der Stelle. Ein paar Sekunden überlegte er, ob er sich als Chef der Hamburger Agentur für vertrauliche Ermittlungen zu erkennen geben sollte, aber der Hilferuf auf dem Zettel und der tote Mönch ließen ihn davon Abstand nehmen. Der Hilferuf zwang ihn förmlich dazu, Ermittlungen in diesem Fall aufzunehmen. Er nahm an, dass die Menschen im Kloster, egal ob Mönche oder Gäste, ihm unbefangener Auskunft geben würden, wenn sie seinen Beruf nicht kannten. Also sagte er nachdrücklich: »Deine Frage, Bruder Abt, ist berechtigt, und ich entschuldige mich für mein schroffes Verhalten, doch ich bin Arzt und darüber hinaus auch Rechtsmediziner, und in beiden Eigenschaften kann nur ich entscheiden, was mit dem ums Leben gekommenen Bruder Gregorius zu geschehen hat. Jeder, der sich meinen Anweisungen widersetzt, macht sich strafbar und läuft Gefahr, wegen Strafvereitelung und Behinderung der Justiz angeklagt zu werden. Ich muss euch deshalb bitten, meine Anordnungen zu befolgen. Sie gelten nur so lange, bis die Polizei eintrifft, was jede Minute geschehen kann.«

Offenbar wirkten seine Worte einschüchternd auf die beiden Dominikaner, denn sie zogen sich ein paar Schritte zurück.

Inzwischen hatte die erregte Unterhaltung andere Gäste und Brüder geweckt, denn der Kreuzgang füllte sich mit Neugierigen.

Hendriksen hielt sie so weit zurück, dass sie dem Verunglückten nicht zu nahe kamen. Für diese Aufgabe teilte er die beiden ersten am Unfallort erschienenen Brüder vom Kreuz ein. Sie übernahmen sie widerspruchslos.

Er brauchte nicht lange zu warten, dann hörte er eine Polizeisirene. Kurze Zeit später hämmerte jemand an das Tor. Einer der Brüder öffnete den Beamten in Uniform die Tür. Hendriksen ging ihnen nicht entgegen, sondern erwartete sie bei dem Toten, aus Sorge, die Dominikaner könnten sich an ihrem Bruder zu schaffen machen, sobald er ihnen den Rücken zukehrte.

Ein Hauptwachtmeister und ein weiblicher Wachtmeister kamen auf sie zu. Offenbar kannten sie den Abt, denn der Hauptwachtmeister trat an den Dominikaner heran und erkundigte sich, ob er veranlasst hätte, die Polizei zu rufen. Der deutete als Antwort auf Hendriksen, worauf die beiden Polizisten auf ihn zutraten. Obwohl es unnötig war, stellte der Hauptwachtmeister Hendriksen noch mal die gleiche Frage. Dann bat ihn der Polizist, zu berichten, was passiert war.

»Vielleicht wäre es sinnvoll, uns unter vier Augen zu unterhalten«, schlug Hendriksen vor. Er wollte vermeiden, dass irgendjemand von den Ergebnissen seiner oberflächlichen Untersuchung erfuhr.

Der Polizist musterte ihn kritisch und gab dann seiner Kollegin die Anweisung, dafür zu sorgen, dass die Anwesenden ihre Zimmer aufsuchten. Er selbst ging zum Abt und bat diesen in einem ehrfurchtsvollen Ton, das Gleiche zu tun.

Als alle Neugierigen außer Hörweite waren, forderte er Hendriksen auf, ihm über den Vorfall zu berichten.

»Also ein Unfall, Ihrer Meinung nach«, fasste der Beamte das Gehörte zusammen.

Hendriksen schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Der Mönch war bereits tot, als er auf den Boden aufschlug.«

Der Beamte sah Hendriksen stirnrunzelnd an. »Wie kommen Sie darauf?«

Hendriksen trat an den Toten heran. »Sehen Sie sich den Kopf an. Aus der großen Verletzung ist nur wenig Blut ausgetreten. Ich nehme an, Sie wissen, dass wenn das Herz zu schlagen aufhört, kein Blut mehr durch die Adern gepumpt wird, also nur das Blut austritt, das sich in den verletzten Gefäßen befindet, und das scheint hier der Fall zu sein.«

Der Hauptwachtmeister beugte sich zu dem Toten hinunter, hob die Kapuze, die über dem Kopf lag, hoch und musterte den Bereich um die Verletzung. Hendriksen sah, wie er sich zwingen musste, den zerschmetterten Schädel, aus dem Gehirnmasse ausgetreten war, zu betrachten.

Der Hauptwachtmeister richtete sich auf. »Ich sehe, was Sie meinen. Das muss aber keine unnatürliche Ursache haben. Er könnte einen Schlaganfall bekommen haben und ist dabei hinuntergestürzt.«

»Wäre möglich«, antwortete Hendriksen. »Aber was macht ein fünfundneunzigjähriger Mönch in dreißig Meter Höhe um drei Uhr morgens auf dem Glockenturm, zumal zur gleichen Zeit ein Gebet angesetzt war, wie mir der Abt mitteilte?«

»Vielleicht wollte er Selbstmord begehen.«

»Unwahrscheinlich. Erstens ist er Mönch, und soweit ich weiß, ist Selbstmord für Katholiken eine Todsünde, und zweitens wäre er in diesem Fall erst durch den Aufschlag auf den Boden gestorben.«

»Sie denken also, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist?«

»Das will ich so nicht sagen. Das zu beurteilen, ist letztlich Sache der Kriminalpolizei. Als Rechtsmediziner kann ich nur sagen, dass es bei diesem sogenannten Unfall Ungereimtheiten gibt, die eine offizielle Untersuchung durch die Rechtsmedizin zwingend erforderlich machen.«

Der Hauptwachtmeister überlegte einige Augenblicke, dann führte er per Handy ein Telefonat. Soweit Hendriksen hörte, meldete er den Unfall seiner vorgesetzten Dienststelle und forderte die Kriminalpolizei und die Kriminaltechnik an. Dann wandte er sich wieder an Hendriksen.

»Sie können jetzt zurück in Ihre Unterkunft gehen. In Kürze wird meine Kollegin zu Ihnen kommen, um Ihre Personalien und Ihre Aussage aufzunehmen. Wo sind Sie untergebracht?«

Hendriksen zeigte auf seine Zelle und ging.

Er setzte sich an den winzigen Tisch, schob die Bibel zur Seite und zog sein Notizbuch aus der Tasche der Wetterjacke. Er klappte es auf und legte den Kugelschreiber daneben. Dann schloss er die Augen, suchte sich in Gedanken einen Punkt in der Zelle und konzentrierte sich darauf. Nach wenigen Sekunden verschwamm der Punkt. Jetzt lenkte er seine Aufmerksamkeit auf den verschwundenen Zeitschriftenfetzen. Langsam wurde das Bild vor seinem geistigen Auge klarer, und er konnte die Satzfetzen aus der Anzeige, über die der Hilferuf geschrieben war, lesen. Er öffnete die Augen und notierte den Text in das Notizbuch.

Hilfe! Rette mich. Ich bin in …

Dann schrieb er auch den Anzeigentext auf.

Haben Sie Sorgen, die Sie plagen, oder …

mit Ihrem Leben nicht mehr zurecht, bei...

Rufen Sie uns an oder schicken Sie …

Unsere Telef…

E-M…

Was hatte das zu bedeuten? Hingen Hilferuf und Anzeige zusammen, oder hatte das eine mit dem anderen nichts zu tun? Natürlich war es möglich, dass dem Schreiber die Seite mit der Anzeige als erstes in die Finger gekommen war und er darauf seine Worte geschrieben hatte, dabei gestört worden war und gerade noch Zeit gefunden hatte, die Notiz herauszureißen. Möglich, sagte sich Hendriksen, doch eher unwahrscheinlich. Wäre der Notruf auf eine solche Textseite geschrieben worden, wäre das verständlich. Doch wer ließ schon einen Anzeigeteil so liegen, dass er als erstes greifbar ist? Es sei denn, der Schreiber war besonders an diesem Teil der Zeitschrift interessiert. Vielleicht wollte der Autor auch gerade auf diese Anzeige hinweisen, indem er den Text darauf notierte.

Hendriksen stand auf, legte sich angezogen auf die Pritsche und dachte mit geschlossenen Augen nach.

Kurz darauf riss ihn ein Klopfen aus seinen Gedanken.

»Kommen Sie rein.«

Die junge Wachtmeisterin trat ein.

»Ich bin Sabine Franzen«, stellte sie sich vor. »Ich habe den Auftrag, Ihre Personalien und Ihre Aussage aufzunehmen.«

Hendriksen stand auf, klappte das Notizbuch zu und steckte es in seine Hosentasche.

»Bitte, machen Sie es sich bequem«, sagte er und deutete auf den winzigen Tisch.

»Danke.«

Die Wachtmeisterin nahm Platz, während er sich aufs Bett setzte.

Nachdem die junge Beamtin die Personaldaten von seinem Ausweis abgeschrieben hatte, berichtete er noch einmal, was sich in der Nacht zugetragen hatte. Er sprach langsam, damit sie mitschreiben konnte. Als er mit seinem Bericht fertig war, hielt sie ihm ihr Notizbuch hin.

»Würden Sie bitte so freundlich sein, Ihre Aussage durchzulesen und, wenn Sie mit der Aufzeichnung einverstanden sind, sie zu unterschreiben?«

Eine Novizin, dachte Hendriksen. Korrekt und höflich, wie man es ihnen auf der Polizeischule beigebracht hatte. Er nahm ihr den Block aus der Hand, las den Text durch und unterzeichnete ihn.

Die Beamtin bedankte sich und ging. Ihre höfliche Art hatte Hendriksen froh gestimmt. Er musste lächeln. Es war schon erstaunlich, worüber man sich in diesem Verlies nach zwei Wochen Meditation freuen konnte.

Kapitel 3

Es war bereits halb fünf Uhr morgens, als Hendriksen sich in seine Decke einkuschelte, um noch etwas zu schlafen. Er hatte sich vorgenommen, das Glockengeläut, das zur Morgenandacht und zum Frühstück aufrief, zu ignorieren. Lieber würde er sich später in der Küche etwas besorgen. Das Betreten der Küche war den Gästen zwar verboten, wenn sie nicht gerade zur Arbeit dort eingeteilt waren, doch er hatte sich bemüht, gleich am Anfang ein gutes Verhältnis zum Küchenpersonal aufzubauen.

Er war kaum eingeschlafen, als ihn ein heftiges Klopfen an der Zellentür aus dem Schlaf riss. Er sah auf die Uhr. Es war fünf Minuten nach sechs. Mit einem dem Kloster nicht angemessenen Fluch schälte er sich aus den Decken, tapste zur Tür und riss sie ungehalten auf.

»Was sind denn das für Ausdrücke?«, sagte die Frau, die ihn geweckt hatte. »Und das in diesen heiligen Hallen. Viele Früchte scheint deine innere Einkehr nicht getragen zu haben.«

»Du?«, stieß Hendriksen verblüfft aus. »Was machst du denn so weit abseits deiner Schlachthallen?«

Die Frau kam nicht dazu, zu antworten, denn ein Mann um die Fünfzig kam heran und sprach sie an.

»Frau Professor, soll der Tote jetzt in Ihr Institut gebracht werden?«

»Ja, würden Sie es bitte veranlassen? Ich habe das Institut bereits informiert. Der Leichenwagen wird erwartet.«

»Okay, ich kümmere mich darum.«

Die Frau, die Hendriksen so burschikos angesprochen hatte, war Professor Dr. Silke Moorbach, Leiterin des Instituts für Rechtsmedizin und Forensik in Hamburg-Eppendorf. Als Professorin lehrte sie an der Hamburger Universität Rechtsmedizin. Vor gut zwei Jahren hatte Hendriksen noch zu ihrem Team gehört. Als Rechtsmediziner war er ein aufsteigender Stern in diesem Fachgebiet gewesen, bis ihm eine, wie er es nannte, Leichenallergie die Arbeit an Toten unmöglich machte. Auf Vermittlung von Professor Moorbach war er als Mitarbeiter in die Agentur für vertrauliche Ermittlungen von Jeremias Voss eingestiegen und hatte sich dort so qualifiziert, dass ihn Voss zum Geschäftsführer ernannte, als er selbst sich aus dem Geschäft zurückzog.

»Nachdem wir uns so herzlich begrüßt haben, lade ich dich ein, meinen Palast zu besichtigen.« Hendriksen machte eine einladende Handbewegung. »Ich biete dir auch meinen bequemsten Stuhl an.«

Professor Moorbach sah mit gerümpfter Nase in die Zelle und schaute sich um.

»Mein Gott, Marten, hier haust du? Dagegen wohnen ja die Knastbrüder in Hamburg direkt luxuriös.«

»Für die sorgt ja auch der Staat. Ich hingegen muss für meinen Unterhalt selbst aufkommen.«

»Dann frage ich mich, warum du das Kloster nicht gekauft hast. Aber Spaß beiseite, als ich hörte, wer den angeblichen Unfall der Polizei gemeldet hat, wollte ich es zuerst nicht glauben. Überall in der Welt hätte ich dich vermutet, nur nicht in so einer Zelle.«

Hendriksen wollte etwas sagen, doch Silke kam ihm zuvor.

»Erklär mir alles später. Ich habe einen Vorschlag. Nicht weit von hier ist eine Bäckerei, die in einem Nebenraum ein paar Tische stehen hat. Ich hab’s im Vorbeifahren gesehen. Zieh dir etwas an und lass uns dorthin fahren. Ich bin sicher, wir können dort frühstücken. Mich hier länger als fünf Minuten aufzuhalten, schlägt mir aufs Gemüt.«

»Eine gute Idee.«

»Ich warte draußen.« Sie verließ die Zelle.

Hendriksen wusch sich schnell und zog sich an. Fünf Minuten später trat er zu seiner ehemaligen Chefin in den Kreuzgang.

Von dem Unfall war nichts mehr zu sehen. Nur die zusammenstehenden Mönche und Gäste erinnerten daran, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war.

Hendriksen und Moorbach drängten sich an einer Gruppe von Brüdern vorbei. Am Tor zog Hendriksen einen Schlüssel aus der Hosentasche, mit dem er die Personentür aufschloss.

»Als Gast gehöre ich zu den Privilegierten, die einen Schlüssel besitzen«, sagte er gespielt stolz, während er Silke die Tür aufhielt.

»Wohl damit sie fliehen können, ehe sie wegen deprimierender Einflüsse Selbstmord begehen.«

»Sei nicht so sarkastisch. Das verträgt mein sich nach einem herzhaften Frühstück sehnender Magen nicht.«

»Dann sollten wir zusehen, dass wir schnellstens zum Café kommen.«

Professor Moorbach hatte ihren Mercedes ungeachtet des Parkverbots im Vorkloster neben dem Tor abgestellt.

»Wie bist du denn hier hereingekommen?«

»Die Mönche waren durch den Vorfall anscheinend so durcheinander, dass das Tor im Zaun offenstand. Also bin ich durchgefahren. Das wäre ich ohnehin, denn schließlich bin ich in amtlicher Eigenschaft hier.«

»Brüder«, warf Hendriksen ein.

»Was meinst du?«

»Die Männer sind keine Mönche, sondern eine Bruderschaft – die Brüder vom Kreuz Jesu.«

»Der Tote war doch ein Dominikaner, und die Männer, mit denen ich gesprochen habe, ebenfalls, oder habe ich im Religionsunterricht nicht aufgepasst?«

»Du hast aufgepasst. In diesem Kloster leben zwei religiöse Gemeinschaften. Zum einen die Dominikaner und zum anderen die besagten Brüder. Letztere haben den Dominikanern das Kloster abgekauft.«