cover

Sabine Jürgens

Haben wir noch
alle Tassen im Schrank?

Haben wir noch
alle Tassen im Schrank?

Was wir über die Psyche zu wissen glauben und was wirklich stimmt

Sabine Jürgens

images

images

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

info@mvg-verlag.de

Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Petra Holzmann

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: shutterstock.com/YUCALORA, Aleksandra Novakovic

Autorenfoto: © David Sonntag

Layout: Isabella Dorsch

Satz: Röser MEDIA, Karlsruhe

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7474-0158-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-525-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-526-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Na, noch ganz dicht?

Wie man uns den Spaß an der Psyche verdorben hat

Warum Gehirn und Psyche sehr wohl zusammenpassen

Was ist eigentlich in meiner Psyche los?

Wozu braucht man Bedürfnisse?

Wer oder was ist eine »echte« Persönlichkeit?

Warum kommt so ’ne Psyche eigentlich nicht alleine klar?

Was soll ich denn jetzt machen?

Check doch mal: Hast du noch alle Tassen im Schrank?

Geschafft!

Zum Schluss ...

Über die Autorin

Quellenverzeichnis

images

Na, noch ganz dicht?

Der Besucher einer geschlossenen Anstalt fragt den Direktor, nach welchen Kriterien entschieden wird, ob ein Patient aufgenommen wird. Direktor: »Wir füllen eine Badewanne, geben dem Patienten einen Teelöffel, eine Tasse und einen Eimer und bitten ihn, die Badewanne zu leeren.« Besucher: »Verstehe, ein normaler Mensch würde den Eimer nehmen, richtig?« Direktor: »Nein, ein normaler Mensch würde den Stöpsel ziehen.«

Hätten Sie den Stöpsel gezogen?

Was ist denn eigentlich normal? Und ab wann ist man irre? Oder hat der Direktor vielleicht einen an der Waffel, weil er behauptet, normal sei es, circa 200 Liter Wasser sinnlos durch die Kanalisation rauschen zu lassen?

Wer hat hier eigentlich nicht mehr alle Tassen im Schrank? Wir oder die? Dieses ganze Psychoding nervt doch! Angeblich total schwierig und kompliziert. Und natürlich unangenehm. Die Büchse der Pandora. Bloß nicht aufmachen! Um das Ding machen wir lieber einen großen Bogen. Betreten verboten. Oder: Zugang nur für Fachpersonal!

Angeblich liegt da ja was schwer im Argen. In uns würden dunkle Abgründe wüten, da lauerten schwere Konflikte und böse Triebe stürzten uns ins Verderben. Auch Gehirn und Psyche könnten nicht miteinander. Heißt es. Da will man uns ein Problem an die Backe nageln und dann haben die ganzen Schlauberger keine Lösung parat.

Was soll dieser ganze aufgeblasene Unsinn? Kann man da mal die Luft rauslassen? Oder ist die Psyche eine Heilige Kuh, ein unantastbarer Mythos? Die Legende vom Unergründlichen? Quatsch! Ich habe mich mal mit diesem »Ding« völlig unvoreingenommen beschäftigt. Als Mensch und Besitzer einer solchen. Nicht wissenschaftlich, nicht philosophisch und schon gar nicht pathologisch. Sondern pragmatisch. War ganz einfach, ich habe ja immer eine Psyche dabei. Griffbereit sozusagen. Und dann habe ich geschaut, was die den ganzen Tag so macht. Ob ich noch sauber ticke. Und alle beisammen habe.

Erstaunlicherweise war das weder kompliziert noch schwierig.

images

Wie man uns den Spaß an der Psyche verdorben hat

Erster Schritt: Vorsichtiges Rantasten. Ich höre mich um, klicke durchs weltweit gewebte Netz, sammle Informationen. Was weiß ich bereits, was gibt’s Neues? Man könnte mit Psycho-Erkenntnissen den ganzen Planeten tapezieren. Hundert Experten, tausend Meinungen. Ich filtere mal einige Infos raus.

Das sagt man so ...

»Ich bin ja eigentlich nicht so’n Psycho.«

Eröffnung einer ersten Therapiesitzung – ähnlich wie beim Schach. Ein bevorzugter Männersatz. Danach könnte man die Partie eigentlich abbrechen.

»Ach, das ist doch alles nur Psyche!«

Eher ein Frauensatz. Oft gehört in Betriebskantinen oder Teeküchen, wenn sich die Kollegin aus der Buchhaltung mal wieder krankgemeldet hat und keiner den Grund so genau kennt.

»Der ist doch voll Psycho!«

Ein kindlicher bis jugendlicher Satz, der auf Schulhöfen zu Hause ist und bekanntermaßen kein Kompliment sein soll.

»Ach, hör mir auf mit dem Psycho-Quatsch. Die soll sich nicht so anstellen!«

Ein Ü60-Satz. In dieser Zielgruppe kursieren auch noch Begriffe wie Klapse und Irrenanstalt. Und fast jeder hatte irgendeine alte Tante, die es früher mal »mit den Nerven hatte« und für einige Zeit »auf Kur« war.

Prima, ausnahmsweise scheinen sich alle mal einig zu sein, jung und alt, Männlein und Weiblein: Psyche ist Scheiße. Will man nicht, braucht kein Mensch.

Wir können ja heute über (beinahe) alles reden: Menstruationsbeschwerden, Fußpilz, Darmspiegelung. Beim Abendessen mit Freunden kommt jedes noch so unappetitliche Thema auf den Tisch. Tim war beim Urologen und Andrea hat neuerdings nachts Schweißausbrüche. Mollys Ekzem nässt immer noch und Toms eingewachsener Zehennagel eitert. Und dann kommt der Hammer: Susanne erzählt, dass sie jetzt einen Psycho-Coach hat. Betretenes Schweigen.

Beim Thema Psyche hört der Spaß auf, damit möchte keiner was zu tun haben.

Seit wann hat DIE PSYCHE eigentlich dieses beschissene Image? Oder hatte sie das immer schon? Vielleicht wissen es die meisten gar nicht, aber: DIE PSYCHE gibt es auch in gesund. Echt jetzt. Es gibt ja auch nicht nur Raucherbeine und Fettlebern. Es soll sogar Mägen ohne Geschwüre geben. Aber die Psyche existiert nur in krank oder gestört?

Fakt ist: Die deutsche Durchschnittspsyche ist eine arme Sau. Vernachlässigt, verleugnet, ungeliebt. Psyche ist immer irgendwie schwer, anstrengend, unangenehm.

Im Prinzip geht es der Psyche wie der Prostata. (Ja, krasser move, aber guter Vergleich.) Die Prostata des Mannes ist ein ganz normales Organ. Kann man googeln. Die macht einen wichtigen Job. Ohne wär doof. (Auch für uns Frauen ...) Aber alle sind unangenehm berührt, wenn über sie gesprochen wird. Ich habe keinen blassen Schimmer, warum. Weil der Arzt bei einer Prostatauntersuchung seinen Finger in den Hintern schiebt? Da kann man ja als Frau nur milde lächeln. Der Ruf der Prostata ist also ähnlich schlecht, dabei kann man sie (im Gegensatz zur Psyche) sehen und sogar anfassen. (Wer’s mag.) Bei Prostata denken auch alle immer an Krankheit. Impotenz, Inkontinenz – der ganze Horrorfilm. So geht’s der armen Psyche auch. Psyche = verrückt, gestört oder labil. Auf jeden Fall: nicht ganz dicht.

Jede ordinäre Leber hat mehr Akzeptanz in der Bevölkerung. Für sie gibt’s regelmäßig ’ne schöne Detox-Kur. Auch Därme werden gespült und von Giftstoffen befreit. Zähne lassen wir regelmäßig sogar professionell reinigen. Schultern und Rücken dürfen sich über Massagen freuen. Nur die Psyche schaut blöd aus der Wäsche. Die soll sich mal schön bedeckt halten. Dabei könnte sie eine regelmäßige Reinigung und Müllentsorgung genauso gut gebrauchen. Aber: nix. Sie macht rund um die Uhr einen Knochenjob und ohne sie wären wir komplett aufgeschmissen. Doch statt Lob und Anerkennung gibt’s ständig auf den Deckel: »Ach, das ist doch alles nur Psyche!«

Vielleicht sollten Millionen Psychen mal auf die Straße gehen. Für eine faire, bessere Behandlung. Für mehr Anerkennung und Respekt. Fridays for Psyche!

»Psychologie ist ein grauenvolles Thema«, meinte der amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1842–1910). »Alles, was jemand wissen wollen würde, fällt nicht in diesen Rahmen.« Der Mann hat Principles of Psychology geschrieben, zwei Bände, insgesamt 1400 Seiten, zwölf Jahre lang, und er ist scheinbar an der Komplexität des Themas schier verzweifelt. Kein Wunder, dass der arme Kerl sein Leben lang unter Schlafstörungen und Depressionen litt.

»Alles, was jemand wissen wollen würde ...« Aber genau darum geht’s doch. Wir wollen eigentlich im Grunde was wissen. Zusammenhänge kapieren. Wissen wollen könnten wir auch was über Psychologie, die Seelenkunde; aber das ist ja eine Wissenschaft. Und mit so einer muss sich eigentlich keiner beschäftigen, wenn er nicht unbedingt will. Man muss ja auch nicht nach Feierabend Kardiologiebücher lesen. Aber dummerweise besitzen wir alle eine Psyche – und die funktioniert eben nicht wie Herz, Lunge und Leber weitgehend von alleine. Die braucht uns, unsere aktive Mitarbeit – und deshalb kommen wir an dem Psychoding nicht vorbei. Aber wir kapitulieren meist vor diesem grauenvollen Thema. Da stellt sich die Frage: Warum? Was ist hier eigentlich schiefgelaufen?

Der Mensch an sich ist doch nicht blöd. Wir lernen lesen, schreiben, rechnen. Biologie, Physik, Chemie und Fremdsprachen. Wir haben in grauer Vorzeit kapiert, wie man ein Faxgerät bedient, und irgendwann konnten wir Internet. Wir verstehen komplexe Zusammenhänge, denken logisch und überstehen den Tag ohne größere Katastrophen. (Die meisten jedenfalls.) Wir bringen uns alles Mögliche selbst bei: Gitarre spielen, Stricken, Origami. Wir können Lampen andübeln, schwedische Schränke aufbauen, Darmspülungen durchführen und Heilfasten. Dem Internet sei Dank. Ein Klick, und wir wissen Bescheid, machen alles selber. Nur Psyche können wir irgendwie nicht.

Sind wir zu doof oder ist die Psyche tatsächlich so schwer zu verstehen? Und ist sie wirklich das einzige menschliche Bauteil, das schon mit einem Konstruktionsfehler angeliefert wurde? Nach allem, was ich herausgefunden habe, lautet die Antwort auf diese Fragen ganz klar: Nein.

Werfen wir aber zunächst einen Blick auf den Mythos Psyche. Man hat uns viele tausend Jahre lang eine Menge wirres Zeug über sie erzählt. Was stimmt? Und was davon können wir getrost vergessen? Hier ein kurzer historischer Abriss.

»Dem haben sie doch die Seele geklaut« oder »Hat er den Verstand verloren?«

Der deutsche Begriff »Seele« hat seinen Ursprung im Mittelhochdeutschen, wo er sich angeblich von »See« ableitet. Die alten Germanen glaubten, dass Tote und Ungeborene im Wasser lebten (also: zum See gehörten). Und so ein Gewässer ist ja unergründlich ... Damit war schon mal klar: Seele = unergründlich. Ist das so? Oder ist das nur ein Gerücht, das sich bis heute hartnäckig gehalten hat?

Schon 10.000 v.Chr. befassten sich Schamanen mit der Seele. Nun könnte man sagen, dass die Erkenntnisse der damaligen Kulturen und ihre Sicht der Dinge für uns heute arg verstaubt und vielleicht auch ein bisschen schräg erscheinen. Aber: Das Thema hatten sie durchaus auf dem Schirm. Wurde ein Mensch krank, so hatte ihrer Meinung nach die Seele den Körper verlassen (oder sie war gestohlen worden). Heiler mussten sie wiederfinden und alles wurde wieder gut. Dazu brauchte man eben diese mitunter etwas sonderbar aussehenden Spezialisten. Für einen Betroffenen alleine war das wohl schwierig. (Im Prinzip waren Schamanen also die ersten Psychotherapeuten.)

Wenn heute jemand psychisch erkrankt (oder sich »seltsam« verhält), hat er nicht die Seele, sondern seinen Verstand verloren. – Sagt der Volksmund. Also scheint es da einen Zusammenhang zu geben. Irgendwas geht flöten: Man hat nicht mehr alle Tassen im Schrank oder Latten am Zaun. Und schon hier zeichnet sich ab: Seele hat offenbar in unserer Vorstellung etwas mit Mangel oder Defizit zu tun.

Eine interessante Erkenntnis kommt in diesem Zusammenhang auch von Buddha (bürgerlich Siddharta Gautama), der 528 v.Chr. seine Edlen Wahrheiten unters Volk brachte: 1. Wahrheit: Es gibt Leiden. 2. Wahrheit: Das Verlangen ist die Quelle allen Leidens. Mehr Details seiner Lehre brauchen wir an dieser Stelle nicht, wir wollen zwar Erleuchtung, aber mehr in Sachen Psyche.

Verlangen, das kennt jeder (hoffentlich), ist ein stark ausgeprägter Wunsch, ein starkes inneres Bedürfnis. Das Netz sagt: »Verlangen ist ein Erregungszustand, der dafür sorgt, dass sich die menschliche Psyche auf bestimmte Zielzustände richtet.«

(Ich will also irgendwas und meine Psyche sprintet los, um mir diesen Wunsch zu erfüllen. Klingt ja erst mal gut.)

Buddha machte das menschliche Verlangen als Wurzel allen Übels aus; und wenn das Verlangen in der Psyche angesiedelt ist, dann hat der kleine dicke Mann dazu beigetragen, dass wir glauben, dass die Psyche per se problematisch ist und Schuld hat. An unserem Leid. Und zwar an jedem noch so erdenklichen Leid. Das ist nicht schön, aber wenigstens gibt es einen Sündenbock. »Das Verlangen als böses Übel« begegnet uns später noch häufiger.

Doch erst mal beschäftigten sich 200 Jahre später sehr schlaue Leute mit dem Seelen-Thema. Die Antike bescherte uns neben den Olympischen Spielen, klassischen Tragödien und den bedeutendsten Werken der Weltliteratur wie Homers Illias und Odyssee auch große Denker. In der Blütezeit dieser Epoche (4. und 5. Jahrhundert v.Chr.) tummelten sich die wichtigsten Philosophen und versuchten, die menschliche Existenz zu ergründen. Inklusive Seele. Philosophia bedeutet übrigens »Liebe zur Weisheit« und man könnte sagen, dass die antiken Schlaumeier geradezu verknallt waren in ihre eigene kognitive Brillanz. Und in sich selber: Die Philosophen sollten Könige, die Könige Philosophen sein. Das hat nicht etwa das Volk gefordert, sondern diese Einstellung stammt natürlich – wie könnte es anders sein – von einem Philosophen selber. (Platon und sein Wunsch nach Philosophenherrschaft. Zu dem kommen wir gleich noch.) An anständigem Selbstbewusstsein hat es den damaligen Philosophen wohl nicht gemangelt. Sicher ist das auch heute noch eine wichtige Voraussetzung für einen Job, bei dem man den ganzen Tag Dinge infrage stellt, die eigentlich gar nicht fragwürdig sind. Aber irgendeiner muss den Job ja schließlich machen. Wir wollen hier kein Philosophen-Bashing betreiben, aber beim Seelenthema hätten wir doch ein paar fröhliche und praktisch veranlagte Optimisten besser gebrauchen können. Finde ich.

Um die Ergründung der ja angeblich unergründlichen Seele kümmerten sich unter anderem Platon, Sokrates und Aristoteles. Sie versuchten sich im Lösen einer eigentlich unlösbaren Aufgabe – was Besseres kann einem Philosophen gar nicht passieren. Da kann man jahrzehntelang denken und schwadronieren und sich selbstverliebt dabei zuhören. Man muss aber fairerweise sagen, dass die Jungs eine Menge toller Sprüche produziert haben, die uns auch heute noch beschäftigen. Ein entspanntes Gespräch der drei Dauerdenker könnte ungefähr so verlaufen sein:

(Drei Stunden Schweigen.)

Platon: »Das Denken ist das Selbstgespräch der Seele.«

Aristoteles: »Denken und Empfinden sind von Natur aus verschieden.«

Platon: »Es ist keine Schande, nichts zu wissen, wohl aber, nichts lernen zu wollen.«

Sokrates: »Was du auch tust, du wirst es bereuen.«

Platon: »Nun freilich starren Sinnes zu behaupten, dass das, was ich gesprochen habe, auch unbedingte Wahrheit sei, das schickt sich nicht für einen, der zu denken pflegt.«

Aristoteles: »Auch das Denken schadet bisweilen der Gesundheit.«

Sokrates: »Mensch, erkenne dich selbst, dann weißt du alles.«

Platon: »Hast du nicht mal gesagt, dass ‚du weißt, dass du nichts weißt‘?«

Aristoteles: »Zu viel Wissen macht unzufrieden. Ich verstehe unter Geist die Kraft der Seele, welche denkt und Vorstellungen bildet.«

Platon: »Der Körper ist das Grab der Seele.«

Aristoteles: »In der Seele nämlich finden wir einen vernünftigen Teil, welcher herrschen, und einen sinnlichen, welcher beherrscht werden soll.«

(Schweigen)

Super, mit den Typen wäre ich gerne mal einen trinken gegangen.

Platon war der Schüler von Sokrates und der Lehrer von Aristoteles. Und natürlich waren die drei sich nicht immer einig. Klar war für sie aber: Seele, das ist schwere philosophische Kost und kaum einer blickt da wirklich durch. Sollte wohl auch keiner. Die elitären Superhirne wollten unter sich bleiben und Gespräche führen, die keiner verstand. Schon gar nicht das gemeine Volk, das war zu bräsig. Hätte da einer bei Platon angeklingelt und gefragt, ob der ihm mal kurz erklären könne, was die Seele denn sei, er hätte Folgendes zu hören bekommen:

»Diejenigen, welche die Psyche, Seele, so benannten, haben sich dieses dabei gedacht, dass sie, wenn sie sich bei, oder wie man sonst sagte, selb dem Leibe hält, die Ursache ist, dass er lebt, weil sie ihm das Vermögen des Atmens mitteilt, und ihn dadurch als ein Selbst hält und erfrischt, anapsychon, sobald aber dieses selbige fehlt, kommt der Leib um und stirbt, deshalb, glaube ich, haben sie sie Seele genannt.«

Was für ein Satz. Da steigt man doch spätestens beim fünften Komma aus.

Was aber hat die Seelensinnsuche der drei Superhirne konkret ergeben? Kurz zusammengefasst:

  1. Die Psyche scheint mit dem Geist verknüpft zu sein.

  2. Denken und Fühlen gehören irgendwie zusammen.

  3. In der Seele kämpfen angeblich zwei Kräfte gegeneinander: eine vernünftige und eine sinnliche.

Das bedeutet: Es findet in uns ein ständiger Kampf statt. Und der geht selten ohne Verletzungen aus. Somit ist so eine Seele dauernd der Gefahr ausgesetzt, Schäden davonzutragen und krank zu werden. Aber wie? Weil man zu viel denkt? Oder das Falsche? Weil sich Vernunft und Sinnlichkeit bis aufs Blut bekämpfen?

Ist nun Psyche = Seele? Und Geist = Verstand? Da purzeln die Begriffe durcheinander. Wussten es Aristoteles & Co auch nicht so genau? Oder ist das ein Übersetzungsproblem? Fragen über Fragen. Aber so viel habe ich ziemlich schnell verstanden: Für eindeutige Antworten oder gar Lösungen scheinen Philosophen nicht zuständig zu sein.

Platon gilt als einflussreichster Denker der abendländischen Philosophie. Aber mal ganz pragmatisch und mit etwas weniger Huldigung betrachtet, war der Grieche wohl das, was man heute eine gescheiterte Existenz nennen würde. (Meine Meinung.) Erst versuchte er sich als Ringer (zugegebenermaßen nicht ganz erfolglos), dann wollte er Dramatiker werden, aber seine Theaterstücke mochte leider keiner sehen. Ergo ging er eben in die Politik. Doch auch da wurde er nicht froh, weil die politische Führung in Athen einfach nicht das machte, was er wollte. Also dann: Philosophie-Studium. Heute wäre Platon wohl Taxifahrer. Der Mann hatte mit »normalen« Leuten nicht viel am Hut und auch keine wirklich gute Meinung von ihnen. Er war ja der Ansicht, dass die Masse der Menschen zu schlicht in der Birne sei, einen Staat zu regieren, daher waren eben nur Philosophen für ihn die perfekten Regenten. Sie sollten das Leben der tumben Masse regeln – von der Wiege bis zur Bahre.

Na, prima. Somit können wir uns bei ein paar philosophischen Nerds bedanken, dass die Normalos damals beim Thema Psyche/Seele von Anfang an nur Bahnhof verstanden. Und schaut man sich Abbildungen von den Philosophen-Typen an, dann ist denen die Lebensfreude auch nicht gerade ins Gesicht gemeißelt. Die Jungs haben sich den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, was denn dieses Seele-Dings wohl ist. Und wo es seinen Wohnsitz hat. Nur verständlich vermitteln, konnten (oder wollten) sie es nicht. Und das Wichtigste, nämlich eine einfache Gebrauchsanweisung, hatten sie schon gar nicht im Angebot.

Und so rauchten ein paar hundert Jahre die Köpfe, Synapsen glühten und unzählige Schriften wurden verfasst, die zu erklären versuchten, was die Psyche/Seele ist, aber kein Hinweis findet sich, wie wir damit umgehen sollen. Denn in einem waren sich die Philosophen einig: Es gibt da scheinbar ein Problem, aber keine konkrete Lösung. – Auf derlei Profanes hatten die Herren wohl keine Lust.

Dann tauchte plötzlich ein Mann namens Jesus auf und fortan galt seine simple Erklärungsvariante: »Alle Menschen haben eine Seele. Sie hat keinen Körper. Doch sie existiert. Sie kommt von dem, der die Welt erschaffen hat, und kehrt nach dem Tode des Körpers zu ihm zurück.« So ungefähr.

Heißt im Klartext: Die Seele hat sein Vater gemacht und nachdem sie ihren Job auf Erden erledigt hat, geht sie schnurstracks an den Hersteller zurück. Return to sender. Zumindest eine vorbildliche Entsorgung.

Diese Variante eignete sich dann auch als erstklassige Vorlage für die Kirche. Hier war (und ist) die Seele der körperlose Teil des Menschen, der angeblich auch noch unsterblich ist. Also, alles irgendwie mysteriös, undurchsichtig, nicht erklärbar. Im Alten Testament bläst Gott dem Menschen seinen Atem ein. Von da an ist er durch seinen Lufthauch »belebt und beseelt«.

Die Vorstellung, dass mir da was »eingeblasen« wurde, was keine Sau richtig erklären kann und sich dann auch noch irgendwann selbstständig macht, ist ja nun nicht gerade beruhigend. Aber ideal für Kirchenfürsten, um ihre Schäfchen unter Kontrolle zu halten. Nach dem Motto: Wenn du nicht spurst, landet deine Seele in der Hölle. (Wer will das schon ...) Die Causa Psyche war damals also vor allem: hyperintellektuelles Zeug und/oder mysteriöses Etwas. Hervorragend geeignet, um Angst zu verbreiten.

Doch die philosophische Seelenanalyse ging ja noch weiter.

»Auf die Dauer der Zeit nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an«, meinte Marc Aurel (121–180 n.Chr.), römischer Kaiser und (natürlich!) Philosoph. Man könnte auch vereinfacht sagen: »Wer den ganzen Tag Scheiße denkt, der fühlt sich irgendwann scheiße.« Das würde ich auf jeden Fall blind unterschreiben. Aber dass die Seele sich wie eine Nikotinlunge verfärbt, halte ich für ein ungeeignetes Bild. Das versteht doch wieder kein Schwein.

Entweder hatten die ganzen Jungs einfach einen Knoten im Hirn oder sie waren nicht willens, verständliche Sätze zu bilden. Vielleicht wäre das auch einfach unter ihrem Niveau gewesen. (Und was die ungesunde Seelenfarbe diverser römischer Kaiser betrifft, so sind wir uns doch wohl einig: Ob Augustus, Caligula oder Nero – ganz dicht waren die alle nicht.)

Nach der Antike folgte das düstere Mittelalter und das ganze Seelenthema wanderte endgültig von den Philosophen zu den Theologen. Hier galt vornehmlich die Meinung der Kirchenväter. Völlig unwissenschaftlich und so, dass jeder Knecht es verstehen konnte: Der Mensch besitzt eine Seele. Und nach dem Tod kommt die wahlweise in den Himmel oder als Zwischenstation ins Fegefeuer zur Reinigung – falls noch etwas zu retten ist. Ist das nicht der Fall, fährt sie schnurstracks in die Hölle.

Das Christentum hatte alles fest im Griff: Weltbild, Wissenschaft, Kunst und Kultur. Die Kirche verfolgte gnadenlos alle, die nach neuen Erkenntnissen forschten. (Egal auf welchem Gebiet.) Andersdenkende wurden gefoltert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Im europäischen Raum wäre damals niemand auf die Idee gekommen, öffentlich zu behaupten, die menschliche Seele sei etwas anderes als von Gott gegeben. Ganz anders in Vorder- und Zentralasien. Abu Zayd Ahmed ibn Sahl al-Balkhi, ein islamisches Multitalent, war da circa 900 n.Chr. schon bedeutend weiter. Al-Bakhi, Philosoph und Mediziner, identifizierte drei Komponenten, die für die geistige Gesundheit eines Menschen vonnöten seien: Psyche, Herz und Geist. Waren die drei im Lot, war alles in Butter. Der Mann hat schon damals erkannt, dass psychische Probleme zu körperlichen Erkrankungen führen können.

Weitere hundert Jahre gingen ins Land, da erschien 1025 der Kanon der Medizin von Abu Ali al-Husain ibn Abd Allah ibn Sina. Noch nie gehört? In der westlichen Welt war der persische Arzt (und Philosoph natürlich!) unter dem Namen Avicenna bekannt. Dieser schlaue Mann behauptete ebenfalls: Mentale und emotionale Gewohnheiten beeinflussen unsere körperliche Gesundheit. Und umgekehrt beeinflusst der Körper den Geist und die Gefühle. Aha. Da dachte noch einer über das Zusammenspiel nach! Aber leider nicht in der westlichen Welt. Dort hatte die Kirche das Regiment über die Seele übernommen. Doch es gab ein paar mutige Zeitgenossen, die versuchten, Licht ins düstere Mittelalter zu bringen. Ein bisschen zumindest.

1250 befasste sich der Italiener Thomas von Aquin (katholischer Theologe, Dominikaner, Philosoph und großer Avicenna- und Aristoteles-Fan) in seinem Werk mit dem »Leib-Seele-Problem« und stellte auch die Frage, welche Beziehung zwischen dem Leib (also dem Körper plus Gehirn) und der Seele besteht. Er führte Religion und Philosophie zusammen, was ihm natürlich nicht viele Freunde einbrachte, und ließ so Sprüche los wie: »Die Sünde besteht darin, dass die Seele ihre Ordnung verliert, so wie die Krankheit in einer Unordnung des Leibes besteht.« Das heißt, der Italiener hielt es offenbar für möglich, dass die Seele auch in Ordnung sein könne. Vorausgesetzt, man hielt sich an Gottes Gesetze. Völlerei oder Wollust waren demnach nur mit einer aus den Fugen geratenen Seele möglich. Also das, was am meisten Spaß macht. An der Stelle fällt mir Buddhas verpöntes Verlangen wieder ein. Die Quelle allen Leidens. Scheinbar war der Dominikaner auch ein bisschen Buddhist.

Und der gottesfürchtige Mann hatte uns noch etwas Wichtiges mitzuteilen: »Unter allen Leidenschaften der Seele bringt die Traurigkeit am meisten Schaden für den Leib.« Damit hat Thomas schon damals ein heute (leider) brandaktuelles Thema auf den Punkt gebracht: Depressionen.

Aber verursachen alle Leidenschaften Schaden? Oder hat die Seele bei Thomas von Aquin auch positive Leidenschaften? Hm ... Gab es nicht auch einen freundlichen Zeitgenossen, der Mut machte? »Hey Leute, alles nicht so schlimm! Ihr habt eine Seele, herzlichen Glückwunsch. Und die funktioniert folgendermaßen ...« – Gab es leider nicht. Darum werden wir das jetzt selber machen!

Eines machte der Italiener zumindest auch deutlich: Schlechte Gefühle können uns krank machen. Und er gab sogar ein paar handfeste Tipps, mit denen man was anfangen kann. Einer davon war: »Durch das Weinen fließt die Traurigkeit aus der Seele heraus.«

Ich bezweifle allerdings, dass diese wunderbaren Weisheiten und praktischen Ratschläge beim Volk ankamen. Die damals herrschende Bildungssprache war Latein, was die einfachen Leute aber nicht verstanden. Also schleppten sie ihre unsterbliche Seele weiterhin wie einen ungebetenen Gast mit zur Beichte und wieder zurück. Thomas` gut gemeinter Kurs in Depressionsprävention verfing wohl eher bei den Oberen, die es sich bei Wein, Weib und Gesang gut gehen ließen. Bloß nicht traurig werden!

Der positive Aspekt, gute Gefühle sind gut für die Seele, wurde leider nicht weiterkommuniziert.

Das ist schon an dieser Stelle des historischen Abrisses die erste erschütternde Erkenntnis: Das große Potenzial der Psyche hat keiner für erwähnenswert gehalten! Da fragt man sich doch: Warum hat man sich damit nicht beschäftigt? (Je mehr ich erfahre, umso klarer wird mir, dass es höchste Zeit wird, die arme Psyche zu rehabilitieren.)

Im Mittelalter hieß es: Denken, Fühlen und Handeln innerhalb einer Person kann nicht reibungslos funktionieren. Demnach sei die Beziehung zwischen Körper und Geist bzw. Seele per se gestört, auf jeden Fall höchst problematisch. (Die gute Nachricht schon mal vorab: Das ist mittelalterlicher Blödsinn.)

Keinem der damaligen Schlaumeier war so richtig bewusst, dass der Mensch (und zwar jeder!) mit seinem Soul-System leben musste, tagtäglich. Ein auf ewig konstatiertes Leib-Seele-Problem half (und hilft) da keinem weiter. Doch man verhedderte sich lieber im Mystischen und Bedrohlichem.

Das sollte sich auch nicht wesentlich ändern, als wir Menschen das Mittelalter endlich hinter uns gelassen hatten. Denn die Renaissance bescherte uns zwar die Wiedergeburt von Kultur und Wissenschaft, aber eben auch ein Comeback der Philosophen. Die Sätze wurden wieder länger, die Erklärungen unverständlicher. Dann doch lieber die schlichte Kirchenvariante?

Der spanische Philosoph Juan Luis Vives beschrieb 1538 in De anima et vita libri tres den Einfluss der Gefühle auf unser Denken und unsere Gesundheit. Wahrscheinlich konnte es schon keiner mehr hören. Dass es da offenbar einen Zusammenhang gab, war ja mittlerweile klar. (Zumindest den Angehörigen der höheren Schichten.) Aber das Leib-Seele-Problem war immer noch nicht beseitigt und Lösungen nicht in Sicht.

Egal, wer oder wo, alle kauten an dem üblen Thema rum. Und auch 200 Jahre später hatte die Psychologie immer noch einen schweren Stand.

Da behauptete Immanuel Kant (1724–1804), der Geist könne nicht so studiert werden wie andere Wissenschaften, da seine Funktionsweise nicht mathematisch ausgedrückt werden könne.

Also, alles eher sinnlos? Nach dem Motto: Lasst es lieber sein!?

Kants Fachgebiete waren neben der Philosophie Mathematik, Logik, Physik und Metaphysik. Dennoch hat sich der Mann über das Thema Psyche/Seele so seine Gedanken gemacht. Er interessierte sich für »Gemütskrankheiten« und war der Meinung, dass die Menschen dunkle Vorstellungen haben, derer sie sich aber nicht bewusst sind. Angstmachen gehörte offenbar immer noch zum Geschäft. (Und Psyche ohne Störung war wohl zu uninteressant.)

Kant war nachweislich ein schlauer Kopf, aber er bohrte ebenso nur in offenen Wunden. Und verteilte dann auch noch erstklassige Tipps für die Bekämpfung des Dilemmas: Man könne mittels Selbstkontrolle, »durch bloßen Vorsatz, seiner krankhaften Gefühle Meister« werden. Krankhafte Gefühle? Waren Gefühle jetzt auch schon eine Bedrohung? Und wenn ja, welche?

Kant sprach von Selbstverantwortung für den eigenen Körper. So habe eine kontrollierte Atmung eine positive Wirkung ebenso wie das gesundheitsbewusste Leben, Bewegung und Schlaf. Das ist natürlich alles richtig, nur warum das so ist, hätte man vielleicht erklären sollen. Kants Werk Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist später jedoch nicht wirklich besonders beachtet worden. Wahrscheinlich, weil die anderen Psychologen beleidigt waren. Denn nach Kant waren sie ja angeblich gar keine »richtigen« Wissenschaftler.

Zwischenfazit: Es war immer noch niemandem gelungen, der Psyche etwas Positives abzugewinnen. Das lag auch an den Typen selber: schwermütig, kopflastig, sonderbar. Einzelgänger und Sozialphobiker. Ist der schwermütige Mythos Psyche auch deshalb entstanden? Was wäre gewesen, wenn es fröhliche, psychisch stabile Optimisten gewesen wären, die sich damit befasst hätten?

Und dann kam ein Mann, der alles noch ein bisschen schlimmer machte. Eigentlich kaum möglich, aber Arthur Schopenhauer (1788– 1860) war noch mieser drauf als alle vorherigen zusammen. (Diesen Typen darf ich Ihnen nicht vorenthalten, aber wenn wir den überstanden haben, wird alles gut. Versprochen.)

Schopenhauer war Philosoph (was auch sonst?) und Hochschullehrer. Dieser Berufspessimist unterrichtete auch noch junge Menschen. Als Platon-Fan und Kant-Schüler beschäftigte er sich ebenfalls mit dem Leib-Seele-Problem, meinte aber, dass seine vorherigen Philosophen-Kollegen einem gründlichen Irrtum aufgesessen seien. Die Seele, das Ich des Menschen, sei nicht in erster Linie denkend und erkennend und dann wollend. Sondern umgekehrt. Wir seien Getriebene unseres Willens:

»Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.«

Hä? War das ein Philosophen-Wettbewerb in Konfusion? Und warum hatten die sich ausgerechnet unsere arme Seele als Lieblingsthema ausgesucht?

Schopenhauer meinte mit obigem Satz, dass unserem Handeln immer der Wille, das Wollen, zugrunde liege. Damit wären wir wohl wieder beim Verlangen. Dieses böse Verlangen haust in unserer Seele. Und kämpft dort gegen irgendwas. Egal, wer sich damit wann beschäftigt hat, sie waren alle gar nicht weit voneinander entfernt. Sie kreisten unsere Seele von allen Seiten ein, betrachteten dieses wilde Tier, aber hatten keine Ahnung, wie man es zähmen konnte. Oder war es gar nicht so wild und gefährlich? Trieben sie sich alle nur gegenseitig immer weiter in ihre Horrorvorstellungen?

Gut, nun kann man über Schopenhauer sagen, der Typ hatte wahrscheinlich einen Knall. Auf jeden Fall war er sonderbar. Ein Einzelgänger, der Gespräche mit seinem Pudel führte. Kein Wunder, dass da wenig Freude aufkam:

»Die Welt ist ein ‚Jammertal‘, voller Leiden. Alles Glück ist Illusion, alle Lust nur negativ. Der rastlos strebende Wille wird durch nichts endgültig befriedigt.«

Was für ermunternde Aussichten! Gemäß Marc Aurels Statements muss Schopenhauer eine rabenschwarze Seele gehabt haben. Und wenn er den Tipp von Thomas von Aquin beherzigt hätte, der Pudelfreund wäre aus dem Heulen nicht mehr rausgekommen. Der Mann war ein Misanthrop erster Güte. Das ganze Leben war für ihn scheiße:

»Die Basis allen Wollens ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz. Das Leben schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her zwischen dem Schmerz und der Langeweile. Schon seiner Anlage nach ist das Menschenleben keiner wahren Glückseligkeit fähig. Jede Lebensgeschichte ist eine Leidensgeschichte, eine fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle.«

Ich hab den Eindruck, Schopenhauer hat die Depression erfunden.

Also auch dieser große Meister führte uns nicht aus dem Jammertal der Psyche heraus. Im Gegenteil, er schubste uns noch tiefer hinein.

Zahlreiche brillante Denker hatten uns bis zu diesem Zeitpunkt eine mangelhafte, konfliktbeladene Seele mit dunklen Abgründen attestiert, und die böse, böse Lust, die in ihr wohnte, war die Quelle unseres Leidens. Nun hatten wir auch keinen freien Willen mehr. Leider war weit und breit kein Mensch in Sicht, der anderer Meinung war. Die Menschheit hätte dringend eine Frohnatur gebraucht, einen Psychopositivisten! – Leider war keiner da.

Wenigstens wurde die Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts doch noch eine anerkannte Wissenschaft. (Tatsächlich dümpelt die Psychologie als empirische Wissenschaft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften rum. Eben uneindeutig. Passt ja.) Es scheint, als habe die Philosophie das ungeliebte Psychokind nur zu gerne an die Kollegen weitergereicht. Für Problemlösungen waren Philosophen eh nicht zuständig, da konnten sich nun die Psychologen und Psychiater mit rumschlagen. Die wiederum stürzten sich darauf, interessierten sich aber leider hauptsächlich in psychopathologischer Hinsicht für das Sorgenkind. Also für die Wissenschaft und Lehre von den krankhaften Veränderungen des Seelenlebens. Sprich, Psychosen und Co. (Schade. Chance verpasst.)

In der Zeit wurde Sigmund Freud (1856–1939) bekannt, er goss noch mal ordentlich Öl ins Feuer und streute richtig Salz in die geschundenen Seelen. Dank ihm wurde die Psyche sozusagen bewiesenermaßen abgründig. Er identifizierte Sex als elementare Triebfeder unseres Lebens. Wir sind also schon wieder bei Buddha angelangt. (Verlangen des Menschen = Quelle allen Übels; möglicherweise ist da ja was dran, aber vielleicht nicht so dramatisch, wie es sich anhört.)

Freud versetzte uns den Dolchstoß. Der Sexualtrieb war an allem schuld! Unsere Seele war ein versiffter Darkroom. Sex, Wut und Angst seien die Kräfte, die den Menschen (hauptsächlich) lenkten. Das war die Krönung. Sexualität war ohnehin ein Tabuthema, und Wut und Angst waren ja nun auch nicht gerade Emotionen, mit denen man hausieren ging.

Nun wollte der liebe Onkel Doktor uns mit dieser versauten Seele nicht alleine lassen, er versprach Hilfe, indem er sich mittels der Psychoanalyse Zugang zum Unbewussten von uns Menschen verschaffte, um dort etwaige Schäden zu mildern. Und die waren da, massenhaft, alle angehäuft während unserer psychosexuellen Entwicklung. Kindheit, Pubertät und Adoleszenz hatten ihren Müll hinterlassen. Die Psyche war verdreckt. Bei jedem. Also rein in den Darkroom und mal Licht anmachen. (Schon bei der Vorstellung dreht sich mir der Magen um.)

Der Mann behauptete, die Psyche durchdringen zu können. Wenn er denn wenigstens Heilung versprochen hätte. Aber nein, doch mit der Psychoanalyse könne es seiner Meinung nach immerhin gelingen, »hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln«.

Wie schön, die Wahl zu haben: einfaches Unglück oder Lebensjammertal?

Doch damit nicht genug: Freud unterstellte den Frauen Penisneid, aufgrund dessen sie einfach psychologisch unvollkommen seien. Seele geklaut, Verstand verloren, Penis abhanden gekommen. Die alten Schamanen gingen wenigstens noch auf die Suche und holten das Verlorengegangene zurück und alles war wieder palletti. Bei Freud war Hopfen, Malz und Penis verloren. Hatte da noch irgendjemand Lust, sich mit dem Thema Psyche zu befassen?

Zudem vertiefte der Neurologe das unserer Seele angeblich innewohnende, ab Werk eingebaute Problem. Er käute im Prinzip das wieder, was schon die Philosophen gesagt hatten: Die Seele an sich konnte gar nicht einwandfrei funktionieren, weil sie sich ja in einem ständigen Kampf befand. Fortan hing der Begriff »Konflikt« wie ein Geschwür an der ohnehin bereits auf ewig krankgeschriebenen Psyche. (Mal ehrlich: Wie viele tausend Jahre beschäftigten die sich schon damit? Und immer das gleiche öde Ergebnis!)

Nun habe ich mehrfach kurz innegehalten und überprüft, ob das stimmt: Befindet sich meine Psyche gerade in einem Kampf? Nein, ich glaube nicht. Aber die Meinung eines Normalos war bei diesem Thema früher offenbar auch nicht gefragt.