Adèle Lukàcsi

Glut der Unruh

Erzählungen und Gedichte

Frieling-Verlag Berlin

Der Liebe gewidmet

und für Marie von Ebner-Eschenbach in Verehrung

„Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden,

was wir erleben, macht unser Schicksal aus.“

M. v. Ebner-Eschenbach

Im Frieling-Verlag Berlin erschienen von Adèle Lukàcsi bereits die Erzählbände

„Eines Lebens Anfang, eines Lebens Ende“ (ISBN 978-3-8280-2404-5) und

„Die Reise vom Tag in die Nacht und zurück“ (ISBN 978-3-8280-2496-0).

Die Schreibweise in diesem Buch entspricht den Regeln der neuen Schweizer Rechtschreibung.

Inhalt

1. Philosophie

Liebe Sophie,

philosophische Fragen sind uns die nächsten.

Alles mündet in sie.

Woher kommt der Mensch?

Warum, wozu ist er da, wo er ist?

Worin liegt seine Bestimmung?

Wohin geht er?

Philosophen, Philosophinnen sind Menschen, die über das eigene Vorteilsdenken hinaus weiter suchen, um vielen Menschen wegweisend beizustehen und für sich selbst dadurch Stütze und Halt zu finden.

Wer weiss auf dem Sterbebett mehr über das Leben und seinen Sinn?

Rang und Namen werden bedeutungslos.

Die Fragen bewahren ihre Geheimnisse.

Jeder Mensch muss den Weg zu ihnen selbst gehen.

Die Philosophie ist Dienerin aller Suchenden.

Und dennoch wird auch sie an ihre Grenzen stossen, wie alles von Menschen Erdachte und Geschaffene, und nur so weit vordringen können, wie das Göttliche es zulässt.

Philosophen und Philosophinnen der Welt mögen Bibliotheken füllen mit ihren scharf durchdachten, hinterfragten Gedanken. Die jeweiligen Anhänger mögen sich die Köpfe einschlagen, wer mehr Recht, mehr Erkenntnis habe, gescheiter sei; die ewigen Fragen werden ewig bleiben. Die ihrer Zeit gedanklich Vorauseilenden bleiben ohne Gehör. Finden sie es schliesslich, wird eine bevorzugte Elite sich ihrer annehmen, mit neuen Ideen mischen, einige annehmen, andere verwerfen, Hörsäle füllen oder leeren, Preise verteilen. Derweil geht der alltägliche Kampf um Geld und Geist weiter, wobei erfahrungsgemäss das Geld Kaiser bleibt. Der Tanz ums Goldene Kalb ist ein Perpetuum mobile. Auch Philosophen sind nicht immun gegen die Verlockungen, die dieser Tanz verspricht. Sie bleiben suchende, irrende Menschen, die suchenden, irrenden Menschen Wegweiser werden können, ohne Anspruch auf die absolute Wahrheit, und sie durch ihre eigene Unzulänglichkeit in verstehender Liebe zu führen versuchen.

Philosophie: Pflichtfach in den Schulen.

2. Geburt

Durch die Geburt eines Kindes wird alles Seiende, Gewesene neu geschaffen.

Alle Sehnsüchte, alle Hoffnungen, alles Wiederentdecken beginnt von Neuem.

Die Hilflosigkeit des Neugeborenen vermag die edelsten Gefühle, selbst in Hartgesottenen, wachzurufen, sein Überleben zu sichern, selbst wenn das eigene dadurch in Gefahr kommen sollte.

Wie ein Kind ein Herz rühren kann, wird einem Erwachsenen kaum vergönnt sein.

Das Kind in seinem Ausgeliefertsein ist in Vertrauen gebettet, das die Erwachsenen in tiefster Seele trifft.

Man kann sich dagegen sträuben, sich verschliessen wollen, es wird kaum gelingen.

In der Geburt eines Kindes kommt das Edle, das Gute immer wieder neu in die Welt.

Ein ganz besonderes Kind hat die Nacht zur Weihe gemacht.

Durch dieses Kind wird immer Liebe in der Welt sein.

Es sind die Ausgelieferten, die uns Weihnachten erleben lassen.

Kind in der Wiege,

bewege mein Herz zur Welt;

in deinem Pulsschlag

werde Denken und Fühlen

zu meinem Handeln durch dich.

Liebe

Was ist Liebe?

Liebe kann so vieles sein.

Liebe ist ein Lehrpfad

mit Umwegen und Abzweigungen;

darunter Liebe als

Vertrauen in Demut.

3. Dem guten Menschen

Dein Geburtstag, du guter Mensch aus Nazareth, in Bethlehem geboren, wird weltweit gefeiert. Das damit verbundene Geschäft blüht. Freust du dich darüber?

Ich wünschte, ich hätte zu deiner Erdenzeit in deiner Heimat gelebt.

Hätte ich dich erkannt?

Hätte ich dich zu meinem Freund haben, dein Freund sein, deine Worte hören, begreifen, in mein persönliches, alltägliches Leben einfügen, mich danach ausrichten wollen?

Lieber, guter Mensch aus Nazareth, hätte ich mit deiner Lehre in meinem Beruf Erfolg haben und Geld verdienen können?

Du hattest kein Haus, keinen Besitz, machtest eine eigenartige Karriere. Doch das, das du hattest, war/ist so schwer zu fassen, zu erkennen, und für dich war es, wie es sich dann ja auch zutrug, tödlich.

Du wusstest zu viel, alles, hattest immer die beste aller Antworten; zumeist ungeliebte.

Und das schon als Kind. Du hast die Kraft der Gedanken gelehrt, sie vorgelebt.

Man stelle sich vor: ein Kind, das die Erwachsenen beschämt, sie zu lehren vermag, selbst die Geschultesten. Du Zimmermannssohn, du einfaches Kind, du besitzloser, karriereloser Erwachsener.

Was hast du dir da nur ausgedacht?

Die Menschen wollen deine, eine solche Denkweise nicht, obwohl du nie jemandem etwas aufgezwungen hast. Du sagtest in einfachen Worten das Richtige, tatest stets nur das Gute. Das war kaum, schwer, nein, es war nicht zu ertragen.

Und in der Welt hast du nach menschlichem Ermessen jämmerlich versagt.

Mit deiner Lehre kann man es doch nicht zu etwas bringen, jemand werden.

Ein guter Mensch in allen Lebenslagen – wie soll das gehn?

Schrecklich: wie du zuliessest, für deine Haltung den Kreuzestod, den damals entwürdigendsten, zu erleiden.

Alle Beteiligten wussten, dass da ein himmelschreiendes Unrecht an dir geschah.

Was taten sie dagegen?

Deine Jünger waren Feiglinge, Verräter, ausgenommen der Jüngste, Weltunerfahrene, Weltfremde, der Idealist; er blieb treu an deiner Seite.

Hast du alles so gewollt?

Bist du Gottes Sohn?

Die Geschehnisse nach deinem körperlichen Tod öffneten Herzen, Augen, Ohren. (Hätte ich zu jenen „wenigen“ gehört?)

Welch gewaltige Lehre ist durch dich in die Welt gekommen.

Sind wir Menschen mit ihr überfordert?

Wollen wir es nicht zulassen, uns auf ihre Tiefe einzulassen?

Trauen wir ihrer Grösse nicht?

Sprengt sie das menschliche Denkkorsett zu sehr?

Kommt sie gar den Herrschenden dieser Welt nicht sehr entgegen, ein Heer von Unterdrückten um sich zu sammeln, in deiner Lehre Namen, in ihrer missgedeuteten Auslegung zugunsten der hierarchischen Stellung?

Deine Leidenszeit hat schnell begonnen.

Im Kirchenjahr folgen nur wenige Wochen nach deiner Geburt; dein Leiden und Sterben bis zur verheissenen Erlösung, dem Sinn und Ziel unseres Seins.

Und da ist noch einmal, am Palmsonntag, eine Woche vor deiner Hinrichtung, ein Hurra-Gebrüll der Menge für den endlich erschienenen König, der nun ein für allemal aufräumen würde mit der Misere auf Erden; ein irdisches Königreich mit deiner Lehre als Fundament?

Alles wird anders, ganz anders kommen.

Du lebst das Beispiel, lehrst das Menschsein, leidest, verurteilst nie und niemanden und erntest den Galgen.

Bleibt dir jemand treu zur Seite in den Tagen, Stunden grösster Trauer, Verlassenheit, des Verfolgt-Werdens um des Guten willen?

Es bleibt die Mutter (dein diesseitiger Pflegevater war gemäss der Schrift bereits verstorben), es bleiben der unerfahrene Jüngling, die junge Sünderin, bei deren Verurteilung du die Heuchler und Selbstgerechten in ihre Schranken verwiesest mit den einfachen, klaren, unmissverständlichen Worten: „Wer ohne Sünde ist …“

Wir kennen alle diese Bibelstelle.

Und weiter sind auf deinem Weg zum Tod am Kreuz ausser vielen Gaffern noch einige weinende Frauen.

Wo, wo sind all die übrigen starken Männer geblieben?

Selbst der „Fels“, den du vorsahst, deine Lehre weiter zu verkünden, geriet ins Wanken, mehrere Male. Er schämte sich seines Verrats – und du liessest ihn nicht fallen.

Du lässt niemanden fallen.

Du guter Mensch aus Nazareth, geboren in Bethlehem, du erwählter Sohn: Dein Stern leuchtet, dein Kreuz steht, deine Lehre lebt; die Freiheit zu ihr ist unbegrenzt, zu dir, du guter Mensch aus Nazareth.

4. Freude

Beglückend das Fest des Erfolges.

Wie hässlich die vorausgegangene Zeit des Misserfolgs.

Wer möchte den Weg mit einem Versager, Erfolglosen gehen?

Einige wenige einfache, unkritische, schnell zu gewinnende Gemüter vielleicht?

War es denn nicht so?

Und dann der Tag der sich überstürzenden Ereignisse, des Triumphs.

Wer glaubt überzeugt daran?

Wie schön die Feiern, den verklärten Gott zu preisen.