Die Angst hält mich zärtlich in ihren Klauen

Und streicht mir übers Herz

Das hineinbricht in ein berstendes Universum

Voll der Stille, voll der Leere

Und der Wind singt leise unsere Melodie

Monika Reinhardt

Patrick Aigner

Monster

Books on Demand

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2013 Patrick Aigner

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand, Norderstedt

ISBN 978-3-7322-1299-6

Coverfoto: Sue Rauschenberger

Inhaltsverzeichnis

1.

Der Hofgarten endet mit der Veste. Entweder nimmt man den Treppenweg oder den Weg ohne Stufen. Die Veste ist auch wirklich das Ende des Hofgartens. Eigentlich, noch genauer gesagt, gehört sie und der direkte Bereich um sie, schon nicht mehr dazu. Irgendwo über dem Veilchental ist die unsichtbare Grenze. Und doch gehört der Blick hinauf zur Veste zu Teilen des Hofgartens. Wie alt muss man werden, um alles hier gesehen zu haben? Um all dem, was einen da anspricht, vollständig zugehört zu haben?

Sicher, es gibt auch andere Probleme in solch einem Menschenleben. Sicher, man sollte sich vielleicht um andere Fragen kümmern. Aber die Fragen, die wirklich wichtigen Fragen, stellen sich einem von selbst. Also, noch mal: Ist es möglich, dem allem, was da spricht, einmal vollständig zugehört zu haben? Oder gehört das Zuhören dem Menschen an, so wie sein rechter Arm? Aber ich höre doch nicht immer zu. Ich höre doch oft gar nichts. Und dieses "gar nichts" hat nicht einmal einen gut gearteten Beigeschmack. Meist nicht.

Was wäre dieser Hofgarten, wenn wir uns dem Wort "damals" verweigern würden? Kann man das? Dieses heute so viel besungene "Jetzt" leben? Brauche ich denn nicht Berge von Vergangenheiten, um schließlich in diesem "Jetzt" zu landen? Gebirge aus Gleichzeitigkeiten, Schichten über Schichten, so als wäre jede einzelne mit einer Jahreszahl zu versehen? Entspannung finden hinter all den Gleichzeitigkeiten?

Bald wird sie hier sein. Ich bin zu früh dran. Wollte mich dem nähern. So, wie es vielleicht wichtig ist, nach dem Sprechen im Gebet zu verbleiben. Kontakt zuzulassen. Kontakt zu erwarten. Empfangen. Es gibt schon Regeln. Es gibt schon richtig und falsch. Aber das ist nichts, was man nachlesen könnte. Richtig ist es, hier hoch, hier heraufzugehen, Zeit zu haben, sich Zeit zu geben - vor dem Treffen.

2.

Über drei Jahre lebte ich mit ihm zusammen. Hier unten in der Stadt. Unweit der Heilig-Kreuz-Kirche. Drei Winter und so viel Sommer. Wir hatten ein Schild gefunden: Enten füttern verboten - Rattenplage droht. Das Schild wird wohl heute noch da stehen. Eigentlich sagt es sehr viel darüber aus, wie ich dieses Coburg - dieses Coburg, das nicht meine Heimatstadt ist, gefühlt habe, wohl immer fühlen werde. Enten füttern verboten - Rattenplage droht. Sicher, ich habe das nie so gelebt. Ich habe immer dagegen angelebt, gegen dieses Schild. Und doch scheint es gesiegt zu haben. Zumindest hat es unsere Beziehung besiegt.

Ich habe sie immer gespürt. Und ich spüre sie noch heute. Die drohende Rattenplage. Auch in Peter habe ich sie gespürt. Peter kommt aus dieser Stadt. Aus dieser Stadt zu kommen bedeutet, entweder von der Rattenplage bedroht zu sein, oder sie in sich leben zu lassen, selbst also zur Rattenplage zu werden. Peter war in dieser Sache immer am Schwanken. Er war diese Stadt, auch wenn ich sonst noch keinem Menschen begegnet bin, der eine Stadt ist.

3.

Die Hilflosigkeit, die ich bei der Vorstellung empfinde, gleich Pia zu treffen, scheint sich auf meine Umwelt nicht übertragen zu lassen. Der Hofgarten nimmt sie mir nicht ab, obwohl er die Kraft dazu hätte. Heute möchte ich mich diesem Park nicht mehr aufs Neue nähern, ihm nicht zum allerersten Mal gegenüber stehen müssen. Der Hofgarten erklärte sich für mich, erschloss sich für mich - zumindest als ich noch jünger war - aus der Leopoldstraße heraus. Die Hinterhäuser, die Schuppen, das ganze „alte Gehötsch“, wie man hier sagt, verschwand in den letzten Jahren. Was weiß denn ich von unsichtbaren Hebeln, außer dem, dass es sie gibt? Nichts.

Heute kann man den neuen Weg hinter der Leo entlang laufen und sieht die Rückansicht der Häuser wie offene Wunden, wie eine mit Gewalt zur Schau gestellte Scham, vor sich liegen. Sie haben aufgehört zu sprechen. Es scheint so, als könnten auch Häuser sich die Seele prellen. Oder Schlimmeres.

4.

Peter hat mit nichts Recht gehabt, mit nichts Recht behalten, immer alles falsch gesehen, und alles an Gewicht oben drauf gepackt, was er so in die Hände bekam. Das hat mich bald wahnsinnig gemacht, und es könnte mich wahrscheinlich heute noch wahnsinnig machen, auch jetzt noch, nach all der Zeit. Wie kann jemand, der so groß, so weit, so offen, ja, in vielen Dingen auf eine so schöne Weise einfach ist, auf der anderen Seite ein solch kleinkarierter Stinkstiefel sein? Das Wort, das ich damals insgeheim für ihn benutzte, wich im Nachhinein diesem Stinkstiefel-Wort. Ach was, Arschloch! Dummes, ewig verängstigtes, kleinkariertes Arschloch!

Ich weiß nicht wirklich, was ich hier mache. Ich weiß nicht wirklich, was das Ganze hier überhaupt soll. Es gäbe etwas zu bereden, hat er gesagt. Nun gut, das sagt er nicht oft. Stirbt er? Ist er todkrank? Wegen Geld würde er nicht so ein Tamtam machen. Er würde sagen, ich bräuchte, und ich müsste heute sagen, ich hab's nicht. Dann würden wir lachen. Er stirbt. Es kann gar nichts anderes sein. Gestern Abend kam mir der Gedanke auch schon. Scheiße! Er darf nicht sterben. Er darf jetzt nicht sterben. Eigentlich darf er das überhaupt nicht, zumindest solange nicht, solange ich hier noch über diese Erdscheibe tappen muss.

5.

Im Nachhinein betrachtet war alles immer schon vorbei. Die Kraft, die ich gebraucht hätte, um zu sterben, um endlich sterben zu können, war niemals die meine. Immer andere Antworten auf immer dasselbe Brennen, immer die gleiche Angst unter der Angst. Wie soll man denn sterben, um zu leben, wenn man das Sterben nicht geschenkt bekommt? Wenn man nicht den letzten Drücker an Leid auch noch ins Herz geschossen bekommt?

Den ersten Teil des Lebens… dem Sterben ausgewichen. Den zweiten Teil des Lebens… das Sterben gesucht. Und nie hat es ganz gereicht. Und nie war der Tod vollständig genug. Immer ist die Leiche wieder aufgestanden. Aufgestanden - niemals auferstanden! Trotz all der Erfahrungen. Trotz all dem Totsein, dem Dahintersein, dem Beobachter, der Zustände der Unwirklichkeit.