Über das Buch

Urlaubsgeschichten aus dem Languedoc

Ein Schriftsteller und seine Frau verbringen ihre Sommerurlaube in dem Haus eines Freundes in einem kleinen Dorf im Languedoc. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen, alltägliche Begebenheiten und ihre Begegnung mit Land, Leuten und Kultur füllen diesen Band.

Von Restaurantbesuchen wird erzählt, von Höhlenbesichtigungen und der Ersteigung eines Châteaus, von Einkaufsbummel, Andenkenläden und den sinnesfrohen Wochenmärkten, von hitzeflirrenden Nachmittagen und dem Schrillen der Zikaden, vom Badevergnügen in Flüssen, von Wein und der Stunde des Trobadors, von Kreisverkehr und dem Chauvinismus der Franzosen, von einer Olivenölverkostung, von der Muße des Café-Sitzens und dem Traum eines ganz anderen Lebens.

Über den Autor

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau seit 2002 als freier Schriftsteller bei Hamburg.

Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

Bei BoD bisher erschienen:

Schaum von flüssiger Jade

Inhalt

Ich glaube, wie die Pflanze glaubt, an die Sonne.

FRIEDRICH NIETSCHE, NIZZA 1888

Ankunft

Es ist ein weiter Weg von Hamburg ins Languedoc. Tausendsechshundert Kilometer, das Meiste Autobahn. Zwischendurch übernachten wir bei Lenas Eltern in Süddeutschland. Der zweite Fahrttag ist der schönste. Es geht durch den Schwarzwald in die Rheinebene, über die Grenze, dann nach Süden.

Wir wechseln uns ab mit dem Fahren. Auf der Höhe von Valence die ersten spitzkegeligen Zypressen, dann das Rhonetal mit seinen Weinfeldern.

Unser Haus – besser gesagt: das Haus unseres Freundes, der es uns zur Verfügung stellt – liegt im Département Gard zwanzig Kilometer von Alès entfernt, nahe des Städtchens Anduze am Südrand der Cevennen. Um zehn Uhr abends fahren wir die Platanenallee an den Weinfeldern entlang und biegen kurz nach dem Ortsschild Tornac in den kleinen Weg ein. An der Gabelung halten wir uns halbrechts, dann geht es das kleine Sträßchen zwischen Häusern und Feldsteinmauern bergauf. Links liegt dann die Einfahrt zu unserem Sommerhaus.

Es ist noch hell, ein gedämpftes, aber feierliches Licht; an den erbleichten Hängen leuchten Wiesen und Bäume, und schon hören wir die Zikaden schrillen. Ein Empfangskonzert. Der alte Olivenbaum neben der Einfahrt wispert im Abendwind.

Wir öffnen das Tor und fahren hinein, parken vor dem Haus, das mit blinden, verbarrikadierten Fenstern wartet. Der Motor verstummt, leise tickt er nach. Irgendwo bellt ein Hund.

Im Gebüsch suchen wir die Eisenplatte, unter der der Wasserhahn liegt. Ich hebe sie auf, darunter ein Betongeviert mit einem Zähler. Der Hahn daneben, und indem ich ihn aufdrehe, spüre ich, wie nach langer Ruhezeit das Leben ins Haus zurückfließt.

Lena öffnet die Haustür und sucht im dunklen Innern nach dem Stromschalter. Dann machen wir Licht und öffnen alle Fensterläden. Die kühle Nachtluft, die durch die geöffneten Luken strömt, vertreibt die stickige Wärme in den Räumen.

Wir bleiben im Flur stehen und umarmen uns vor Freude; wir sagen es einander vor: Wir sind wieder da!

Wir bringen das Gepäck ins Haus und setzen uns an den Tisch in der Stube. Draußen wird es dämmrig und blau.

Wir sind wieder da! Der schmale Flur, die Toilette mit dem Gitterfenster, die kargen Schlafzimmer, die Küche mit dem Spülstein, das Sofa im Wohnzimmer, die leichten Türen mit den dünnen Klinken, die Flasche Reinigungsmittel mit dem Aufdruck fosse septique in der Toilette, die Tafel mit den europäischen Gartenvögeln, die danebenhängt, die Steinfliesen, das Sofa im Biedermeierstil, dessen Lehne wackelt, die Mückennetze in den Fenstern, die Stille im Haus. Der Gesang der Zikaden, draußen.

Alles ist selbstverständlich, als wäre es nicht ein Jahr her. Allzu selbstverständlich, denn es ist noch nicht Wirklichkeit. Obwohl die Kilometer, die wir gefahren sind, einen Beweis darstellen, können sie uns nicht überzeugen. Wir haben es noch nicht begriffen. Wir träumen. Hautnah. Jetzt soll hier wieder alles beginnen, das unbeschwerte Leben, das Fremde, die Verständigung in der fremden Sprache, die Zikaden, die Hitze am Mittag, die sorglosen Morgen und friedsamen Abende – nein, wir fassen es nicht!

Lena macht einen Willkommensspaziergang. Sie muss allein sein, um zu begreifen. Ich schalte den Fernseher ein und schaue mir ein Weltmeisterschaftsspiel an; von den Kommentaren verstehe ich nichts, nur ab und zu einen Spielernamen und das Wort ballon. Jetzt wird alles kommen, sage ich mir und lege mich aufs Sofa. An den Mückennetzen in den Fenstern tanzen Nachtfalter.

Und dann gibt es mir einen Stich in den Magen, einen freudigen, es kribbelt im Rücken und kriecht die Arme entlang, und ich grinse so breit und zufrieden, wie ich kann.

Ja, denke ich. Ja!

Heute Abend muss nichts geschehen. Es muss nichts begriffen, erfasst, genossen, erkannt werden. Ich kann abwarten, was kommt. Ich kann mich treiben lassen. Das ist ja der Sinn dieser Tage hier. Die Zeit hat aufgehört zu strömen, sie ist nur ein kleiner, frischer Quell jeden Tages, der vom Morgen bis zum Abend sprudelt.

Lena ist zurück. Sie ist müde von der Fahrt.

Ich geh ins Bett, sagt sie.

Ich komme nach, wenn das Spiel vorbei ist, sage ich.

Und selbst das Zubettgehen ist nicht wie zuhause. Es geschieht einfach und mit stillem Verstehen, es verheißt den kommenden Tag ohne Plan und nimmt den vergangenen ohne Reue.

Lange liege ich noch über das Ende des Spiels hinaus, denke nach, komme immer wieder zum selben Schluss, der mich endlich aufstehen und ins Bett gehen lässt: Wir sind wieder da.

Im Garten, morgens

Ich wache auf, klappe die Fensterläden zurück. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, aber die Sonne steht schon hoch. Ich mache mir einen Becher Kaffee und setze mich draußen unter das Sonnenzelt in den Garten.

Ich lasse den Tag kommen. Heute haben wir nichts vor. Wir können ins Städtchen fahren, ein Laguiole kaufen, ins Café sitzen, nach Keramikschalen schauen. Hinterher in den Supermarkt, Vorräte besorgen. Es wird ein heißer Tag. Zirren am Himmel, auf den waldigen Bergrücken blüht ein verheißungsvolles Blau.

Ich denke nichts und alles Mögliche. Schlürfe meinen Kaffee, rauche meinen Tabak. Ich bin wieder da, denke ich. Das ist selbstverständlich und ganz unerhört. Ich schaue in die Gegend, bin nirgends als jetzt gerade hier. Die Schwalbenschwänze sind auch wieder da, gaukeln durchs Gras und flattern feengleich gegen die Helle. Ab und zu segelt der Eichelhäher durch den Garten, von Baum zu Baum, und sieht nach dem Rechten. Drüben am Hang höre ich die Oriole, das vertraute tüdeli-lüo, die tropische Anmutung, die darin klingt, und nah in der Robinie das Trillern und Schluchzen der Nachtigall. Der Gesang der Zikaden ist ein beruhigendes Hintergrundgeräusch, das ich nur höre, wenn ich es suche.

Der Garten. Unten in der wilden Wiese die Obstbäume, Apfel, Pfirsich, eine Kirsche. Man sollte nach den Früchten schauen, den Sommer ernten. Die beiden Feigenbäume zeigen erste knollige Ansätze. Aus dem Buschwall drüben spreiten sich die dürren Bambusstängel wie Palisaden. Die Palme ist wieder ein paar Zentimeter gewachsen, jetzt ist sie mannshoch. Vielleicht gehe ich nachher zum Lorbeer und pflücke mir eine Handvoll Gewürz. Wie ich das immer tue.

Die Schwalben jagen durch den Garten. Wenn ich ihnen hinterherschaue, wird mir fast schwindelig. Sie schießen hinaus übers Dach, kehren zurück, jagen zwischen den Apfelbäumen hindurch, kurven und drehen sich, schießen dicht übers Gras dahin und kippen die Flügel, zeigen das helle Bäuchlein und machen eine Hundertachtzig-Grad-Kehre, dass es im Magen kitzelt bloß vom Zuschauen. Manchmal zielen zwei aufeinander zu, steigen aneinander hoch, wirbeln mit den Flügeln und schnäbeln oder kämpfen oder werweißwas, und lassen dann wieder voneinander ab. Sie haben ihren Spaß an den tollkühnen Flugmanövern.

Zwischen den knorrigen Robinienstämmen spannt sich die Wäscheleine, Klammern angeklemmt wie Spatzen auf der Stange. Ein Stoffsack hängt daran mit ausgefransten Löchern, wippt im Wind, ein kleiner vergessener Klammerbeutel.

Ab und zu fährt ein Auto die schmale Straße zwischen den Häusern herauf, Steine knirschen unter den Reifen. In den Olivenbäumen flirrt der Morgen.

Der Nachbar steht vor seinem Mas und schaut neugierig herüber. Gestern angekommen, wer mag das wohl wieder sein? Ich hebe die Hand und winke.

Bon matin!

Er hebt die Hand und grüßt zurück.

Dann gehe ich ins Haus, stelle den Becher in die Spüle und baue den Klapprechner auf, für die kommenden Tage. Von draußen klingt der Ruf des Pirols herein und lässt mich beim Schreiben an Iquitos denken oder Sansibar.

Im Zimmer nebenan höre ich das Bett knarren. Lena erwacht.

Anduze

Morgens um zehn schon dreißig Grad. Wir brauchen frisches Brot. Das Auto steht in der Sonne, die früh übers Haus heraufsteigt; wir lüften es aus, bevor wir losfahren. Das Tor bleibt auch über Nacht offen. Das kleine Sträßchen zwischen den Grundstücksmauern hindurch bergab. Les Aures, La Jasse. Renovierte Mas im Gutshofstil mit Swimming Pool. Dann an den Müllcontainern vorbei und an zwei Abbiegungen bis zur Landstraße am Ortseingang. Geradeaus geht es zum Weinkeller der Tornacer Winzer, ich biege links ab und fahre die Straße an Mauern und Weinfeldern vorbei nach Norden.

Das Licht strahlt über der Landschaft und flutet den Himmel. Kein Wölkchen, kein Wind. Der Fahrtwind ist noch lau, drüben auf dem Hügel thront grau und gelassen das Château. Die erste Einmündung, wo es rechts nach Villesèque geht und seiner alljährlichen Fete mit Bouleturnier. Dann weiter nach La Madeleine hinein, ein Straßenort, verschlafen, die Boutique an der Kreuzung, wo stumm eine Dame sitzt beim Eintreten und das Geschirr wie bei einer Ausstellung aufgereiht steht. Die alte Garage gegenüber, in der alle Marken repariert werden. Eine der vielen Poterien mit den bekannten Anduzevasen, die Werbung für den Midi Libre, dort geht es links ab. An der ersten Kurve das alte Steinhaus, dreistöckig, die Rückseite gegen den Fels, steht seit Jahren zum Verkauf. Ein Mann macht sich an den Fensterläden zu schaffen, auf der zweiflügeligen Scheunentür stehen Antiquitäten zum An- und Verkauf. Ein Schild warnt vor dem Betreten wegen Einsturzgefahr.

Rechts die Zufahrt zum Château, ein Kiesweg steil bergauf, zwölftes Jahrhundert sagt ein Schild, man kann auch hinauffahren. Die Straße rückt nahe an den Gardon heran, blaugrüne Flussschlingen zwischen Kiesbänken, von hohen Bäumen verdeckt. Unter einer Brücke hindurch am Campingplatz vorbei, le bel été steht in Riesenlettern auf dem Schild. Links der Grasplatz, wo manchmal der Pizzawagen verkauft. Das Ortsschild, eine Baustoffgroßhandlung, die Gendarmerie, die spitzwinkelige Einfahrt zum cevenolischen Restaurant, in dem Lena und ich einmal unseren Hochzeitstag feierten. Ein Anwesen mit alten Zypressen und himmelhohen Libanonzedern. Die Berge ragen nun graugrün, mit träg gefalteten Gesteinsschichten, vor uns auf. Die Einfahrt zum Supermarkt, wo sonntags der Flohmarkt ist. Dort könnten wir auch Brot besorgen, aber das wollen wir nicht.

Die Gärtnerei, in der wir den Olivenbaum kauften, der zuhause auf dem Balkon steht, und eine weitere Poterie. Dann der Bahnhof, wo wir parken. Ohne Fahrtwind heizt die Sonne ordentlich. Zu Fuß über den Zebrastreifen, vor dem kein Auto anhält, in die kleine Bäckerei am Ortseingang. Bon matin. Es riecht nach frischem Baguette. Heißt es un oder une baguette?, fragte ich im ersten Jahr die Verkäuferin. Es heißt le grand pain, und hier begegneten mir zum ersten Mal die südfranzösischen Nasale: „päng“ sagte sie. Ich nehme zwei große Brote und vier Croissants, sie sind noch warm in der Papiertüte. Am Zebrastreifen bleiben wir stehen. Ein Peugeot hat sich auf den Gehweg gestellt mit Warnblinker, der Fahrer hält in der Bäckerei ein Schwätzchen.

Wir schauen die Straße entlang, die Willkommenspromenade von Anduze, die zum Plan de Brie führt und dem Rathaus, wo sich die Restaurants und Cafés reihen und die Sonnenuhr am Turm den Sommer misst. Von einer Boutique wehen die Kleider wie Fahnen herüber. Wie wär’s?, fragen wir uns. Die Brote unterm Arm einen kleinen Bummel machen? Einen Kaffee unter der Markise und den Leuten zuschauen bei ihren morgendlichen Besorgungen? Der Tag beginnt in Anduze, wir wollen dabei sein.

Im Café

Von der Hitze brummt mir der Kopf. Lena hat Hunger. In den Taschen zu beiden Seiten tragen wir Keramik und die beiden Flaschen Pastis. Es ist nach Mittag, das Essen ist vorbei, die Sonne steht hoch.

Und was machen wir jetzt?, fragt Lena verdrossen.

Jetzt setzen wir uns in ein Café.

Korbstühle und Blechtische im schokoladenfarbenen Schatten einer Markise. Wir ergattern einen Platz, stellen die Taschen ab und lehnen uns zurück.

Hier spürt man das leise Lüftchen wohlig. Hier kann man die Autos, die keinen Zebrastreifen achten, ziehen lassen. Hier kann man die Leute, deren Wege man ständig kreuzt, in Ruhe beobachten.

Ich bestelle einen café crème, Lena eine kalte Cola. Zum Kaffee gibt es einen Karamellkeks und einen Streifen weißen Nougats. Aus Montélimar?, frage ich den jungen Kellner. Bien sûr, natürlich. Später wird das zum running gag zwischen mir und ihm. Er fragt, woher wir kommen, und als er Deutschland hört, ist er gleich beim Fußball. Bayern München natürlich, und auch er bricht sich die Zunge an Schweinsteigers Namen.

Der Schweiß trocknet, die Haut wird wieder zart und redselig. Der Nachmittag öffnet eine Flügeltür.

Lena hat Hunger und fragt nach der Karte. Stattdessen stellt ihr der Kellner die Tafel hin mit der französischen Mädchenschrift und den zahllosen Salaten. Ich bestelle mit, und wenig später haben wir zwei Riesenteller mit erfrischendem Grün vor uns, mit Tomaten und Zwiebeln, mit Maronen und Äpfeln, mit gerösteten Weißbrotschnitten voll Tapenade und warmem Ziegenkäse.

Essen ist hier, im Markisenschatten, ein Leichtes. Ich trinke den Pastis mit Eis und verdünnt, der wässrige Anis- und Kräutergeschmack ist wie eine Liebeserklärung. Dann, die Mundwinkel ausgeleckt, drehe ich mir eine Zigarette. Der französische Tabak schmeckt hier anders als zuhause.

Ich sitze und lasse das Leben an mir vorbeiziehen, ein Defilee von unaufgeregter Festlichkeit, betrachtet mit Milde und Wohlwollen.

Jetzt verstehe ich das endlich, denke ich. Es ist eine Lebenskunst, das Café-Sitzen. Die Leute drängen und schieben durch die Gassen, Verkäufer preisen ihre Waren an, Gelächter und Kindergeschrei, das Taschentragen und Stoffebegutachten, Eiskrem mit den Lippen Schmelzen, die Sonnenbrille Lüften, der Griff zum Portemonnaie, ringsum wimmelt und treibt es, und ich sitze unbewegt in meinem Stuhl im Schatten und schaue zu. Nehme ab und an einen Schluck vom Pastis, schaue mich um an den Tischen, unter denen die Zuckerpapierchen einen Blütentanz aufführen. Alles launiges, faules, müßiges Gesindel, hier unter der Markise. Alles Voyeure und Lüstlinge, Gourmands und Naschkatzen, Kenner und Schöngeister, Publikum in der Loge des Lebenstheaters.

Wir sitzen und schauen, dösen und halten die Zeit feil. Neben uns steht mit Warnblinker ein Auto im Sträßchen, und erst, als ein zweites auftaucht und vorbei will, merken wir, dass der Fahrer am Nebentisch sitzt und mit Freunden plaudert. Er springt auf und fährt weg. Vielleicht erledigt er nun, weswegen er im hohen Mittag unterwegs ist. Vielleicht parkt er auch bloß seinen Wagen im nächsten Sträßchen und kommt zurück.

Die Zeit steigt wie aus einem Brunnen, ohne Fragen, und mein Tabak würzt die Luft mit Zwiegespräch.

Die tausend Straßen

Hitze gehört dazu. Der Fahrtwind in den offenen Fenstern ist backofenheiß, das Auto darf nie stehen, sonst komme ich um. An einer Baustelle vor der roten Ampel würde ich am liebsten aussteigen und mich in ein Café setzen, bis es Grün wird. Aber solange ich fahre, der Wind das Wageninnere durchwirbelt, ist es annehmbar.

Unterwegs auf den tausend Straßen Frankreichs. Mille routes se rejoignent, singt Georges Moustaki. Besonders die Landstraßen, die Chausseen und Alleen, die buckligen Pisten und am besten ohne Mittelstreifen, wenn zwei Autos für Augenblicke die enge Fahrbahn füllen, wenn die tarnscheckigen Platanen Spalier stehen und jeden Fahrfehler tödlich bestrafen, wenn die Straßen zu Laubtunneln werden und voraus der nächste Weiler mit einer Mauereinfahrt wie zum Landschloss lockt. Die langrechteckigen weißen Ortsschilder mit dem roten Rahmen, von dem sich die schwarze Schrift verheißungsvoll und zuversichtlich abhebt. Wer auf diesen Straßen unterwegs ist, meint Moustaki, der ist mein Freund. Der kommt vom Ende der Welt, hat Berge überquert und Hoffnung und Zweifel im Gepäck und wird mit Lust bis zum Ende gehen. Solche Straßen sind es, denke ich und pfeife den Refrain mit, solche Reisende.

Überholt werde ich immer, egal wie schnell ich fahre, und egal, ob der Überholende dann knapp vor mir bleibt. Die Tafeln am Rand sind kaum lesbar, ab und zu caveau und dégustation und moulin d’olive, die mich zu anderen Zeiten anhalten ließen. Aber nicht jetzt. Weinfelder und Olivenhaine wechseln, die Hügel sind fruchtbar, die Häuser hohlziegelgedeckt. Einmal eine verblichene Butagaz-Reklame an einer Hausruine, dann ein ausgetrockneter Fluss, den die Brücke überquert. Einmal ein römisches Aquädukt, unter dessen antiken Bögen ich hindurchfahre. Mohn am Straßenrand, fahl von der Hitze, himmelblaue Wegwarte, Königskerze mit schwefelgelben Standarten. In den verschlafenen Nestern die künstlichen Buckel vor den Zebrastreifen, die Kreisverkehre, in die man fährt wie in den Hof eines Freundes, hinter Mauern ragen pfeilspitz die Zypressen, und einmal geht es mitten hinein ins Dorf auf autobreiter Fahrbahn, an einer Kirche vorbei, unter Balkonen hindurch, über die Place de la République – sie muss so heißen – am Rathaus vorbei und wieder hinaus in die mittagsheiße Flur, wo die Zikaden schrillen.

Die Kreuzung der tausend Straßen, im Herzen der Welt. Da treffen sich tausend Träume. Ein alter Mann im Anzug auf der Bank vor dem Haus. Ein Kind mit seinem Hund. Eine Frau wässert den Garten. Ein junges Mädchen auf einem Fahrrad. Die Reben bilden erste grüne Knötchen, unterm Apfelbaum sprießt Rosmarin. Sein Schatten: der schmetterlings-leichte, braungoldene, sommersprossige Schatten junger Mädchenblüte. Zikadenträume. Kaffee-und-Croissant-Träume. Träume aus wildem Mohn und Träume vom Wunderwein. Träume vom Sommer, der nie endet. Träume vom Licht, das nie erlischt. Träume von den Freunden, die du überall triffst. Träume von der Fahrt, die nie zuendegeht. Träume von der Ankunft, die ewig dauert. Rue inondée, Überschwemmungsgefahr, sagt das Warnschild, zu Zeiten des Regens, und ich pflüge versonnen hindurch wie durch eine perlmutterne Flut: durch die tausend Träume der tausend Straßen.

Kreisverkehr

Aus England und Dänemark kenne ich die Kreisverkehre schon; in Frankreich sind sie ebenfalls häufig, und ich frage mich, wann man wohl in Deutschland die Vernunft dieses Konzepts entdeckt. Das Einfädeln geht schnell, und meist kann man an der nächsten Ausfahrt wieder raus. Zudem hat es den Vorteil, dass man, wenn die Lage nicht klar ist, erst einmal eine Runde drehen und sich alle Hinweisschilder in Ruhe anschauen kann, bevor man sich für eine Ausfahrt entscheidet.

Kreisverkehre gibt es in Frankreich im kleinsten Dorf; dort ist es oft nur eine runde Platte im Pflaster, woher sich der Name rond point herleitet. Aber in Städten gibt man sich viel Mühe, die Raseninseln in der Mitte fantasievoll und ansehnlich zu gestalten. Besonders auf der Umgehungsstraße in Alès ist das auffällig. Dort fahren wir auf kleine Denkmäler zu, eine Châteauruine mit einer Zeder, eine römische Tempelanlage in Miniatur, eine kleine Garrigue mit alten Olivenbäumen, und nicht nur in der Provence sehen bäumen, und nicht nur in der Provence sehen wir schon einmal ein Ensemble von Oleander- und Lavendelbüschen, einen blauen Holzkarren mit Weinfässern oder eine Winzausgabe des Pont du Gard.

Solche größeren Kreisverkehre haben allerdings einen Nachteil: Sie werden zweispurig genutzt.

Ich weiß nicht, wie das eigentlich gedacht ist. Und, für mich als Deutschen noch beunruhigender: Ich weiß nicht, was die französische Straßenverkehrsordnung dazu sagt. Denn die meisten Franzosen ziehen, nachdem sie in den Kreisel eingefahren sind, sofort nach innen. Dadurch wird die äußere Spur zwar frei, und einfahrende Fahrzeuge haben an den Einmündungen keine Schwierigkeiten einzufädeln, im besten Fall geht das sogar ohne Anhalten. Aber es hat den Nachteil, dass die innen fahrenden Franzosen offensichtlich erwarten, dass sie, wenn sie ihre Abfahrt nehmen wollen, beim Ziehen von innen nach außen Vorfahrt haben, dass also die Außenfahrenden anhalten. Dadurch wird, denke ich mir so als Deutscher, das Problem das Anhaltenmüssens von den Einfahrten in eine wesentlich unübersichtliche Situation mitten im Kreisverkehr verlagert. Zumal wenn man gleich die nächste Ausfahrt nehmen will und außen bleibt, weil es keinen Sinn hätte, für eine Viertelrunde nach innen zu ziehen.

Das sehen die Franzosen offensichtlich anders. Immer wieder werden wir angehupt, wenn wir außen bleiben, und einmal kommt es in einem rond point in St-Rémy fast zu einem Zusammenstoß. Bremsen quietschen, und beide Fahrzeuge stehen Seite an Seite, der Franzose mit dem Blinker nach rechts gesetzt.

Er schimpft auf Französisch, ich schimpfe, da mir die Wörter fehlen, auf Deutsch zurück, wir werden uns nicht einig, und beide Fahrzeuge setzen sich wieder in Bewegung, wobei es fast wieder zur Kollision kommt. Der Franzose besteht anscheinend auf seiner Vorfahrt, weil er die gleiche Ausfahrt nehmen will wie wir. Noch einmal Hupen und Geschimpfe, und hitzig geworden bedaure ich, dass ich außer idiot keine Schimpfwörter kenne.

Schließlich lassen wir ihn vorbei, er gestikuliert am Steuer nach hinten, Chauvi denken wir und lassen ihn fahren. Noch einmal mit dem Schreck davongekommen.

Man kann sich einigen in so einer Situation, sicher. Und für Franzosen sind Regeln und Vorschriften besonders im Straßenverkehr sowieso etwas, dessen Gültigkeit von Fall zu Fall entschieden wird. Aber der Alptraum ist natürlich, dass wir – in spontanem Urteil und flinker Reaktion ungeübten – Deutschen tatsächlich in einen Unfall verwickelt werden, mitten im Kreisverkehr, und die Rechtslage dann bei der Polizei auf Französisch geklärt werden muss.

Der Sinn dieses Vorfahrtsanspruchs erschließt sich mir nicht recht. Er beschwört eine Menge unklarer Verkehrslagen herauf, nötigt zum Anhalten mitten im Kreisel, fordert eine erhöhte Aufmerlsamkeit für die Linksfahrenden, was für mich eklatant der Rechtspriorität der StVO widerspricht, aber vermutlich darf man hier keine deutschen Maßstäbe anlegen. Vielleicht hat das alles mit Verkehrsrecht oder -vernunft nichts zu tun und die Selbstverständlichkeit, mit der die Franzosen von innen nach außen ziehen, ist nichts als Chauvinismus und Egomanie.

Wie gesagt, ich weiß es nicht. Bei jedem großen Kreisverkehr neu diese Unsicherheit. Wir halten es inzwischen so, dass wir auf der Außenspur bleiben und den Blick besonders nach links richten. Ob das Kollisionen vermeiden hilft, wissen wir nicht. Vielleicht weiß der Automobilclub hier Rat?

Der eine deutsche Einrichtung ist, selbstverständlich.

Pont du Gard

Das Bauwerk kenne ich vom Titelbild meines Französischlehrbuches in der Schule, eine grobe rote Zeichnung vor einem grünen Hintergrund. Ganz Frankreich schien mir von solchen Brücken bevölkert, die keine waren, wie immer gesagt wurde. Ein römisches Aquädukt, dreistufig, mit immer zahlreicheren Bögen. Wasserleitung für das römische Nemausus, fünfzig Kilometer durch das Land, mit gleichmütigem Strömen folgte es dem sachten Gefälle im steinernen Trog, überdacht als Schutz vor Dreck und Verdunstung.

Römisches kenne ich aus meiner Heimat, aber keine solchen Riesenbauten. Wir sind gespannt, aber der Tag ist sonnig und fast windstill, die Hitze im Auto unerträglich. Wir haben keine Kühltasche, und der Minzsprudel, den ich eingepackt habe, schmeckt auf dem Parkplatz wie heißer Pfefferminztee. Das Besucherzentrum bietet Schutz, man kann sich an den Tresen setzen und Kaltes zu sich nehmen. Die Provence wird hier schon vermarktet mit Lavendelsäckchen und Backhandschuhen.

Das Gelände ist karg, Sandstein und Kalk mit Pinien und Steineichen, das Gestrüpp zundertrocken, jede Sonnenstrecke messe ich ab bis zur nächsten Schattenoase. Bin froh um meinen Hut, auch wenn mir der Schweiß läuft.

Je näher wir dem Bauwerk kommen, desto kleiner wird es. Seltsam. Ich habe einen Titanen der Baukunst erwartet, ein überwältigendes Monument, aber je näher wir kommen, desto vollständiger wird das Bild und desto bruchloser fügt sich das Aquädukt in das überspannte Tal ein. Tief unten der blaugrüne Gardon, derselbe Fluss, dessen Ufer wir entlangfahren auf unserem täglichen Weg nach Anduze. Schroffe Kalkfelsen säumen den Lauf, weiter unten fächert er auseinander zwischen Kiesbänken und Schotterufern, dazwischen Weideninseln und Busch.

Wir steigen ab zur Höhe der ersten Ebene, wo die einstige Straßenbrücke eine Überquerung erlaubt. Jetzt wölben sich die Bögen majestätisch über uns, gefügt aus riesigen Kalkquadern ohne jeden Mörtel; allein das Gewicht und die Reibung halten sie am Platz.

Drei Ebenen, mit sechs, elf und fünfunddreißig Bögen, fügen sich zu einer in sich ruhenden Gestalt. Festigkeit und Halt spüren wir darin, eine Mäßigung und Ruhe wie selten bei Ruinen. Die Römer, zitiere ich Lena gegenüber, konnten das Sachliche schön bauen und das Schöne sachlich. Eine handfeste Anmut entsteht daraus, eine pittoreske Richtigkeit, die die Landschaft hineinnimmt in die Gestalt von Menschenhand. Mit Meißel, Winkel und Flaschenzug. Architektur als Verwandlung, Geomorphose durch den allgegenwärtigen Anspruch, die Mitte der bekannten Welt zu sein. Beeindruckend, gewiss. Und dennoch nicht überwältigend. Keine Gigantomanie, eher erwartete Gefälligkeit von Form und Funktion.

Wir gehen auf der Straßenbrücke ans andere Ufer und zurück. Unter uns schiebt der breite Fluss hindurch. Im smaragdenen Pool, den das Bett bildet, dunkel und unabschätzbar tief, kräuselt sich das Weiß von Schwimmern und Tauchern. Eine Gruppe junger Erwachsener tummelt sich dort und benutzt den Fels als Sprungbrett. Lachen und Jauchzen. Die Jungen im Hechtsprung, die Mädchen fußvoraus. Sie rufen sich zu, auf Englisch. Auch die Laute kommen hier oben klein und überdeutlich an. Jesus!, ruft einer vor Erstaunen oder Schreck. Es sind australische Studenten, die in ihrer Unbefangenheit den Weg hinunter ans Wasser gefunden haben. Da will ich nachher auch baden, sagt Lena.

Wir steigen wieder hinauf, die steilen Treppen durch den brütenden Busch zur obersten Ebene, wo eine Tür in die überdachte Wasserleitung führt. Den dunklen Gang entlang könnte man den Weg des Wassers nehmen, nur leider ist heute die Tür verschlossen. Keiner weiß warum. Immer wieder kommen Besucher, rütteln an der Klinke, ziehen ratlos ab.