Wohin du auch gehst

geh mit deinem ganzen Herzen.

Nachwort

Es sind die letzten Wochen hier in Vietnam. In genau 40 Tagen steigen wir ins Flugzeug in Richtung Stuttgart- one way! Rückkehr ohne Garantie…

Es ist schon ein komisches Gefühl, das uns begleitet. Dreieinhalb Jahre Leben in Vietnam haben Spuren hinterlassen; Erinnerungen und Erfahrungen, die prägen. Wir kamen hier her voller Spannung, Euphorie und voller Vorfreude- und doch auch mit Zweifeln und der Unsicherheit vor dem Unbekannten. Mit den gleichen Gefühlen kehren wir nun zurück in unsere Heimat, in unsere „neue, alte“ Welt. Einerseits voller Vorfreude auf Familie, Freunde, unser neues Leben… andererseits mit der Unsicherheit, was da alles auf uns warten wird, wie wir den deutschen Alltag wieder meistern und unsere Rollen finden werden…

Zurückblickend ist die Zeit so wahnsinnig schnell vergangen und alle noch so ungewohnten und manchmal scheinbar unlösbaren, schwierigen Situationen scheinen plötzlich so weit weg, die Tage und Monate erscheinen unbeschwert und leicht. Über Situationen, in denen uns unser Unverständnis und unsere Andersartigkeit an unsere Grenzen gebracht haben, lächeln wir und blicken schon jetzt mit Wehmut zurück auf dreieinhalb Jahre Bereicherung in jeder Hinsicht…

Wir sind gespannt auf unseren Abschied und auf einen neuen Lebensabschnitt. Unser Abschnitt „Vietnam“ jedenfalls lässt uns nicht so schnell los und wer weiß: vielleicht gibt es ja ein Wiedersehen- sage schließlich niemals nie…

Gesichter sagen mehr als tausend Worte…

Fremder im Land

Schon in einem vorhergehenden Kapitel habe ich angedeutet, wie andersartig wir von unseren einheimischen Nachbarn wahrgenommen wurden. Wir kamen an und brachten deren gesamtes Weltbild zum Wanken. Alles stand plötzlich Kopf, als wir unsere Zelte aufschlugen. Aus meiner Sicht sah uns das Dorf als Eindringlinge, als Außerirdische, als Fremde, die sie nicht einschätzen konnten. Was wollten die von ihnen? War da schon wieder jemand, der ihnen das Land wegnehmen wollte? Was würde geschehen, sich ändern? Unsicherheit und Ängstlichkeit waren in deren Gesichtern abzulesenverständlicherweise-, auch wenn uns alle mit einem Lächeln begegneten und gute Mienen zum bösen Spiel machten…

Was, wenn sich in Deutschland, in einem eintausend-Seelendorf eine Gruppe voller Fremder ansiedeln würde, die völlig anders aussehen und dann auch noch total anders leben würden, ihre Häuser großen Villen glichen? Nachvollziehbar, dass sich Skepsis breit machte…

Erst mit der Erfahrung in Vietnam, selbst Ausländer, Fremder zu sein, habe ich überhaupt angefangen, mir erste Gedanken zu Ausländern in Deutschland zu machen. Wie fühlen sie sich? Spüren auch sie die Blicke der Einheimischen, die sie von oben bis unten begutachten, so wie ich sie hier im neuen Zuhause spüre? Was sehen sie, wenn sie in die Gesichter der Menschen schauen? Ein Lächeln und gleichzeitig das Gefühl, auch abwertende und verstoßende Blicke zu erhaschen, so wie ich hier? Wie ist das in Deutschland als Fremder, der sich mit ersten Schritten in die neue Welt hinaus wagt? Erfährt er Hilfe, Unterstützung, ein winziges Gefühl von „Angenommen sein“?

Ich erfahre hier beides: Unsicherheit und Zurückhaltung, immer jedoch gepaart mit freundlichem Lächeln und Winken. Das erlebe ich vor allem hier draußen auf dem Land, wo wir jetzt wohnen und wo die Menschen keinerlei Berührung mit einer anderen Sprache oder gar fremden Menschen haben. Und ich erfahre Hilfsbereitschaft, Unterstützung, Neugierde und Interesse. „Hello“, „Where are you from?“, „What’s your name?“… ich kann gar nicht sagen, wie viele unzählige Male ich diese Sätze zugerufen bekam. Anfassen, über die helle Haut streichen, Ansprechen, Anlächeln, aber auch kichern und tuscheln; das alles erlebe ich vor allem in der Stadt, wo die Kinder zur Schule gehen und Englisch lernen können, wo auch langsam aber sicher der Tourismus Einzug hält, wo mit unserem Anblick zwar nicht alltäglich aber doch in gewisser Weise normalisiert umgegangen wird.

Überall kann ich nach dem Weg fragen, nach Einkaufsmöglichkeiten, wo ich Dies und Jenes finden kann, wenn auch selten in ganzen englischen Sätzen, oft aber in einer Kommunikation mit Händen und Füßen, immer aber mit Hilfsbereitschaft. Weiß der eine etwas nicht, wird der nächste dazu geholt und gefragt. Minutenlang kann über den richtigen Weg diskutiert werden, nach dem ich fragte. Und auch, wenn ich gleich schlau bin wie am Anfang, weil bei drei gefragten Menschen am Ende in drei unterschiedliche Richtungen gezeigt wird, da hier in Vietnam kein einziger Mensch einmal sagen würde „Ich weiß es nicht“; selbst dann erfahre ich etwas, was ich aus Deutschland nicht kenne. Keiner geht einfach so weiter, keiner sagt „keine Zeit“. Es gibt weder Zeitdruck noch Unhöflichkeit. Es gibt hier kein genervtes „Nein“, kein unfreundliches Schulterzucken. Man interessiert sich für den anderen, man versucht zu helfen und freundlich zu sein, sein Gesicht zu wahren…

Das Gefühl, Willkommen zu sein, als Weißer etwas Besonderes zu sein, gut und reich zu sein, das gibt man hier jedem weißen Fremden. Anfangs hat mir das sicherlich geholfen, um schneller Anschluss zu finden, sich nicht nur als Eindringling zu fühlen. In vielen Situationen ist es aber auch unangenehm und man weiß nicht so recht, wie man damit umgehen soll…

Eine solche Situation spielte sich beim Frisör ab. Alex wollte noch kurz vor dem Abendessen dort vorbeischauen. Bei einem fünf bis zehn Minuten Haarschnitt war das für mich kein Problem, einfach kurz auf ihn zu warten. Auch ohne Behandlung bekam ich einen bequemen großen Frisörstuhl angeboten, den ich dankend annahm. Kaum Platz genommen, kam eine vietnamesische Familie mit drei Kindern in den Salon, die sich allesamt zum Haareschneiden anmeldeten.Selbstverständlich stand ich auf und bot den Platz an. Das wurde sofort abgetan, ich solle doch sitzenbleiben: „Please, madam, no problem!“. Ich versuchte klar zu machen, dass Alex sowieso gleich fertig sein würde und ich kurz stehen könne. Am Ende dieses Wortwechsels saß ich wieder auf dem bequemen Ledersessel, während die Frau und ein Kind der Familie auf einen kleinen Plastikhocker mitten im Salon gesetzt wurden und dort ihren Haarschnitt verpasst bekamen. Das war soooo unangenehm, am liebsten wäre ich mitsamt dem Sessel sofort im Frisörsalon- Boden versunken. Warum wurden wir so behandelt, immer und überall? Heißt weiß= reich und reich= besonders?

Für mich blieb und bleibt bis heute die Frage, was hinter dieser Rücksichtnahme, diesem Lächeln steckt? Was wird darüber hinaus hinter unseren Rücken getuschelt? Sind die Freundlichkeit, das Zuvorkommen echt? Sind wir willkommene Gäste? Wie sehen uns die Menschen wirklich? Wahrscheinlich werden wir niemals die Gelegenheit haben, solche Fragen wirklich beantwortet zu bekommen.

Ehrlichkeit steht in Vietnam auf deren Werteskala nicht ganz oben. Es ist wichtig, das Gesicht zu wahren, zu lächeln, diplomatisch zu sein, nicht ausfällig zu werden. Es ist wichtig, bestehende Regeln einzuhalten, alles so zu machen, wie es einem die Erwachsenen und die hierarchisch Höheren vorleben- ohne zu hinterfragen, ohne zu zweifeln. Einfach so weil man es eben so macht…

Hätte ich Einheimische darauf angesprochen, was sie darüber denken, uns als neue Nachbarn zu haben- keiner hätte auch nur ansatzweise ihre Ängste oder vielleicht sogar negative Gefühle verlauten lassen- niemals. Es wäre einfach darüber hinweg gelächelt worden. Zumindest vor unseren Augen. So ist Vietnam: undurchsichtig, lächelnd. Schein steht wohl oft über Sein…

Vieles können wir aber mit Sicherheit auch schwer einschätzen und nur erahnen. Die kulturellen Hintergründe, die Mentalität, ihr Glauben und die Rituale- all das trägt dazu bei, dass uns deren Gefühlswelt, aber auch deren Gedankengut verschlossen bleibt.

Von vielen Ausländern, die hier leben und arbeiten, höre ich immer wieder, wie undankbar sie die Vietnamesen erleben. Ich habe mir oft Gedanken dazu gemacht: ist es wirklich Undankbarkeit?

Wie kann man das nennen, wenn beispielsweise ein Ausländer zusammen mit einer vietnamesischen Partnerin eine Strandbar eröffnet, die gut läuft, wo sowohl Vietnamesen als auch Touristen gerne zusammenkommen, essen, trinken, genießen. Eine vietnamesische Frau, die wie die meisten auf dem Land sehr primitiv und einfach, aber trotzdem zufrieden lebt, hat die Möglichkeit in diesem Restaurant das Kochen zu lernen. Sie arbeitet für gutes Geld, hat die Chance, zu lernen und Erfahrungen zu machen. Sie saugt alles in sich auf, ist zuverlässig und arbeitet gerne; so scheint es jedenfalls. Nach einigen Wochen, an dem Punkt, wo sie die Verantwortung für die gesamte Küche übernehmen könnte, kommt sie von einem Tag auf den anderen einfach nicht mehr. Sie taucht nie wieder auf, sagt keinen Ton, hinterlässt weder eine Erklärung, noch eine Nachricht. Wochen später erfährt der Besitzer, der sie gefördert und gestützt hat, dass sie ihr eigenes kleines Restaurant eröffnet hat. Mit dem Wissen, das sie ohne seine Hilfe nicht hätte erreichen können. Mit den finanziellen Mitteln, die sie ohne den gut bezahlten Lohn nicht gehabt hätte. Wovon sprechen wir hier? Undankbarkeit? Ich habe mir hierzu noch keine abschließende Meinung bilden können…

Wenn Einheimische bei einer ausländischen Firma einen Job finden, wo Arbeits- und Rahmenbedingungen und Lohn viel besser sind, als in ihren bisherigen Jobs und trotzdem kommen sie von einem auf den anderen Tag nicht mehr - sie halten dem Druck nicht stand, kommen mit der andersartigen (im Übrigen viel weniger ausgeprägten) Hierarchiestruktur nicht klar, können sich nicht an geregelte Arbeitszeiten gewöhnen- egal aus welchem Grund, sie tauchen einfach nicht mehr auf. Ist das Undankbarkeit oder nicht eher Unsicherheit, Angst vor Veränderung, Gehemmtheit, da plötzlich jemand tatsächlich eine ehrliche, eigene Meinung verlangt oder selbständiges Arbeiten gefragt ist, ohne wie bisher gewohnt auf Schritt und Tritt kontrolliert und angeleitet zu werden? Es ist schon manchmal schwierig nachzuvollziehen und auch zu akzeptieren, warum das Land und ihre Bewohner so sind wie sie sind. Natürlich könnte alles bereits viel weiter entwickelt sein, aber muss es das? Will es das?