Für alle, die ihren Traum nicht nur geträumt, sondern auch zu leben gewagt haben.

"Ich hoffe nichts,

Ich fürchte nichts,

Ich bin frei!"

Nikos Kazanzakis

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe

bereit zum Abschied sein und Neubeginn,

um sich in Tapferkeit und ohne trauern

in andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen,

der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

uns neuen Räumen jung entgegensenden,

des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…,

wohl an denn Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

In diesem Buch werden persönliche Erlebnisse und Eindrücke meiner Segelreise nach Griechenland, in die Türkei und nach Tunesien geschildert.

Es handelt vom Leben an Bord der Stahlketsch "Peregrin", den dabei gewonnenen Segelerfahrungen, vielen kleinen und größeren Gegebenheiten zu Wasser und zu Lande, den Begegnungen mit Natur, Kultur und Menschen und der Beschreibung von Meer und Landschaft.

Ich möchte über Erlebnisse berichten, die wir, meine damalige Partnerin Claudia und ich, mit vielen anderen Mitgliedern der großen Fahrtenseglerfamilie hatten - schöne, an die man gerne zurückdenkt und aus denen auch gute Freundschaften entstanden sind, aber manchmal eben auch weniger schöne. Um niemanden zu nahe zu treten, habe ich hier an gegebener Stelle Namensänderungen vorgenommen.

Ich möchte versuchen, einen Einblick zu geben über Möglichkeiten und Grenzen der sogenannten "Freiheit auf dem Wasser", der scheinbaren Ungebundenheit auf eigenem Kiel. Dabei wird von Geld, Zeit, Schiffen, aber auch wieder viel von Land und Leuten die Rede sein.

Schließlich möchte ich mit meinem Buch für all diejenigen, die in Gedanken ähnliche Pläne und Ideen haben, eine Ermutigung und Hilfe sein, aber auch eine Anregung, dabei nie die Geduld mit sich selbst zu verlieren und die Toleranz im Umgang mit anderen zu bewahren.

Alle Rechte an Text, Fotos und Skizzen liegen beim Autor. Kopien und Wiedergabe derselben, auch nur in Auszügen, bedürfen der besonderen Genehmigung durch den Autor.

Peer Millauer

Prolog

Beim Blick durch das Seitenfenster konnte man nur vorbeihuschende Wolkenfetzen erkennen. Sich zu orientieren war unmöglich. Ein kräftiger Wind rüttelte am Rumpf, und die unregelmäßigen Stöße erweckten allmählich ein altvertrautes Gefühl in meiner Magengegend, vertraut und doch gehasst, wie sooft bei Törnbeginn und unruhiger See.

Wieder blickte ich hinaus auf das vorbei ziehende Grau, es war immer noch nichts zu erkennen. Ich griff nach links und suchte die Hand von Claudi. Ohne den Blick von der "Athens News" zu nehmen, umschloss sie meine Hand mit gewohntem Druck. Ihr schien das Geschaukele nichts auszumachen. Im Gegensatz zu mir hat sie mit Seekrankheit nie Probleme, und ich beneide sie dafür, wie all diejenigen, die es fertig bringen, noch bei Windstärke 6 und mehr am Herd zu stehen und fröhlich vor sich hin pfeifend Spiegeleier mit Speck zu braten.

Plötzlich durchflutete gleißendes Licht den Raum Endlich! Wir hatten die Wolkenschicht hinter uns gelassen und über uns strahlte ein kobaldblauer Himmel. Mit den Wolken verschwanden auch die Schaukelbewegungen und die Boing 737 der "Olympic Airways" nahm endgültig ihren Kurs auf in Richtung Nordwesten Wir waren auf dem Weg nach Hause.

Nach Hause? War es nicht an der Zeit, diesen Begriff für uns neu zu definieren?

Unser "Zuhause" lag doch jetzt da unten, zweitausend Meter unter uns, fest vertäut an der Pier von Porto Heli, unsere 11 Meter lange Stahlketsch "Peregrin", unser Lebensraum und unsere Wohnung.

Mir fiel auf einmal auf, dass seit unserer Abreise vor gut sechs Monaten viele Begriffe für uns ihre Bedeutung verändert, oder sogar verloren hatten "stockender Verkehr", "Staulänge", "Stressbewältigung", aber auch "Geduld", "Muße" und "Zeit".

Die Stewardess riss mich aus meinen philosophischen Streifzügen - das Bordmenü wurde serviert. Ich finde, es gibt keinen ungemütlicheren Ort Mahlzeiten zu sich zu nehmen, als die "Economy-class" eines Flugzeuges.

Die Arme und Beine möglichst wie eine Gottesanbeterin haltend, versucht man, der scheinbaren Unordnung aus verpackten Döschen und Schälchen vor sich Herr zu werden. Will man bis zum Hauptgang gelangen, so muss man sich durch einen ständig wachsenden Berg von Verpackungsmüll durcharbeiten, der langsam aber unaufhaltsam über das Tablett hinauswächst.

Während ich noch begann, über Einsatzmöglichkeiten einer Gulaschkanone an Bord eines Flugzeuges nachzudenken, bekam ich einen, diesmal beabsichtigten Stups von Claudi.

"Sieh mal!" sagte sie und deutete aus dem Fenster.

Vor der sonnenbeschienenen Westküste Griechenlands tauchten die ionischen Inseln auf: Kephalonia, Ithaka, Lefkas und die Vielzahl der dazwischen liegenden kleineren Inseln, scheinbar wahllos verstreut im Blaugrün des Meeres.

Wo hatte ich dieses Bild schon einmal gesehen?

Ich erinnerte mich. Es war vor drei Jahren, als wir mit dem Flieger von Dublin nach Frankfurt zurückgeflogen waren, unter uns die Westküste Englands mit ihren vorgelagerten Inseln. Wir waren auf der Rückkehr gewesen von einem grandiosen Törn rund England, und auf dieser herrlichen Segelreise hatten wir den Entschluss gefasst, uns ein eigenes Schiff zu kaufen und auf ihm zu leben.

Als ich zwölf war, bekam ich von meinem Vater eine Optimistenjolle geschenkt, mit der ich meine ersten Segelerfahrungen auf den Baggerseen meiner badischen Heimat machte, später dehnte ich meinen Horizont mit einer 420er-Jolle auf die Seen Süddeutschlands aus. Erst danach kam ich zum Fahrtensegeln, als mich ein Freund mit auf Törn nach Südfrankreich nahm - und von da an, ließ mich diese Art des Segelns nicht mehr los. Wie sagt man doch so schön? Der "Bazillus Nauticus" hatte mich gepackt.

Als ich Claudi kennen lernte, stellte ich zu meiner Freude fest, dass ich bei ihr mit meiner Segelleidenschaft offene Türen einrannte, und, was war ich für ein Glückspilz, es brauchte keinerlei Überredungskunst, unsere Ferien fortan immer auf dem Wasser zuzubringen. Manchmal fragte ich mich sogar, wer von uns beiden wohl ein größerer Segelnarr war.

Wir waren begeisterte Chartersegler geworden. Was uns störte, war einzig und allein die Tatsache, dass die Chartersegelei immer viel zu bald ein Ende hatte und man das Schiff wieder dort abgeben musste, wo man losgesegelt war, man also immer Zeitdruck und Raumzwang verspürte. Am Törnende kam dann immer der Stoßseufzer:

"Ach, wenn wir jetzt doch weiter segeln könnten…!"

Aber daheim rief die Pflicht und neue Brötchen (und Segelferien) wollten verdient werden.

Man sagt, Männer, wenn sie auf die vierzig zugehen, kommen manchmal auf verrückte Gedanken.

Nun, ich selbst mache da keine Ausnahme, wenn man der Ansicht ist, auf einem Segelboot zu leben, sei verrückt.

Dies ist nur eine Frage der Lebenseinstellung und der Perspektive.

Für Leute mit Familie, zwei oder drei schulpflichtigen Kindern, eigenem Haus, einem guten Job in der freien Wirtschaft - keine Frage, sie würden wahrscheinlich gar nicht erst in Versuchung kommen.

Bei uns lagen die Dinge anders, besser gesagt, eine Menge glücklicher Umstände erleichterte uns die Entscheidung.

Ich hatte als Lehrer die Möglichkeit mich für eine bestimmte Zeit beurlauben zu lassen und Claudia hing nicht zu sehr an ihrer beruflichen Tätigkeit, als dass sie nicht für unser Vorhaben aufgegeben hätte. Aus dem Verkauf unserer Eigentumswohnung konnten wir soviel Gewinn machen, dass es für Schiff und unseren Lebensunterhalt ein paar Jahre reichen würde. Mein Sohn feierte gerade sein bestandenes Abitur und seinen neunzehnten Geburtstag. Er war sozusagen auf dem Sprung ins eigenverantwortliche Leben. Von unseren Plänen in Kenntnis gesetzt, sagte er nur:

"Ihr wärt ja blöd, wenn ihrs nicht machen würdet!"

Also, auch von dieser Seite nur Ermunterung.

Was blieb, war meine alte Dame und Claudias Eltern von der Ernsthaftigkeit und Wichtigkeit unserer Zukunftsabsichten zu überzeugen. Aber auch dies gelang, und als wir im Winter 1990, schneller als wir es je zu hoffen gewagt hatten, neue Besitzer von Peregrin waren, stand der Verwirklichung unseres Traumes eigentlich nichts mehr im Wege.

Aber es sollten noch zwei lange Jahre vergehen, bis es endlich soweit war.

Berufliche Gründe und der Verkauf unserer Wohnung verzögerten das Datum unserer Abreise. Wir nutzten jede Ferien, ja sogar verlängerte Wochenenden, um mit dem Nachtzug von Mulhouse/ Elsass nach Agde/Languedoc zu fahren, wo unser Schiff lag.

Das Glück hat uns auch beim Kauf unseres Schiffes nicht im Stich gelassen. Wir erwarben es von einem Deutschen, der es vom Erbauer drei Jahre zuvor gekauft hatte und es nun aus Zeitmangel wieder verkaufen wollte. Dieser Erbauer, sein Name war Yves, betreute die Jacht nach wie vor in Abwesenheit des Eigners. Er kannte jede Schraube an und unter Deck, jeden noch so versteckten Teufel im Detail und war so wirklich ein großer Glücksfall für uns und für unsere Arbeiten am Boot. Immer, wenn wir nicht mehr weiter wussten, und das kam Anfangs nicht selten vor, kam Yves und half mit viel Geduld und handwerklichem Geschick weiter. Mit eben diesem Geschick hatte er auch seinerzeit die Inneneinrichtung von Peregrin aus Iroko und Kahori, beides tropische Hölzer, sowie bordeauxrot eingefärbtem Leder als Intarsien für die Schranktüren, gezimmert. Ein wunderschön anzusehender Kontrast zu den alten Messingpetroleumlampen im Salon. Ich erinnere mich noch heute an Claudias verklärtes Gesicht, als sie sich zum ersten Mal in diesem Salon umsah.

"Das ist es!" rief sie, und ich konnte in jenem Augenblick nur hoffen, dass der Rest des Bootes auch hielt, was der Salon versprach. Aber Gott sei Dank, er tat es!

In Noumea auf Neukaledonien wurde der Rumpf "Peregrins" aus solidem, feuerverzinktem Stahl zusammengeschweißt. Yves baute den Rumpf selbst aus und segelte dann mit seiner Familie durch den Pazifik, den Indischen Ozean, das Rote Meer und das Mittelmeer nach Südfrankreich. Dort machte er sich selbständig mit der Wartung, Pflege und Betreuung von Booten und verkaufte "Peregrin", der damals noch "Balancelle", die Hängematte, hieß. Erst der nachfolgende Besitzer gab ihm dann den noch heute gültigen Namen. Übrigens war Peregrin für uns immer ein "Er" und niemals eine "Sie", wie das im französischen und englischen Sprachraum der Normalfall ist. Wir können uns nicht damit anfreunden, Schiffe mit dem Namen "Goliath" mit einem femininen Artikel zu versehen.

Wir investierten also viel Zeit und noch mehr Geld in die Vervollständigung der Ausrüstung (die wirklich sehr spartanisch gewesen war), die Ergänzung des Innenausbaues (Eignerkammer in der Achterkabine) und die Anschaffung eines neuen Motors. Ein vier Jahre alter Perkins 4.108 und eine echte "Occasion" wie der Franzose sagt. Er löste seinen 35 Jahre alten Vorgänger ab, der zwar noch lief und auch nicht kaputtzukriegen war, dessen Aggregate aber von Korrosion und Verschleiß so in Mitleidenschaft gezogen waren, dass sich eher der Tausch der gesamten Maschine lohnte.

Die Außenhaut wurde sandgestrahlt und bekam einen völlig neuen Farbaufbau. Wir erfuhren zum ersten Mal, wie mühsam es sein kann, auf einem Stahlboot Roststellen zu entfernen, vor allem, welche mechanischen und chemischen Tricks es dabei zu beachten gilt. Oft war zu Beginn der Frust groß, als dieselbe, erst vor vierzehn Tagen entrostete Stelle, wieder braune Punkte zeigte! Wie dieses Erlebnis, so vermittelten danach noch viele weitere, dass der Erhalt und die Pflege von Stahlbooten ein unendlicher Lern- und Erkenntnisprozess ist.

Für uns stand dennoch der Baustoff Stahl niemals in Frage. Er ist, bei richtiger Pflege, sehr lange haltbar, leicht zu verarbeiten und zu reparieren und der wichtigste Punkt: Er hat im Vergleich zu Kunststoff und Holz eine wesentlich höhere Stabilität. Vielleicht hatten wir schon zuviel gelesen von Kollisionen mit treibenden Kontainern oder Walen, Grundberührungen mit scharfen Klippen, Holzwürmern, Osmose, usw. Wir wollten auf See unbedingt auf unser Schiff vertrauen können, und deshalb hatten wir uns für Stahl entschieden.

Dass es eine Ketsch wurde war Zufall. Wir hätten Peregrin genauso auch als Slup gekauft. Heute wissen wir die Vorteile einer Ketsch zu würdigen: Besserer Trimm durch größere Unterteilung der Segelfläche, leichteres Handling, insbesondere des Großsegels, weil dies im Vergleich zur Slup kleiner ist. Dies ist um so wesentlicher, wenn man nur zu zweit an Bord ist und über keine Rollgroßanlage verfügt. Außerdem sind die meisten Ketschen mit Mittelkockpit und separater Achterkabine ausgerüstet, und aus Gründen der Sicherheit und Bequemlichkeit lernten wir dies sehr zu schätzen.

Die zwei Jahre der Vorbereitung waren für uns in jeder Hinsicht Lehrjahre. Verwöhnt von 6 – 8 köpfigen Crews auf Charterschiffen, bestand unsere Seemannschaft jetzt nur aus uns beiden und das brachte doch einige Umstellungen mit sich. Die Arbeit am Schiff erweckte in uns ungeahnte handwerkliche Fähigkeiten: Schreiner, Maler, Elektriker. Mechaniker, Schneider, Klempnerwir wurden von alledem ein bisschen, und je mehr Dinge wir selbst machen konnten, desto mehr wich unsere anfängliche Unsicherheit einem wachsenden Selbstvertrauen. Wir wollten und mussten durch diese Schule durch, denn wir konnten es uns später nicht leisten, bei jeder Gelegenheit scheckbuchschwenkender Weise den nächsten Bootsservice anzusteuern.

Abgesehen von einigen Probeschlägen vor dem Hafen, unternahmen wir unsere eigentliche Jungfernfahrt im Sommer ’92 nach Menorca. Mit einer Mischung aus Stolz und Aufregung machten wir und auf die 200 Seemeilen lange Reise quer durch den Golf von Lion.

Wir waren so voller Erwartungen! Würden wir allein an Bord zurechtkommen? Wie würde sich Peregrin verhalten, wenn es mal richtig bläst? Hatten wir auch an alles gedacht?

Die vorher bestehenden Fragezeichen konnten wir erleichtert und froh streichen, denn es wurden vier wunderschöne Wochen. Peregrin erwies sich genau als das Schiff, welches wir uns gewünscht hatten. Es stellte sich sehr bald heraus, dass er schon eine Mütze voll Wind brauchte, um in Fahrt zu kommen. Weniger als 3–4 Windstärken ließen ihn kalt. Erst bei mehr Wind kam Leben ins Schiff. Er war ein steifer Segler, legte sich bei viel Wind nur wenig auf die Backe und konnte gut und gern auch mal 6–7 Beaufort vertragen, ohne dass man gleich zuviel Herzklopfen bekam. Das lag zum einen an seinem relativ hohen Ballastanteil, zum anderen aber auch an der Tatsache, dass er leicht untertakelt war. Seine Beschläge, Wanten und Terminals waren überdimensioniert, so dass er über eine hohe Sicherheitsreserve verfügte. Ans Reffen musste man infolgedessen erst spät denken. Trotzdem hielten wir uns an die Regel: "Wenn du ans Reffen denkst, solltest du es schon getan haben!" Peregrin lag gut im Trimm, war leicht und exakt zu steuern und zeigte auch unter Motor keine unerwarteten Verhaltensweisen. Ein Radeffekt war bei ihm kaum spürbar. So gelangen auch die Hafenmanöver ohne Schwierigkeiten. Wir waren rundum glücklich mit unserem Schiff und hätten was darum gegeben, schon in jenem Sommer durchstarten zu können.

Endlich befreite mich die Stewardess von dem Müllberg vor mir, und während ich an meinem Plastikkaffee nippte, dachte ich über die vor uns liegenden Tage nach. Aus den Bordlautsprechern rieselte seichte Weihnachtsmusik zur Einstimmung auf die bevorstehenden Festtage, aber mir war überhaupt noch nicht weihnachtlich zumute Hinter uns lagen sonnige und warme Dezembertage, die keinen Gedanken an klirrenden Frost, knirschenden Schnee, beschneite Tannenbäume und vorweihnachtliche Glühweinromantik aufkommen ließen. So sah ich der zu erwartenden Stimmung im Kreise der Familie mit Skepsis entgegen. Mit unserem Flug nach Deutschland entsprachen wir einerseits dem Wunsch der Familie - wir wollten mit unserem Erscheinen den lebenden Beweis erbringen, dass wir trotz aller Unkerei noch nicht untergegangen waren - andererseits wollten wir die Gelegenheit nutzen, uns eine Bootsheizung zu kaufen. Nicht, weil der griechische Winter zu kalt war. Sondern wegen des in der kühlen Jahreszeit häufig auftretenden Schwitzwassers, das die Kleider und die Bettwäsche an Bord ziemlich klamm machte. Ehrlich gesagt grauste mir vor der Hektik und dem Rummel des weihnachtlichen Kaufrausches in den Städten, und ich nahm mir vor, mich dem nur so lange wie nötig auszusetzen. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, in wenigen Stunden die alte Heimat wiederzusehen, auch wenn wir "nur" ein halbes Jahr weg gewesen waren, aber wenn man bedenkt, dass wir noch nie so lange am Stück fort gewesen waren! In mir kam die Erinnerung an die vielen Abschiedsszenen wieder hoch, schmerzliche und weniger schmerzliche, als wir so froh gewesen waren, dass wir die alle hinter uns hatten. Sollte dies jetzt alles wieder von vorne anfangen?

Unter uns konnte man jetzt die italienische Küste sehen.

Komisch, da flogen wir in zwei Stunden eine Strecke zurück, für die wir im Sommer zwei Monate gebraucht hatten. Wie relativ doch die Dimensionen für Zeit und Raum werden können, ganz davon abhängend, welches Verkehrsmittel man gerade benutzt.

Während ich die Küste unter uns betrachtete, kamen in mir die Erinnerungen an unsere bisherige Reise hoch, Bilder von unvergesslichen Begegnungen und Erlebnissen, die mir so frisch im Gedächtnis waren, als ob es erst gestern gewesen wäre, dass wir in Agde die Leinen gelöst hatten und damit auch die Verbindung zu einem Lebensabschnitt, der schon so weit zurückzuliegen schien.

1: Stauraum Heck

2: Achterkabine

3: Cockpit

4: Durchgang Achterkoje / Motorraum

5: Kartentisch / Dieseltank

6:

7: Kühlschrank / Bilge

8: Elektronik / Süßwassertank

9: Vorratskammer / Ballast

10: Salon / Kartentisch

11: Porta Potti

12: Vorschiffkoje / Segelkammer

13: Ankerschapp Pantry

Odysseus I

Und frohgemut spannte die Segel in den Wind

der göttliche Odysseus. Doch mit dem Ruder

steuerte er kunstgerecht und saß, und es fiel

ihm kein Schlaf in die Augenlider, während er

auf die Pleiaden blickte und den spät versinkenden

Bootes und die Bärin, die sie auch Wagen mit Beinamen

nennen, die sich auf der selben Stelle dreht und

nach dem Orion späht und hat allein nicht teil

an den Bädern in dem Okeanos.

Denn diese hatte Kalypso, die hehre unter

den Göttinnen, ihm befohlen, zu seiner linken Hand zu haben,

während er das Meer durchquerte.

Und siebzehn Tage fuhr er

das Meer durchquerend, am achtzehnten aber

zeigten sich die schattigen Berge des Landes

der Phäaken, wo es ihm am nächsten lag,

und es erschien ihm wie ein Schild in dem dunstigen Meere.

Homer: "Odyssee", 5., 270 -281

Abschied und Aufbruch

Nun kullerten sie doch noch, die Abschiedstränen, die ich bisher zurückgehalten hatte. Da standen wir nun auf dem unendlich langen Bahnsteig von Agde im fahlen Neonlicht, kalter Regen klatschte auf unser Gesicht, und umarmten meinen Sohn. Es waren Tränen des Schmerzes und auch Tränen der Freude. Es war dies unser letzter Abschied, aber auch unser schwerster. Arne hatte die letzten Tage mit uns zusammen verbracht, unsere letzten Tage in Agde, und jetzt nahm er den gleichen Zug zurück nach Deutschland, den auch wir sonst immer genommen hatten - nur diesmal fuhr er ohne uns.

Was für ein Gefühl! Kloß im Hals und lachendes Gesicht!

Schnell noch den Koffer und dann schloss sich die Zugtür, Arne winkend hinter der Scheibe, der Zug setzte sich lautlos in Bewegung. Die Fenster der modernen französischen Schnellzüge sind nicht zu öffnen und verhindern so nostalgisches Taschentücherschwenken. Vielleicht auch besser so.

Da standen wir nun, Claudi und ich, winkten hinter dem Zug her und waren überwältigt von diesem für uns einmaligen und unwiederbringlichen Augenblick. Rote Rücklichter verschwanden in der Ferne. Der warme Südwest trieb den fast schon vertrauten Gestank der Düngerfabrik zu uns herüber und wir gingen auf die Unterführung zu, um den hässlichen Bahnhof dieser schönen Stadt zum letzten Mal zu verlassen.

Wir nahmen ein Taxi um nach Cap d’Agde rauszufahren, wo Peregrin auf uns wartete, fertig beladen und gepackt, schon unruhig an den Leinen ruckend.

Zum letzten Mal die Brücke über den Herault, der Kreisverkehr, der riesige Festungsturm am Ufer, und dann die neuerbaute vierspurige Straße raus zum Kap, mit Palmen gesäumt und mit einer verschwenderischen Menge an Bogenlampen versehen.

Wie immer, so empfand ich auch dieses Mal wieder den Gegensatz zwischen dem alten Agde, das auf eine über zweitausendjährige Geschichte zurückblicken kann, und seiner Trabantenstadt, Cap d’Agde. Vor hundert Jahren noch Sumpfgelände, heute Megamarina mit über 2500 Liegeplätzen. Im Sommer Riesenrummelplatz für 50 000 Touristen, im Winter Geisterstadt mit 500 Seelen, sich einreihend in die Vielzahl der aus dem Boden geschossenen Jachthäfen an dieser Küste zwischen Marseille und den Pyrenäen. Alle im gleichen pastellfarbenen Bungalowstil erbaut, mit Ausnahme von La Grande Motte, dieser riesigen Raumschiffbasis, dem Alptraum eines abgedrehten Designers entsprungen.

Fragmente, Erinnerumgsfetzen huschten durch meine Gedanken, ein Zeitrafferfilm der letzen Wochen und Monate. Arne im Zug, wahrscheinlich jetzt schon kurz vor Montpellier, Claudias Eltern am Bahnhof von Mulhouse, die Taschen voller Papiertaschentücher, winkend, schneuzend, meine Mutter, bis zuletzt gefasst, aber auch bis zuletzt ohne Verständnis für unsere Sache - der Wermutstropfen. Die Kollegen von der Schule, händeschüttelnd - aber auch kopfschüttelnd - viele gute Wünsche, Ermunterung - aber auch Neid. Die Kameraden vom Segelklub, voll euphorischem Interesse für unsere Reise, gute und gutgemeinte Ratschläge für ihre "Weltumsegler", ein Stigma übrigens, an dem wir zwar selbst nicht ganz unschuldig waren, das wir aber nicht mehr los wurden und das uns ärgerte. Die guten Freunde, eine Abschiedsfete nach der anderen, hier noch ein paar Worte wechseln, dort sich noch mal sehen lassen – wo, zum Teufel sollen wir denn noch die Zeit hernehmen? - "Tschüss!", "Macht’s gut!" und "Servus!" klingen uns in den Ohren, machen uns fast abgestumpft, lassen uns fast die Geduld verlieren für die wirklich wichtigen, letzten Gespräche.

In den letzten Tagen und Wochen steigert sich die Hektik noch. Trotz unseres Fahrplanes, von uns nur noch "die Liste" genannt, häufen sich die Termine: Arztbesuche, Behördengänge, Bankangelegenheiten, Wohnungsauflösung, Postaufträge, usw..

Dann schließlich war er endlich da: der Tag unserer Abreise!

Die letzten Häkchen wurden in der Liste gemacht, alles war gepackt, Kleider und Klamotten auf dem Dachboden der Eltern verstaut, einige, wenige Möbel untergestellt, die meisten hatten wir verkauft, die Wohnung übergeben, alle Papiere vervollständigt, ja, sogar eine Garage für meinen geliebten, alten VW - Bus gefunden. Schließlich, total geschafft, innerlich aufgewühlt, fix und fertig, aber unwahrscheinlich glücklich, saßen wir im Zug nach Südfrankreich, endlich auf dem Weg zu unserem Schiff!

Die Bar, in der wir uns noch einen Schlummertrunk genehmigten, hatte den beziehungsreichen Namen "le Mistral ". Sie lag genau gegenüber der Schwimmpier, an der unser Schiff lag, genauer gesagt, am Liegeplatz E II 36. Fast beschwörend intonierte die Live - band jenes Stück vom schlafenden Löwen: "… the Lion sleeps tonight…" Durch den Windschutz aus Glas, an dem noch die Wasserperlen des vergangenen Regens hingen, blickte ich zum Himmel. Da und dort schauten ein paar Sterne zwischen den Wolken hervor. Das leichte Rütteln der künstlichen Glaswand bestätigte meinen Argwohn, den ich dem Lied gegenüber entwickelt hatte: Der Löwe dachte gar nicht daran zu schlafen! Insider, und nach über zwei Jahren Revierkenntnis wagten wir uns auch ein wenig als solche zu bezeichnen, wussten genau worauf dieses Wetter hinauslief: Abkühlung nach dem Regen, rechtsdrehender, auffrischender Wind, ruckartiges Ansteigen des Barometers - das konnte nur eines bedeuten: Mistral! Blieb nur die Frage, wie lange er dauern würde; 3, 6, oder - wir wagten kaum daran zu denken - 9 Tage! Wir wollten doch los! Aber es kam, wie es kommen musste: Der Löwe blinzelte zuerst verschlafen, dann gähnte er, streckte sich, knurrte ein wenig, und am nächsten Tag vernahm man sein Brüllen von Carcassonne bis Cagliari!

Mistral im Löwengolf! Ein ausgewachsener, heulender Sturm, der sich von den Pyrenäen bis nach Tunis austobt. Auf seinem Weg nach Südost baut er dabei Wellenberge von enormer Größe auf, nicht umsonst findet man die höchsten Wellen des Mittelmeeres im Südwesten Sardiniens. Cap Beár, für jeden Segler im Golf ein Begriff - bei ausgewachsenem Mistral ein Fiasko! - Die Wasseroberfläche ist nicht mehr bestimmbar, kein Unterschied mehr zwischen Gischt und Woge, eine brüllende Naturgewalt und nur wenig anschaulich mit "Beaufort 14 " beschrieben. Unglaublich aber wahr, schenkt man der Statistik glauben, dann ist der Löwengolf die sturmhäufigste Gegend der Welt nach dem berüchtigten Kap Horn und hat, verglichen mit der Biskaya, die doppelte Sturmhäufigkeit! Im Monat Februar beispielsweise gibt es hier eine Sturmhäufigkeit von über 25 Prozent! Das heißt, an jedem 4. Tag weht es mit acht oder mehr Windstärken! Nun, gottseidank war Juli, und da ist das brüllende Raubtier etwas zahmer. Trotzdem war das Heulen in der Takelage und das Quietschen der Fender während der Nacht für uns das sichere Zeichen, dass an ein Auslaufen am Morgen nicht zu denken war.

An die Vibrationen unseres Windgenerators hatten wir uns mittlerweile gewöhnt. "Brummi", wie wir ihn passenderweise getauft hatten, war auch gleichzeitig ein guter Windstärkenmesser. Unter drei Beaufort vernahm man nur ein schwaches Summen. Ab vier begann er dann zu brummen, das mit jeder Windstärke lauter und tiefer wurde, bis dann über sechs aus dem Brummen allmählich ein intensives Pfeifen wurde. Gewiss nicht jedermanns Sache solche Geräusche, weil damit ja auch noch ein gewisser psychologischer Effekt verbunden ist: Die ohnehin schon vorhandenen Windgeräusche erfahren so noch eine weitere Steigerung.

Wie erwartet brummte am nächsten Morgen "Brummi" munter vor sich hin und verkündete uns Windstärke sechs. Ab und zu ließ er auch mal einen anerkennenden Pfeifton hören, wenn eine Bö in seine Rotorblätter fuhr. Doch wir tolerierten seinen Krach, hielt er doch unsere Batterien in Form. Über den Daumen gepeilt waren es immer halb so viel Ampere wie Beaufort - eine einfache Rechnung.

Ein blitzblauer, reingewaschener Himmel spannte sich über der Küste und die Pyrenäenausläufer waren fast zum Greifen nah. Das Meer hatte eine wunderbare Farbe. Alle Blautöne von türkishell am Strand bis hin zum tiefen Ultramarin am Horizont, geschmückt mit vielen weißen Tupfen - ein optisch wohltuender Ausgleich zum Grau in Grau des gestrigen Tages.

Ein Mistral weht hier ablandig. Das heißt, in der Landabdeckung ist Segeln mit verkleinerter Segelfläche kein Problem. Wehe aber dem, der aufgrund eines Maschinenschadens oder eines Defektes der Segel oder des Riggs die Kontrolle über sein Boot verliert! Der Wind würde ihn schon bald gnadenlos aufs offene Meer entführen, wo ihn dann, mit zunehmender Entfernung von der Küste, die hohe Windsee in die Mangel nehmen würde. Wir haben schon Stahljachten gesehen, die aussahen, als ob sie unter eine Dampfwalze gekommen wären - ausschließlich Auswirkungen von Wellengewalt.

Unser Weg sollte uns ziemlich genau in Richtung Osten führen an die Côte d’Azur. Das bedeutete auf direktem Kurs immerhin einen Landabstand von bis zu 30 sm und das war uns für diesen Wind zuviel. Unter Land wollten wir nicht segeln wegen der vielen vorgelagerten Untiefen an der Rhônemündung. Also hieß es warten. Wir hatten so Zeit, noch ein paar Freunden am Kai einen Abschiedsbesuch abzustatten, zum wiederholten Male unsere Vorräte aufzustocken, immer wieder zur Capitainerie zu gehen, um den neuesten Wetterbericht zu lesen, oder geduldig in unserem Lieblingscafé bei einem Buch und einer Tasse Capuccino auf ein Nachlassen des Windes zu hoffen. Der Löwe hatte Mitleid.

Am Abend des dritten Tages wurde er müde und legte sich mit dem Sonnenuntergang schlafen. Das war für uns das endgültige Zeichen zum Aufbruch. Früh am Morgen des darauffolgenden Tages lösten wir die Leinen und glitten langsam durch den Vorhafen von Cap d’Agde dem offenen Meer zu.

Ein paar Freunde standen am Molenkopf und winkten uns nach. Uns steckte ein Kloß im Hals. Stumm, unfähig ein Wort zu sagen, aber innerlich laut singend vor Glück, versuchten wir Herr unserer Gefühle zu werden. Die Zeit des Wartens, der Vorbereitung, des Zwanges zur Rückkehr - sie war vorbei! Vor uns lagen sechs Jahre Zeit und die Weite des Meeres. Und dort im Südosten lag Griechenland, unser erstes Ziel. Wir hissten die Segel und mit dem hinaufrauschenden Tuch rutschte uns gleichzeitig symbolisch eine Zentnerlast von der Seele. Eine leichte Brise trocknete unsere Tränen und wir fielen uns befreit lachend in die Arme - der erste Schritt in Richtung der neuen Freiheit war getan.

Der Löwe läßt nicht locker

Mit dem Verlassen des Löwengolfes hofften wir, den Klauen des Mistrals entronnen zu sein. Fehlanzeige!

Bis zur Durchquerung der Straße von Messina holte er uns noch viermal ein! Beim ersten Mal verhalf er uns zu vier wundervollen Tagen Pause im malerischen Port Miou bei Cassis, dann verdanktem wir ihm, durch eine Verlängerung des Hafenaufenthaltes in Ajaccio, eine abenteuerliche Zugfahrt quer durch Korsika. Anschließend durften wir seinetwegen die Schönheiten der Costa Smeralda noch einige Tage länger genießen, und schließlich war es in Cagliari, wo er dafür sorgte, dass wir für eine weitere Woche die Gastfreundschaft des dortigen Trans Ocean - Stützpunktleiters in Anspruch nahmen. Aber der Reihe nach!

Sehr bald nach unserer Abreise bemerkten wir, dass der Versuch, Zeitpläne einzuhalten, ein unmögliches Unterfangen war. Das Vorhaben, in bestimmten zeitlichen Etappen das Mittelmeer zu durchqueren, drohte in Stress auszuarten. Einerseits war dafür natürlich ungünstiger Wind verantwortlich, andererseits aber auch der Wunsch, an schönen Dingen und netten Leuten nicht einfach nur aus Zeitgründen vorbei zu segeln. Wir hatten doch jetzt Zeit! Wie schwer war es doch, uns dessen auch bewusst zu werden, wir mussten lernen, Zeit zu haben. Also flogen alle Zeitpläne, diese Relikte aus dem beruflichen Alltag, alsbald symbolisch über Bord. Welch Gefühl der Unabhängigkeit! Endlich mussten wir nicht mehr zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Hafen sein, wie einst zu Charterzeiten.

Zwangsläufige Hafenaufenthalte führten nicht mehr dazu, dass der Skipper nach spätestens zwei Tagen nervös wurde und zum Aufbruch rief, egal wie stark der Wind und wie hoch die Welle vor der Mole war, sondern wir empfanden die neu entstandenen Freiräume als Bereicherung und nutzten sie, indem wir uns intensiver um Begegnungen mit Land und Leuten bemühten.

Sollte doch draußen der Mistral wehen!

So hatten wir Zeit, mal ins Museum zu gehen, oder eine Stadtrundfahrt zu machen, oder auch kleine Wanderungen in die nächste Bucht zu unternehmen. Es stellte sich als glücklicher Zufall heraus, dass wir uns so zeitunabhängig gemacht hatten, denn gerade in diesem Sommer gab es ungewöhnlich viele Mistrale, die bis hinunter uns Tyrrhenische Meer reichten.

In dicken Wälzern wie Seehandbüchern und anderen "Seefahrerbibeln" stehen schöne Tabellen und Graphiken mit Windröschen und -pfeilen, die angeben, wann, woher und mit welcher Stärke der Wind in den jeweiligen Gebieten gekommen ist. Statistiken also. Leider (oder gottseidank?) hält sich die Natur nicht an solche Tabellen. Und so gibt es dann Sommer wie diesen, in dem Statistiken auf den Kopf gestellt werden.

Für den Golf von Lion und die Côte d’Azur verzeichnet man laut Seehandbuch im Mittel für den Monat Juli eine Starkwindhäufigkeit (das sind sechs Beaufort und mehr) von 10,5 Prozent, das sind umgerechnet etwa drei Tage. In diesem Sommer aber hatten wir in diesem Seegebiet über 14 Tage Mistral, mit zum Teil über 40 Knoten Wind. Das entsprach etwa dem Viereinhalbfachen der statistischen Häufigkeit. Anders gesagt, an über 40 Prozent aller Julitage gab es Starkwind, eine Häufigkeit, die sonst nur im Dezember oder Januar erreicht wird. Da hatten wir uns ja einen schönen Sommer ausgesucht! Das Abhören des Wetterberichtes bekam für uns größere Bedeutung als je zuvor.

Über UKW bekommt man von den französischen Küstenfunkstationen sehr verlässliche Vorhersagen für die nächsten drei Tage. In nur ganz wenigen Fällen tippten die französischen Wetterfrösche daneben. Eigentlich konnte man nach deren Vorhersagen die Segel einstellen. So wussten wir auch immer rechtzeitig, wann es besser war, einen Hafen aufzusuchen, bzw., in demselben zu bleiben. Gottseidank lässt sich ein solcher Mistral recht zuverlässig vorhersagen. Man könnte beinahe sagen, er ist ein ehrlicher Wind. Tiefs, die von der Biskaya in den Golf von Genua ziehen, mit einem sich dahinter aufbauenden Azorenhochkeil, haben, je nach Druckgefälle, mehr oder weniger starken Mistral zur Folge. Eine klare Sache also. Allein, wie oft sich so ein Wettergeschehen abspielt, darüber lassen sich keine sicheren Prognosen erstellen.

Je tiefer wir in den Süden kamen. Desto schwieriger wurde es, exakte Wetterprognosen zu erhalten. Das lag einfach daran, dass sich über die Sommermonate im zentralen Mittelmeer nur geringe Luftdruckunterschiede ergeben, und man sich sehr oft im Mittelmaß bewegt, weder im deutlichen Hoch, noch im markanten Tief. Thermische Winde, also durch die Temperaturunterschiede zwischen Land und See hervorgerufene Luftmassenbewegungen, sind vorherrschend. Diese Winde können örtlich recht kräftig sein, andernorts so gut wie gar nicht spürbar werden.

Deshalb haben es die italienischen Meteorologen im Vergleich zu ihren französischen Kollegen manchmal nicht ganz leicht. Wie soll man unter solchen Bedingungen genaue Vorhersagen treffen für ein so großes Seegebiet wie das Tyrrhenische Meer?

Dreimal täglich gibt es von den verschiedenen italienischen Küstenfunkstationen die "Bolletini di Meteo" und sehr oft sind diese gleichlautend: „…variable Winde um drei, örtlich verstärkend…" Das kann unter Umständen bedeuten, dass man einen frischen Fünfer von vorne bekommt. "Örtlich verstärkend" halt, und, wie wir später noch oft feststellen mussten, „variabel“ heißt im Mittelmeer immer „von vorne“!

Verglichen mit der nervösen Determinierbarkeit eines Mitteleuropäers hat südländische Mentalität auch immer etwas Fatalistisches. Oft haben wir Fischer nach dem Wetter gefragt. Ob Franzosen, Italiener, oder Griechen - Ausdruck, Tonfall und Inhalt waren oft sehr ähnlich: "Wind?" Schulterzucken, Stirnrunzeln, ergeben die Hände hebend: "Natürlich gibt’s Wind! Aber woher, wissen die Götter!"

Wir nahmen’s mit Gelassenheit und übten uns in Geduld - so ist das eben!

Ein untrügliches Zeichen für viel Wind war aber immer, wenn Fischerboote, die sonst regelmäßig zum Fang ausliefen, im Hafen vertäut blieben. Da konnte man sicher sein, dass sich was zusammenbraute. Fast sicher!

Müllaufruhr

Vor 30 Jahren war ich zum ersten Mal in Korsika. Zusammen mit meinen Eltern auf Urlaubsfahrt in einem alten Borgward mit den Koffern auf dem Dach. Damals fuhren wir die Westküste entlang, und neben der halsbrecherischen Straße, auf der einem seinerzeit gottseidank kaum ein Auto begegnete, blieb mir dieses großartige Panorama in Erinnerung.

15 Jahre später wiederholte ich diese Reise. Dieses Mal im eigenen, selbst ausgebauten VW-Camper. Die Straße war besser, obgleich immer noch mit Schlaglöchern übersät, und das Panorama hatte nichts von seiner Faszination eingebüßt. Merkwürdigerweise dachte ich zu dieser Zeit noch nicht daran, wie es wohl wäre, diese Buchten, diese Wälder, diese Berge von See her zu besuchen…

Diese Erinnerungen vor Augen, war ich natürlich sehr gespannt auf die Eindrücke, die uns nun in Korsika erwarteten. Um es vorwegzunehmen: Es war, schöner noch als die beiden Male zuvor. Die wildgezackten Bergriesen des Nordens, schroff und abweisend, mit steilen Klippen zum Meer hin abfallend, die vielen, unzugänglichen Buchten, die man nur per Boot erreichen kann, mit Wasser, so klar, dass man noch in zehn Metern Tiefe die Fische zählen kann. Die Girolata-Bucht, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Die von Wind und Wetter geformten, roten Steinfiguren in der Bucht von Porto, die Sandstrände bei Sagone. Ajaccio mit seinen Uferpromenaden, seinen Hotels, die sanfter werdenden grünen Hügel um Propriano, und schließlich Bonifacio, dieser einzigartige Naturhafen, wie aus dem Felsen gesprengt, eine Laune der Natur, wie ich sie so nur noch in Cuitadela, Simi oder Gerakas wiedergesehen habe.

Korsikas Westküste ist eine Orgie in Form und Farbe. Das tiefgründige Blau des Meeres, die blaßrosa bis blutroten Schattierungen der Felsen in der Abendsonne, die vielen Abstufungen des Grüns der Wälder, hell die Pinien, dunkler die Kastanien und die Kiefern, anthrazit die Gipfel und darüber ein lichtblauer Himmel. Man sitzt im Cockpit und lässt diese Kulisse an sich vorbeischweben, langsam, je langsamer desto besser, weil dann auch noch diese ungewohnte Stille hinzukommt, vielleicht nur ab und zu unterbrochen durch eine kleine Welle am Bug. Diese Stille, die einem vorgaukelt, man säße in einem riesigen Theater – allein - und der Hauptdarsteller auf der Bühne ist die Natur.

Die Überfahrt nach Korsika von den Iles d´ Hyères dauerte einen Tag und eine Nacht. Einhundert Seemeilen, für Peregrin ein normales, ja sogar ein gutes Etmal. Calvi hielt uns nicht lange, wir wollten weiter nach Süden, Nach drei traumhaft schönen Tagen bogen wir unter Vollzeug ein in den Golf von Ajaccio und gingen in dem kleinen Fischerhafen im Südwesten des Hafenbeckens mit dem Heck an die Pier.

Für den schönsten Teil der Küste hatten wir gottseidank schönes Wetter gehabt, leichte Winde, kaum Dünung. Aber segeln an dieser nach Westen offenen Küste, deren einziger, leidlicher Schutz die Bucht von Girolata ist, bedeutet auch immer, mit einem Ohr am Funkgerät oder am Radio zu bleiben, wegen der Wettermeldungen. Für den nächsten Tag meldete die Deutsche Welle den Durchzug einer Kaltfront durch den Golf von Lion. Die wievielte war das nun schon? Für uns hieß das also mal wieder stillhalten und abwarten. Eigentlich waren wir darüber gar nicht böse, hatte sich doch mein alter Freund Volker angekündigt, der mit uns eine Woche zusammen segeln wollte. Da er erst in 2 Tagen eintreffen wollte, hatten wir erst einmal Zeit, uns die Stadt etwas näher anzusehen.

Ajaccio, der Name leitet sich sehr wahrscheinlich vom lateinischen "adjacium" ab, zu deutsch: der Ruheplatz, hat heute etwa 60.000 Einwohner. Wo man geht und steht wird man daran erinnert, dass man sich in der Geburtsstadt Napoleons befindet. Straßen, Plätze, Häuser und Cafés, sind nach ihm benannt worden oder weisen Zusammenhänge mit seiner ruhmreichen Vergangenheit auf. Die Andenkenläden quellen über vor Kitsch über den großen Kaiser. Dabei hatte dieser für Korsika nur sehr wenig übrig und noch weniger getan. Er wurde zwar dort geboren, - sein Geburtshaus ist nach wie vor das Zentrum des Kaiserkultes, - aber ansonsten waren nur Frankreichs Interessen für ihn wichtig.

Der alte Fischerhafen liegt in unmittelbarer Nähe des palmenumsäumten Place du Maréchal Foch, einer Insel der Ruhe inmitten dieser, vom Tourismus überquellenden, Stadt. Schmale Gässchen und Treppenaufgänge führen von dort zur Zitadelle hinauf, die trotzig und mächtig über dem Hafeneingang thront. Von ihr aus hat man einen beeindruckenden Blick über die Stadt, die Hafenanlagen und die weite Bucht. Im Schatten der mit alten Bäumen bestandenen Festungsmauern lässt es sich selbst in den heissen Nachmittagsstunden bequem spazieren gehen. Der "Port de la Citadelle", dessen innerstes Hafenbecken der eigentliche Fischerhafen ist, besteht ansonsten aus Schwimmstegen für den Jachtverkehr. An der gemauerten Außenmole des Fischerhafens liegen während der Hauptsaison ebenfalls Jachten, den Anker zum Hafenbecken hin ausgebracht, Achterleinen an der Mole. Auch wir hatten dort unseren Platz zugewiesen bekommen. Um uns herum lagen etwa acht bis zehn weitere Gastlieger, größtenteils Motorboote. Am zweiten Tag unseres Aufenthaltes dort wurden wir Zeuge eines Geschehens, das uns ob der spontanen Konsequenz der "Täter" zwar verblüffte, das zugleich aber bei uns auch Verständnis erweckte für die radikalste Lösung eines Problems, welches so in allen von Jachties übervölkerten kleinen Fischerhäfen auftreten kann. Was war geschehen? Schon gleich nach unserer Ankunft fiel uns ein verlassener Einkaufswagen auf, der mitten auf der Mole stand und wahrscheinlich von irgendeinem Schiffsbesitzer nach dem Bunkern dort stehengelassen worden war. Ein anderer, wahrscheinlich ebenso fauler Genosse, sparte sich den Weg zum Müllkontainer, der 100 Meter weiter auf der Pier stand, und entsorgte seine Mülltüten in den Einkaufswagen. Das hatte natürlich einen Schneeballeffekt zur Folge. Viele von den abends einlaufenden Jachten folgten dieser "Verwechslung" und schwupp, war der Wagen voll, beziehungsweise war schon bald nicht mehr unter der Mülllast, die um ihn herum aufgetürmt worden war, zu erkennen. Prinzip "ex und hopp" und "nach mir die Sintflut". Der bestialische Gestank, der von diesem Haufen allmählich ausging, kümmerte die Verursacher wohl wenig. Wir beobachteten den Vorgang kopfschüttelnd und überlegten uns, was wohl mit dem ganzen Unrat passieren würde. Die Antwort erhielten wir in der darauffolgenden Nacht, als uns lautes Rufen, Poltern, Klatschten und Klirren aus der Koje fahren ließen. Wir sprangen an Deck. Die Szene, die von der fahlen Molenbeleuchtung erhellt wurde, verschlug uns die Sprache.

Korsische Fischer, offenbar die Besitzer der kleinen Boote auf der anderen Seite der Mole, warfen unter lauten Flüchen eine volle Plastiktüte nach der anderen aus dem Einkaufswagen zurück auf die Decks der umliegenden Jachten, wo sie mit großem Geschepper zerplatzten und ihren Inhalt über gepflegtes Teak und sauber geschrubbten Kunststoff ergossen. Das Chaos war unbeschreiblich. Verschlafenen Crews in Unterhosen, wütende Skipper, die den Niedergang hochkommen wollten, verzogen sich sogleich vor dem Hagel der aufprallenden Mülltüten wieder zurück in den schützenden Salon. Nachdem die letzte Tüte so an die vermeintlichen Absender zurückgeschickt worden war, verschwanden die Gestalten auf der Mole so schnell wie sie gekommen waren. Hie und da wurden die ersten Köpfe rausgestreckt und nun hob allenthalben ein lautes Zetern und lamentieren an. Die Polizei wollte man holen, den Hafenkapitän, die Feuerwehr, usw. usw. Schließlich machte man sich ans naheliegendste und begann die Sauerei aufzuräumen. An Schlaf war in dieser Nacht natürlich nicht mehr zu denken und bis zum Morgengrauen hörten wir die sich ständig neu entfachenden Schimpfkanonaden der Putzkolonnen. Außer ein paar Tomatenspritzern hatte Peregrin von den Müllgranaten nichts abbekommen. Entweder waren wir glücklicherweise ausserhalb der Wurfweite der Fischer gewesen, oder, was wir weniger annehmen, diese hatten am Vortag mitbekommen, dass wir unseren Müll ordentlich entsorgt hatten. Die Morgensonne schaute immer noch auf ein Müllschlachtfeld. Am schlimmsten traf es wohl jene Yacht, die ihren Niedergang über Nacht offen gelassen hatte und einen Volltreffer im Salon aus halbvollen Rotweinflaschen, Schinkennudelresten und faulen Tomaten hinnehmen musste. Jachtleute standen in kleinen Gruppen herum und diskutierten das Geschehene. Man kam überein, den Vorfall der Polizei zu melden und dem Hafenkapitän. Ansonsten blieb ihnen nichts weiter übrig, als mit viel Wasser und Seife ihre Schiffe zu reinigen und den zusammen gelesenen Müll wegzuschaffen, nein, nicht wieder in den Wagen, das hatte man wohl inzwischen kapiert, sondern in den Müllkontainer auf der Pier.

Im Laufe des Vormittages fasste ich mir ein Herz und sprach in meinem besten Französisch einen Fischer an, der sich an seinen Netzen zu schaffen machte. Ob er denn wüsste, was da vorgefallen sei. Ohne sich bei seiner Arbeit stören zu lassen, zuckte er mit den Schultern. Das wäre jetzt schon das dritte Mal in diesem Jahr. Immer, wenn die "Italiener" (er sagte tatsächlich Italiener!) vergäßen, ihren Müll weg zu bringen, käme nachts das Räumkommando. Sie, die Fischer, wären es leid, die Müllmänner für diese "cochons" (Schweine) zu spielen, und eine andere Sprache verständen die ja wohl nicht. Ich wollte eigentlich noch fragen, warum denn dieses Räumkommando den Einkaufswagen nicht mitgenommen hätte, er wäre ja wohl der Anlass für dieses Missverständnis gewesen, aber irgend etwas hielt mich zurück. Hatten die nächtlichen Müllwerfer in ihrer Wut nicht daran gedacht, den Wagen mitzunehmen, oder hatten sie ihn vielleicht absichtlich stehen lassen - fürs nächste Mal…. Vielleicht war es hier das erste Mal, dass wir auf Handlungs- und Denkweisen eines anderen Schlages von Menschen trafen, die man mit der kühlen Rationalität eines Mitteleuropäers nicht mehr erklären und begreifen konnte. Wir wussten damals noch nicht, dass uns solche "Verständnisschwierigkeiten" noch öfters begegnen sollten.

Korsisches Zugabenteuer

"Adschadschoohh, Westnordwest 6, 28 Grad, tausendelf Hectopascal!"

Andrea G., die Sprecherin der Deutschen Welle hatte eine unnachahmliche Art, beim Verlesen des Seewetterberichtes, den Namen der korsischen Hauptstadt auszusprechen. Wir freuten uns darauf, abends ihre Stimme aus dem Weltempfänger zu hören, die uns Segler mit den so wichtigen Wetterdaten versorgte. Und diese Daten versprachen uns auch für die kommenden Tage starke westliche Winde.

Für meinen Freund Volker, dem ich leichtsinnigerweise vorab etwas von "Buchtgondeln" und "Badesegeln" erzählt hatte, mussten wir uns jedenfalls etwas anderes ausdenken. Die eindrucksvolle See, die sich brodelnd an Korsikas Klippen brach, war zur Zeit wenig einladend für einen Törn, Gesagt, getan! Wir wollten einen Ausflug ins Landesinnere machen, und zwar nicht mit Bus oder Auto, sondern mit der Eisenbahn.

Korsika verfügt über ein dreizipfliges Schienennetz, das die Städte Calvi, Bastia und Ajaccio miteinander verbindet und in dessen Mitte die heimliche Inselhauptstadt Corte liegt. Auf einer Hochebene in der Mitte des Nordens gelegen, dem Herzen Korsikas, ist diese geschichtsträchtige Stadt noch heute geistiger Mittelpunkt des korsischen Autonomiestrebens. Die 1764 gegründete Universität stärkte das Nationalbewusstsein der Bewohner. Lange Zeit blieb sie geschlossen und wurde erst vor circa zwanzig Jahren wieder eröffnet.

Nimmt man den Frühzug in Ajaccio, so hat man bis zur Rückfahrt am Nachmittag genügend Zeit, diese malerische Stadt zu besichtigen. Spätestens als wir am Bahnhof von Ajaccio eintrafen und sahen, um was es sich bei diesem "Frühzug" handelte, wurde uns klar, dass man diese Zugfahrt nicht mit normalen Maßstäben messen konnte. Vor zwei altertümliche Waggons hatte man eine öl - und rußbedeckte Rangierlock gespannt, die ihre besseren Tage wohl am Gare de l’Est gesehen hatte. Mir fiel zu diesem Gespann nur ein Vergleich ein: Der Inkazug zwischen Maccu Piccu und dem Titicacasee im Hochland von Peru. Wie sich herausstellen sollte, lag ich damit nicht weit daneben.