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Lektorat: Matthias Jügler

August 1999

Ich schaute zur Eingangstür. Am liebsten wäre ich davon gesprungen, so aufgeregt war ich.

Und plötzlich sah ich ihn. Ich erschrak. Er hatte sich mir schräg gegenüber auf eine Bank gesetzt, keine zehn Meter entfernt. Er blickte auf das Schwimmbecken. Er spielte mit seinen Füßen, während er den Eindruck machte, als konzentriere er sich auf das Betrachten des Schwimmbeckens Ich dachte, sein Blick sei leblos, wie er meditierend ins Becken sah. Schnell löste ich den Knoten meines Haares. Kurz dachte ich, er hätte einen Blick auf mich geworfen, als die Haare flogen. Es hätte aber auch Einbildung sein können.

Ich zog die Schwimmbrille an, drückte sie fest auf die Augenhöhlen. Dann setzte ich mich an den Rand des Beckens, baumelte die Beine im Wasser.

Ich widerstand der Versuchung, mich nach ihm umzublicken. Da die Sicht durch die Brechung der Brille begrenzt war, wäre das Drehen ihres Kopfes zu auffällig gewesen.

Ich stieß mich mit den Armen ab und glitt in das Becken. Das Wasser war kalt. Linksatmen in der Armbeuge. Linker Arm nach vorn. Das Gesicht unter Wasser. Ausatmen. Der rechte Arm nach vorn. Das Gesicht bleibt unter Wasser. Der linke Arm nach vorn. Atmen in der rechten Armbeuge. Einatmen. Ausatmen. Ich zählte die Bahnen und schien ihn fast zu vergessen.

Und dann welch Glück. Ich war bei 800 Metern angelangt. Unzählige Schlangenlinien des Sonnenlichts bewegten sich in einem Geflirr von Auf und Ab am Grund des Beckens. Ich hatte die Zeit vergessen. Dann kam der Augenblick, als ich meinen Körper aus dem Wasser zog. Bereit für ihn. Mit herausforderndem Blick stieg ich ihm entgegen. Er schaute direkt auf die Knospen, die er unter dem Schwimmeranzug erhaschen konnte. Es war mir einerseits peinlich diesen Schritt zu wagen, aber auf der anderen Seite wollte ich ja seine Aufmerksamkeit erregen.

Ich setzte mich auf die Bank nicht weit von ihm.

Ich begann, Marcel Proust und Zigaretten auszupacken. Ich versuchte, nicht in seine Richtung zu blicken. Als ich mich eingerichtet hatte mit Buch und Zigaretten und spürte ich, wie die untergehende Sonne meinen Badeanzug zu trocknen begann. Ich wagte leise Blicke seitwärts. Er schien immer noch sehr vertieft, in seine Zeitung zu sein. Aber einmal, als er kurz aufsah, trafen sich unsere Blicke. Ich wollte lächeln, aber mir gefror der Mund, da ich zu aufgeregt war. Trotzdem fühlte ich Vertrautes. Es war, als ob ein Schmetterling zwischen uns hin und her flog. Als er nieder blickte, war der Falter tot.

Schließlich ging er zur Umkleidekabine. Währenddessen zündete ich mir noch eine Zigarette an. Plötzlich trat er mit einer Badehose bekleidet hinaus. Seine Augen hingen direkt auf mir. Hatte er blaue oder braune Augen? Meine Gedanken zappten hin und her. Auf die Ferne konnte ich es nicht erkennen. Dann wandte er sich dem Wasser zu und sprang hinein.

Ich tat so, als ob ich weiterhin Proust lesen würde. Ich schaute immer wieder über den Rand des Buchs um ihn schwimmen zu sehen. Schließlich stieg er aus. Tropfnass ging er zur Umkleidekabine. Dabei blickte ich ihm auf den Hintern. Nicht zu groß, nicht zu klein, dachte ich mir. Genau richtig für mich.

Ich las zum hundertsten Mal denselben Satz: „Ich wurde darauf nicht müde, ihr großes Gesicht zu betrachten, das den Schnitt einer schönen, durchglühten, friedvollen Wolke besaß, hinter der sich, wie man fühlte, das Strahlen der Zärtlichkeit barg.“

Er kam wieder aus der Umkleidekabine heraus, gekleidet in eine olivfarbene Short mit einem T-Shirt darüber in der gleichen Farbe. Das waren genau die Farben, die ich auch trug. Das musste Vorhersehung sein. Er setzte sich auf eine andere Bank, nicht weit entfernt von meiner Bank und packte erneut seine Zeitung aus.

Ich ging schnurstracks auf ihn zu, setzte mich neben ihn und sagte:

„Guten Tag. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“

Er lächelte:

„Jetzt sind Sie mir aber zuvorgekommen. Eigentlich wollte ich Sie ansprechen.“ Er hob seine Hand, um seine nassen grauen Haare zurückzustreichen. Das Augustlicht leuchtete noch einmal. Und in ihm gefangen, sah ich den goldenen Ehering blitzen. Ich war leicht irritiert und überlegte mir, warum er sich wohl auf mich einließ. Was hatte ich zu bieten? Vielleicht war mein Aussehen damals nicht ganz so schlecht, wie in langen Wintermonaten, wenn mein Gesicht einfiel und die dunkelbraunen Augen mein blasses Gesicht verätzten, sondern meine Haut war gebräunt und duftete von der Sonnenmilch, die ich mir auf die Haut trug. Ich sagte kein Wort, was auf den Ring hätte hindeuten können. Ich war so fasziniert von seiner Ausstrahlung, dass ich den Gedanken, er könnte verheiratet sein, weit weg von mir schob. Wir verabredeten uns für den nächsten Donnerstag. Bis dahin musste ich drei Tage alleine verbringen. Solange war er auf Geschäftsreise.

Dezember 2001

Meine Hände sind klamm geworden vom Halten des Briefs. Ich muss so zehn Minuten gesessen haben auf die wenigen Zeilen starrend. Ich falte den Brief zusammen mit dem Foto und stehe auf. Meine Glieder sind steif vom langen Sitzen in der Kälte. Ich recke mich ein wenig und dann gehe ich Richtung nach Hause hinein in die Abenddämmerung.

Ich zähle meine Schritte. Eins zwei drei. Die letzte Abendsonne verglüht in meinem Rücken. Mir ist kalt. Wie in einem Kühlhaus für geschlachtetes Vieh. Ich muss rennen und zähle gleichzeitig achtundvierzig, neunundvierzig.

Die Blockhütte. Endloses Gestrüpp mit Schnee bedeckt steht mir im Weg. Der Weg im Zwielicht. Er ist ausgestorben. Plötzlich sehe ich die Hütte. Haben wir uns dort nicht einstmals im Sommer geliebt?

Ein Spaziergang im Sommer. Wir kannten uns nur einen Tag lang. Ich wandelte wie auf Blumen auf dem feuchten Waldboden. Die Hitze verklebte mir meine Schenkel, aber ich hatte nur Augen für dich. Wir gelangten zu der Hütte und setzten uns davor. Du gabst mir einen ausgiebigen Kuss. Danach fragtest du, ob ich dich heiraten wollte. Ich war verwirrt und wütend. Das nach einem Tag. Du trugst mich über die Schwelle und legtest mich auf den harten Boden. Die Hütte innen war dunkel. Ich konnte nur erahnen, was sie barg. Aber mir war es egal. Ich erinnere mich deiner heißen Küsse, deiner Leidenschaft, aber auch deiner Vorsicht. Schließlich entfuhr dir mittendrin: „Ich kann das nicht!“

Während ich daran denke stolpere ich über eine Wurzel. Die Holztür knarrt, als ich eintrete. Das Licht ist diffus. Es gibt hier nur ein Fenster. Dort steht ein einfacher Holzstuhl. Darüber gelegt eine schwarze abgetragene Jacke. Ich rufe: „Ist hier jemand?“ Aber es kommt keine Antwort. Links neben dem Fenster stehen auf einer Anrichte zwei Kochplatten. Daneben eine geöffnete Raviolibüchse. Sie ist leer. Auf dem Boden Schimmelreste. „Wer lebt hier?“ Als ich das erste Mal hier war, ist es mir überhaupt nicht eingefallen, dass hier jemand leben könnte. Rechts neben dem Fenster liegt auf dem Boden eine Matratze mit einem Schlafsack. „Vielleicht sind es nur Kinder. Ja, Kinder haben sich diese Hütte zu eigen gemacht. Abenteuerspiele.“ Ich gehe zum Stuhl und hebe die Jacke hoch. Die Jacke eines Mannes. Eine Marinejacke, wie ich sie schon selbst auf dem Flohmarkt anprobiert hatte. Die silbernen Knöpfe hatten mich immer fasziniert. Ich habe sie nie gekauft, da sie mir immer zu groß erschien. Doch keine Kinder. Ich trete zu dem einfachen Holzregal. Mein Gott Bücher! Hier liest jemand. Ich finde eine zerfledderte Ausgabe von Nietzsches Autobiographie. Daneben eine Ausgabe von Lange-Eichbaums „Genie, Irrsinn und Ruhm“. Ich schaue nicht weiter. Ich will das jetzt nicht sehen.

Wie selbstverständlich lege ich mich auf den Boden trotz der Kälte. Ich will mich auf keine fremde Matratze legen. Du bist nicht da. Aber meine Wärme quillt aus mir heraus. Ich bewege mich in meiner Jeans in mechanischen Bewegungen. Es stört mich nicht, dass meine Hose am Holzboden entlang schrubbt. Ich denke an dein Glied, wenn es groß ist. An dein Glied in meinem Mund, du direkt über mir. Es kommt so leicht wie nie. Ich stehe auf, weiß selbst nicht, warum. Taumle nach draußen und fühle, dass der Kopf leicht errötet ist. Mir ist wärmer geworden. Aber diese Wärme ist nur kurz. Während ich weitergehe, denke ich, was ich getan habe, ohne dich. Mein Weg führt wieder auf die Straße. Ich zähle erneut meine Schritte. Fünfzig, Einundfünfzig.

Dann sehe ich dich plötzlich vor mir gehen. Ich sehe deinen Rücken. Du gehst die Straße hinab. Links von dir Häuser, rechts der Wald. Und jetzt renne ich. Ich schreie. Ich winke. Aber du drehst dich nicht um. Du gehst weiter wie taubstumm, während ich renne. Ich strecke meine Hand nach dir aus, will dich an mich reißen. Da drehst du deinen Kopf, ein bisschen nur. Aber ich kann dein Gesicht von der Seite erkennen: Du bist es nicht. Das Gesicht, das mir entgegen schaut, ist alt, verbraucht und fremd. Ich starre entsetzt in dieses Gesicht. Mein Herz klopft schneller. Ein Film läuft vor meinen Augen ab, ein schlechter Film. Das ist mir schon einmal passiert. Ich überhole ihn. Die Sonne ist versunken. Atemlos verharre ich kurz. Ich schnappe nach Luft. Die Lungen füllen sich wie mit Feuer. Verlustängste machen sich breit. Wie verloren fixiere ich meinen Blick auf die Füße. Beginne erneut meine Schritte zu zählen. Wieder von vorne. Eins zwei drei. Ich kämpfe mit der Verlorenheit meiner Schritte. Warum muss immer alles von Neuem beginnen? Schließlich ende ich damit, mit dem Fuß den Schnee vor mir her zu kicken. Er ist so pulverig, dass er nach allen Seiten hin verstäubt. Fußstapfen. Spuren im Schnee. Niemand verschwindet spurlos. Ich bilde mir ein, die Spuren könnten wissen, wo Jonas ist. Ich schaue mich um. Der Alte ist verschwunden. Ich laufe den Weg wieder zurück mitten auf der Straße. Die Straßenbeleuchtung scheint mir grell in die Augen. Meine Hände sind starr, fühlen nichts mehr. Ich rutsche aus und wäre fast gefallen. Ich beginne wütend, verzweifelt zu werden. Hass überkommt mich. Ein Kloß in meinem Hals. „Wo bist du bloß?“ Halb irre geworden suche ich in dem Neuschnee nach deinen Fußspuren.

August 1999

Ich war ihm auf den Parkplatz des Schwimmbads gefolgt. Ich trug mein schwarz-gefärbtes Bundeswehrjacket. Obwohl ich ahnte, dass er es nicht mögen würde. Mit einer leichten Bangigkeit. Eine Art Zwangsjacke. Aber für mich ok.

Ich verglich ihn mit dem ersten richtigen Freund. Jener war stämmig, viel kleiner. Aber nicht unsympathisch. Er hatte große Hände. Die von Jonas waren zierlich. Ich hatte ihn behandelt, wie einen treuen Hund. Und genauso hatte er sich auch verhalten. Er wich mir nicht von der Seite und wollte alles von mir. Und was gab ich ihm? Nichts. Er war ein Bruder für mich gewesen. Vielleicht hätten wir ein Leben zusammenführen können. Aber es wäre ohne Sexualität gewesen. Ich hatte ihm nach fünf unerfüllten Jahren schließlich den Laufpass gewesen, um mit einem verheirateten Mann fremdzugehen. Die Beziehung war eigentlich schal, da er nie Zeit hatte und im für ihn richtigen Moment verschwand, aber damals bedeutete diese Beziehung einen Bruch. Sie war sexuell nicht befriedigend für mich. Aber ich hatte wieder meine Periode. Schließlich ein Meilenstein nach fünf Jahren. Wenn ich an das erste Mal dachte, wurde mir regelmäßig übel. Ein Franzose über mir auf dem Sofa meiner Eltern. Ich hasste diesen Menschen, da er mir die Freundin geraubt hatte. Nach einem zweiwöchigen Urlaub, in dem er nur mit meiner Freundin zusammen gewesen war, hatte er sich plötzlich bei mir angekündigt und dann war das Unvermeidliche passiert. Er hatte mich genommen auf dem Sofa der Eltern. Ich wollte das nicht, aber es war geschehen. Noch heute sah ich mich nicht mehr vom Klo herunterkommen, da das Blut in Batzen aus mir herausquoll. Die Mutter hatte mich zum Arzt geschickt, wegen der heftigen Blutungen. Dabei war nur die Jungfernhaut gerissen, wie der Arzt sagte.

Ich schaute ihn an, wie er vor ihr ging. Er hatte eine Art zu gehen, die mich in die Knie zwang. Er sagte nichts zu meinem Jackett. Wir standen vor seinem großen Auto. Es war ein Abschied. Er musste zurück zu seiner Frau und seiner Familie. Er nahm mich in die Arme und küsste mich zuerst zärtlich, dann fordernd. Dann nahm er mich auf dem Parkplatz. Im Stehen.

September 1999

Neapel. Ein Hotelzimmer. Ich zwang ihn, mit mir zu schlafen, obwohl er klaustrophobische Anfälle hatte. Sein Penis blutig. Das Laken blutig. ich hatte meine Periode. „Das Unterhemd musst du waschen.“ Er rannte mit mir die Straße auf und ab, als ob er vor Ekel fliehen wollte. Wir suchten einen Laden, der Wein verkaufte. Die Läden waren geschlossen. Wir fanden eine Kneipe und kauften einen Rotwein. Er schien zufrieden. Aber das würde nicht sehr lange dauern.

Eine Fähre. Der Wind zerzauste meine Haare. Capri. Wir standen auf einem Hügel mit einer großen römischen Ausgrabungsstätte. Wir hatten ihn erobert mit unserem Schweiß. Dort hinten war ein Geländer. Hinter dem Geländer ein Abschuss in das tosende Meer. Wir ließen uns davor fotografieren. Er mit weißen Haaren. Die Haare vermischten sich mit dem weißen Horizont. Es war so, als ob er keine Haare mehr hätte, da der Kontrast weg war. Ein Kaiser hatte hier die Knaben hinuntergeworfen, die ihm nicht mehr genug gewesen waren, tönte die Reiseleiterin. Ich wollte weiter. Ich wollte ihr nicht zuhören. Aber er, er lauschte. Er fraß die Sätze der Reiseleiterin in sich hinein. Er wusste auch den Namen des Kaisers. Da fiel er mir wieder ein. Es war Tiberius. Dazwischen hing immer noch das blutige Unterhemd. Ich konnte es nicht vergessen.

Warum tat ich mir das an? Warum war ich mit ihm und dieser schlechten Reisegesellschaft dort? Studiosous. Immer dieses Intellektuellenprogramm.

Mittagessen. Wir setzten uns abseits der Gesellschaft. Ich war erleichtert. Wir genossen zuerst den Blick über das Meer. Dann sah ich im Hinterhof des Restaurants ein weißes Unterhemd flattern. Das Weiß des Hemdes drang in meine Gedanken. Und ich sagte:

„Weißt du, dass es nichts Schöneres für eine Frau gibt, als wenn der Mann während der Periode mit ihr schläft.“

Er nippte an seinem Weißwein. Dann schaute er mich an:

„Ehrlich?“

Ein Ehepaar mit uns beim Essen. Die Männer redeten von ihrem Job. Ich erwähnte meine Arbeit nicht. Es war mir immer noch peinlich zu erwähnen, dass ich Grafikerin war. Ich hatte mit allen Anstrengungen für diesen Job gekämpft. Und nun erzählte ich gar nichts von meiner Arbeit, obwohl ich stolz darauf war. Ich saß nur wie eine Salzsäule erstarrt da. Beim Zurücklaufen redete ich mit der Frau vom Segeln und sagte ihr, dass ich nie ein Segelboot betreten wollte. Obwohl das Segeln das ein und alles von Jonas war. Verschissenes Unterhemd. Es kochte immer noch hoch.

Ein weitläufiger Platz. Das Herz von Neapel. Wir saßen in diesem bekannten Café, tranken Cappuccino. Ich sagte:

„Ekelt dich mein Blut? Ist sie besser?“

„Besser? Ich will keine Vergleiche anstellen.“

Er sagte mir damals:

„Das Unterhemd musst du waschen. Nicht sie. Ich kann ihr doch nicht mit einem blutigen Unterhemde kommen.“

Dezember 2001

Büüüüp! Es durchzuckt mich wie ein langgezogener Blitz. Ich wirble herum. Dann geht alles sehr langsam, wie in Zeitlupe. Ich taumle, aber bleibe stehen, eine schwankende Statue, getaucht in Scheinwerferlicht. Ganz allmählich begreife ich, dass da ein Auto ist und sich auf mich zu bewegt, unaufhaltsam, denn Bremsversuche sind sinnlos auf dieser eisigen Fahrbahn. Es ist zu spät, um auszuweichen. Ich schließe die Augen.

Dezember 1999

Er lag auf dem Boden im Wohnzimmer und hörte immer wieder von vorn das gleiche Lied. Neil Young krächzte laut genug, dass ich ihn in der Küche verstehen konnte: „It’s a razor love. It cuts me through.“ Ich legte mich ganz nah zu ihm und umarmte ihn.

Er sagte: „Lass mich, Eli. Die Platzangst. Ich bekomme keine Luft mehr.“

„Was ist los? An was denkst du?“

„An nichts. Lass mich.“

„Man kann nicht, nichts denken.“

„Eli, geh, bitte.“

„Sag mir, an was du denkst. Du denkst an sie, stimmt‘s?“

„Ich denke nicht an sie. Die Familie ist es. Die Kinder.“ jammerte er.

Ich war gedemütigt und stand auf.

Ich schrie ihn an: „Dann geh doch zurück!“

Er hob seinen Kopf, in den Augen Tränen. Ich hatte ihn noch nie zuvor weinen sehen. Schließlich waren wir erst seit fünf Monaten zusammen.

„Nein.“ sagte er mit einer wackligen Stimme. Es klang wie ein Schluchzen.

Aber mich ritt der Teufel.

„Ich kann das nicht mitansehen, wie du herumhängst. Seit zwei Wochen Herrgott nochmal. In Hotelzimmern hast du Panikattacken. Und mir tust du auch weh mit deinem Geschwätz von deiner blöden Familie.“

„Das ist keine blöde Familie!“

Wütend baute er sich vor mir auf, bis ich ganz klein war.

Der Teufel ritt mich immer weiter.

„Geh! Gib mir sofort den Wohnungsschlüssel.“

Er schrie: „Ich lasse mich nicht herausschmeißen!“

Mit hasserfüllten Augen starrte er mich an. Dass er mich nicht schlug, war auch schon alles. Dennoch wich ich zurück.

Aber ich wurde noch wütender und krächzte ihm direkt ins Gesicht:

„Verschwinde, oder ich hole die Polizei!“

Wutentbrannt rannte er durch die Wohnung, wie ziellos, und packte seine Habseligkeiten zusammen. Noch heute sehe ich ihn die Treppe hinunterlaufen. Die Hände bepackt mit Tüten. Kein Blick von ihm zurück zu mir. In meinem Bauch zerriss etwas, als ich ihn so sah. Ich wollte ihm folgen, ihm wenigstens hinterherrufen, aber ich stand wie verwachsen mit dem Boden auf der Türschwelle und konnte mich nicht rühren. Nicht einmal die Lippen brachte ich auseinander.

Dezember 2001

„He, was soll das zum Teufel?“ Ich schlage die Augen auf. Vor mir steht still ein roter Opel Kadett. Ungefähr einen Meter von mir entfernt. Laut dröhnt ein alter Titel der Stones durch die einsame Straße. „I can‘t get no satisfaction.“ Der Fahrer streckt den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster und tippt sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

„Spinnen Sie? Sie gehen ja mitten auf der Straße.“

„Tut mir leid!“ murmle ich so leise, dass nur ich es hören kann.

Er räuspert sich. „He Sie, wollen Sie mitfahren? Kommen Sie!“ ruft er. Er übertönt Richards Gitarrenriff, so vertraut und doch bedrohlich in diesem Augenblick.

„Kommen Sie, Sie müssen ja erfrieren hier draußen. Steigen Sie ein!“ Er lehnt sich im Wageninneren rüber und öffnet die Tür. Er hat mich überredet. Langsam, etwas widerwillig gehe ich auf die Tür zu, dann setze ich mich in das Auto. Das Gebläse ist weit aufgedreht. Warme Luft schlägt mir entgegen. Er dreht die Musik leiser. Dann fährt er los. Er sagt jetzt nichts mehr. Ich schaue ihn von der Seite an. Wuscheliges Haar, Hornbrille mit dicken Gläsern. Extrem dürr. Ungefähr 25 Jahre alt. Wahrscheinlich ein Student, denke ich. Ich lehne mich im Sitz zurück und denke nur: Egal wohin. Die Straßen sind wie ausgestorben. Ich halte meine Hände vor das Gebläse. Sie beginnen langsam aufzutauen. Er dreht das Gebläse etwas höher und fragt dann:

„Was machten Sie denn hier draußen?“

„Ich war im Freibad.“

„Wie bitte? Im Freibad?“

„Ich wollte noch etwas erledigen.“

„Im Freibad? Im Winter“

Er schaut mich ungläubig schräg von der Seite an. Sagt dann aber nichts mehr. Ich schweige ebenfalls. Wir steuern schon auf den Pragsattel zu. Als wir die Ampel passieren, fährt er viel zu schnell.

„Die Radarfalle. Langsam.“ sage ich.

„Keine Sorge, nicht bei diesem Wetter.“

Die Hauptstraße ist frei von Schnee. Er nimmt die Kurve mit 80 km/h. Vorgeschrieben sind 50. Aber es blitzt nicht.

Ich schweige und schaue in die Dunkelheit. Auch er sagt nichts, als habe er mich vergessen. Er scheint nichts mehr von mir zu wollen. Ich bemerke seine langen schmalen Finger.

Plötzlich sind wir auf der Hauptstätter Straße. Ich sehe das Café Stella schon von weitem.

„Hier möchte ich aussteigen.“

Er drosselt das Tempo.

„Und wie kommen Sie zurück?“

Ich antworte nicht. Wortlos steige ich aus dem Auto und gehe durch den Schnee auf das Café zu. Ich höre den Fahrer mir noch etwas nachrufen, es klingt verärgert, aber ich verstehe es nicht. Dann fährt der Opel los in meinem Rücken. Ich mache noch ein paar Schritte. Dann sacke ich auf dem Gehweg zusammen und zittere. Meine Hände krallen sich am Schnee fest.

Dezember 1999

Ohnmächtig tigerte ich danach durch die Wohnung.

Was hatte ich angerichtet? Ich hatte den wertvollsten Menschen in meinem Leben vertrieben. Ich schwankte. Mir kam in den Sinn, was eine Freundin immer sagte. Verheiratete Männer sind tabu. Wo sollte ich jetzt hin? Bereits spürte ich die Flügel der Einsamkeit über mir zusammenschlagen. Ich lag im Bett und griff zum Telefon. Neben mir eine Flasche Rotwein. Ich hatte mir eine Zigarette angezündet. Meine Hand zitterte, als ich die Nummer eingab.

„Hallo, ich bin‘s. Kommst du wieder zurück? Es tut mir leid.“