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Prof. Dr. Peter Löcherbach, Dipl. Päd., Dipl. Soz.-Päd. (FH), Professor für Sozialarbeitswissenschaft an der Kath. Hochschule Mainz und Vorsitzender der DGCC

Prof. Dr. Wolfgang Klug, Dipl. Soz.-Päd. (FH), Professur für Methoden der Sozialen Arbeit an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

Prof.in Ruth Remmel-Faßbender, Dipl. Päd., Dipl. Soz. Arb. (FH), Dipl. Rel. Päd. (FH), Professorin für Interventionslehre an der Kath. Hochschule Mainz

Prof. Dr. phil. Wolf Rainer Wendt, Dipl.-Psych.; Duale Hochschule BW Stuttgart

Alle vier HerausgeberInnen sind Case Management Ausbilder (DGCC).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02824-5 (Print)

ISBN 978-3-497-61008-2 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61009-9 (EPUB)

5. Auflage

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de · E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Grundlagen

Case Management

Stand und Positionen in der Entwicklung von Programm und Verfahren

Von Wolf Rainer Wendt

Case Management im US-amerikanischen Kontext

Anmerkungen zur Bilanz und Folgerungen für die Weiterentwicklung von Case Management in Deutschland

Von Wolfgang Klug

Case Management als Handlungskonzept der Sozialen Arbeit

Erfahrungen und Perspektiven

Von Ruth Remmel-Faßbender

Ergebnisse und Anwendungen

Case Management in der Sozialpädiatrie

Das Modell Bunter Kreis

Von Waltraud Baur, Andreas Podeswik, Horst Erhardt, Friedrich Porz

Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement im SGB II

Von Rainer Göckler

Case Management in der Suchtkranken- und Drogenhilfe

Ergebnisse aus zwei Modellprojekten

Von Martina Schu

Dienstleistungsketten und Produktionsnetzwerke – die „Systemebene“ des Case Managements

Von Claus Reis

Case Management mit alten pflegebedürftigen Menschen

Lehren aus einem Modellversuch

Von Michael Wissert

Case Management in Strafvollzug und Straffälligenhilfe:

Allgemeine Grundlagen und spezifische Erfordernisse

Von Wolfgang Wirth, Birgit Grosch

Perspektiven

Qualifizierung im Case Management

Bedarf und Angebote

Von Peter Löcherbach

Anhang

Literatur

Die Autorinnen und Autoren

Sachregister

Vorwort

Case Management ist zu einem verbreiteten Handlungsansatz im Sozial- und Gesundheitswesen geworden. Interessiert an ihm sind SozialarbeiterInnen, Pflegefachkräfte und andere Berufsgruppen in Humandiensten. Case Management verspricht ein effektives und effizientes Arbeiten und eine bessere Gestaltung des Vorgehens, insbesondere bei komplexen Problemen. Aus ökonomischen Gründen sind daran auch die Leistungsträger und sozialpolitischen Akteure interessiert und entwickeln für verschiedene Anwendungsbereiche Modelle, die sie mit dem Begriff „Case Management“ belegen. Der vielfältige und durchaus uneinheitliche Einsatz des Verfahrens bedarf nun allerdings in Theorie und Praxis einer kritischen Begleitung, die sich am Konzept des Case Managements orientiert und es für den Alltag im Berufsfeld wie für die Ausbildung erläutert. Das ist der Zweck des vorliegenden Buches.

In seiner Anwendung werden die Möglichkeiten, die das Verfahren bietet, oft nicht hinreichend genutzt. Das Konzept ist offen und variabel genug, um es auch in einzelnen Ausschnitten zu dem Zweck einzusetzen, die bisherige Praxis zu verbessern. Das bringt die Gefahr mit sich, dass Flickschusterei betrieben wird und das Ergebnis für die Beteiligten enttäuschend ausfällt. Das Potenzial von Case Management wird nicht ausgeschöpft, wenn es nur auf der Ebene eines einzelnen Dienstes oder gar nur von der einzelnen Fachkraft als Methode eingesetzt wird und nicht mit einer Organisationsentwicklung verbunden ist, in der das Konzept des Case Managements als Prinzip der Systemsteuerung genutzt wird.

In diesem Band werden aus verschiedenen Perspektiven der Verwendungszusammenhang des Case Managements, damit verbundene Probleme und Ausbildungsanforderungen dargestellt. Der erste Teil bezieht sich auf übergreifende theoretische, methodische und forschungsrelevante Fragen zur aktuellen Positionierung von Case Management im deutschsprachigen Raum. Hier werden wesentliche Entwicklungslinien der letzten Jahre aufgezeigt, um Case Management in der Vielfalt der humandienstlichen Versorgungsgebiete und Versorgungswege systematisch zu verorten.

Im ersten Beitrag reflektiert Wolf Rainer Wendt zunächst die Bedeutung des Fallbezugs und des Systembezugs im Verfahren des Case Managements. Er zeigt auf, dass das methodische Vorgehen im Einzelfall letztlich nicht optimal realisiert werden kann, wenn nicht gleichzeitig auch Veränderungen auf der systemsteuernden Ebene erfolgen, also sich eine Organisationsentwicklung vollzieht. Unterschiede in den Begrifflichkeiten und Konzepten von Care und Case Management sowie Managed Care werden, auch in ihrer Beziehung zueinander, verdeutlicht. Es wird ein praxisbezogener Überblick über den zunehmenden Einsatz von Case Management in der stationären und ambulanten Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen, in der Altenhilfe, der Suchtkranken- und Wohnungslosenhilfe, der Sozialhilfe, der Jugendhilfe, der Rehabilitation, der Straffälligenhilfe und der Psychiatrie gegeben. Die Vielfalt der Anwendungen ist Ausdruck einer Entwicklung (die auch verstärkt gesetzlich verankert wird) hin zu effektiveren und effizienteren integrierten Versorgungssystemen. Dabei werden gelingende, vorbildliche Entwicklungen ebenso aufgezeigt wie Probleme, die durch eine fragmentierte Anwendung, mangelnde Rollenklärung und strukturbedingte Reibungsflächen bei der Implementierung entstehen.

Der Beitrag von Wolfgang Klug behandelt die Einführung von Case Management im „Ursprungsland“ USA und den Stand der Forschung zum Verfahren. Die Entwicklung von Standards für die Ausgestaltung der verschiedenen Phasen des Case Managements sowie die Entwicklung von Kriterien zur Evaluation sind dabei zentrale Fragestellungen. Nach einem Rückblick auf den Entstehungszusammenhang in den USA ab den 1970er Jahren und die Ausdifferenzierung nach zielgruppenspezifischen Konzepten in den 1990er Jahren verweist Klug auf die Bedeutung, die „Obamacare“ dem Einsatz von Case Management verliehen hat. Sodann setzt sich Klug kritisch mit der oft vorzufindenden einseitigen ökonomischen Orientierung im Case Management-Verfahren auseinander. Er zeigt die programmatischen Leitlinien auf – im Streben nach Effizienz und Effektivität, Qualitätsstandards, Kundenorientierung und in der Empowerment-Haltung –, die der Implementierung und Verbreitung des Konzepts zugrunde liegen. Ebenso setzt er sich (auch unter berufsethischen Fragestellungen) mit der Bedeutung und Zielsetzung unterschiedlicher Auftraggeber auseinander und benennt Konsequenzen, auch auf der Systemebene, für eine Nutzung von Case Management in Deutschland.

Ruth Remmel-Faßbender setzt sich mit Fragen des Case Managements als einem spezifischen Methodenkonzept Sozialer Arbeit auseinander. Sie zeigt den zögerlichen Weg mit vielen Vorbehalten von Sozialprofessionellen seit den Anfängen mit dem Verfahren in Deutschland bis zu seiner Etablierung in vielen Arbeitsfeldern mit komplexen Problemlagen auf. Dabei wird einerseits der Einfluss gesellschaftlicher Veränderungen, deren Bedeutung für veränderte Problemsituationen, der stärker werdende Ökonomisierungsdruck und die damit verbundene Qualitätsentwicklung als Wegbereiter für Case Management analysiert, andererseits werden fachliche Anforderungen benannt, die zum konkreten Einsatz von Case Management in vielen Handlungsfeldern geführt haben. Sie reflektiert kritisch Einwände und Missverständnisse eines technokratischen, routinemäßig anmutenden Verfahrens im Rahmen einer personenbezogenen Dienstleistung, verdeutlicht aber am Beispiel konkreter Arbeitsfelder und gesetzlicher Grundlagen die Chancen des Verfahrens für die Ausgestaltung einer individuellen bedarfsgerechten Hilfe, auch wenn in der Praxis noch Klärungs- und Handlungsbedarf hinsichtlich organisationsbezogener Rahmenbedingungen und Rolle von Case ManagerInnen in der Steuerung von Hilfe- und Versorgungsprozessen bestehen.

Die Beiträge im zweiten Teil des Buches beschäftigen sich mit praktischen Anwendungen in verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit und des Gesundheitswesens. Sie analysieren Entwicklungen von Case Management in unterschiedlicher Weise, richten ihr Augenmerk auf einzelfallbezogene wie auf systembezogene Aspekte. Sie setzen sich dabei auch mit Grenzen, Widerstandserfahrungen und der notwendigen Veränderung von Strukturbedingungen auseinander.

Waltraud Baur, Friedrich Porz, Horst Erhardt und Andreas Podeswik schildern das an der Augsburger Kinderklinik entwickelte interdisziplinäre Nachsorgemodell für Früh- und Risikogeborene sowie chronisch- und schwerstkranke Kinder und deren Familien. 90 Nachsorgezentren in Deutschland praktizieren das Modell inzwischen. Case ManagerInnen (das können je nach medizinisch-therapeutischen oder psychosozialen Erfordernissen KrankenpflegerInnen oder SozialpädagogInnen sein) werden einer Familie möglichst frühzeitig, also bereits während der stationären Versorgung ihres Kindes, an die Seite gestellt. Sie haben die Aufgabe, durch Schaffung und Koordination eines Betreuungsnetzes und dessen Steuerung einen optimalen Übergang von der Klinik zur häuslichen Betreuung sicherzustellen. Dies geschieht durch sektorübergreifende, multiprofessionelle Koordination, unabhängig von der fachlichen, hierarchischen oder institutionellen Zuordnung, und in enger Zusammenarbeit mit den Eltern. Oberstes Ziel ist dabei, die Eigenkompetenz der Familien zu unterstützen und eine erfolgreiche Integration der kranken Kinder zu ermöglichen. Insbesondere wird in dieser Praxis der Blick vom erkrankten Kind auf eine Stabilisierung des gesamten familiären Systems erweitert. Fragen der Schulung von Case ManagerInnen, der erreichten, aber noch ungenügenden Finanzierung, der Qualitätssicherung, Evaluation und Begleitforschung werden erörtert.

Integration in Arbeit ist zu einem besonders gewichtigen Einsatzgebiet des Case Managements geworden. Rainer Göckler stellt auf der gesetzlichen Grundlage des SGB II (besser bekannt unter dem Kürzel „Hartz IV“) die Entwicklung und Grundkonzeption des beschäftigungsorientierten Fallmanagements dar. Der Begriff des „Fallmanagements“ wird im Sinne eines individuellen Case Managements definiert, die einzelnen Prozessschritte werden differenziert erläutert. Neben den fallbezogenen Aktivitäten geht Göckler auf die organisatorischen Erfordernisse für eine sinnvolle Umsetzung im Jobcenter bzw. einer Agentur für Arbeit ein. Das reicht von Fragen der fallübergreifenden Differenzierung der KundInnen, über die Steuerung von Unterstützungsprozessen bis hin zu Aspekten der Feldverantwortung im regionalen Kontext. Das Fachkonzept hat für die Entwicklung von Standards in der Beschäftigungsförderung und der Begleitung von Arbeitsuchenden eine Pilotfunktion erfüllt. Die Bundesagentur für Arbeit ist zum größten Ausbilder von Case ManagerInnen geworden. Die Diskussion ihres Einsatzes, ihrer Zuständigkeiten und der strukturellen Gegebenheiten im Umgang mit den komplexen Problemen bei Arbeitslosigkeit und ihrer Überwindung dauert indes an.

Im nächsten Beitrag beschreibt Martina Schu die Entwicklung von Case Management in der Suchtkranken- und Drogenhilfe anhand der Ergebnisse zweier Modellprojekte. Sie zeigt differenzierte Erfolge auch hinsichtlich der Unterschiede bei der Abhängigkeit von verschiedenen Suchtmitteln auf. Die Bedeutung aufsuchender und aktiv nachgehender Hilfen bei mehrfachbeeinträchtigten Abhängigen wird besonders betont. In Kombination mit Motivational Interviewing konnten mit dem Ansatz viele Suchtkranke erreicht werden, die noch nie vorher die Hilfe von Fachkräften angenommen hatten. Schu betont besonders die Qualität der professionellen Beziehungsarbeit als einen zentralen Faktor für die Motivation zur Inanspruchnahme des Case Managements. Die Ziele der individuellen Betreuung gingen über die Suchtprobleme allerdings weit hinaus. Kritisch merkt sie auch die teilweise mangelnde Qualifikation der Case ManagerInnen an. Sie benennt Widerstände in den Einrichtungen, die die Arbeit der Case ManagerInnen eher behinderten bzw. diesen nicht den bestmöglichen Zugang zu bestimmten Ressourcen ermöglichten.

Die Systemsteuerung im Ablauf vernetzten Handelns im Case Management ist Gegenstand der Ausführungen von Claus Reis. Exemplarisch zeigt sich in der Migrationsarbeit, dass es für die vielen Geflüchteten auf verlässliche Unterstützungsstrukturen ankommt, in denen die vielfältigen Hilfen zur Integration koordiniert und kontinuierlich vollzogen werden können. Reis diskutiert die Bildung von Dienstleitungsketten bei bestimmten Fallkonstellationen. In einem „Produktionsnetzwerk“ von Akteuren lässt sich unter Nutzung der in ihm vorhandenen Ressourcen das individuelle Case Management vollziehen. Das Netzwerk ist auf die Verteilung von Macht, Kompetenz und Interessen in ihm zu besehen. Deren Balancierung, die Auswahl von Partnern, die Regulierung der Zusammenarbeit und eine stete Engagementförderung sind Aufgabe eines Netzwerkmanagements, das der Produktivität und auch der individuellen Fallführung die Bahnen bereitet. Der Einzelfall wird, so Reis, nach organisatorisch und professionell geprägten Handlungsmustern bearbeitet, mit deren Konstruktion sich die Theorie und die Forschung im Case Management befassen sollten.

Michael Wissert stellt anhand eines Modellversuchs in Berlin, der das Ziel hatte, bei alten Menschen zwischen 70 und 85 Jahren eine nicht erwünschte Heimunterbringung abzuwenden oder zeitlich hinaus zu zögern, Anforderungen an das Case Management in der Altenhilfe dar. Besondere Bedeutung kommt dabei der Selbstbeurteilung der alten Menschen und ihrer Zustimmung zu den vorgeschlagenen Hilfen zu. Diese können je nach ermitteltem Bedarf von rehabilitativ-therapeutischen Hilfen über Unterstützung im Haushalt bis zu baulichen Wohnungsanpassungen reichen. Über die Hälfte der im Modellvorhaben aufgenommenen Personen, die von Heimunterbringung bedroht waren, konnte mit Hilfe des Case Managements nach Hause zurückkehren, wobei auch die subjektive Befindlichkeit sich besserte. Institutionelle und personenbezogene Erschwernisse, angefangen von Kommunikationsproblemen bis hin zu interdisziplinären Vorbehalten, erschwerten u.a. eine effektivere Arbeit des externen Beratungsteams.

In den letzten Jahren hat das Case Management Einzug gehalten in den Bereich des Strafvollzugs und der Straffälligenhilfe. Wolfgang Wirth und Birgit Grosch zeigen auf, dass nur durch ein professionelles und institutionalisiertes Übergangsmanagement bedarfsgerecht auf die multiplen Problemlagen der (ehemaligen) Gefangenen fachlich umfassend reagiert werden kann. Nordrhein-Westfalen ist in Deutschland das erste Bundesland, das landesweit die (Re-)Integration nach den Standards des Case Managements umsetzt. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung im Feld betonen Wirth und Grosch, wie wichtig nicht nur die Fall- und Netzwerksteuerung ist, sondern dass eine Implementationssteuerung die systematische Koordinierungsleistung zur Institutionalisierung des Handlungskonzeptes in der Justiz adressiert. Sie kommen zu dem Schluss, dass Case Management zwar ein voraussetzungsvolles, gleichzeitig aber auch das am besten geeignete Handlungskonzept zur effektiven Gestaltung der Übergänge aus der Haft in die Freiheit ist, wenn die (Re-) Integrationsleistung als kooperativer Prozess verstanden um umgesetzt wird.

Der letzte Teil des Buches widmet sich den Perspektiven des Case Managements. Peter Löcherbach befasst sich mit dem Anforderungsprofil eines/einer Case ManagerIn. Er vermittelt, was von Case ManagerInnen auf verschiedenen Ebenen an unterschiedlichen Kompetenzen erwartet wird. Für das Programm und das Verfahren lässt sich ein mehrdimensionales Qualifikationsprofil darstellen, das neben dem beruflichen Selbstverständnis die Bereiche Sach- und Systemkompetenz, Methoden- und Verfahrenskompetenz, Soziale Kompetenz sowie Selbstkompetenz umfasst. Die Ausführungen machen deutlich, wie wichtig gezielte Aus- bzw. Fortbildungsangebote für diesen Bereich sind. Eine Analyse der zertifizierten Weiterbildungsangebote verdeutlicht die Relevanz verbindlicher Standards und deren Entwicklung in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Er schließt den Beitrag und den Band mit einem Ausblick auf die Zukunft von Case Management ab.

Die Darstellungen zeigen, wie und bei welchen Problemsituationen Case Management sinnvollerweise als Verfahren konkret angewandt werden kann und wo eine weitere Qualifizierung der Praxis und Forschung notwendig ist. Der Stand der Dinge ist das eine; dass sie sich ändern, das andere und ein Motiv für methodische und organisatorische Entwicklungsarbeit. Methodische und organisatorische Entwicklungsarbeit ist gefragt. Wir wünschen uns, dass die Diskussion über interessante und fruchtbare Anwendungen und die weitere Ausgestaltung von Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen mit diesem Buch fortgesetzt wird.

In die vorliegende 5. Auflage wurden die Texte von Claus Reis und Wolfgang Wirth und Birgit Grosch neu aufgenommen. Im Übrigen haben die Autoren Verbesserungen und Ergänzungen vorgenommen, ohne die wesentlichen Aussagen ihres Beitrags und den Charakter des Buches gegenüber vorherigen Auflagen zu ändern. Das Programm des Case Managements bleibt ein „work in progress“, und dieser Status sei dem Buch mit auf den Weg gegeben.

Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, wird in diesem Buch nicht an allen Stellen durchgängig gegendert. Es sind jeweils alle Geschlechter gemeint.

Mainz, im Juni 2018

Die Herausgeber

Grundlagen

Case Management

Stand und Positionen in der Entwicklung von Programm und Verfahren

Von Wolf Rainer Wendt

Im Sozialwesen und Gesundheitswesen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie international ist von Case Management viel – und immer mehr – die Rede. Es geht um die Optimierung von Prozessen der humandienstlichen Versorgung, um Prozessverantwortung und Fallführung, um Aktivierung von Selbsthilfe und um Durchsichtigkeit des Verfahrens für alle Beteiligten. Aber oft ist dort, wo Case Management drauf steht, Case Management nicht drin. Seine Einführung bedeutet und verlangt eine Systemveränderung; erfolgt sie nicht, setzt sich das Case Management als Programm und als Verfahren nicht wirklich durch. Allein mit dem Einsatz eines Case Managers oder einer Case Managerin wird das Handlungskonzept nicht systematisch und erfolgreich realisiert.

In der Systematik seines Verfahrens zielt das Case Management auf eine integrierte Versorgung bei Nutzung formeller und informeller Ressourcen. Im zeitlichen Ablauf soll eine bruchstückhafte Versorgung vermieden und eine rationelle Leistungserbringung erreicht werden. Dem Case Management wird Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit an jeder Stelle abverlangt, und das Vorgehen soll für alle Beteiligten geklärt sein. Die Durchsichtigkeit ist eine Bedingung dafür, dass Maßnahmen in ihrem Nacheinander aufeinander abgestimmt werden können und dass sich in einem Verbundsystem kontrollieren und evaluieren lässt, was wann wo geschieht oder geschehen ist. Nicht zuletzt ist man in der heute verlangten Qualitätssicherung und bei der Qualitätsentwicklung in Sozial- und Gesundheitsdiensten darauf angewiesen, die Wege, Ansatzpunkte und Entscheidungen im Einzelfall verfolgen, prüfen und bewerten zu können.

1Organisation und Handeln

Unterschieden werden muss zwischen Case Management als methodischem Konzept auf der personalen Handlungsebene und Case Management als Organisations- oder Systemkonzept in administrativer Funktion. Hier wie dort geht es um die wirksame Handhabung und Gestaltung von Prozessen. Aber wer auf der Organisationsebene von Case Management spricht, meint nicht ohne weiteres die professionelle Methodik und den Handlungsablauf im Management eines Einzelfalles, worin bei möglichst weitgehender Abstimmung mit den NutzerInnen planmäßig, koordiniert und kontrolliert vorgegangen wird. Hat man andererseits die personenbezogene Methode Case Management im Blick, ist zu bedenken, dass sie in Humandiensten nur dann erfolgreich eingesetzt werden kann, wenn sie mit einer Organisationsentwicklung verbunden ist, welche die Strukturen der humandienstlichen Versorgung auf die prozessualen Anforderungen des Case Managements abstimmt und ihm das Netzwerk zur Koordination und Kooperation der beteiligten Stellen und Fachkräfte schafft.

Da sich die Gegebenheiten und Aufgaben in den einzelnen Handlungsfeldern unterscheiden, ist das Programm des Case Managements in Varianten ausgeprägt, u. a. unterscheidet man:

images  Disease Management-Programme für chronisch Kranke

images  Versorgungs- und Entlassmanagement bei stationärer Krankenbehandlung

images  Teilhabemanagement in der Hilfe bei Behinderung

images  Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement zur Integration in Arbeit

images  Besorgungsmanagement in der rechtlichen Betreuung

images  Straffälligen- und Übergangsmanagement bei Sozialdiensten der Justiz.

Das Grundmuster des Verfahrens wird als bekannt vorausgesetzt. Das Case Management ist zunächst als Arbeitsweise in der professionellen Sozialarbeit rezipiert worden. Hier wird primär das nutzer- und ressourcenorientierte Vorgehen bei der Unterstützung im Einzelfall ins Auge gefasst und systematisch in den Dimensionen/Schritten/Stadien ihrer Ablauforganisation bedacht. Ein individuelles Case Management erfolgt in der direkten personenbezogenen Arbeit. Es beginnt mit der Entscheidung über das Engagement in einem Fall, verläuft über die Situations- und Bedarfsklärung, die Planung des Vorgehens, ihre koordinierte und kontrollierte Umsetzung und endet nach Vereinbarung mit der abschließenden Feststellung des Erfolgs der gemeinsamen Bemühungen. Allerdings kann sich ein/eine einzelne/r SozialarbeiterIn in einem Dienst oder in einer Einrichtung nicht für das Case Management als „ihre“ Methode entscheiden: die Organisationsstruktur muss das zulassen. Nur wenn der/die SozialarbeiterIn selbstständig in freier Berufsausübung tätig und der Einsatz mithin identisch ist mit dem Dienstbetrieb, kommt das Systemkonzept Case Management unmittelbar überein mit dem methodischen Konzept des personenbezogenen professionellen Arbeitens.

Zum Verständnis dieses individualisierten Managements in einem Versorgungsregime ist zu bemerken (und kann nicht oft genug betont werden), dass case“ hier nicht für den Menschen steht, sondern für seine problematische Situation, die es – im Ganzen und im Detail – zu bewältigen gilt. Sie „ist der Fall“ und Gegenstand der ziel- und lösungsorientierten professionellen Bemühung. Sie ist auch Gegenstand des Bewältigungsverhaltens (coping behaviour) und der Selbsthilfe der zu versorgenden Person, seiner Angehörigen und der Mitwirkung von anderen HelferInnen. Im ganzen Verlauf des personbezogenen Case Managements wird die subjektive Fallauffassung von Betroffenen mit der mehr oder minder objektiven Fallauffassung beteiligter Fachkräfte abgeglichen. Die gemeinsame Reflexion und Verständigung darüber, „was der Fall ist“, führt zur Zusammenarbeit der Beteiligten. Man verstieße gegen die Autonomie einer Person und missachtete ihre Selbstsorge und mündige Mitwirkung, betrachtete man die Person als „Fall“. Im Case Management wird der Prozess der Bewältigung bzw. der Weg zur Lösung einer Problematik gemanagt. Was der Fall ist, lässt sich immer nur ad hoc feststellen und bleibt individuell.

Im Rahmen der Gesundheitsreformen hat dagegen ein „Fallmanagement“ in das stationäre und ambulante Medizinsystem und neuerdings in die „integrierte“ Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen Einzug gehalten, mit dem überindividuell ein effektives und effizientes Vorgehen erreicht werden soll. Hier geht es vornehmlich um die Systemsteuerung (Optimierung der Versorgungsstrukturen und -prozesse). Dafür ist eigentlich eher der – oft mit Case Management gleichgesetzte – Begriff „Care Management“ angebracht. Er bezeichnet die überindividuelle Versorgungssteuerung und Versorgungsgestaltung als administrative Aufgabenstellung. Für die Steuerung der Gesundheitsversorgung hat überdies der amerikanische Begriff „Managed Care“international Verbreitung gefunden. Er wird auch für die „integrierte Gesundheitsversorgung“ – seit längerem schon in der Schweiz (Müller 1997; Finsterwald 2004) und nach und nach in Deutschland – in Anspruch genommen (Wiechmann 2003; Amelung 2011; Weatherly 2016). Managed Care ist ein Konzept, zu dem Case Management im Gesundheitssektor oftmals in Beziehung gesetzt wurde und wird. Im deutschsprachigen Raum kann auf die Publikationen des Bundesverbandes Managed Care e.V. und auf „Care Management. Zeitschrift für Managed Care, Qualität und E-Health“ im Schweizerischen Ärzteverlag EMH verwiesen werden.

Ein wesentlicher Fortschritt im Verständnis und in der Anwendung von Case Management besteht nun darin, die Steuerung der humandienstlichen Leistungserbringung (als Versorgungsmanagement) auf die Steuerung des Prozesses der Aufgabenbewältigung im Einzelfall (als methodischem Case Management einzelner professionell Handelnder) abzustimmen. Informationstechnologisch sind hier die Software-Anbieter zur Stelle. Sie nennen ihre Programme „Case Management“ oder „Case Manager“, mit denen der Dienst die Verwaltung der Daten in den Griff bekommt und sie auf der Organisationsebene verfügbar hält. Diese Art „Fallführung“ entlastet die tatsächliche Systemsteuerung, ändert sie aber nicht. Zum Beispiel bleibt die Verteilung von Zuständigkeiten auf viele Stellen wie sie ist, wenn der Datenfluss zwischen ihnen programmiert und beschleunigt wird.

Eine Strukturveränderung wird indes unabdingbar, wenn wir die Nutzerorientierung radikaler begreifen. Die Adressaten von Humandiensten sind für ihr Ergehen erst einmal selbst verantwortlich und potenziell Case Manager in eigener Person, insbesondere wenn sie von sich aus das Leistungssystem in Anspruch nehmen. In der Komplexität heutiger Lebensführung wird das Zurechtkommen einer Person oder Familie zu einer Managementaufgabe: Das formelle Management der Unterstützung oder Behandlung muss an das informelle life management oder Selbstmanagement derjenigen, die Humandienste in Anspruch nehmen, anschlussfähig sein. Oft ist die Entwicklung des Selbstmanagements sogar das Ziel des Verfahrens, etwa bei chronisch Kranken, die mit ihrer Situation zurechtkommen müssen (Rantz/Scott 1999). In anderen Fällen ergänzt und stärkt das formelle Case Management von der Systemseite her die informellen Bewältigungsbemühungen. Das Verfahren setzt auf Kompetenz und Partizipation. Die NutzerInnen bestimmen mit und stimmen ab. Ihr Gegenüber sind regelmäßig verschiedene Professionelle, Leistungsträger und Leistungserbringer, die bei integrierter Versorgung Abstimmungsbedarf haben – und Case ManagerInnen für die Koordination untereinander und die Kooperation mit dem/der NutzerIn einsetzen.

Eine funktionale Verknüpfung von allen Dimensionen des Case Managements auf der Ebene der Systemsteuerung (Zugang und Auslese der Klientel, Bedarfserhebung im Sozialraum, Versorgungsplanung, Kontrolle der Durchführung, Evaluation und Rechenschaftslegung) mit allen Dimensionen von Case Management auf der Ebene des Handelns im Einzelfall (Fallaufnahme, Bedarfsklärung, Hilfe- und Behandlungsplanung, Begleitung bei der Leistungserbringung, Evaluation und Dokumentation) erfolgt allerdings noch selten. Oft werden nur einzelne Schritte in der Versorgungssteuerung vollzogen. Man wählt aus den Dimensionen des Verfahrens „Schlüsselprozesse“ aus, um Abläufe in den Diensten zu verbessern, etwa indem man den Zugang zu Humandiensten „niedrigschwelliger“ gestaltet, die Bedarfsklärung im Assessment optimiert, es in die Planung von Hilfen einbezieht und den Prozess der Hilfeplanung so mit deren Umsetzung und Kontrolle verbindet, dass dieser Prozess sich zum Case Management der Stelle ausweitet, die für die Planung zuständig ist. Öfter finden wir die einzelnen Schritte aber auf verschiedene Dienste verteilt, so dass kein durchgehendes Case Management stattfindet und keine einheitliche Fallführung gegeben ist. Neue gesetzliche Regelungen – insbesondere zum Verhältnis Leistungsträger-Leistungserbringer-Leistungsnehmer – dürften uns hier mit der Festlegung von Zuständigkeit und der Zuweisung von Verantwortung weiter bringen.

2Zuständigkeit und Fallführung

In der Fallführung spielen Case ManagerInnen eine unterschiedliche Rolle, je nachdem, wer sie zu welchem Zweck einsetzt. Der Autor hat die Rollen von Case ManagerInnen (1) als SystemagentInnen, (2) als KundenanwältInnen, (3) als VersorgungsmanagerInnen und (4) als DienstemaklerInnen beschrieben (Wendt 2015, 190ff.). Praktisch kommt vor allem die Rolle als „VersorgungsmanagerIn“ zum Tragen. Im Gesundheitswesen sind seit Ende der 1990er Jahre die Leistungsträger unter der Devise „vom Payer zum Player“ mit der Anwendung des Case Managements vorangegangen, um zumindest in kostenintensiven Fällen die Fäden in der Hand zu haben und den Aufwand zu reduzieren. Die Rede ist vom Fallmanagement (oder von Fallsteuerung) der Krankenkassen. Sie nennen es auch gerne „Gesundheitsmanagement“, „Gesundheitscoaching“ oder „Patientenbegleitung“ und stellen dafür Fachkräfte ein, die sie intern schulen. Man legt Wert auf gute Zusammenarbeit mit den Leistungserbringern. Optimiert werden soll die Kommunikation zwischen Klinik und Kasse.

Der Kostenträger hat ein ökonomisches Interesse an der Optimierung von Versorgungsverläufen und der Vermeidung andauernder oder wiederholter stationärer Unterbringung bzw. der Chronifizierung von Leiden. Er übernimmt deshalb eine Versichertenbetreuung per „Krankenhausberatung im Vorfeld“ (über Versorgungsalternativen), „administrative Unterstützung während des Krankenhausaufenthaltes“ und „Hilfe für den Versicherten nach der Krankenhausbehandlung“. So begann etwa die BARMER Ersatzkasse schon 1997 damit, ihre Krankengeldausgaben „fallbezogen zu managen“. Wie das geschieht, erläuterte die Kasse in ihren Internet-Informationen seinerzeit an folgendem Beispiel:

 BEISPIEL 

„Eine Kindergärtnerin im öffentlichen Dienst war in den letzten Jahren immer wieder arbeitsunfähig. Die Erkrankungen wechselten, zunächst eine Grippe, dann Gastritis, Erschöpfungszustände sowie weitere krankhafte Symptome folgten. Von Mal zu Mal dauerte die Arbeitsunfähigkeit länger. Die BARMER schaltete den Medizinischen Dienst der Krankenkassen ein, dessen Gutachter darauf hinwies, dass möglicherweise psychosoziale Probleme die eigentliche Ursache der immer wiederkehrenden Krankschreibung sein könnten.

Eine Vermutung, die sich im Gespräch mit der Versicherten bestätigte: Sie werde von den Kolleginnen in ihrem Kindergarten gemobbt, die große psychische Belastung führe zu körperlichen Beschwerden, die Arbeitsunfähigkeit folgt da schon fast zwangsläufig. Am Ende des Gespräches stand ein Angebot: Die BARMER versucht im Gespräch mit dem Arbeitgeber, der Kindergärtnerin einen Wechsel in einen anderen Kindergarten zu ermöglichen. Der Wechsel klappt, der Kreislauf von Mobbing und Krankheit ist gestoppt. Hätte die BARMER nicht steuernd eingegriffen, würde die Kindergärtnerin wahrscheinlich heute noch unter ihrer Situation leiden, würde die BARMER immer wieder Krankengeld zahlen, würde am Ende vielleicht eine Frührente stehen“ (www.barmer.de).

Ein Versorgungsmanagement übernehmen die Kassen in solchen Fällen auch, wenn die unmittelbaren Dienstleister, die ÄrztInnen, kein Case Management betreiben, also dem Fall über ihr diagnostisch-therapeutisches Handeln und die Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit hinaus nicht nachgehen.

Mit der mangelnden Versorgungsintegration hat sich seinerzeit (2001) der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen im Band III seines Gutachtens „Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit“ unter dem Titel „Über-, Unter- und Fehlversorgung“ befasst (Sachverständigenrat 2001). Der Rat kommt im Vergleich der vorgefundenen Verhältnisse mit den Erfordernissen zu „Neuen Regeln für das System der Gesundheitsversorgung“, die als ein Rahmenwerk für den Einsatz von Case Management gelesen werden können (Tab. 1).

Tab. 1: Neue Regeln für das System der Gesundheitsversorgung im 21. Jahrhundert

Gegenwärtiger Ansatz Neue Regeln Umsetzungsmöglichkeiten
Die Versorgung basiert primär auf Besuchen. Die Versorgung basiert auf dauerhaften Heilbeziehungen
(healing relationsships).
Langzeitbetreuung; Sicherung der Rehabilitationserfolge; verhaltensbezogene Maßnahmen der Risikomodifikation
Die professionelle Autonomie verursacht eine Variabilität der Versorgung. Die Versorgung ist auf die Bedürfnisse und Werte des Patienten zugeschnitten. Individuelle Behandlungspläne; Berücksichtigung der lebensweltlichen Bezüge; mein breites, flexibles und differenziertes Versorgungsspektrum
Die Professionen kontrollieren die Versorgung. Der Patient kontrolliert die Versorgung
(source of control).
Patient als selbstverantwortlicher Manager seiner Krankheit und kompetente-Nutzer des Systems; Partizipation
Die Information ist eine Akte (retrospektiv, archiviert, passiv, unbeweglich). Wissen wird geteilt. Es besteht ein freier Informationsfluss. Information und Schulung; evidenz basierte Patienteninformationen, Nutzung neuer Informationstechnologien
Die Entscheidung basiert auf Training und Erfahrung. Die Entscheidung ist evidenzbasiert. evidenzbasierte Medizin, evidenzbasierte Leitlinien; Health Technology
images   Assessment;
images   Entscheidungsanalysen,
images   Versorgungsforschung
Die Vermeidung von Schädigungen liegt im Bereich der individuellen Verantwortlichkeit. Sicherheit wird als Systemeigenschaft betrachtet. Qualitätsmanagement, mRisk Management
Heimlichkeit ist notwendig Transparenz ist notwendig. zertifizierte und öffentlich zugängiche Leistungs- und Qualitätsberichte; Aufklärung
Das System reagiert auf Bedürfnisse. Bedürfnisse werden antizipiert. umfassendes, individuelles Assessment; Erhebungen zu Präferenzen der Bevölkerung bzw. der Versicherten, Needs Assessment
Es wird eine Kostenreduktion angestrebt. Verschwendung (Überversorgung) wird kontinuierlich abgebaut. Qualitätssicherung, Leitlinien, evidenz basierte Medizin, Vergütungssysteme
Die Rollenbilder der Gesundheitsberufe sind wichtiger als das System. Die Kooperation zwischen den Leistungserbringern/Professionen hat Priorität. Integration, Vernetzung, Inter-/Multidisziplinaritätsystem

Der Patient wird „als selbstverantwortlicher Manager seiner Krankheit“ gesehen; die Versorgung soll sich flexibel und evidenzbasiert darauf einlassen. Bei chronisch Kranken kann man sich im Fallmanagement auf die Standards beziehen, die für die jeweilige Krankheit dem disease management vorgegeben werden. Die Patientenbetreuung seitens der Krankenkasse hat ja nicht den Charakter einer Behandlung, sondern zieht medizinisches, möglichst evidenzbasiertes, Wissen heran, um Behandlungen zu prüfen. Strittig bleibt, wie weit die Kontroll- und Steuerungsbefugnisse eines fallbezogenen „Gesundheitsmanagements“ der Kassen reichen. Die Stellung der Kassen ist durch Neuregelungen, z.B. durch das „Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs“ gestärkt worden, das seit 2002 zur besseren Versorgung chronisch Kranker Disease Management-Programme vorsieht, für die sich Versicherte bei ihrer Kasse entscheiden können. Weitere Wirkungsmöglichkeiten ergeben sich aus dem Anspruch von Versicherten auf ein „Versorgungsmanagement“ gemäß § 11 Abs.4 SGB V.

Das Problem der Kompetenzverteilung und der Zusammenführung von Zuständigkeit ergibt sich auch im Management beruflicher Rehabilitation seitens der Bundesagentur für Arbeit und der Dienste von anderen Rehabilitationsträgern. Jeder Dienst beansprucht zunächst aus seiner Handlungsperspektive die Fallführung. So bietet z.B. die Bundesagentur für Arbeit seit längerem Case Management als Unterstützung von Menschen mit Behinderung zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 19 SGB III an:

 BEISPIEL 

„Der Case Manager des Arbeitsamtes fungiert als Vermittler zwischen Rehabilitand, Arbeitgeber und Rehaträgern wie Rentenversicherungsanstalt (BfA, LVA), Berufsgenossenschaft, Hauptfürsorgestelle. Er pflegt Kontakte mit den Medizinischen Diensten der Krankenkassen, dem Ärztlichen Dienst (ÄD), dem Psychologischen Dienst (PD) des Arbeitsamtes sowie Betriebsräten, Schwerbehindertenvertrauensleuten, Betriebsärzten, Arbeitsassistenten und Bildungsträgern. In Abstimmung mit allen Beteiligten wird festgelegt, welche Hilfen der Rehabilitand benötigt. Case Management verlangt von allen Beteiligten den Willen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, Flexibilität und Kreativität, um schnelle und unbürokratische Entscheidungen treffen und diese dann zügig umsetzen zu können. Der Behinderte gibt eine schriftliche Einverständniserklärung ab, daß er mit einer Intervention des Case Managers bei seinem Arbeitgeber einverstanden ist.“ (www.arbeitsamt.de/nuernberg/information/casemanagement.html)

Für die Bahnung der Fallführung hat die Reform des humandienstlichen Leistungssystems wiederholt neue Vorgaben mit sich gebracht. Ein Schritt in der Gestaltung der Rehabilitation bei Behinderung war die Schaffung von „Gemeinsamen Servicestellen“ (im SGB IX)zur trägerübergreifenden Begleitung von Leistungsberechtigten. Die Servicestellen behielten jedoch die Fäden nach Beratung, Bedarfsermittlung und Planung nicht in der Hand – und konnten mithin auch nicht verfolgen und evaluieren, was erreicht wird. Das deutsche Bundesteilhabegesetz ersetzt nun die Servicestellen durch „Ansprechstellen“; eine „ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ kommt hinzu. Für die berufliche Eingliederung haben die Integrationsfachdienste ein Mandat, im weiteren Gang der Dinge ein Case Management zu übernehmen.

Die Abkoppelung vom weiteren Vorgehen ist ein allgemeines Problem von Beratungsstellen, die Hilfen nachweisen und sie personbezogen zusammenführen sollen. Seit Anfang der 1990er Jahre hat man das Case Management in der Pflege mittels einer Clearing- oder Koordinierungsstelle (Ambulantes Hilfezen­trum, Beratungs- und Koordinierungsstelle, Informations-, Anlauf- und Vermittlungsstelle) in mehreren Bundesländern zu realisieren versucht. Man ist dabei jedoch nicht sehr weit gekommen. Denn weder die Leistungserbringer und ihre Träger noch die Pflegekassen als Leistungsträger wollten sich ihre Handlungsmöglichkeiten durch eine unabhängige Beratung und Begleitung der NutzerInnen beschneiden lassen. Die Idee eines „one desk service“, der für den/die BürgerIn alle erforderlichen Hilfen erschließt, bündelt und bereitstellt, hat sich deshalb bisher selten realisieren lassen. Der Ansatz der Pflegeberatung, mit oder ohne Ansiedelung in Pflegestützpunkten (Frommelt et al. 2008), hat zumindest die Fallführung bei häuslicher Pflege vorangebracht.

Die Beschränkung der Zuständigkeit war auch ein Problem bei der Einführung der Soziotherapie für Menschen, die wegen schwerer psychischer Erkrankung nicht in der Lage sind, ärztliche oder ärztlich verordnete Leistungen selbstständig in Anspruch zu nehmen. Nach § 37 a SGB V umfasst die Soziotherapie nur „die im Einzelfall erforderliche Koordinierung der erforderlichen Leistungen sowie Anleitung und Motivation zu deren Inanspruchnahme“. Die Begleitung bei der Inanspruchnahme ist nicht genannt, so dass ein rehabilitatives Case Management, wie es nach Modellversuchen empfohlen worden ist, kaum geleistet werden kann.

Die Lotsenfunktion, die einem/einer Case ManagerIn zugeschrieben wird, weitet sich zu einer Fallführung aus, wenn der „Lotse“, um im Bilde zu bleiben, während der ganzen Fahrt nicht von Bord geht. Gatekeeping im Hausarztmodell ist besonders in der Schweiz verbreitet: Der/die HausärztIn lotst den/die PatientIn möglichst kostengünstig durch das medizinische Versorgungssystem. Die gleiche Funktion übernimmt eine Patientenleitstelle in Ärztenetzen. Es liegt im Interesse der AllgemeinärztInnen, mit der Lotsenfunktion insbesondere ihre chronisch kranken PatientInnen, die auch fachärztlich versorgt werden müssen, „bei der Stange“ zu halten. Der BDA (Bundesverband der Allgemeinärzte Deutschlands) hat mehrere „Case Management-Manuale“ (bei Asthma, Diabetes, Demenz) herausgegeben, die den HausärztInnen bei der Zusammenarbeit mit beteiligten FachärztInnen, Kliniken, Pflege- und Sozialdiensten zur Hand gehen. Ein solches Manual ist auch für die „perioperative Patientenbetreuung“ bei Adipositas vorhanden (Dörr-Heiß/Wolf 2014).

Die Zuständigkeit für die einzelnen Dimensionen im Case Management, die nacheinander und nebeneinander wahrzunehmen sind, kann in einem Leistungsverbund geteilt werden, sollte aber nicht voneinander isoliert werden. Es liegen praktische Erfahrungen mit einer Funktionsaufteilung bei gleichzeitiger computergestützter Vernetzung vor. Hier hilft die Informationstechnologie mit spezieller Software. Problematisch wird es, wenn die Organisationsaufgabe von der Zuständigkeit im Verfahren abgehoben wird. So hat man Koordinatoren (als Netzwerker im regionalen Versorgungssystem) und Case ManagerInnen (als Lotsen) im Bundesprojekt „Nachgehende Sozialarbeit bei chronisch mehrfach beeinträchtigten Abhängigen“ (durchgeführt von FOGS, Köln) eingesetzt, womit die Position der SozialarbeiterInnen im Verfahren schwach blieb (s. den Beitrag von Martina Schu in diesem Band).

3Case Management in der Erbringung von Komplexleistungen

Komplexe Problemlagen bei Menschen erfordern ein Case Management. Humandienste haben sich in den vergangenen Jahren darauf eingestellt, dass ihnen immer öfter komplexe Lösungen, zugeschnitten auf den/die NutzerIn und seine/ihre Situation, abverlangt werden, wozu die Erbringung von Einzelleistungen nacheinander und nebeneinander nicht ausreicht. Bei einer chronischen Problematik liegt es auf der Hand, ihren inneren und äußeren Zusammenhängen nachzugehen, nachdem Teillösungen sichtlich nicht zum Erfolg führen. Aber auch im akuten Fall liegt oft im Hintergrund eine Verstrickung vor, die aufzulösen eine komplexe Aufgabe darstellt. Man wird deshalb bei psychosozialen Krisen nicht bloß momentan intervenieren und in schwierigen Fällen nacheinander verschiedenen Fachstellen konsultieren, sondern die Krisenintervention möglichst von vornherein mehrdimensional und systematisch beginnen. Zur Krisenintervention in der Sozialen Arbeit schreibt Manfred Neuffer:

„Unerläßlich erscheint eine ordnende Hand. Sie trägt zumindest für die Zeit der Krisenintervention die Verantwortung für das Fallgeschehen anhand eines in einem Arbeitsfeld abgestimmten Konzeptes und betreibt insofern Krisen-Case Management. Case Manager müssen bei der Krisenintervention auf zwei Ebenen ihre Arbeit entfalten. Sie benötigen eine enge Beziehung zu den Klienten, um deren spezifische Situation berücksichtigen zu können und so schnell wie möglich ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie müssen personale und institutionelle Strukturen entschlüsseln können, fallumgebende Systeme handlungsfähig machen im Sinne bestmöglicher Kooperation, und diese entsprechend kommunikativ in die Krisenintervention einbinden“ (Neuffer 2001, 146).

Die interdisziplinäre Abstimmung ärztlicher, psychotherapeutischer, (heil)pädagogischer und sozialarbeiterischer Leistungen führt zunächst einmal zu einer Statik von Verabredungen. Für die ablauforganisatorische Prozessführung wird ein Case Management gebraucht, das in seiner Anwendung gegenüber den Besonderheiten des jeweiligen professionellen Handelns neutral bleibt und deren Beiträge in eine ganzheitliche Wirkungsorientierung (z.B. der Frühförderung von Kindern mit Behinderung oder von Behinderung bedrohter Kinder, Sohns 2000; Pretis 2005) einzubinden versteht. Im stationären Behandlungsregime haben die diagnosebezogenen Fallgruppenpauschalen nach Diagnosis Related Groups (DRGs) für die Krankenhausbehandlung seit 2003 den Einsatz des Verfahrens gefördert. Medizinische und paramedizinische Einzelleistungen werden in Komplexleistungen einbezogen, für deren Erbringung ein interdisziplinäres behandlungsorientiertes Prozessmanagement angebracht ist, das sich an klinische Behandlungspfade (clinical pathways) hält.

In einem ganz anderen Handlungsfeld ist die „Komplexleistung Resozialisierung“ zu erbringen (Maelicke/Wein 2016). Sozialdienste in der Justiz müssen intern und extern mit anderen Diensten, Arbeitgebern und freiwillig Helfenden fallweise zusammenwirken, um eine Wiedereingliederung von Straftätern zu erreichen (s. den Beitrag von Wolfgang Wirth und Birgit Grosch in diesem Band). Für ein durchgehendes Case Management in diesem Bereich gibt es international viele Beispiele, insbesondere in Form des National Offender Management Service (NOMS) in England (Wendt 2015). Eine Voraussetzung hierfür ist, dass die strukturelle und ideologische Trennung zwischen Bestrafung und Strafvollzug einerseits und helfenden Diensten andererseits überwunden wird. Dann verbinden sich im Einzelfall die Komponenten der Strafe mit den Komponenten der Wiedereingliederung, so dass der Strafvollzug und die Bewährung mit dem Vollzug der Resozialisierung zusammenfallen.

In der Psychiatrie erstreckt sich die zur klinischen Behandlung komplementäre, gemeindenahe Versorgung auf die soziale (Wieder-)Eingliederung, das Wohnen und die Arbeit. Verschiedene Dienste, Stellen und freiwillig Helfende werden einbezogen, wozu das Case Management in koordinierender, vernetzender und den Fall steuernder Funktion angewandt wird, beispielsweise bei Psychiatrischen Institutsambulanzen (nach § 118 SGB V) zur Erbringung der „ambulanten Komplexleistung“.

4Fall und Feld

In der Praxis, insbesondere der Jugendhilfe, wird zunehmend nach dem sozialräumlichen Handlungsansatz verfahren. Er rückt das Feld der Problementstehung und der Ressourcen, um sie zu lösen, in den Fokus der Interventionsstrategie. Die Anbieter von Diensten wollen im Sozialraum flexible, maßgeschneiderte Hilfen anbieten, wozu sie zunächst fallunspezifisch auf vorhandenen Hilfemöglichkeiten im lokalen Umfeld sehen und diese Ressourcen systematisch zu erschließen trachten. Die Losung „vom Fall zum Feld“ (Hinte et al. 1999) bedeutet dabei nicht, dass man die personenbezogene Lösung hintanstellt. Im Gegenteil, eine vorhandene Problematik soll nicht als „Fall für“ das eine oder andere Leistungsangebot von diesem vereinnahmt werden, sondern im Umfeld vorhandene Hilfen sollen auf die Kontingenz des Einzelfalls zugeschnitten werden. Sarkastisch hat Wolfgang Hinte zur bisherigen Struktur in der Jugend- und Sozialverwaltung festgestellt, sie fördere „die Fachkräfte als Einzelkämpfer/innen und damit eine besonders schwere Form professionellen Suchtverhaltens, nämlich die Fallsucht“ (Hinte et al. 1999, 87). Die vorgehaltene Angebotspalette der spezialisierten Hilfen verführe die Fachkräfte dazu, „eben bezogene auf diese Hilfen die Kinder und Jugendlichen in ihren Defiziten zu beschreiben“ (Hinte et al. 1999, 88). Wichtig wäre demgegenüber, dass die Fachkräfte einen Bedarf mit den im Lebensfeld nutzbaren informellen und formellen Hilfen abzudecken verstehen. Bedarf dürfe nicht bestimmt werden anhand

„einer gerade vorgehaltenen Hilfeart, sondern anhand dessen, was die Familie will (gleichsam ein ‚Maßanzug‘). Und wenn die Familie Bedarf an einer Putzhilfe hat, dann ist das der Bedarf und nicht ‚sozialpädagogische Familienhilfe‘“ (Hinte et al. 1999, 92).

Als KundIn von Dienstleistern und als Leistungsberechtigte/r gegenüber amtlichen Stellen besitzt der/die BürgerIn Souveränität. Auch wenn er/sie sie nur unzulänglich ausüben kann, sollte die Klienten- bzw. Patientensouveränität stets beachtet werden. Sieht man BürgerInnen mehr als Case ManagerInnen in eigenen Angelegenheiten und bestärkt man sie in dieser informellen Rolle, müssen sich die Professionellen auf eine breitere Kooperation mit ihnen verlegen. Die Fachkraft agiert im sozialaktiven Feld, in dem eintritt, „was der Fall ist“, und in dem flexibel darauf reagiert werden kann. Die Sozialraumorientierung widerspricht nach allem nicht der Fallorientierung im Case Management. Die Gegenüberstellung von Fall und Feld missversteht das Case Management als eine sich in der Behandlung des Einzelfalls erschöpfende Methode. Als Systemkonzept hat das Case Management gerade das Feld der formellen und informellen Ressourcen im Blick, deren Heranziehung zu koordinieren und auf das Handeln im Einzelfall abzustimmen ist.

5Einzelne Anwendungen

Wendt 2015, 215ff.Powell/Ignatavicius 2001