Feuererwachen

Für meine Mutter und Großmutter, Schriftstellerkolleginnen

Prolog

Später sollte man ihn den Ersten Protektor nennen, und die Stadt würde sich gemäß seiner Vision wandeln. Leibeigene würden in die Freiheit entlassen, Schulen gebaut und Drachen zum ersten Mal von einfachen Bürgern geritten.

Doch davor führte er die blutigste Revolution an, die sein Volk je erlebt hatte.

Er zweifelte nie daran, dass er eine gerechte Stadt hervorbringen würde. Ebenso wenig stand für ihn infrage, dass die Familien der alten Herrschaftsordnung den Tod verdienten. Nur die Art und Weise, wie es geschah, an jenem Tag, als der Palast schließlich gestürmt wurde, machte ihm bisweilen zu schaffen.

An eine der Herrscherfamilien erinnerte er sich besonders. Ihre Folterer waren noch am Werk, als er sie fand. Sie hatten den Drachenherrn am Leben gelassen, sodass er alles mitansehen musste; der jüngste Sohn war das einzige Kind, das noch übrig war. Ein Junge von sieben oder acht Jahren, mit leerem Blick in einem blutverkrusteten Gesicht. Um sie herum lagen die Leichen ihrer Familie verstreut.

»Hört sofort mit diesem Irrsinn auf«, sagte der Erste Protektor, als er mit seiner Leibwache den Raum betrat.

Die Revolutionäre ließen von dem Jungen ab, den sie zu quälen begonnen hatten, und protestierten lautstark – dieser Mann ist Leon Sturmpfeil, wissen Sie denn nicht, was er getan hat! Doch sie verstummten, als der auf dem blutgetränkten Teppich kniende Drachenherr das Wort ergriff.

»Mein Sohn«, sagte er in der Sprache, die er mit dem Ersten Protektor teilte. »Bitte, Atreus.«

Der Erste Protektor streifte das Kind mit seinem Blick. Er sagte: »Wir werden uns Leos annehmen.«

Er murmelte einem seiner Leibwächter einen Befehl zu. Der Soldat trat einen Schritt vor, stockte kurz und hob den Sohn des Drachenherrn dann auf seine Arme. Als der schlaffe, stumme Junge hinausgetragen worden war, ging der Revolutionsführer vor dem Drachenherrn auf die Knie.

»Diese – Tiere –«, keuchte der Drachenherr.

Der Erste Protektor widersprach nicht. Stattdessen legte er die Hand um das Messer an seinem Gürtel. Als er den Drachenherrn ansah, lag eine unausgesprochene Frage in seinem Blick. Der Drachenherr schloss die Augen und nickte.

Dann überraschte er den Ersten Protektor mit einer letzten Bemerkung.

»Deine Vision«, sagte er. »Glaubst du, dass sie all dies jemals wert sein wird, Atreus?«

Der Erste Protektor zog sein Messer.

»Ja«, sagte er.

In den darauffolgenden Jahren dachte er oft an die Frage des Drachenherrn zurück. Vieles, was sich während der Revolution zugetragen hatte, verblasste mit der Zeit in seiner Erinnerung, doch Leon Sturmpfeil vergaß er nie.

Leons Sohn Leo hingegen entfiel ihm völlig.

1

Mitteilungen des Ministeriums

Neun Jahre später

Lee

Morgens fliegen wir am liebsten. Selbst heute, wenige Stunden vor dem Turnier, über der leeren Arena, die uns daran erinnert, dass wir bald zum allerersten Mal Tausende Zuschauer haben werden, ist es das pure Glück, die Stadt unter den Flügeln eines Drachen ausgebreitet zu sehen. Als wir eine enge Kurve fliegen, merke ich, dass Pallor eines seiner schwarzen, unergründlichen Augen auf mich gerichtet hat. Auf einmal strafft sich das Band zwischen uns, über das wir unsere Gefühle und Gedanken sonst nur lose teilen, wenn ich im Sattel sitze. Ja. Heute gilt es. Heute werden wir zeigen, was in uns steckt.

Doch dafür brauche ich einen klaren Kopf. Sanft entziehe ich mich Pallors fiebriger Vorfreude und konzentriere mich auf die Arena. Zwei weitere Drachenreiter fliegen mit uns, jeder auf einer der anderen beiden Rassen: Crissa und ihr Himmelsjäger schweben über uns, Cor und sein Sturmpfeil gleiten unter uns dahin und speien Asche auf die Ränge der Arena. Bei dieser Generalprobe sind nur die Anführer der drei Geschwader dabei.

Ich rufe gegen den Wind an. »Du lenkst sie zu tief, Cor!«

Cor schnaubt frustriert und zieht seine Drachin ein Stück höher. Wir haben die Choreografie der Eröffnungszeremonie schon zigmal mit Beamten des Ministeriums geprobt und jedes Mal kam die heikle Frage auf, wie wir die Macht der Sturmpfeil-Rasse demonstrieren sollen. Vor der Revolution haben die Drachen des Hauses Sturmpfeil – meiner Familie – die Dörfer im Umland terrorisiert, aber urprünglich waren sie auch der wichtigste Schutz unserer Insel gegen Angriffe aus der Luft.

»Es hieß doch, wir sollten weit unten feuern«, sagt Cor.

»Aber das ist zu weit unten. Es gefährdet die Zuschauer.«

Unsere Drachen sind Jungtiere, kaum größer als ein Pferd, und können noch kein Feuer spucken. Aber der Rauch, den sie ausstoßen, kann trotzdem zu Verbrennungen führen.

Crissa und ihr Himmelsjäger, dessen langer, schlanker hellblauer Körper mit dem Morgenhimmel verschmilzt, kreisen über uns. »Du willst die Leute doch beeindrucken, nicht grillen«, ruft sie zu Cor runter.

Cor winkt ab. »Ja, ja, schon gut.«

Unsere Flotte ist noch in Ausbildung – sowohl die Drachen als auch die Reiter. Die Drachenreiter der neuen Herrschaftsordnung werden nun Wächter genannt und sie sind niedriger Herkunft, einfache Bürger oder sogar ehemalige Leibeigene. Nicht länger die Söhne von Drachenherren.

Bis auf mich, was aber außer mir niemand weiß.

Denn im Gefolge der Revolution kommt es einem Todesurteil gleich, von Drachengeblüt zu sein. Geboren wurde ich als Leo, Sohn von Leon, Drachenherr des Hauses Sturmpfeil und Drakarch des Fernen Hochlands – doch seit der Zeit im Waisenhaus heiße ich Lee. Nicht einmal der Erste Protektor, der mir das Leben gerettet und mich zwei Jahre später in das Wächterprogramm aufgenommen hat, ohne mich wiederzuerkennen, weiß Bescheid. Dass ein Spross des Hauses Sturmpfeil in das meritokratische Drachenreiter-Programm aufgenommen worden ist, welches doch alles ersetzen sollte, wofür seine Familie einst stand.

Ich weiß zwar, dass ich von Glück sagen kann, überhaupt noch lebendig und dem Waisenhaus entronnen zu sein, aber immer wieder kommen Erinnerungen an mein altes Leben in mir hoch. Vor allem jetzt, als Pallor und ich über der Palastarena kreisen, die zum allerersten Mal seit der Revolution für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Auch das alte Regime hat dort Turniere abgehalten. Turniere, bei denen ich meinem Vater zugejubelt und dabei von dem Tag geträumt habe, an dem ich seine Nachfolge antreten würde.

Ich beuge mich vor und stütze eine Hand auf Pallors silbergeschuppten Nacken, als er seine im Morgenlicht fast durchsichtig schimmernden Flügel zum Sturzflug anlegt. Pallor ist ein Aurelian, eine kleinere Rasse, die als umsichtig und gut steuerbar gilt, und die Formation der Aurelianer in der heutigen Zeremonie ist die einzige, die so komplex ist, dass sie von zwei Reitern angeführt werden muss. Ich kann zwar allein proben, aber eigentlich brauche ich dafür –

Annie. Da ist sie.

Aus der Höhlenöffnung am Fuß der Arena kommt ein weiterer Aurelian hervorgeschossen, eine bernsteinfarbene Drachin, auf der meine Sparringspartnerin reitet. Annie und ich haben während unserer gesamten Ausbildung miteinander trainiert, aber wir kennen uns sogar noch länger, aus dem Waisenhaus, in dem wir vor unserer Aufnahme in das Wächterprogramm gelebt haben.

Erinnerungen, die für ein ganzes Leben reichen – aber wir haben ziemlich viel Übung darin, nie darüber zu sprechen.

»Annie!«, ruft Crissa und winkt fröhlich. »Da bist du ja!«

»Ohne dich hat Lee hier draußen nichts auf die Reihe gekriegt«, sagt Cor.

Pallor und ich feuern einen Aschestrahl in seine Richtung. Cor weicht ihm prustend aus.

Annies Mundwinkel wandern in die Höhe, doch statt auf Cors Bemerkung zu antworten, fügt sie sich sofort nahtlos mir gegenüber in die Formation ein. Ihre Drachin, Aela, spiegelt jede von Pallors Bewegungen. Annies rotbrauner Zopf fällt ihr tief in den Rücken, ihr blasses, sommersprossiges Gesicht ist hoch konzentriert. Seit ich denken kann, finde ich Annie wunderschön, aber gesagt habe ich ihr das noch nie.

»Fangen wir von vorn an?«, schlage ich vor.

Die drei anderen sind einverstanden.

Wir richten uns gerade auf, als die Glocke zur vollen Stunde läutet. Die Arena unter uns, der Palast auf der einen und Pythos Feste auf ihrem Sockel aus Karstgestein auf der anderen Seite, die steilen Giebeldächer der Stadt, die Ebenen, die sich bis zur Küste erstrecken – einen Augenblick überwältigt mich der Wunsch, die Stadt und die gesamte Insel unter mir zu beschützen, ja zu besitzen. In meinem Kopf hallt der Eid wider, den wir abgelegt haben, als wir zu Wächtern ernannt wurden: Alles, was ich bin, gehört Callipolis. Ich gelobe bei den Flügeln meines Drachen, es zu bewahren …

Heute werden acht Wächter in der Viertelfinalrunde des Turniers antreten, durch das der Befehlshaber der Luftflotte bestimmt werden soll. Nach wochenlangen Qualifikationsrunden haben Annie, Cor, Crissa und ich es unter die letzten acht geschafft.

Es ist das erste Mal seit der Revolution, dass Callipolis einen Ersten Reiter ernennt, einen der wenigen Titel, die es vom alten Regime übernommen hat. Die Drachen der Revolutionsflotte sind nun endlich alt genug und ihre Reiter ausreichend ausgebildet, um das seit der Revolution unbesetzte Amt anzustreben. Für die anderen Wächter sind die Turniere eine Gelegenheit, sich zu beweisen; für mich bedeuten sie noch viel mehr.

Denn Erster Reiter ist ein Titel, auf den ich schon vor der Revolution versessen war. Damit könnte ich all die Anerkennung, Macht und Achtung, die meine Familie innerhalb eines einzigen blutigen Monats verloren hat, als ich acht Jahre alt war, auf einen Schlag zurückerobern.

Erster Reiter.

Von unten wehen die letzten Glockentöne vom Uhrturm des Palasts herauf und reißen mich aus meinen Gedanken. »Wir sollten frühstücken gehen. Goran meinte, bis dahin hätte er die Turnieraufstellung fertig.«

Wir landen auf dem Horst, dem flachen Felsvorsprung in der Mitte der Arena, wo wir absitzen, unseren Drachen die Sättel abnehmen und sie in ihre Nester in den Höhlen unter uns entlassen. Zurück im Palast mischen wir uns unter die übrigen Wächter des Drachenkorps, insgesamt zweiunddreißig Mädchen und Jungen, die aus den Schlafsälen in das Refektorium des Konvents mit seinen nackten Steinwänden und hohen, schmalen Fenstern strömen. Das Frühstück besteht wie gewöhnlich aus leicht angebranntem Haferbrei. Obwohl wir theoretisch im Palast wohnen, sind wir in den Quartieren untergebracht, die vor der Revolution den Bediensteten vorbehalten waren.

»Ihr seid aber früh auf.«

Duck, Cors jüngerer Bruder, ist auf seiner Sitzbank zur Seite gerutscht, damit wir uns zu ihm und seinen Freunden an den Tisch setzen können. Duck und Cor haben die gleiche olivfarbene Haut und das gleiche gewellte Haar, aber vom Temperament her sind sie völlig verschieden: Cor zieht meistens ein mürrisches Gesicht, Duck hingegen lächelt gern und oft. Annie macht es sich neben Duck bequem. Sie sind beide sechzehn, ein Jahr jünger als die meisten von uns. Ihr Alter war die erste Gemeinsamkeit, die sie zusammengebracht hat, aber Freunde sind sie vor allem deshalb geworden, weil Duck sich von ihrer ernsten Art offenbar angespornt fühlt. Es ist nicht leicht, Annie ein Lächeln zu entlocken, und Duck hat das ziemlich gut drauf.

Er zieht seinen Löffel aus dem Haferbrei und deutet damit auf Annie. »Na, bereit für deinen großen Tag?«

Annie schnaubt, aber trotzdem steigt ihr eine leichte Röte ins Gesicht. Es ist der einzige Hinweis auf ihren Ehrgeiz, den sie sonst eher versteckt. Sie sitzt schon wieder ganz zusammengesunken da, wie immer, wenn sie zurück auf der Erde ist, als wollte sie möglichst wenig Platz beanspruchen. Das glatte Gegenteil zu ihrem Selbstbewusstsein in der Luft.

Crissa antwortet Duck in dem bestärkenden Ton, den sie immer anschlägt, wenn sie die Reiter ihres Geschwaders ermutigen will: »Es ist auch dein großer Tag.«

Duck hebt die Schultern und grinst breit. »Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.«

Wie wir vier hat Duck es ins Viertelfinale geschafft. Er wird seine Sache großartig machen – wenn er denn die Nerven behält. Und das hängt davon ab, gegen wen er antreten muss.

»Nervös, Dorian?«

Ich hätte es nicht beschreien dürfen. Power, einer der Sturmpfeil-Reiter, die sich qualifiziert haben, schlendert auf dem Rückweg von der Essensausgabe an uns vorbei. Er legt Duck einen Arm um die Schulter, als wollte er ihm Mut zusprechen, und streicht sich mit der anderen Hand über sein kurz geschorenes schwarzes Haar, während er mir einen bohrenden Blick zuwirft. Power und ich sind etwa gleich groß und schwer, was ich jedes Mal abwäge – und ich sehe ihm an, dass er dasselbe tut –, wenn wir uns so taxieren.

Duck versteift sich. »Fass mich nicht an«, stößt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Mit einem dumpfen Klirren stellt Cor sein Glas auf den Hartholztisch. Ich lege meinen Löffel in der Schüssel ab.

Fast bin ich enttäuscht, dass Power seinen Arm zurückzieht. In den letzten Jahren ist er vorsichtiger geworden. »Na, warum so dünnhäutig?«

Er spaziert zurück zu seinem Platz zwischen Darius und Alexa, die die Szene besorgt beobachtet haben. Ducks Schultern entspannen sich und er äußert seine Abscheu mit einem kehligen Räuspern.

»Manchmal«, denkt Cor laut, »vermisse ich die Zeiten, in denen Patrizierkinder wie Power sich alles rausnehmen durften und es an uns war, sie von ihrem hohen Ross runterzuholen.«

»Ich nicht«, murmelt Duck.

Unter dem alten Regime gehörte meine Familie zu den herrschenden Drachengeschlechtern, und die wohlhabenden, aber drachenlosen Patrizier, zu denen auch Powers Familie zählte, standen eine Stufe darunter. Auf gemeine Bürger wie Cor und Crissa sieht Power immer noch mit der typischen Überheblichkeit vornehmer Leute herab, aber am meisten verachtet er Annie, die eine ehemalige Leibeigene ist.

»Ich wette, Goran trauert den guten alten Zeiten auch hinterher«, murmelt Crissa.

Sie späht zur Tür, durch die soeben ein einzelner Erwachsener den Saal betreten hat. Goran, unser patrizischer Drillmeister, ist ein rotgesichtiger älterer Herr. Früher war er ein schmucker Offizier, aber inzwischen ist er ziemlich aus dem Leim gegangen. Er spricht mit leichtem Drachisch-Akzent, den er absichtlich raushängen lässt, wenn er Reiter niederer Herkunft einschüchtern will. Sein Anblick war mir immer auf verstörende Weise vertraut. Wir müssen uns bereits in der alten Welt begegnet sein, aber er hat mich zum Glück nicht wiedererkannt. Goran ist Atreus treu ergeben, so viel ist klar, doch den Idealen der Revolution ist er weniger zugetan. Bevor Atreus ein Machtwort gesprochen hat, ließ Goran Power und den anderen patrizischen Wächtern fast alles durchgehen.

»Guten Morgen, Wächter«, grüßt Goran in die Runde. »Wollt ihr die Aufstellung für die heutigen Duelle hören?«

An den Tischen kehrt Stille ein. Goran beginnt seine Liste vorzulesen. »Wir haben Annie gegen Darius …«

Darius, einer von Powers Patrizierfreunden im Geschwader der Sturmpfeile, dreht sich zu Annie um und ich sehe mit Schadenfreude, dass das sonst so lässige Großmaul die Stirn runzelt. Annie verschränkt die Arme und funkelt zurück.

»Cor gegen Rock …«

Cor macht eine finstere Miene, obwohl er nicht das schlechteste Los gezogen hat. Wahrscheinlich hat er schon ausgerechnet, welche Kombinationen jetzt noch übrig bleiben. Vor allem, mit wem Duck es womöglich aufnehmen muss.

»Als Nächstes haben wir Lee und Crissa …«

Crissa stöhnt laut auf und schlägt theatralisch die Hände an die Stirn, bevor sie mich ansieht. Sie hat so ein Gesicht – immer von der Sonne gerötet und von dunkelgoldenen, blond durchwirkten Locken umrahmt –, das man bei jedem Blickkontakt einen Tick zu lange anstarrt. Neckisch hebt sie eine Augenbraue.

»Streng dich lieber nicht an, Lee.«

Meine Wangen beginnen zu brennen, was nichts mit dem Duell zu tun hat. Crissa lächelt schelmisch. Cor verdreht die Augen.

Jetzt ist allen klar, welche beiden Namen gleich fallen.

»Und als Letztes haben wir Power gegen Duck.«

Power stößt ein triumphierendes Trillern aus, aber er ist der Einzige, der sich zu freuen scheint. Duck ist auf seinem Platz ganz tief zusammengesackt und Cors Gesicht hat sich verkrampft. Annies Arm bewegt sich fast unmerklich, als drücke sie Duck unter dem Tisch tröstend die Hand. Duck ist einer der wenigen Menschen, die ich Annie je freiwillig habe berühren sehen, und sie berührt ihn oft. Diesmal schluckt er sichtlich, als sie seine Hand nimmt.

Cor zufolge sind sie kein Paar. Aber man sieht trotzdem deutlich, dass Duck rettungslos in sie verliebt ist. Und obwohl das schon jahrelang so geht, berührt Annie ihn andauernd beiläufig, als wären sie noch Kinder – vollkommen arglos offenbar. So hat sie es im Waisenhaus auch bei mir gemacht und erst damit aufgehört, als wir hierherkamen.

Duck fängt meinen Blick auf und wir schauen beide schnell wieder weg.

»Bis zur Eröffnungszeremonie ist es noch etwas mehr als eine Stunde«, sagt Goran, »ich würde euch also raten, euch bereit zu machen. Wie viele von euch erwarten heute Familienbesuch?«

Hände gehen in die Höhe. Fast alle melden sich; wie zu erwarten, sind Annie und ich die einzigen Ausnahmen. Doch dann sehe ich Annies Zeigefinger ein Stück nach oben wandern. Sie betrachtet ihn, als wäre sie selbst überrascht.

Das ist absurd. Wer sollte Annie besuchen kommen?

»Begrüßt sie besser erst nach dem Turnier«, sagt Goran. »Aber dann dürft ihr euch den Rest des Tages freinehmen. Rektorin Mortmane wird am Konventausgang stehen und euch austragen. Noch Fragen?«

Als niemand spricht, sieht er zu mir herüber. »Lee, Annie, auf ein Wort noch.«

Ich kann mich nicht erinnern, wann Goran zum letzten Mal mit Annie sprechen wollte. Wir bleiben sitzen, während die anderen nacheinander den Saal verlassen und Goran auf einem freien Stuhl am Kopfende unseres Tisches Platz nimmt. Ich kann geradezu spüren, wie Annies Körper sich in seiner Gegenwart anspannt. Es ist zwar schon Jahre her, dass er sie mit zusätzlichen Aufgaben, willkürlich schlechten Noten und Demütigungen auf dem Horst drangsaliert hat, aber er hat nie aufgehört, Annies Anwesenheit im Drachenkorps als eine Beleidigung zu behandeln – als wäre es zu viel verlangt, gleich zwei von Atreus’ Neuerungen in einer Person vereint aushalten zu müssen, ihre niedere Herkunft und ihr Geschlecht.

»Ich habe für jeden von euch eine Mitteilung des Ministeriums.«

Er überreicht erst mir, dann Annie einen verschlossenen Umschlag. Wie immer vermeidet er es, sie anzusehen, als wäre sie etwas Widernatürliches, das man besser nur mit dem Blick streift.

Meinen Brief schmückt das Siegel des Ersten Protektors, Atreus Athanatos.

»Lest sie später«, sagt Goran. »Ihr dürft gehen.«

Draußen im Flur bleiben wir beide gleichzeitig stehen, um unsere Briefe aufzureißen. Atreus hat einen einzigen kurzen Satz geschrieben. Als ich ihn lese, packt mich zum allerersten Mal an diesem Tag das Lampenfieber.

Viel Glück, Lee.

Ich schaue auf. Annie starrt immer noch wie versteinert auf ihre Mitteilung. Dann zieht sie die Schultern hoch und reißt den Blick von dem Schreiben.

»Wir sollten los ins Zeughaus«, sagt sie.

Als wir eintreffen, machen sich die ersten Reiter schon auf den Weg in die unterirdischen Drachennester. Um zu den Kabinen des Aurelianer-Geschwaders zu kommen, zwängen Annie und ich uns an Wächtern vorbei, die in ihre Feueranzüge steigen, die letzten Platten ihrer Rüstung anlegen und sich Sattel- und Zaumzeug über die Schulter werfen, um es in die Höhlen zu bringen. Es riecht nach Leder, Schweiß und Asche – die typische Drachenreiter-Mischung.

Da wird mir etwas in die Hand gedrückt; Annie hat mir ihren Brief gegeben und sich abgewandt. Ich soll ihn lesen, aber ohne dass sie mir dabei zuschaut.

Unsere Kabinen liegen nebeneinander und ich habe jahrelang geübt, mich zu beherrschen und unter keinen Umständen zu Annie rüberzusehen, wenn sie sich umzieht. Heute habe ich den Brief, auf den ich mich konzentrieren kann. Ihre Mitteilung trägt das Siegel des Informationsministeriums, nicht das des Ersten Protektors. Sie lautet:

DAS MINISTERIUM ERINNERT ANTIGONE AUF AELA DARAN, DASS DIE REITER DES VIERTEN RANGS EIN HÖCHST ÖFFENTLICHES AMT BEKLEIDEN. SIE MÖGE DAHER SORGFÄLTIG ABWÄGEN, OB SIE IN EINER SOLCHEN POSITION IHREM EID, DEM STAATSWOHL ZU DIENEN, AM BESTEN GERECHT WÜRDE.

Sie wollen, dass sie auf die Turnierteilnahme verzichtet.

Neben mir hat Annie gerade ihren Schutzanzug geschlossen. Vom Hals bis zu den Knöcheln ist ihr schlanker Körper in schwarzes, hitze- und feuerbeständiges Leder gehüllt, eine dunkle Silhouette, über der ihr roter Zopf umso auffälliger leuchtet. Solange wir noch nicht allein sind, geht sie mit keinem Wort auf den Brief ein, und so schnallen wir uns schweigend die aus abgeworfenen Drachenschuppen geschmiedeten Rüstungsplatten über den Feueranzug und ziehen sie nacheinander fest. Erst als die letzten Reiter das Zeughaus verlassen haben, nimmt sie die Mitteilung wieder an sich.

»Was stand in deiner?«, fragt sie.

Atreus’ Nachricht ist das Letzte, was ich ihr zeigen will. Ich zögere.

»Bitte«, sagt sie leise.

Ohne meine Antwort abzuwarten, angelt sie sich den Umschlag aus meiner Kabine. Nachdem sie einen Blick auf den Brief geworfen hat, lässt sie sich neben mir auf die Bank fallen.

»Gratuliere«, sagt sie.

Sie klingt nicht verbittert, nicht einmal neidisch – nur müde.

»Du bist der Bauer, den sie wollen«, fügt sie hinzu.

Bauer ist einer der Begriffe, die nach der Revolution verboten wurden. Das Wort darf nur noch im historischen Kontext verwendet werden. Ich glaube nicht, dass ich es Annie schon jemals habe sagen hören. Jedenfalls nicht in Bezug auf sich selbst.

Und auch nicht in Bezug auf mich, obwohl das offiziell meine Herkunft war, als sie mich kennengelernt hat. In unserer gesamten Zeit im Waisenhaus, als ich noch nicht so geschickt darin war, meine wahre Identität zu verbergen, hat sie kein einziges Mal davon gesprochen. Auch hier, unter den Wächtern, erwähnt sie sie nie.

Mir wird immer unbehaglicher zumute. »So ist das nicht … So würde Atreus das nie sehen …«

Annie legt den Kopf in den Nacken und starrt an die Decke. »Oh doch. Atreus braucht Reiter im Vierten Rang, die von den Eliten akzeptiert werden.«

Der Vierte Rang ist der Dienstgrad, der den vier Siegern des heutigen Turniers verliehen wird, um hervorzuheben, dass sie die fähigsten Wächter unter den zweiunddreißig Reitern des Drachenkorps sind. Es ist der zweithöchste Grad in der Flotte; darüber steht nur noch der Erste Reiter.

»Du redest von …«

»Ich rede von Atreus’ Nachfolge.«

Bei dem Wort erstarre ich; Annie bringt es nur gehaucht über die Lippen.

Bevor Atreus als Verwalter des neuen Staats abtritt, wird unter den besten und begabtesten Wächtern ein Nachfolger bestimmt. Der nächste Protektor. Inoffiziell ist klar, dass nur Mitglieder des Vierten Rangs in die engere Auswahl kommen.

»Er denkt an seine Nachfolge«, wiederholt Annie, »und er braucht Bauern, die sich nicht mehr … wie Bauern benehmen.«

Ich ziehe die Gurte des Armschutzes fester um meinen Unterarm und presse zwischen den Zähnen hervor: »Du benimmst dich nicht wie ein Bauer.«

Annie lacht matt auf. Sie weiß so gut wie ich, dass ich lüge. Wir können uns beide denken, was in den Akten des Ministeriums steht: dass Annie dafür bekannt ist, zu ehrerbietig und zu zurückhaltend zu sein und öffentliche Auftritte zu scheuen. Seit ich denken kann, ist sie zwar in allen Fächern eine der Besten, meldet sich aber fast nie zu Wort.

Das könnte sie sich abtrainieren. Wenn sie sich bemühen würde und die entsprechende Unterstützung bekäme, könnte sie viel selbstbewusster werden. Aber was soll ihr den Antrieb dazu liefern, was soll überhaupt den Wunsch danach wecken, wenn das Ministerium ihr solche Mitteilungen schickt?

Also muss der Anstoß von etwas anderem kommen. Von außen.

»Du kriegst heute Besuch von Verwandten?«

Ich wage mich nur vorsichtig mit der Frage heraus. Eigentlich geht es mich ja nichts an. Annie blinzelt und schüttelt dann den Kopf. »Nicht von Verwandten. Von Bekannten … aus meinem Dorf.«

Mein Dorf sind zwei weitere Wörter, die Annie für gewöhnlich nicht in den Mund nimmt. Sie spricht sie ganz langsam aus, als wären es Wörter einer fremden Sprache.

»Sie haben mir geschrieben«, fährt sie fort. »Einen Brief. Nicht die Eltern – die können nicht lesen.« Ich riskiere einen flüchtigen Blick zu ihr; beim Wort lesen läuft ihr Gesicht rot an. »Aber ihr Sohn geht seit der Revolution zur Schule und hat für sie geschrieben. Dass sie kommen wollen. Das waren die Leute, bei denen ich vor Albans eine Zeit lang gewohnt habe.«

Albans war unser Waisenhaus. Wie ihr Leben davor aussah, hat sie schon jahrelang nicht mehr erwähnt, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart.

Sie spielt mit ihrem Haar, streicht sich ein paar Strähnen aus den Augen und hinters Ohr. »Ich hab sie nicht mehr gesehen, seit …« Sie schaut hoch und ich merke, dass ich sie angestarrt habe. Ich wende den Blick ab, sie greift zu ihren Stiefeln und schiebt die Füße nacheinander hinein.

»Es bedeutet ihnen bestimmt eine Menge, wenn du es in den Vierten Rang schaffst«, sage ich. »Wahrscheinlich würde es jedem Landbewohner, der zu dem Turnier angereist ist, eine Menge bedeuten. Du würdest …«

Über ihre Stiefel gebeugt, fragt Annie leise: »Ich würde was?«

Ich höre es mich sagen. Worte, die meinen Vater zutiefst beschämt hätten, ganz besonders aus meinem Mund.

»Du würdest Geschichte schreiben.«

Annie hat ihren Helm aufgehoben und stützt ihre andere behandschuhte Hand auf die Knie, um aufzustehen. Mit einem sonderbaren Lächeln sieht sie mich an. Als sie antwortet, weist sie nicht etwa darauf hin, dass gemäß der niederen Herkunft, die ich angenommen habe, auch ich Geschichte schreiben würde.

Als wüsste sie, dass das nicht stimmt. Als wüsste sie, dass ich insgeheim darauf hoffe – verzweifelt und begierig darauf hoffe –, die Geschichte zu wiederholen.

»Gehen wir, Lee.«

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