Vardari – Teil 1

 

 

 

Für die Wölfe, mit denen ich laufe.

 

 

 

 

 

 

Und für dich. Für dich und für alle, die Angst haben. Für dich und alle, die in unfassbarer Unruhe gefangen sind. In gnadenloser Angst, die urplötzlich zuschlagen kann, wenn ihr es am wenigstens erwartet. Für dich und alle, die einen Krieg gegen den eigenen Körper führen und sich vor dem Geräusch der eigenen Herzschläge fürchten. Das hier ist euer Buch.

Prolog

Nafraím öffnete das Glas und schnupperte am Rogen. Der war frisch, aber etwas zu knapp bemessen. Er schüttete ihn auf ein Leinentuch, das das überschüssige Salzwasser aufsaugte.

Er rollte eine der rötlichen Perlen zwischen zwei Fingern, drückte sie. Die Konsistenz war perfekt, die zähe Hülle bekam man nur vom Weißen Harving. Sie war jedoch kaum größer als ein Gerstenkorn. Hier waren Konzentration und eine ruhige Hand gefragt.

Er knackte mit den Knöcheln und zog die Lampe näher zu sich heran. Die Flamme flimmerte, ein Ärgernis, mit dem er leben musste, bis er die Gaslaternen in Gang gebracht hatte. Drei Explosionen in einem Monat gaben Anlass, den gesamten Versuch in Zweifel zu ziehen. Zum Glück stand ihm unbegrenzt Zeit zur Verfügung, um die Ursache zu finden.

Er schwenkte die Lupe über den Schreibtisch. Die kupfernen Halterungen quietschten. Er zog die Schrauben nach, um den Rahmen um das Glas fester zu spannen. Ein provisorisches Instrument, wie er zugeben musste; doch auch dieses Vorhaben eröffnete unbegrenzte Möglichkeiten. Und auch das musste warten. Das Wichtigste zuerst.

Unter der Lupe wurden seine Finger zu einer blassen, gerillten Landschaft. Er nahm eine Rogenperle und stach in ihre Haut. Dann drückte er sie behutsam. Ein Öltropfen wuchs um das Loch. Der zitterte, löste sich und tropfte auf das Tuch. Man durfte nicht zu fest drücken, weil sie dann riss. Ein haarfeiner Grat. Er drückte, bis die Haut zwischen den Fingern platt war, und atmete vor dem schwierigen Teil tief ein.

Er zog den Pfropfen aus dem Blutkolben und schob die Spitze der Spritze hinein. Sie glich einem Folterwerkzeug: eine längliche Glasampulle, eingeschlossen in einer morbiden Fassung aus Silber. An Spritzen würde er sich nie gewöhnen, obwohl er mit ihnen schon so lange arbeitete, dass er in der Lage war, sie mit einer Hand aufzuziehen.

Jetzt ganz ruhig.

Vorsichtig setzte er die Spritzenspitze auf die Rogenperle. Sie verschmolzen. Die Nadel glitt hinein, und er drückte, bis das Blut herauströpfelte. Das war immer ein faszinierender Anblick. Anfangs wirkte die Haut geschlossen. Widerwillig. Doch dann sog sie sich um die Nadel fest, bis sie wie ein Balg anschwoll. Eine hungrige, zum Platzen mit Blut gefüllte Beere.

Seine Hand begann zu zittern, von uralten Schmerzen gereizt, und er drehte den Arm leicht, gerade so viel, um die Kontrolle zurückzuerlangen. Er ließ die Blutperle wieder ins Glas fallen und nahm sich einen neuen Rogen. Es klopfte an der Tür.

Nafraím antwortete, ohne seine Arbeit aus den Augen zu lassen. »Ich bin beschäftigt, Ofre.«

Ofres Stimme klang gedämpft durch die Eichentür: »Herr, er besteht darauf.«

»Alle bestehen darauf. Wenn es nicht die Königin ist, will ich niemanden sehen.«

Eine Weile blieb es still, er wusste aber, dass Ofre noch dort stand.

»Herr, er sagt, du willst ihn sprechen.«

Nafraím stach ein Loch in den Rogen. »Dann bitte ihn, morgen wiederzukommen.«

»Herr, er sagt …«

Durch die Pause hob Nafraím den Blick, unfreiwillig neugierig auf die Fortsetzung.

»Er sagt, er sei Mönch, vom Surtfjell Hov, und dass er ein Zeichen hat vom … Teufel?«

Nafraím schob die Lupe beiseite, setzte sich auf dem Stuhl aufrecht und merkte, wie dunkel es in der Werkstatt war. Das Licht der Lampe reichte nicht bis zu den obersten Brettern der schweren Bücherregale, und durch die Schatten wirkte das Zimmer seltsam fremd, voller beunruhigender Umrisse. Modelle und Instrumente, Karten und Zeichnungen. Die Bank mit den Kupferrohren und Kolben wie ein mechanisches Monstrum. Früher wäre das Licht für die Arbeit unzureichend gewesen. Die Augen hätten ihn im Stich gelassen, doch das war lange her. Viel zu lange her.

Ofre auf der anderen Seite der Tür räusperte sich. »Ich bitte ihn, morgen wiederzukommen, Herr.«

»Nein, nein … Komm rein, Ofre.«

Ofre öffnete die Tür und machte einen zurückhaltenden Schritt ins Zimmer. Nafraím schlug den Rogen ins Leinentuch ein und legte es in die Schreibtischschublade. Er wischte sich die Finger mit einem Taschentuch ab und zog die Handschuhe an.

»Herr?«

»Ja, schick ihn nach unten, Ofre.«

Der Blick des alten Hausdieners wanderte die Regale mit den in Alkohol eingelegten anatomischen Objekten entlang. »Bist du sicher, dass du nicht lieber hochkommen willst, Herr?«

»Ofre, ich bin zu alt, um auf die Befindlichkeiten anderer Rücksicht zu nehmen. Schick ihn nach unten.«

Ofre nickte und stieg die Wendeltreppe nach oben, wobei er sich auf den Knien abstützte.

Kurz darauf kam er wieder nach unten, nun nicht mehr allein. »Bruder Laurus vom Surtfjell Hov, Herr«, sagte er und ließ den Mann eintreten. Danach schloss er die Tür, überlegte es sich anders und kam wieder ins Zimmer. »Tee, Herr?«

Nafraím schüttelte den Kopf und Ofre entfernte sich wieder.

Der Mönch blieb an der Tür stehen. Nafraím hatte ihn vorher noch nie gesehen. Ein schöner Mann, um die dreißig, mit einem gutgläubigen Gesicht. Am Saum des regenschweren Umhangs klebte Matsch, die Schuhe waren schief ausgetreten. Er drückte ein Bündel an die Brust und hielt den Blick gesenkt.

Nafraím erkannte, dass der Mönch vorher noch nie einen Ewigwährenden gesehen hatte. Das versetzte ihm einen Stich aus schlechtem Gewissen. Er hätte sie häufiger besuchen müssen, hätte die Bande zu jenen stärken müssen, die ihn schon seit Generationen begleiteten, doch die Jahre vergingen so schnell.

Er winkte den Mönch näher. »Laurus? Wir sind uns noch nicht begegnet«, sagte er, ohne sicher zu sein, ob das eine Entschuldigung war. »Aber habe ich vielleicht deinen Vorgänger kennengelernt?«

»Nein …« Der Mann begegnete Nafraíms Blick. Der schien ihn zu beunruhigen und er sprach schleunigst weiter: »Du hast aber den Vorgänger meines Vorgängers kennengelernt.«

»Ach …«

Der Mönch machte ein paar Schritte auf den Schreibtisch zu, doch seine Füße schienen beim Gehen immer schwerer zu werden. Sein Blick wanderte über die Instrumente und blieb an einem Herz in vergilbtem Alkohol hängen.

»Wolf«, sagte Nafraím, ohne sich sicher zu sein, ob das die Sache besser machte. Der Mönch nickte heftig, als habe er nichts anderes angenommen, während er mit offenem Mund vor den Instrumenten stand. Er streckte die Hand nach den glänzenden Reglern am Gasbrenner aus.

Nafraím sprang vom Stuhl. »Nicht anfassen!«

Der Mann zog die Hand an sich und wich zurück.

Nafraím beherrschte sich und wiederholte: »Nicht anfassen. Nichts anfassen … gar nichts. Lass sehen, was du da hast.«

Laurus legte das Bündel auf den Tisch und löste die Riemen. Er breitete das Tuch aus und legte darunter ein neues Tuch frei. Er öffnete auch dieses und enthüllte eine Glasschale, halb mit Erde gefüllt. Aus der Erde ragte ein winziger grüner Sprössling.

»Woher?«, fragte Nafraím, obwohl er die Antwort kannte.

»Svartland, Herr. Mitten im Wolfspadd.«

Nafraím guckte auf seine Taschenuhr. »Es ist schon spät, Bruder Laurus. Du hast bestimmt Hunger und Durst, daher schlage ich vor, du bleibst bis morgen. Geh hoch und bitte Ofre, ein Zimmer und ein Abendbrot für dich vorzubereiten.«

Laurus senkte den Blick. »Das ist großzügig von dir, Herr. Sei gesegnet.« Dann entfernte er sich mit dürftig verhohlener Erleichterung die Treppe hinauf.

Nafraím ließ sich auf den Stuhl fallen. Er starrte den grünen Sprössling an und wusste ganz genau, dass er seinen eigenen Tod sah.

Er hatte sich immer vorgestellt, das Ende von allem käme wie ein Raubtier. Wie eine gewaltige Tobsucht, uralt, mit Zähnen und Klauen. Es schien widersinnig, dass es seine Ankunft als junges, zartes Pflänzchen ankündigte.

Zwei Blättchen spreizten sich wie ein aufgeschlagenes Buch, im Begriff, sich von Erzählungen über unheimliche Dinge, die er getan hatte, zu vollem Wuchs zu entfalten. Von Sünden, für die er sich zu verantworten haben würde, und davon waren viele bei ihm zusammengekommen. In über sechshundert Jahren. Aber nur wenige waren schlimmer als jene, die er jetzt zu begehen gezwungen war.

Der Neuling

Der Neuling war von der schlimmsten Sorte. Ein Streuner aus der Stadt, der sich schon nach der ersten Nacht in Svartland für einen Wolfsjäger hielt. Er war ungeschickt, machte krampfhaft auf Kumpel und redete am laufenden Band. Juva war kurz davor, sich die Ohren mit Schnee zuzustopfen, um ihn nicht mehr hören zu müssen.

Stattdessen stand sie auf und rollte die Schlaffelle zusammen. Die anderen konnten gern sitzen bleiben und nachsichtig nicken, wenn der Anfänger wertvolles Tageslicht wegwitzelte. Und dafür war sie in aller Frühe aufgestanden? Hatte das Feuer angemacht, damit die anderen beim Aufwachen Wärme und Essen hatten. Einer nach dem anderen waren sie aus den Schneehöhlen gekrabbelt. Eine Gruppe von sieben diesmal.

Sechs war üblich. Sechs war besser.

Der Neuling war als Letzter auf die Beine gekommen. Trotzdem hatte er seinen Hintern gleich ans Feuer gepflanzt, ohne einen Finger krumm zu machen, und dort saß er immer noch und schwatzte mit vollem Mund. Stattdessen hätte er lieber seine Sachen packen, sich fertig machen sollen, so weit fertig wenigstens, wie er mit dieser Ausrüstung werden konnte.

Juva schmiss die Felle auf den Schlitten, wobei sie heimlich zu ihm hinüberschielte. Seine Lederstiefel waren neu und weit um die Unterschenkel, besser geeignet, um auf den Straßen von Náklav herumzulatschen. Er war gestern bis auf die Haut nass geworden, und das würde ihm heute wieder passieren. Seine Armbrust steckte mit dem Bogen im Schnee, als ob er nicht wüsste, wo bei der oben und unten war. Wenn er denn jemals zum Schießen kommen sollte, wäre der Bolzenlauf mit Eis verstopft. Die Bolzen lugten aus einem Köcher an seiner Hüfte, und sie klickerten bei jeder Bewegung gegeneinander. Der einzige Wolf, in dessen Nähe sie kommen würden, musste ein taubes Tier sein.

Juva guckte zu den anderen hinüber und stellte fest, dass Broddmar sie beobachtete, als er den letzten Löffel Sauergrütze aus seiner Schüssel kratzte. Sie kehrte ihm den Rücken zu und schnallte sich das Geschirr um. Es war für sie schon immer etwas zu breit gewesen, weil es Vater gehört hatte; aber das Leder war weich gewetzt und hatte schon längst aufgehört zu scheuern. Sie hatte es außerdem gut für sich angepasst: hatte einen Riemen über der Brust angebracht, der das Gewicht der Armbrust auf dem Rücken erleichterte, eine größere Tasche und ein Futteral fürs Schindermesser am Hüftgürtel. Sie zog die Schnalle enger, die die Bolzen am Schenkel festhielt. Sie waren nebeneinander aufgereiht, die giftbraunen Stahlspitzen sicher verborgen. Sie mussten leicht herauszuziehen sein, aber fest genug sitzen, um bei einem Sturz nicht herauszufallen. Sie hoffte für den Neuling, dass er sich keine Giftbolzen umgeschnallt hatte, denn dann würde er sich wohl selbst umbringen, sobald er stolperte.

Sie hörte hinter sich Broddmars Schritte im Schnee.

»Du, Juva …«

»Nein, ich nehme ihn nicht.«

Broddmar reagierte nicht gleich, er dachte immer erst nach, bevor er den Mund aufmachte, im Gegensatz zum Neuling. Er war aber auch so alt, dass er ihr Großvater hätte sein können, im Lauf der Jahre wurde man wohl stark und wortkarg. Darum hatte er das Sagen. Und jetzt hatte er beschlossen, einen Grünschnabel mitzunehmen, der die Jagd im besten Fall vergeblich und im schlimmsten lebensgefährlich machte.

»Na gut«, sagte Broddmar endlich. »Er geht mit mir, wenn wir uns aufteilen.«

Juva zog die Schnur um eins der Schlaffelle fest, bis es eingeschnürt war wie eine behaarte Sanduhr.

Broddmar hüstelte hinter ihrem Rücken. »Ich glaube nicht, dass die Felle vorhaben, abzuhauen …«

Sie drehte sich um und wies mit dem Kopf in Richtung Neuling, der vor den anderen mit seiner Armbrust angab. »Du hast doch immer gesagt, die Gruppe ist nicht stärker als das schwächste Glied! Guck ihn dir an! Er ist vorher noch nie auf der Jagd gewesen, er ist ein Kind!«

Broddmars Wangen fielen noch weiter ein; der Beweis, dass er sich ein Lächeln verkniff. »Du bist neunzehn, er hat dir mindestens zehn Jahre voraus.«

Ihre Augen verengten sich, und er sprach schnell weiter: »Hör mal … Er ist mit einer Freundin von Mottes Schwester zusammen, und der hat es nicht fertiggebracht, Nein zu sagen. Und es ist nur dieses eine Mal, Juva.«

Letzteres war ein Geständnis, das ihren Ärger dämpfte. Er wusste, dass er sich einen Schnitzer erlaubt hatte. Er lächelte aufmunternd, mit einer großen Lücke dort, wo Vater ihm einmal die Schneidezähne ausgeschlagen hatte. Im Oberkiefer hatte er nur noch die Backenzähne übrig. Und dadurch klang ihr Name aus seinem Mund wie Jufa, wenn er aufgeregt war. Das war entwaffnend, und das nutzte er immer aus, wenn es sich lohnte.

»Er wird es versauen«, murmelte sie.

Broddmar klopfte ihr mit einem pelzigen Wollfäustling auf die Schulter und wandte sich zum Gehen. Sie hielt ihn am Arm fest.

»Dann schuldest du mir was, Broddmar. Ich will mitkommen, wenn du dich nächstes Mal rot anziehst.«

Broddmar linste zu den anderen, doch niemand konnte sie durch den endlosen Redefluss des Neulings hören.

»Nein, du willst nicht mit mir kommen, Juva. Vergiss das auf der Stelle! Lagalune würde mir die Haut abziehen, wenn ich dich mitkommen ließe; und ich bin nicht so blöd, mich mit deiner Mutter anzulegen.«

Als ob sie das interessieren würde.

Juva ließ ihn gehen. Broddmar konnte man nur bis zu einer bestimmten Grenze reizen. Sie vertraute ihm, trotz des Neulings. Wenn sich Broddmar bei ihm sicher war, dann sollte sie das auch sein. Doch die Unruhe wuselte wie Würmer durch ihren Bauch. Das lag nicht daran, dass der Schwachkopf keine Erfahrung hatte, die hatte sie vor ein paar Jahren auch noch nicht besessen. Da war noch etwas anderes; er war nervös. Rastlos. Er schwang die Armbrust an ihren Platz, als wäre sie eigentlich nicht wichtig. Als hätte er es nicht auf Felle und Wolfszähne abgesehen.

Sie wünschte, sie hätte nie gelernt, Leute zu lesen. So was vergaß man nicht mehr. Ob man es wollte oder nicht, man schnappte allein schon durch die Bewegung der Menschen etwas auf. Durch die Worte, mit denen sie sich ausdrückten. Darum kam sie sich wie eine Diebin vor, die ihnen die Gelegenheit stahl, selbst zu zeigen, wer sie waren. Sie wusste schon mehr über den Neuling als er selbst über sich. Sie hoffte nur, sie irrte sich.

Die anderen brachen allmählich auf. Hanuk kickte Schnee ins Feuer, das sich zu Tode zischte. Lok saß in der Hocke, um die Schneeschuhe anzuschnallen. Sein rostrotes Haar reichte ihm bis zum Hintern, wenn er so dasaß. Er nickte zu den Stiefeln des Neulings, der sich noch immer nicht erhoben hatte.

»Hast du keine Angst, mit feuchtem Brand nach Hause zu kommen?«

Juva war erleichtert, dass ihn endlich jemand fragte. Lok konnte ein Großmaul sein, meinte es aber gut, so voller Gefühle, wie er war. Weinte grundlos. Und vermisste seine Kinder nach einem halben Tag. Und sogar er, der vier Mäuler zu füttern hatte, trug geeignetere Schuhe.

Der Neuling zog die Beine an und schaute auf seine Füße. »Was ist mit denen? Waren sauteuer, das kann ich euch sagen. Von Kastor in der Scherengasse, vom besten Schuhmacher in ganz Náklav! Er hat eine Warteliste, aber ich …«

»Daran habe ich keinen Zweifel«, schnitt Lok ihm das Wort ab. »Wir haben zusätzliche Schuhe und Fäustlinge, falls jemand welche braucht.«

»Ja, ich werde das nicht sein, um es mal so auszudrücken; ich habe die besten, die für Geld zu kriegen sind.« Der Neuling schlug Lok auf die Schulter, als teilten sie ein Geheimnis. »Außerdem habe ich das Schicksal auf meiner Seite. Ich war vor knapp drei Tagen bei einer Blutleserin, die hat auch eine Warteliste.«

Juva hielt die Luft an.

Das hatte gerade noch gefehlt …

»Und sie hat gesagt, du kannst nicht erfrieren?«, fragte Lok.

»So gut wie. Sie hat gesagt, ich hätte kaum angefangen zu leben.«

Juva verdrehte die Augen. Wie konnte man nur so leichtgläubig sein? Die Formulierung war eine Absicherung nach allen Seiten, die sie schon tausend Mal gehört hatte. Die Blutleserin hatte nichts weiter gesagt, als dass er jung war. Dass er noch lange zu leben hatte, war seine Schlussfolgerung.

Hanuk brach in schallendes Gelächter aus. »Hört sich nicht wie eine Garantie fürs Altwerden an.«

Der Neuling sprang auf, eindeutig entrüstet, dass jemand an der Vorhersage kratzte, auf die er sich verlassen hatte. Er stotterte sich durch die Fabel, wie und woher die Blutleserinnen ihre Kräfte bekommen hatten, nämlich vom Teufel persönlich, im Wolfspelz. Als ob nicht jedes Kind in Draumheim das »Märchen von den drei Schwestern und dem Wolf« schon mit der Muttermilch aufgesogen hätte.

»Das ist Scheißgeschwätz«, sagte Motte. »Stimmt’s, Juva?«

Juva biss die Zähne zusammen. Broddmar stieß ihm den Ellenbogen in die Seite, sodass Motte zusammenzuckte. Er guckte zu Juva hoch, beschämt über den Versprecher, was traurigerweise so typisch für ihn war. Er war schwerfällig wie ein Berg und einem solchen auch nicht ganz unähnlich.

Der Neuling hatte das mitgekriegt und kam zu ihr, mit Gier im Blick. »Warum fragt er dich? Kennst du Blutleserinnen?«

Juva zeigte auf seine Stiefel. »Du kannst wenigstens was drumschnüren, damit dir kein Schnee reinfällt. Wir drehen nicht um, nur weil du kalte Füße kriegst.«

»Kennst du welche? Bist du mit Blutleserinnen verwandt?« Er ließ sich offensichtlich nicht dazu verleiten, seine Frage zu vergessen.

»Wenn ich Ja sage, schnürst du dir dann Fell um die Schuhe?«

Sie kehrte ihm den Rücken zu, doch er schmuggelte sich vor sie und lehnte sich an den Schlitten. »Antworte! Du bist zu süß, um dich so anzustellen.«

Sie zog am Schlitten, sodass sein Ellenbogen von der Kante rutschte. »Wenn eine Blutleserin dir sagen würde, du sollst dich von der Ulebrücke stürzen, würdest du es tun?«

Der Neuling schwieg, und es dämmerte ihr, dass er tatsächlich darüber nachdenken musste. Juva hatte die Nase mehr als voll und ging rasch in den Wald. Die anderen eilten ihr hinterher.

»Wer ist sie?«, kam es von dem Neuling, ein Stück hinter ihr.

»Juva«, antwortete Broddmar.

»Aber wer ist sie? Wie lautet ihr Familienname?«

»Jäger. Sie ist Juva Jäger.«

»Das soll ein Name für eine Blutleserin sein?« Die Frage endete mit einem Grunzen, weil er stecken blieb.

Juva wartete nicht, sondern marschierte weiter zwischen die verkohlten Bäume, nach denen Svartland benannt worden war. Vor dem weißen Schnee glichen sie Flüssen aus Tinte, und man konnte sich leicht verlaufen. Hier gab es weder Farben noch Leben, und nichts Neues wollte wachsen. Riesige Tannen spannten ihre Äste über sie und sogar deren Nadeln waren schwarz. Einige hart wie Stein, andere fein wie Staub.

Eine Strafe der Götter, sagte man sich auf dem Land. Als Regel für alles, was in Náklav passierte. Sündige Städter, sündiges Geld, und in gewisser Hinsicht hatten sie recht. Münzen hatten in der Hauptstadt schon längst den Platz der Götter übernommen.

Juva suchte beim Gehen blinzelnd nach Spuren im Schnee. Die Dunkelzeit neigte sich allmählich dem Ende zu, doch das Licht war nach wie vor spärlich. Der Vorteil war, dass fast alle Spuren, die man sah, von Wölfen stammten. Nur wenige Tiere verirrten sich in die toten, nahrungsarmen Wälder von Draumheim. Wölfe waren die Ausnahme. Sie konnten enorme Strecken zurücklegen und die schmalste Stelle der Todeswälder an einem Tag durchqueren.

Sie blieb stehen. Horchte. Sicher, dass sie etwas gehört hatte; doch das einzige Geräusch, das sie hörte, war das Knirschen der Schneeschuhe und der Kufen vom Schlitten, den Broddmar hinter sich herzog.

Da war es wieder. Die Unruhe in der Brust, als würde ihr jemand aufs Herz pusten.

»Was macht sie?«, fragte der Neuling.

Er wurde wortlos zum Schweigen ermahnt.

Juva ging weiter. Langsam und suchender. Die Spuren tauchten unmittelbar vor ihr auf. Ein junger Wolf. Allein. Sie hob die Hand und gab den anderen hinter sich das Zeichen.

»Was ist los? Was meint sie damit?«

»Sie sagt, da ist ein Streifwolf, ein einsamer Wolf.«

»Woher weiß sie, wa…?«

»Sie hat einen Sinn für sie, halt’s Maul jetzt.«

Wenn er noch ein Wort sagt, ersticke ich ihn im Schnee.

Juva schnürte die Schneeschuhe ab und legte sie in den Schlitten. Die anderen taten es ihr nach und hielten sich bereit. Sie nahm die Armbrust vom Rücken, stellte den Fuß in den Bügel und zog die Sehne zu sich, bis sie an ihren Platz klickte. Dann verfolgte sie die Spur bis zu einem Abhang und gab das Zeichen, dass die anderen sich aufteilen sollten.

Zwischen den Bäumen vor ihr lag eine Senke. Der Schnee wölbte sich in großen Verwehungen das Gefälle hinab, wie Wellen auf weißer See. Sie schlich nach Süden, sich sicher, dass Lok und Nolan ihr folgten. Broddmar hatte die anderen nach Norden geführt.

Sie ging auf alle viere und kroch zum Abhang. Der Wolf war bei einem schneeschweren Berg unten in der Senke stehen geblieben, als spürte er, dass er vor dem grauen Gestein schwerer auszumachen war. Er spitzte die Ohren und der gelbe Blick wanderte auf Broddmars Seite der Senke die Baumreihe entlang. Juva robbte weiter vor. Sie hätten keine erfolgreichen Aussichten, wenn sie ihn nicht einkreisen konnten.

Ein leises Knacken brach die Stille. Eine Armbrust, die gespannt wurde.

Verdammt! Der Neuling!

Der Wolf rannte los, in die falsche Richtung.

»Motte!« Juva rief, während sie auf dem Rücken den Abhang nach unten rutschte.

Motte mit dem Langbogen war der Einzige, der in der Lage war, auf diese Entfernung zu treffen. Sie konnte den Pfeil erst kommen sehen, als er sich schon in den Wolf bohrte, der auf die Seite geworfen wurde. Seine Pfoten liefen im Liegen noch weiter, aus reiner Verleugnung.

Der Neuling jubelte und kam den Abhang hinuntergelaufen. Er stolperte, segelte ein Stück im Schnee, rappelte sich wieder auf und näherte sich der Beute.

»Warte!« Juva streckte unwillkürlich den Arm aus, obwohl sie viel zu weit entfernt war, um ihn aufzuhalten. Der Neuling sah und hörte sie nicht, blind vor Blutnebel. Er kniete vor dem sterbenden Tier. Verzweiflung wallte in Juva hoch.

»Er beißt dich!«

Der Neuling hörte nicht. Wenn sie noch einen Schuss auf den Wolf abgab, lief sie Gefahr, stattdessen den Schwachkopf zu treffen.

Juva warf die Armbrust weg und rannte auf ihn zu. Jeder Schritt musste aus dem Schnee erkämpft werden. Der Neuling fasste den Pfeil an, der aus dem Fell ragte.

Juva rief beim Laufen: »Weg da!«

Der Wolf schnellte mit dem Oberkörper hoch, schnappte zu und schlug seine Zähne in den Unterschenkel des Neulings, dass es knackte. Dieser fiel nach hinten in den Schnee, schrie und trat um sich. Juva erwischte seine Kapuze, um ihn wegzuziehen. Er fuchtelte mit den Armen und klammerte sich an ihr Bein. Sie verlor den Halt, fiel auf den Rücken, in ein Schneegestöber und starrte in ein schäumendes Wolfsmaul. Eisnebel und Reißzähne. Weiße, scharfe Messer.

Sie starrte sie an. Erinnerte sich an sie. Sie hatte ein Leben lang gebraucht, um sie zu vergessen.

Der Wolf knurrte, ein Urlaut, der ihren Körper lähmte. Sie wusste, sie musste handeln, war aber nicht in der Lage, sich zu bewegen. Das hier war ihre Schuld. Sie hatte dafür gesorgt, dass das hier geschah. Ihre eigenen Worte über den Neuling schossen ihr durch den Kopf.

Er wird es versauen.

Er beißt dich.

Das Wolfsmaul kam auf sie zu. Sie hörte mehrere Rufe und plötzlich erwachten ihre Arme. Sie zog einen Bolzen aus dem Schenkelgurt und rammte ihn mit beiden Händen in den Wolfsbauch. Für einen Augenblick stand alles still. Der Wolf zitterte. Die grauen Fäustlinge tranken Blut, wurden satt vom Rot.

Es wird tropfen!

Sie warf den Kopf zur Seite. Die Tropfen regneten ihr auf die Wange, und sie wischte sich das Gesicht fieberhaft am Ärmel ab, damit ihr kein Blut in den Mund lief. Durch die Bewegung gaben ihre Arme nach und der Wolf sackte auf ihr zusammen. Schwer und warm. Seine Schnauze war feucht an ihrem Hals und er schnaufte stoßartig. Das Tierherz schlug mit ihrem, ein Wettlauf ums Leben. Langsamer und immer langsamer. Bis nur noch ihres übrig war.

Sie hörte den Schlitten. Die Kufen, die rasend schnell durch den Schnee schnitten. Mottes Gesicht tauchte auf, kräftig und mit großen Augen. Er hob den Wolf von ihr herunter und zog sie mit seinen keulengroßen Händen auf die Füße. Sie spürte, dass Tränen drückten. Dann kam die Angst, viel zu spät, jetzt, da alles vorbei war. Sie rang nach Atem, meinte zu schluchzen, merkte aber, dass es von jemand anderem kam. Vom Neuling.

Broddmar versuchte, dessen blutgetränktes Hosenbein hochzuschieben, doch der Bursche heulte und schleppte sich rückwärts, hinterließ eine knöchelbreite Blutspur im Schnee.

»Wir müssen umkehren«, sagte Broddmar.

Juva starrte den Neuling an. Sie hatte es knacken gehört, als er gebissen wurde, und jetzt wollte er nicht, dass jemand die Verletzung sah? Plötzlich wusste sie, warum er keine passenden Schuhe trug.

Verfluchter Schwachkopf! Soll er doch verrotten!

Sie stürmte vor und setzte sich rittlings auf sein Bein, kümmerte sich nicht um den Widerstand, als sie ihn festhielt und sein Hosenbein hochzog. Die Socken waren zerrissen und klafften um einen bogenförmigen Riss, der stark blutete. In der Wunde funkelte etwas. Glasscherben, von einem Kolben, den er über dem Knöchel festgeschnürt hatte, versteckt in den weiten Stiefeln.

Ein Wutsturm tobte in Juva. Sie riss den Riemen ab und hielt ihn dem Neuling unter die Nase, packte ihn am Unterkiefer und zwang ihn hinzuschauen. Er hob die Arme, um sich zu schützen. »Das ist für Branntwein! Roggenschnaps! Nehmt sie von mir. Die Schlampe ist nicht mehr ganz dicht!«

Juva warf den Riemen weg und trat ihm gegen die Brust. »Was in Gaulas Namen denkst du dir dabei? Glaubst du, du lebst ewig, oder was? Wenn du genug davon trinkst? Oder ist es bloß der Rausch? Wo auf der Rangliste für Schwachköpfe stehst du?«

Broddmar zog sie weg. »Du hattest recht, Juva, lass es jetzt auf sich beruhen.«

Angst und Wut schüttelten ihren Körper. »Da scheiß ich drauf! Lass ihn da bis in alle Ewigkeit ruhen! Seinetwegen hätten wir tot sein können! Er ist ein beschissener Bluthändler!«

Kurz fürchtete sie, die anderen würden ihm glauben und ihn nicht sehen wie sie. Nicht seine Unruhe und komische Freundschaftlichkeit lesen. Wie er die Füße angezogen hatte, als sie ihn auf die Stiefel angesprochen hatten, als ob er sie instinktiv verstecken wollte. Normale Leute hatten Glück, sie wuchsen in Familien auf, in denen man nicht lernte, auf so etwas zu achten.

Aber der Kolben ließ keinen Zweifel zu. Die anderen versammelten sich um den Neuling. Der höfliche und diplomatische Nolan, mit einem ungewohnten Zug von Verachtung im Mundwinkel. Hanuk, der Sonnenstrahl aus der Eiswüste in Aure, jetzt aber ohne Lachgrübchen. Dem rothaarigen Lok war fast zum Weinen, verständlich. Aber am schlimmsten nahm es Motte mit. Der große, gutmütige Motte. Er ließ den Kopf hängen und sein Unterbiss war auffälliger als sonst, unter der Kapuze am mottenzerfressenen Umhang, von dem er seinen Spitznamen hatte. Er starrte den Neuling mit einer Enttäuschung an, die eindeutig verstärkt wurde dadurch, dass er ihn mitgenommen hatte.

Broddmar ging neben dem Neuling in die Hocke, dem der Schweiß ausgebrochen war, obwohl er im Schnee lag.

»Du hättest uns mit diesem Dreck die Erlaubnis kosten können. So was machen wir nicht. Das Blut ist für die Steine und nur für die Steine. Das Einzige, was du von hier mitnehmen wirst, ist ein Riss im Bein. Kapiert? Sei froh, dass der Kolben leer war, sonst hätte ich dafür gesorgt, dass sich die Ringgarde um dich kümmert.«

Der Neuling schluckte.

Juva war außerstande, sich zu beruhigen. Angst flimmerte in ihrer Brust und sie stand unsicher.

Reißdorn. Ich brauche Reißdorn.

Ihre Hand fand die Gürteltasche, doch sie zögerte, wollte nicht, dass die anderen sie mit der Panik kämpfen sahen. Hanuk kam zu ihr und setzte seine Kapuze ab. Die schwarzen Haare klebten ihm links und rechts am Gesicht, wie Flügel einer toten Krähe. Er trug ihre Armbrust.

»Die ist unter die Kufen gekommen«, sagte er und hakte sie an ihrem Platz in Juvas Rückengurt fest. Hanuk holte die Gruppe immer aus schlechter Stimmung heraus, und es half zu sehen, dass er wieder seine Grübchen hatte. »Das wäre fast ins Auge gegangen, Juva! Aber alle leben, und wir können einen Wolf entleeren, dank deiner Geistesgegenwart. Geh und zieh dir frische Fäustlinge an.«

Der einfache Befehl gab ihr wieder sicheren Boden unter den Füßen, was zweifellos auch der Sinn war. Sie zog die blutigen Fäustlinge aus und warf sie weg. Nie wieder würden sie zu gebrauchen sein. Sie wusch sich die Hände im Schnee, bohrte die Finger tief hinein, für den Fall, dass ihr Blut unter die Nägel gelaufen war. Sie waren abgekaut, aber trotzdem … Im Schlitten fand sie ein Ersatzpaar Fäustlinge, streifte sie über, dankbar für die Wärme. Sie nahm auch den Strick heraus und machte sich daran, die Hinterbeine des Wolfes zusammenzubinden, während die anderen besprachen, wie sie den Neuling auf den Schlitten verfrachten könnten.

Ihr Körper beruhigte sich bei der Arbeit. Broddmar half ihr, den Kadaver die Schräge bis zum nächsten Baum hochzuziehen. Sie klopfte einen der verkohlten Äste ab, der kräftig genug zu sein schien. Keiner von der brüchigen Sorte, die als Brennmaterial verwendet wurden. Bei Leichenholz konnte man nie sicher sein.

Juva warf den Strick über einen Ast, und Broddmar zog den Wolf an den Pfoten hoch, bis er über dem Boden baumelte. Beide sagten keinen Ton. Sie hatten das schon so oft gemacht, dass jedes Wort überflüssig war.

Broddmar nahm eine lederne Blutflasche aus dem Rucksack und gab sie Juva. Ein vertrautes Gewicht in ihrer Hand. Schwerer als ein üblicher Wasserbeutel, weil sie größer war, gegen ein mögliches Leck einen Doppelsack und einen Stopfen hatte, der mit Stahlbügeln und Schließklemmen gesichert war. Außerdem war auf der einen Seite des schwarzen Leders Náklavs Stadtsiegel und auf der anderen das der Ringgarde eingeprägt. Wasser war nie so viel Aufwand wert gewesen.

Juva zog den Stopfen heraus und wappnete sich gegen den Gestank von verfaultem Rotklee. Eine ekelige Mixtur, doch ohne sie würde das Blut gerinnen. Sie hielt die Lederflasche ruhig an den Hals des Wolfes, fand die vielversprechendsten Adern und rammte mit der Faust die messerscharfe Tülle hinein.

Die Blutflasche schwoll langsam zwischen ihren Händen an. Sie füllten drei Flaschen, bis das Tier ausgeblutet war; und in der Zwischenzeit hatten die anderen den Neuling den Hang hinaufbugsiert. Broddmar trug die Blutflaschen weg und verschloss sie in der Kiste an der Seite des Schlittens. Der Neuling bekam nicht einmal mit, was unter ihm verstaut wurde, er war mehr als reichlich durch Motte abgelenkt, der ihm Glassplitter aus dem Unterschenkel zog.

Juva wünschte ihm, dass es saumäßig wehtat. Und zwar so sehr, dass er für den Rest seines Lebens einen ganz großen Bogen um sie alle machte. Sie fierte den Wolf ab und zog das Schindermesser aus dem Gürtel. Dann kam die Schwermut. Die Trauer, ein Leben verebben zu sehen und gleichzeitig zu wissen, dass es sein musste, um sich sicher fühlen zu können.

Sie schob die Hand in den Kettenhandschuh. Schnell hatte man sich geschnitten, denn die Haut war zart und die Zeit knapp. Sie umschloss den kleinen Messerknauf mit der Hand und ließ den Stahl sich unter dem Fell voranfressen. Anschließend brach sie die Zähne aus dem Wolfsmaul. Das Geräusch quälte sie nicht mehr, nicht wie beim ersten Mal. Sie wischte sie ab, wickelte sie in einen Lappen und verstaute sie in ihrer Tasche. Broddmar kam zurück und tauchte den rosa Kadaver in Öl. Dann zündete sie ihn an.

Flammen in Svartland waren nicht wie in der Stadt. Hier draußen wirkten sie immer so stark, waren das Einzige, was Farbe hatte, so weit das Auge reichte. Tieforange und lebendig, vor schwarzem und totem Wald. Die Flammen fraßen sich über den Schlachtkörper, trugen den Gestank und das Leben mit hinauf zwischen die Bäume. Endlich hörte der Puls auf, in ihren Ohren zu pochen.

Sie hatte ihn verbrannt. Den Wolf verbrannt.

Broddmar hatte einmal gesagt, sie sei die widerwilligste Jägerin, die ihm je begegnet war, und er nahm an, das habe mit Vaters Tod zu tun. Aber das es mit tausend Dingen zu tun: mit Vater, Mutter, Blutlesen, Albträumen, Herzschlägen.

Sie tötete Wölfe nicht für Geld und keinesfalls wegen der Freude am Jagen. Sie tötete, weil sie musste. Weil die Welt aus den Fugen gehen würde, wenn sie damit aufhörte.

Blutgeschmack

Ein scharfer Schmerz im Kiefer riss Rugen aus dem Schlummer. Hatte ihn jemand geschlagen? Ihn beim Rauschausschlafen überfallen? Er tastete nach dem Geldbeutel. Der war noch da, wenn auch schmaler.

Er machte widerwillig die Augen auf. Leute, Männer wie Frauen, pennten vor ihm auf der Schlafbank. Ineinander verflochten wie ein Knäuel Welpen. Fremde Menschen, von denen er nur eine vage Wahrnehmung hatte, dass er vor nicht allzu langer Zeit deren bester Freund gewesen war. Jetzt war ihm bei dem Gedanken unwohl.

Er versuchte die Hand zu heben, die bewegte sich aber nicht. Verflucht noch mal, war er gelähmt? Er guckte auf den behaarten Arm, der auf seinem Bauch lag, und stellte fest, dass es nicht seiner war, sondern er dem Mann gehörte, der dicht neben ihm schnarchte. Rugen stöhnte und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Wo zum Henker hatte er sich nur rumgetrieben?

Er robbte weg. Der Fremde rollte auf den Rücken, ohne aufzuwachen, und gab den Blick frei auf eine kleine Tasche am Gürtel. In der konnte ein nettes Sümmchen Geld stecken … Nein, er fühlte sich zu elend. Außerdem erinnerte er sich, dass er den Burschen gemocht hatte. Ein erfolgloser Bierbrauer aus Grimse, der schlecht Norran sprach und kürzlich mit dem Schiff hier eingetroffen war. Niemand, der auf dem Seeweg nach Náklav kam, hatte viel Geld in der Tasche.

Ein neuer schmerzhafter Stoß. Es zog in den Backenzähnen, bis oben in den Kopf. Was zur Wolfsfotze war das? Zum letzten Mal hatte er Branntwein getrunken und gleichzeitig … Er musste auf die Beine kommen. Von hier verduften.

Rugen quälte sich hoch und knetete sich das Kreuz. Die dünnen Bankkissen hätten sie sich auch sparen können. Die Kerzen auf dem Tisch waren zu einer unförmigen Masse mit ertrunkenen Dochten verschmolzen. Eine einfache Schenke, in Ordnung; aber war es zu viel verlangt, dass sie die Kerzen austauschten?

Die Luft war stickig. Er guckte zum Fenster, ehe ihm einfiel, dass es falsch war. Die Schenke befand sich in einem Keller, die Wand war also mit Sprossen verziert und bemalt, damit sie aussah, als hätte sie Scheiben. Wenn er frische Luft schnappen wollte, musste er nach draußen gehen.

Er riss seine Jacke unter dem Grimsländer weg, warf sie sich über und lauschte an der Tür. Der Lärmpegel dahinter ließ vermuten, dass der Abend seinen Höhepunkt erreicht hatte. Jubel, Trubel, Heiterkeit und das unverkennbare Schaben von Stühlen und Tischen, die Betrunkenen plötzlich im Weg standen.

Rugen zog die Kapuze über den Kopf, öffnete die Tür und schlüpfte mit gekrümmtem Rücken nach draußen, für den Fall, dass dort jemand mit ihm noch eine Rechnung offen haben sollte. Ihm kamen saurer Tabaksnebel und Männer entgegen, die wie auf einem Schiffsdeck schwankten. Er hatte den Eindruck, dass es ihm ähnlich ging. Was hatte er hier verloren? Er, der für die Reichsten gearbeitet, mit den Vornehmsten getrunken und die Frauen der Mächtigsten gevögelt hatte. Eine von ihnen von hinten, noch mit Schuhen an den Füßen, und anschließend hatte sie ihm ihren mit Perlen eingefassten Kissenbezug geschenkt, damit er sie in Erinnerung behielt. Er hatte ihn noch am gleichen Tag verkauft.

Bei dieser Erinnerung musste er grinsen und abermals kam der Stoß. Ein heftiger Schmerz, bei dem er sich an den Kiefer fasste. Ein paar Kerle schauten zu ihm herüber. Das hier war nicht der richtige Ort, um krank zu werden. Er musste hoch zum Steinring, in den zivilisierten Teil der Stadt.

Rugen gelangte ins Freie und die Treppe hinauf in die dunkle Gasse. Sie war eng, sogar für Náklaver Verhältnisse. Er kannte Kaufmänner, die hier stecken geblieben wären. Die Gasse mündete in die Segelfahrt, eine Straße, die die seltsame Eigenschaft hatte, die Kälte vom Meer einzuschleusen. Das Eis funkelte zwischen den Pflastersteinen und es war bitterkalt. Immer kalt. Und dunkel. Er zog die Jackenärmel über die Finger und verfluchte die Steintore. Wären die nicht da, würde zum Henker niemand hier wohnen. Aber die Götter mussten einen verdorbenen Humor gehabt haben, denn in Náklav lebten Hunderttausende. Eine unglaubliche Hauptstadt. Die geschäftigste Stadt der Welt, so hoch im Norden, dass Männern schon der Pinsel abfror, bevor sie ihn überhaupt eintunken konnten.

Er machte den Mund auf, um die Steifheit aus dem Kiefer zu dehnen, spuckte aus und schmeckte Blut.

Kälte kroch in seine Brust. Das hier war kein normaler Kater, jedenfalls keiner, wie er sie früher erlebt hatte. Er musste rauskriegen, was ablief, einen Spiegel finden. Die Schenke, aus der er gerade gestolpert war, hatte so etwas nicht, er musste hoch in die Stadt, in die Salons. Er massierte sich den Kiefer mit dem Daumen. Er tat weh, aber die Schmerzen waren nicht ununterbrochen da. Das Schlimmste war die Angst vor dem nächsten Stoß.

Er überquerte die Ulebrücke, ohne von der Meeresbrise weggefegt zu werden, und bog links in den Nachtkerzendeckel ein, eine Straße, die unter einem gewölbten Dach verlief und in der mit Leichenholz brennende Laternen hingen. Dieses Licht hatte ihm noch nie gefallen. Leichenholz brannte ohne Flammen, mit einer grässlichen Glut, bei der er das Gefühl hatte, Geister zu sehen.

Er blieb vor einem Laden mit Sprossenschaufenster stehen, das sich aus der Wand wölbte. Er beugte sich zum welligen Spiegelbild seines Gesichts vor. Ein Gerippe grinste ihn an. Er zuckte zusammen, doch es war nur die Zeichnung auf einer Karte. Davon hingen mehrere im Fenster, das sah er jetzt. Schicksalskarten, wie sie die Blutleserinnen benutzten.

Er hatte im letzten Jahr etwas mit einer von ihnen gehabt. Oder war es im vorletzten Jahr gewesen? Ein herrlich molliges Mädchen, die auf ihm immer wie ein Alb ritt. Er hatte sich Geld aus ihrer Schublade geliehen und seitdem einen großen Bogen um sie gemacht. Ehrlich gesagt hatte er davon das Zittern gekriegt, und es nagte noch immer ein bisschen an ihm. War das der Grund für seine Schmerzen? Hatte sie ihn mit einem Fluch oder so was belegt? Rugen schluckte und starrte auf die Todeskarte. War das hier ein Zeichen?

Verfluchter Unsinn!

Das Ladenschild über ihm kreischte am schmiedeeisernen Haken, schaukelte in einem Windstoß. Er hastete weiter, hoch zum Marktplatz, wo eine mit Raureif bedeckte Statue eines verstorbenen Stadtrats über die Häuser ringsum wachte. Licht brannte hinter bunten Glasfenstern in einer Reihe von Vorbauten, die so weit über die Straße ragten, wie die Gesetze es erlaubten, und noch ein bisschen darüber hinaus.

Er hörte klimpernde Harfenmusik aus Florians Salon und ging dem Klang nach durch einen Bogengang, bis er den Salon sah. Er gehörte zu den Orten, vor deren Türen ein Mann stand. Fiffen glaubte, er sei da, um die Türen zu öffnen; alle anderen wussten, dass er dort war, um auszusieben, wer überhaupt durch sie hineingelassen werden durfte.

Rugen zögerte. Vor ein paar Jahren hatte er dort gearbeitet, musste aber zugeben, dass er jetzt nicht gerade in Höchstform war. Und er hatte drinnen niemanden mehr, auf den er sich berufen konnte. Doch der Kiefer pochte vor Schmerzen, er musste zum Henker rauskriegen, was los war.

Er fuhr sich durchs Haar, versuchte so auszusehen, als gehöre er hier dazu. Dann ging er schnurstracks los, ohne den Wachmann eines Blickes zu würdigen. Die meisten Versager machten den Fehler, zu lächeln und freundlich zu sein. Genauso gut hätten sie sich ein Schild um den Hals hängen können, auf dem stand, dass sie vorher noch nie da gewesen waren. Die richtige Eintrittskarte war eine Aura von Arroganz.

Die Tür öffnete sich für ihn und er setzte seinen Weg in die Eingangshalle fort. Der Kontrast zur Schenke, in der er aufgewacht war, hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund. Die Wände waren in goldene Paneele unterteilt, geschmückt mit Malereien von Fischen, die nur in der Fantasie existierten. Protzige Glastüren standen zum Salon hin offen. Er konnte die gewölbte Decke dort drinnen erahnen. Seegrünes Glas in schmiedeeisernen Rahmen, durch die das gesamte Gebäude aussah wie im Meer versunken. Den Preis konnte er sich noch nicht einmal vorstellen.

Die dort sitzenden Menschen gehörten zu jenen, die sich nie Gedanken darüber zu machen brauchten, ob sie dorthin gehörten. Sie spielten sich wie Großkotze auf in ihren bestickten Westen, steifen Winterröcken, mit Nadeln und Haarschmuck, von dem er schwören konnte, dass er aus toten Käfern angefertigt worden war. Geschmeide funkelte im Schein von tausend brennenden Kerzen und Gläser klirrten. Hier sollte sein Platz sein. Er wusste von allen am besten, wie man das Leben genoss. Der Wohlstand war an diese scheißlangweiligen Menschen völlig verschwendet.

Der Bursche, neben dem er aufgewacht war, war wochenlang auf dem Schiff von Grimse verrottet. Niemand hier im Saal würde auch nur zwei Tage auf einem Schiff überleben. Aber das brauchten sie auch nicht, natürlich nicht. Sie bezahlten die Gebühr für die Steintore im Náklaring, ohne mit der Wimper zu zucken, und brauchten nie Zeit mit einer Reise vom einen Ende der Welt zum anderen zu verplempern. Die Zeit der Reichen war heilig. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie herkamen, in der geheimen Hoffnung auf mehr Zeit?

Rugen schmeckte Blut. Er schlich ins Bad.

Sie hatten seit seinem letzten Besuch einiges auf den neuesten Stand gebracht. Kupferrohre verliefen unter der Decke, die blau schimmernden Wände hinunter in ein silbernes Waschbecken. Keine Pumpe, sondern Hähne für warmes und kaltes Wasser. Verdammt, wenn er doch nur einen Bruchteil all dieser Gelder hätte …

Über dem Waschbecken hing ein Spiegel an der Wand. Rugen betrachtete sich in Silber eingerahmt und musste erkennen, dass er pures Glück gehabt hatte, dass er hier hineingeschlüpft war. Er sah aus, als hätte er schon mehrere Nächte kein Auge mehr zugemacht. Die braunen Locken, von denen er sich ziemlich sicher war, dass sie der Schlüssel zu den Damen waren, klebten platt auf seiner verschwitzten Kopfhaut. Daran musste der Übergang von der eiskalten Straße in die Wärme hier drinnen schuld sein.

Rugen beugte sich zum Spiegel vor und machte den Mund auf, ohne zu wissen, wonach er suchte. Er befühlte die Zähne mit der Zunge. Was war er nur für ein Schwachkopf. Nichts war faul, er hatte nur einen Kater.

Die Überzeugung zerbröckelte unter einem neuen Schmerzensstoß. Der pochte jetzt wie ein Puls und wollte nicht aufhören.

Scheiß Gaula, ganz tief in der Dränke!

Er schlug mit der Faust auf die Wand ein, der Schmerz hörte aber nicht auf. Er spuckte Blut ins Waschbecken. Roter Regen in der Silberschale. Eine Gewissheit stellte sich ein und bescherte ihm Zittern. Brechreiz. Er neigte den Kopf schräg und machte den Mund wieder auf, ruckelte mit den Fingern an einem Zahn. War der ein bisschen locker? Bei der Fotze der heiligen Jól, der war locker! Panik durchflutete seinen Körper und nahm ihm den Atem, schnürte ihm die Kehle zu, sodass er keinen Ton herausbekam.

Warum? Warum passierte das hier? Hatte er zu viel genommen? Nein, er hatte es nie übertrieben, zumindest nicht genug, um …

Sein Gedankenfluss wurde von einem tiefen Dröhnen in der Ferne unterbrochen. Das Totenhorn … Der Ton breitete sich wie Eiseskälte in seiner Brust aus. Gnadenlos. Zerstörerisch. Eine unheimliche Warnung, wie echt sein Problem werden konnte.

Rugen lehnte die Stirn an den Spiegel, starrte auf seine Knöchel, die auf dem Rand des Waschbeckens weiß anliefen. Er träumte. Das hier war ein Albtraum, er war noch nicht aus der Kellerschenke nach oben gekommen. Das hier passierte nicht. Er schlug mit der Faust gegen den Spiegel und hörte, wie er zersprang.

Die Harfenmusik aus dem Salon klang verzerrt, ein Geklimper in einer Halluzination. Neben dem Waschbecken stand ein geöffnetes Ei aus Perlmutt, darin drei Parfümfläschchen. Parfüm … so etwas vollkommen Absurdes! Der unnützeste Nippes, den er sich jetzt vorstellen konnte.

Der Raum geriet ins Schwanken. Er hielt sich mit den Händen am zerschlagenen Spiegel fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er zog einen Splitter heraus, lang und scharf wie ein Messer. Er drückte den Splitter auf sein Handgelenk. Zögerte, zitterte.

Schneide! Tu’s!

Aber er wusste, dass er nicht den Mumm hatte, es zu tun. Die Welt konnte morgen schon wieder ganz anders aussehen. Vielleicht hatte er schlechte Ware gekriegt und bildete sich jetzt alles nur ein. Bloß ein mieser Rausch. Er ließ die Scherbe fallen. Sie klirrte ins Waschbecken und nahm rotes Erbrochenes mit hinunter.

Er brauchte Hilfe.

Aber mit dieser Sache konnte er nicht zu neuen Freunden gehen, und von den alten waren ihm kaum noch welche geblieben. Die Liste war viel zu kurz. Er hörte sich selbst lachen. Von seinem Atem beschlug der Spiegel, und es war eine Erleichterung, dass er sich in den Bruchstücken nicht sehen musste.

Der einzige nützliche Name auf der Liste war vielleicht noch furchteinflößender als das Problem. Was zum Henker sollte er also machen?

Denk nach! Alle haben ab und zu mal Zahnschmerzen.

Er atmete ganz tief durch. Er würde abwarten und hoffen, dass es etwas anderes war, so würde er das machen. Zahnschmerzen waren kein Grund, zum Berserker zu werden, es gab weitaus offenkundigere Dinge zu fürchten. Draußen von Knokle her brummte das Totenhorn seine Bestätigung.

Náklav

Juva hätte zusammenbrechen und im Schnee einschlafen mögen, als sie endlich an der Küste angekommen waren, wo sich Náklav aus dem Meer erhob. Sogar zu dieser Tageszeit glitzerten die Lichter im Blaudunkel. Hunderttausende, auf der riesigen Insel eingepfercht. Zwei Inseln waren es eigentlich, aber die kleine lag so dicht neben der großen, als wären sie einmal eine gewesen. Überbevölkert waren sie trotzdem alle beide. Náklav war so randvoll, dass man kaum sehen konnte, wo die Gebäude aufhörten und die Klippen anfingen. Die Leute sagten den Besuchern immer aus Jux, dass die äußersten Häuser oft abrutschten.

Sie waren die halbe Nacht stramm marschiert, um den Neuling ans Ziel zu bringen, bevor Dreck in die Wunde kam. Er hatte ein Viertelfässchen Roggenschnaps bekommen und in dem Schlitten geschnarcht, den Broddmar und Motte zwischen sich zogen. Das Wolfsfell lag aufgerollt hinten auf Juvas Rucksack, weil sich der Neuling über den Gestank beschwert hatte.

Juva verstand ihn nur zu gut. Jedes Mal, wenn der Wind über das Fell fegte, roch es stark nach Blut und löste bei ihr das Gefühl aus, als würde sie noch unter dem haarigen Wolfskörper liegen. Davon flimmerte das Herz in ihrer Brust. Sie war jetzt schon ein paar Wochen ohne Reißdorn ausgekommen, doch diese Jagd hatte ihr zu viel abverlangt. hatte die Furcht geweckt, die schon immer in ihr geschlummert hatte.

Sie erstickte sie, indem sie an die Flammen dachte, als sie durch Naar gingen. Das Dorf endete am Fuß der Brücke hinüber nach Náklav. Sie trennten sich, bevor sie das Brückentor erreichten, weil Lok hier wohnte. Hanuk auch, aber er sollte sich um den Schlitten kümmern, darum musste er mit ihnen kommen, bis sie den Neuling abgeliefert hatten.

Das Naar-Tor war eher ein Festungsturm als ein Tor, schwer und schwarz, mit Schnee auf der Wetterseite. Broddmar zeigte den Jagdschein dem einen Torwächter, der ins Innere verschwand und in Begleitung eines Wachhabenden, eines vollkommen humorlosen Vertreters der Ringgarde, wieder auftauchte, der sich die Augen rieb und aussah, als hätte man ihn geweckt. Er zog wie immer den Karren.

Broddmar schloss die Kiste im Schlitten auf und hob die drei schwarzen Blutflaschen auf den Karren. Der grinsende Mann unterschrieb ein Papier, wobei er die Jagdgruppe mit anmaßender Miene musterte. Juva war übermüdet und hätte ihm am liebsten gesagt, dass er es sich schenken konnte, so zu tun, als hätte er alles unter Kontrolle. Er würde das Blut in eine Truhe einschließen, und anschließend würde es umgehend zum Náklaring befördert, ohne Halt auf der Strecke, aber dennoch würde etwas davon auf Abwege geraten und Leben kosten.

Aber sie hielt den Mund. Nicht nur, weil man ein Schwachkopf war, wenn man die Schwarzröcke mit Ringsiegel auf der Brust reizte, sondern auch, weil das Papier, das er in der Hand hielt, ihnen die Bezahlung sicherte.