Carl Friedrich von Weizsäcker / Gopi Krishna

Yoga und die Evolution des Bewusstseins

Mit freundlicher Genehmigung des O.W. Barth Verlages.

© 2010 Crotona Verlag GmbH

Kammer 11 • D-83123 Amerang

www.crotona.de

© der Werke von Carl Friedrich von Weizsäcker

C.F. v. Weizsäcker-Stiftung, 32130 Enger

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

Inhalt

Teil 1 • Carl Friedrich von Weizsäcker

1 • Über Gopi Krishna

2 • Religion als Problem und Wissenschaft als Problem

3 • Gopi Krishnas Erfahrung

4 • Der biologisch-medizinische Aspekt

5 • Genie und Wahnsinn

6 • Was ist Evolution?

7 • Physik und Zeit

8 • Das Eine

9 • Christentum und Geschichte

10 • Die Zukunft unserer Welt

Teil 2 • Gopi Krishna

Vorwort

1 • Geistiger Verfall der Religionen

2 • Der Irrtum der Wissenschaft

3 • Entwicklung als Antwort

4 • Methode der Entwicklung

5 • Göttliche Möglichkeiten im Menschen

TEIL 1

Carl Friedrich von

Weizsäcker

1 • Über Gopi Krishna

Den Anstoß, gerade zu diesem Buch eine ausführliche Einleitung zu schreiben, gab mir die Erfahrung der persönlichen Bekanntschaft mit seinem Verfasser.

Als mir zum Anfang des Jahres 1968 durch deutsche Vermittlung der Besuch des mir bis dahin völlig unbekannten Pandit Gopi Krishna aus Srinagar in Kaschmir angekündigt wurde, war ich nahe daran, mich mit Zeitmangel zu entschuldigen. Die grundlegende Wichtigkeit der asiatischen meditativen und philosophischen Tradition war mir seit meinen Studentenjahren voll bewusst. Ich fühlte mich ihr sehr nahe, aber ich habe lange gewartet, ehe ich mich auf sie einließ. Für die meisten von uns, die wir in die westliche Kultur hineingeboren sind, schien mir zu gelten, dass wir dem inneren Gesetz dieser eigenen Kultur so weit folgen sollten, bis eben diese unsere Entwicklung selbst uns zu Partnern der östlichen Kultur machen würde. Die heutige Überschwemmung westlicher Länder mit Heilsliteratur, reisenden Yoga-Meistern und ihren meist unvollkommen nachgeahmten Praktiken scheint mir eher eine Verzweiflungsreaktion in unserer eigenen Bewusstseinskrise, die falsche Antwort auf eine richtige Frage.

Zum Glück überwand ich meinen Widerstand. Als dann der angekündigte Gast mein Zimmer betrat, empfand ich im Bruchteil einer Sekunde: Dieser Mann ist echt. Ein bescheiden und sicher auftretender Mann, dem man seine fast siebzig Jahre nicht ansieht, dem Partner ruhig ins Auge blickend, in der heimischen Kleidung des Brahmanen aus Kaschmir (jener hellhäutigen Gesellschaftsgruppe, der auch die Familie Nehrus entstammt), präzise Fragen präzise und manchmal überraschend beantwortend, in einem oft lächelnd vorgebrachten tiefen und humanen Ernst – seine Gegenwart tat mir wohl, und die Spur dieser einfachen und guten Ausstrahlung blieb wohl einen Monat lang fühlbar in mir. Ich bekam und las dann sein erstes Buch »Kundalini«, das eine Schilderung seines Lebens ist. Aus dem Gespräch und dem Buch erfuhr ich, dass er fast sein ganzes Leben im heimatlichen Kaschmir verbracht hat. Er war jahrzehntelang Regierungsbeamter. Er ist verheiratet, nun sind auch seine drei Kinder verheiratet, und er ist heute noch der indische Hausvater im klassischen Sinn. Als ich ihn unlängst in seinem bescheidenen, aber bürgerlichen Haus in Srinagar eine Woche lang besuchte, sah ich, wie er in die Gesellschaft, der er entstammt, integriert ist. Er ist ein verehrter Führer in der Hindu-Minorität, der auch Respekt von den Moslems genießt und mit vielen von ihnen befreundet ist. Er war jahrelang Leiter eines Hilfswerks für Arme. Kommt man mit ihm in ein Dorf, so erkennen ihn oft die Bauern und begrüßen ihn freudig. Er hat sich mit großem persönlichen Mut und Risiko, und mit Erfolg, für die Überwindung überholter religiöser Bräuche in der eigenen Gemeinschaft eingesetzt. So hat er erreicht, dass es üblich geworden ist, dass Witwen wieder heiraten dürfen, und hat sich darum bemüht, dass die unerträglichen finanziellen Lasten, die die Verheiratung von Töchtern mit sich bringt, eingeschränkt wurden. Wie tiefe Einbrüche in die Tradition dies bedeutet, macht sich vielleicht ein europäischer Leser nicht leicht klar. Wer nur dies wüsste, würde sagen: Eine reelle, Respekt und Zuneigung verdienende lokale Größe.

Der wesentliche Inhalt des Gespräches und Buches aber erwies sich als etwas ganz anderes: Die erschütternde, lebensgefährliche, die ganze Persönlichkeit neu bildende Erfahrung einer jenseitig-diesseitigen Kraft, eben der Kraft, die er mit ihrem traditionellen indischen Namen Kundalini nennt. Vom Inhalt dieser Erfahrung will ich im dritten Abschnitt dieser Einleitung sprechen, hier nur von ihrer biografischen Rolle. Gopi Krishna hat seit seinem siebzehnten Lebensjahr, zunächst aus einem Impuls seelischer Reinigung heraus, meditiert. Vierunddreißigjährig erlebte er den Durchbruch eines neuen, größeren und beseligenden Bewusstseins. Aber der begonnene Vorgang hatte eine physische und seelische Umwandlung zur Folge, die wie ein verzehrendes Feuer seine Existenz bedrohte. Er suchte einen Meister (einen Guru im Sinne indischer Tradition), aber keiner wusste ihm zu helfen.

Sein Ich behielt jedoch die Kontrolle der Vorgänge, die sich nach zwölf Jahren in eine nun nicht mehr weichende innere Helligkeit und Lebendigkeit lösten. Jetzt empfand er sich wie ein neuer Mensch, mit objektiven Gaben, die er nie zuvor gehabt hatte, so der Gabe des inspirierten Schreibens, ein Mensch, der sich neu, helfend und leitend, seinen Mitmenschen zuwenden konnte. Eine in seiner Umwelt aufflammende Berühmtheit als Erleuchteter bog er, kritisch gegen solche Räusche, entschlossen ab; sein Umgang mit den Mitmenschen lag in der kontrollierbaren Realität. Aber er war gewiss, das in den klassischen Schriften beschriebene Erwachen der Kundalini selbst erfahren zu haben. Er las die Schriften der meditativen und mystischen Tradition nun als einer, der wusste, wovon dort die Rede ist. Nach jahrzehntelanger Selbstprüfung entschloss er sich, für die Welt, zumal auch für die Welt der modernen Wissenschaft, darüber zu schreiben. Das erste Buch war die Beschreibung seiner persönlichen Erfahrung. Das zweite Buch, eben das hier vorgelegte, ist eine Einleitung in das, was er in weiteren Schriften an Objektivem zu lehren gedenkt.

Wenn ich zu diesem Buch nun selbst eine Einleitung schreibe, so möchte ich damit seinem Verständnis und seiner Wirkung dienen. Dazu ist es notwendig, dass ich offen auch auf seine Schwächen hinweise. Wer als moderner Intellektueller dieses Buch liest, dem bleibt eine gewisse Naivität des Verfassers nicht verborgen. Er ist eine eigentümliche Mischung eines ganz traditionellen und eines ganz modernen Menschen. Die Werte, zumal die moralischen Werte der Tradition, in der er aufgewachsen ist, sind ihm selbstverständlich. Er ist unfähig auch nur zu einem Anflug desjenigen Zynismus, mit dem jeder, auch der ernsthafteste moderne Intellektuelle geimpft und die Welt des modernen Denkens durchseucht ist. Wir Intellektuellen bilden uns naiv ein, wer diese Impfung nicht habe, wisse etwas Entscheidendes nicht. Das mag sein, aber hier müssen wir uns von unserer Naivität distanzieren, um das in einer anderen Naivität mögliche Wissen zu begreifen. Andererseits ist Gopi Krishna in dem Sinne ganz modern, dass sein Adressat durchaus das moderne Bewusstsein, vor allem die moderne Wissenschaft ist. Der Orthodoxie des Hinduismus steht er fern, und ich habe erlebt, wie er mit Europäern, welche die indische Tradition gegen den modernen Westen ausspielen wollten, in eine nicht auflösbare Meinungsverschiedenheit geriet. Hier ist es nun eine Schwierigkeit, dass seine eigene Kenntnis der europäischen Geisteswelt und der modernen Wissenschaft autodidaktisch ist. Er zitiert nicht immer diejenigen Autoren, die uns heute relevant erscheinen, und er unterscheidet nicht immer scharf zwischen der gängigen Schuleinordnung einer wissenschaftlichen Lehre und ihrer subtileren Meinung. So ist er nicht immer ein kompetenter Analytiker, aber er ist etwas viel Wichtigeres – ein Augenzeuge der Wahrheit, die er vertritt. Auch der manchmal breit dahinströmende Fluss der Worte, eine in Indien nicht ungewöhnliche Stileigentümlichkeit, ist ein Ausdruck der Weise, wie seine Schriften entstehen, nämlich nicht als Ergebnisse der Reflexion, sondern unter dem inneren Drang einer spontan sich wiederholenden Wahrnehmung.

2 • Religion als Problem und Wissenschaft als Problem

Die beiden einleitenden Kapitel dieses Buches von Gopi Krishna werfen lediglich die Fragen auf, von denen die im dritten Kapitel beginnende Antwort ihren Ausgang nimmt.

Das erste Kapitel macht die Religion zum Problem. Es beginnt, wie eine der aufklärerischen Religionskritiken, mit der Irrationalität und den widerwärtigen Praktiken der Religion, vom Schamanentum bis zur Hochreligion. Es geht über zu der ungelösten Frage der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes gegen den Vorwurf, der dem Schöpfer aus dem Elend seiner Schöpfung gemacht wird, und erörtert in Breite die einander vielfach widersprechenden Lehren vom Leben nach dem Tod in der Vielzahl der Religionen. Es vergleicht diese Widersprüche der Offenbarungslehren mit dem sicheren Gang der Wissenschaft und sagt den unfehlbaren Sturz der Herrschaft der Religionen über die Menschen voraus. Angesichts der noch ungebrochenen Gläubigkeit der erdrückenden Mehrheit der Hindus hat diese Vorhersage einen schärferen Klang als im Blick auf die Welt des westlichen Christentums, wo sie tatsächlich schon weitgehend erfüllt ist.

Trotzdem ist das Ziel dieses Kapitels nicht, die anti-religiöse Aufklärung zu verfechten, sondern ein Paradox zu formulieren: Wenn die Religion so voller Widersprüche steckt, wie konnte sie der Menschheit jahrtausendelang eine echte Führerin sein? Gerade der sich für aufgeklärt haltende Religionsgegner sollte hier vor ein ungelöstes Problem gestellt werden. Man könnte es mit der heute durch den Neomarxismus in der westlichen Jugend wieder populär gewordenen Denkfigur der Dialektik erläutern. Eine dialektische Geschichtsphilosophie wird die Herrschaft der Religion als eine heute in Wahrheit schon überwundene Phase der Weltgeschichte ansehen. Geschichtsdialektik bedeutet aber, dass in jeder dieser Phasen Wahrheit herrscht, nur eine Wahrheit, die durch die ihr innewohnenden Widersprüche über sich hinaus in ihre bestimmte Negation getrieben wird. Wenn man vereinfachend sagen darf, die Geschichtsphase der Religion sei durch die Phase der Wissenschaft abgelöst, so wird die Wissenschaft selbst naiv in ihrem Gegensatz zur Religion stecken bleiben, solange sie nicht zu fragen vermag, inwiefern gerade in der überwundenen Religion Wahrheit war. Diese Frage muss im unverwandten Hinblick auf die Widersprüche und die Gräuel der Religion gestellt werden, sonst fragt sie nicht nach der Wirklichkeit der Religion. Und die Antwort muss uns gleichwohl die Verbindung der Wahrheit der Religion mit dem, was für uns wahr ist, sehen lehren, sonst fragt sie nicht nach der wahren Religion.

Wenn ich nun den Gedanken des zweiten Kapitels etwas eigenwillig weiterspinnen darf, so erweist sich die weltbeherrschende Wissenschaft zu dieser Frage nicht fähig, da sie soeben den Zusammenbruch der von ihr geschaffenen und beherrschten Welt erlebt. Diese Bemerkung lässt sich aufgliedern. In der Phase ihrer ungebrochenen eigenen Herrschaft vermochte die Naturwissenschaft – denn um sie geht es – die Frage nach dem Wahren in der Religion nicht einmal zu stellen. Sie selbst war naiv-materialistisch und leugnete schlicht die Wirklichkeiten, die in ihren Begriffen nicht vorkamen. (Man sieht hier, nebenbei bemerkt, welche Schriften Gopi Krishna in seiner Jugend gelesen hat. Ich erinnere mich, wie ich mich als Schüler mit dieser naturwissenschaftlichen Popularphilosophie herumgeschlagen habe; nur hatte ich das Glück, dann an der Universität Bohrs und Heisenbergs Physik und die klassische europäische Philosophie lernen zu können.) Heute aber wird in der ganzen modernen Welt die Lebenskrise der von der Wissenschaft bestimmten Gesellschaft manifest. Für Gopi Krishna enthüllt sie sich vor allem in dem moralischen Zusammenbruch der einst durch die Religion geschützten Werte. Diese Darstellungsweise wird den Gesellschaftskritikern in der jungen Generation, die selbst einen moralischen Protest anmelden, nicht überzeugend erscheinen. Aber auch ihre Kritik lässt sich so verstehen, dass sie in die von Gopi Krishna intendierte Richtung weist. Diesem Verständnis möchte ich hier zwei Absätze widmen.

Ein Name für das, was die junge Generation angreift, ist Technokratie. Sie erscheint ihr im Westen vor allem in der Gestalt des Kapitalismus, in Osteuropa im Gewand der Bürokratie. Diese beiden letzteren Namen verraten noch etwas vordergründige Vorwürfe, nämlich, dass bestimmte Menschengruppen, die Eigentümer von Privatkapital bzw. die Funktionäre des Apparats, ihr Eigeninteresse vor das Interesse der Gesamtheit stellen. Der Vorwurf wird tiefer begründet, wenn man zunächst die Verteidigung beider Menschengruppen ernst nimmt, dass sie nämlich in ihrem jeweiligen Gesellschaftssystem eine unentbehrliche Rolle spielen – die Kapital-Eigentümer in der privaten Marktwirtschaft, die Funktionäre in der Staatswirtschaft. Der vordergründige politische Kampf wird heute freilich von denjenigen Ideologen ausgetragen, die jeweils eines der beiden Systeme für prinzipiell falsch, das andere hingegen für das richtige, nur leider seinem Ideal vielleicht nicht voll entsprechende ansehen. Ich überlasse diesen Streit denen, die an ihn glauben, und frage den Liberalen, warum das Kapital, und den Sozialisten, warum der Partei- und Staatsapparat so schmählich versagt. Hier gewinnt nun der Technokratie-Vorwurf erst seine eigentliche Dimension. In beiden Fällen machen sich die Träger der Mittel, die Herren der Technik, selbstständig und dienen nicht der Gesamtheit. Solange dieser Vorwurf individuell-moralisch bleibt, hat er freilich die Schwäche jedes bloßen Moralisierens. Er muss strukturell werden und fragen: Was in den Systemen legt denn die Versuchung so fast unüberwindlich nahe, dass die Mittel sich gegenüber den Zwecken verselbstständigen?

Als Vermutung stelle ich die Antwort auf: Dies liegt gerade an dem technischen Charakter beider Gesellschaftssysteme, an der gedanklichen und funktionalen Trennung der Mittel von den Zwecken. Heisenberg sagt in seinem Buch »Der Teil und das Ganze«, man müsse politische Systeme grundsätzlich nicht nach ihren Zielen, sondern nach ihren Mitteln beurteilen. Gandhi lehrt eine politische Kampfesweise, die jedes Mittel verbietet, das dem angestrebten Ziel nicht gleichartig ist – er glaubt, dass ein gewaltloser Zustand nur gewaltlos erreicht werden kann. Die linear-kausale Denkweise der Technik trennt jedoch Zweck und Mittel scharf. Sie sieht sich darin durch die klassische Naturwissenschaft bestätigt. Dies erinnert mich an eine Äußerung, die mein Onkel Viktor v. Weizsäcker mir gegenüber einmal getan hat, und die ich etwas erweitert so wiedergebe: »Kapitalismus, Staatssozialismus und klassische Physik sind alle drei derselbe Irrtum.« (Er sprach im damals vorgegebenen Kontext nicht vom Staatssozialismus.) Dies führt uns zu Gopi Krishnas Kapitelüberschrift »Der Irrtum der Wissenschaft« zurück. Die Auflösung der Wirklichkeit in ein Geflecht von Kausalfäden ist ein Irrtum. Eine Kultur, welche die Wirklichkeit so missversteht, kann nicht anders, als die Wirklichkeit zu zerstören, die sie zu beherrschen und zu verbessern meint.

Um nun das dialektische Denkschema noch einmal anzuwenden: Auch in der Wissenschaft ist Wahrheit. Man kann die Wirklichkeit objektivieren, indem man sie in ein Kausalgeflecht auflöst. Das Unternehmen ist erfolgreich; die Frage ist nur, was dabei verlorengeht. Hier müsste die Frage nach der Wahrheit der Religion einsetzen. Eine im echten wissenschaftlichen Sinn erfahrungsoffene wissenschaftliche Frage nach der Wahrheit, die in der Religion verborgen gewesen sein mag, könnte dazu führen, dass die Gegenpositionen dogmatischer Religion und dogmatischer Wissenschaft in einer neuen Wahrheit gleichermaßen »aufgehoben« würden, in dem Doppelsinne, in dem Hegel dieses Wort gebraucht – überwunden und zugleich in dem, was ihre Wahrheit war, aufbewahrt. Freilich würde diese Wahrheit voraussichtlich das dialektische Denkschema nicht mehr nötig haben, dessen Motor die begriffliche und insofern selbst objektivierende Reflexion auf die Ergebnisse der Objektivierung ist.

Gopi Krishna denkt und spricht viel einfacher und direkter. Er sieht gerade die alten Schriften der Religion erfüllt von Hinweisen auf ein geistiges Gesetz. Dieses zu entdecken, ist er einst ausgezogen. Was er heute dazu beigetragen hat, sind nicht Mutmaßungen, sondern in erster Linie der Bericht seiner persönlichen Erfahrung. Zu dieser persönlichen Erfahrung bedeuten die beiden Kapitel, die wir soeben besprochen haben, zugleich den persönlichen Hintergrund. Wie aus dem Lebensbericht in »Kundalini« hervorgeht, war das Ungenügen der Religion und der Wissenschaft gerade das, was seine jungen Jahre erfüllt hat und ihn veranlasste, in stetiger, jeden Morgen vor Sonnenaufgang wiederholter Meditation die innere Öffnung für eine höhere, geistige Wirklichkeit zu suchen.

3 • Gopi Krishnas Erfahrung

»Eines Morgens, Weihnachten 1937, saß ich mit gekreuzten Beinen im Zimmer eines kleinen Hauses in der Umgebung von Jammu, der Winterhauptstadt des Staates Jammu und Kaschmir in Nordindien. Ich meditierte, das Gesicht zum Fenster nach Osten gewendet. Die ersten grauen Strahlen der langsam sich erhellenden Morgenröte fielen in das Zimmer. Durch lange Übung war ich daran gewöhnt, stundenlang in der gleichen Stellung zu sitzen ohne die geringste Unbequemlichkeit, und ich saß da, atmete langsam und rhythmisch, richtete meine Aufmerksamkeit auf den obersten Teil meines Kopfes und versenkte mich in eine imaginäre Lotosblüte, die dort in hellem Licht erstrahlte. Ich saß unbewegt und aufrecht. Ohne Unterbrechung strömten meine Gedanken zu dem leuchtenden Lotos hin in der festen Absicht, meine Aufmerksamkeit dort zu halten, vom Abschweifen zu bewahren und sie immer wieder zurückzubringen, wenn sie sich in eine andere Richtung bewegten. Die Intensität der Konzentration unterbrach meinen Atem. Langsam wurde er so still, dass er kaum mehr wahrnehmbar war. Mein ganzes Wesen war so sehr in den Lotos eingetaucht, dass ich für mehrere Minuten hintereinander die Berührung mit meinem Körper und meiner Umgebung verlor. Während einer solchen Unterbrechung – für einen Augenblick – war es mir, als ob ich mitten in der Luft ohne irgendein Körpergefühl schwebte. Das einzige, dessen ich gegenwärtig wurde, war ein Lotos in hellem Glanz, der Strahlen von Licht aussandte. Diese Erfahrung haben viele Menschen gemacht, die in dieser oder anderer Form sich für eine längere Zeit regelmäßig in der Meditation geübt haben. Aber, was sich an diesem schicksalhaften Morgen bei mir ereignete und mein ganzes Leben wandelte, mögen nur wenige erlebt haben. Während eines Augenblicks der starken Konzentration fühlte ich etwas Seltsames unten an der Wirbelsäule, gerade dort, wo ich den Boden berührte. (Ich saß im Schneidersitz auf einer gefalteten Decke auf dem Boden.) Die Empfindung war so außerordentlich und so wonniglich, dass ihr meine Aufmerksamkeit folgen musste. In dem Augenblick, in dem sich meine Konzentration nicht mehr auf den Lotos richtete, auf den Punkt, auf den sie eingestellt war, hörte die Empfindung plötzlich auf. Ich dachte, dies könnte nur Täuschung sein, von meiner Fantasie hervorgerufen, und schlug mir die ganze Sache aus dem Kopf. Dann brachte ich meine Aufmerksamkeit zurück an den Punkt, von dem sie abgeschweift war. Ich konzentrierte mich wieder auf den Lotos, und als das Bild auf dem Scheitel meines Kopfes klar und ganz deutlich wurde, hatte ich erneut die gleiche Empfindung. Dieses Mal versuchte ich, meine Aufmerksamkeit nicht schweifen zu lassen und war für einige Sekunden erfolgreich, aber die Empfindung, die von unten immer höher nach oben wanderte, war so intensiv, so ungewöhnlich und stellte alles bisherige in den Schatten, dass trotz aller meiner Anstrengungen meine Gedanken sich darauf richteten. Im selben Augenblick verschwand sie wieder. Nun war ich davon überzeugt, dass mir etwas Außerordentliches widerfahren war und hierfür meine täglichen Konzentrationsübungen verantwortlich waren.