The Road to Somewhere

 

Inhalt

 

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Einleitung

 

1       Der große Graben

Eine Reise von Anywhere

 

2       Anywheres und Somewheres

Der Niedergang (nicht der Tod!) traditioneller Werte

Hochschulen und Mobilität

Die große Liberalisierung

Die Vorreiter

 

3       Der europäische Populismus und die Krise der Linken

Populismus wird Mainstream

Amerika und Europa: die populistische Annäherung

Populistische Parteien: die notwendigen, die unheimlichen und die hässlichen

Warum die Populisten den Linken am meisten schaden

 

4       Globalisierung, Europa und das Nationale

Eine Welt in Bewegung?

Die überschießende Globalisierung

Die europäische Tragödie

Das Überdauern des Nationalen

 

5       Ein fremdes Land?

Eine kleine Geschichte der Einwanderung

Wie steht es mit der Integration?

Der Dünkel Londons

6       Die Wissensbasierte Ökonomie
und der Abstieg in die ökonomische Ausweglosigkeit

Die Mitte schwindet

Eine kurze Geschichte von Bildung und Ausbildung

Über den Lebensstandard und die vermeintliche Ungleichheit       

Die unheilige Allianz zwischen kurzfristigen Unternehmenszielen und Unternehmensverkäufen ins Ausland

 

7       Die auf Leistung programmierte Gesellschaft

Wie sieht‘s wirklich aus mit der sozialen Mobilität?

Und der Weg nach oben?

 

8       Wie geht’s der Familie?

Mehr Staat, weniger Familie

Was wünschen sich die Frauen?

Die Liebe in den Zeiten der Gleichberechtigung

 

9       Eine neue Verständigung zwischen Anywheres und Somewheres

Die Somewheres werden nicht verschwinden

Gebt den Somewheres eine Stimme

 

Dank

Anmerkungen

Literatur

Impressum

 

 

Vorwort zur deutschen Ausgabe

 

 

 

Mit der Arbeit an diesem Buch begann ich kurz vor dem Brexit-Referendum im Juni 2016. Fertig war das Manuskript kurz nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, im November 2016. In beiden Fällen kam der Ausgang für mich unerwartet. Aber mein Thema – dass nämlich unterschiedliche Werte und die Themen Sicherheit und Identität in den reichen westlichen Gesellschaften in Konkurrenz zu den traditionellen sozioökonomischen Themen treten – taugte durchaus zur Erklärung dessen, was passiert ist.

Mein Buch war eines der ersten, das eine allgemeine Erklärung für die „populistische Revolte“ anbot. Und meine Etiketten für diese Phänomene Somewhere und Anywhere stießen auf Resonanz auch in Deutschland, wo einige Journalisten und Politiker begannen, sie ebenfalls zu benutzen. Die große Werte-Kluft in den reichen Ländern, die ich beschreibe, tut sich genau zwischen Anywheres und Somewheres auf: Menschen also, die an jedem beliebigen Ort der Welt zuhause sind oder sein könnten – den Anywheres. Und Menschen, die die Welt von ihrem festen Standort aus betrachten – den Somewheres.

Anywheres machen etwa 30 Prozent der Bevölkerung aus. Sie sind hoch gebildet, oft mobil, legen Wert auf Offenheit und Autonomie. Ihre Identität speist sich aus den eigenen Leistungen in Ausbildung und Beruf. Somewheres machen etwa die Hälfte der Bevölkerung aus, besitzen aber ein viel geringeres politisches Gewicht. Sie sind weniger gebildet, stärker verwurzelt, legen Wert auf Stabilität und Vertrautheit. Ihre Identität beruht auf ihrer Gruppen- und Ortszugehörigkeit.

Beide Weltsichten sind, zumindest in ihren Mainstream-Erscheinungsformen, durch und durch legitim. Aber die Anywhere-Perspektive hat in den letzten Jahrzehnten ein zu großes Gewicht bekommen, seitdem die Welt mit Ende des Kalten Krieges offener geworden ist und höhere Bildung dramatisch an Zulauf gewann. Unter diesem Aspekt stellen der Brexit, die Wahl von Trump und der Aufstieg populistischer Parteien in Europa eine Art demokratische Neugewichtung dar, eine politische Korrektur als Reaktion auf die Dominanz der Anywhere-Prioritäten.

Meine Einleitung zur britischen Paperback-Ausgabe (ab Seite 16) konzentriert sich auf einige Ereignisse, die nach Abschluss des Manuskripts stattfanden, darunter der überwältigende Sieg von Emmanuel Macron bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2017, das Scheitern der Populisten in den Niederlanden und der unerwartete Erfolg der stramm links geführten Labour Party bei den britischen Parlamentswahlen 2017.

Diese Ereignisse wurden von einigen Leuten als Beweis dafür gesehen, dass entweder der populistische Aufschwung gestoppt wurde (wie in Frankreich und den Niederlanden) oder dass die traditionelle Links-Rechts-Politik sich gegen den Aufstieg der neuen wertebasierten Politik wieder durchgesetzt habe (wie im Vereinigten Königreich). Tatsächlich erwiesen sich diese Ereignisse nur als eine Pause im Vormarsch der Populisten und der Kampfansage an die traditionelle Politik. Seitdem hat das Pendel bei verschiedenen nationalen Wahlen und anderen politischen Ereignissen wieder in eine populistische Richtung ausgeschlagen.

Die Gelbwestenbewegung in Frankreich seit Ende 2018 wird weithin als Ruf nach Anerkennung und Sichtbarkeit für die Somewheres des France périphérique interpretiert (um einen Begriff von Christophe Guilluy zu benutzen). Die Annahme, der Brexit könne noch verhindert werden, wurde durch den überwältigenden Wahlsieg von Boris Johnson im Dezember 2019 zunichte gemacht, bei der die alten Links-Rechts-Bindungen sich zumindest teilweise auflösten. Und in einem der wenigen Länder, in denen eine traditionelle sozialdemokratische Partei in letzter Zeit eine Wahl gewinnen konnte, in Dänemark nämlich, war dies nur möglich, weil sie Forderungen der stärksten populistischen Partei übernahm – niedrige Einwanderungsraten bei starker Integrationspolitik.

Und dann müssen wir natürlich vom Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) sprechen, die seit der Bundestagswahl 2017 mit 89 Abgeordneten die größte Oppositionsfraktion stellt (Stand Ende Januar 2019). Für viele Menschen in Deutschland war dieses Ergebnis ein Schock, aber es zeigt nur, dass auch die normalerweise so solide und stabile deutsche Politik nicht immun ist gegen europäische Trends, die tatsächlich globale Trends sind.

Inspiriert von dem, was viele als falschen Globalismus betrachten, nämlich die Politik der Grenzöffnung während der Flüchtlingskrise, verbunden mit dem nach wie vor existierenden Gefühl der Ostdeutschen, Bürger zweiter Klasse zu sein, ist es der AfD gelungen, viele frühere Mainstreamwähler vor allem der östlichen Bundesländer anzusprechen.

Allerdings muss die Präsenz der Populisten in der deutschen Politik nicht wirklich schockieren. Das Verhältniswahlrecht in den meisten europäischen Ländern hat bewirkt, dass seit mehr als 20 Jahren populistische Parteien in den Parlamenten sitzen, und in mindestens sechs Ländern waren sie zeitweise als Koalitionspartner an Regierungen beteiligt.

Tatsächlich war Deutschland eines der letzten europäischen Länder, das eine signifikante nationalistisch-populistischen Kraft entwickelte. Ein Grund dafür ist sicher das stärkere Tabu, mit dem extremer Nationalismus nach der Erfahrung des Nationalsozialismus belegt ist. Ich glaube aber, dass Deutschland auch insgesamt ein besseres Gleichgewicht zwischen den Interessen von Anywheres und Somewheres hält als die meisten anderen westlichen Länder. Nicht zuletzt durch ein soziales und politisches System, das entwickelt wurde, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.

Das beneidenswerte System der dualen Ausbildung in Betrieb und Berufsschule verleiht normalen Jobs wesentlich mehr Status und Würde, als das in Großbritannien oder den USA der Fall ist. Das Gleiche gilt für die institutionalisierte Mitbestimmung der Arbeitnehmer in größeren Firmen. Noch vor einigen Jahrzehnten war der Anteil der höheren Bildung in Deutschland relativ gering, und das Land besitzt auch nicht solche elitären Bildungseinrichtungen von weltweiter Bedeutung, wie sie die USA, Großbritannien oder Frankreich kennen.

Wohlstand und Bevölkerung sind in Deutschland wesentlich besser regional verteilt. Es gibt keine Hauptstadt wie London, die so viel Talent und Wohlstand ins Zentrum zieht und die Anywhere-Welt der räumlichen und gesellschaftlichen Mobilität zur Norm macht. Etwa 70 Prozent der Deutschen leben in Städten mit weniger als 100.000 Einwohnern. Die Mitte, das „ganz Normale“, wird in Deutschland irgendwie mehr respektiert als in Großbritannien.

Das föderale System der Bundesländer und die starke Betonung der Bindung an die regionale Heimat und den eigenen Dialekt verleiht vielen Deutschen eine duale Anywhere-Somewhere-Identität in der Sprache, die sie sprechen. Die weitaus meisten wechseln mühelos von Hochdeutsch zu Schwäbisch oder einem anderen regionalen Dialekt.

Wie ich bereits in der Einleitung zur englischen Paperbackausgabe geschrieben habe, bin ich der Überzeugung, dass Bayern eine der Regionen in Europa ist, wo sich Anywhere- und Somewhere-Interessen am besten die Waage halten. Innerhalb Deutschlands, vor allem von Norden aus, wird Bayern regelmäßig als extrem konservativ angesehen. Und bis zu einem gewissen Grad ist das auch so. Die CSU ist vermutlich die konservativste Mainstream-Partei Westeuropas. Und in den kleineren Städten und auf dem Land ist Bayern ganz klar katholisch und traditionalistisch.

Aber es ist eben auch eine sehr offene und auf wirtschaftlichem Gebiet dynamische Region. Laptop und Lederhose heißt das Klischee. Es fällt auch Liberalen nicht schwer, sich hier zu Hause zu fühlen. München ist im Wesentlichen eine SPD-regierte Stadt (heute mit starker Beteiligung der Grünen). Dasselbe gilt für die meisten größeren Städte in Bayern, und eine der liberalsten und wichtigsten Mainstreamzeitungen, die Süddeutsche Zeitung, erscheint in München. Sowohl Anywheres als auch Somewheres können in Bayern ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln.

Weniger gut schneidet Deutschland im Hinblick auf die relativ geringe Breite akzeptabler öffentlicher Meinungsäußerungen ab – vor allem im Vergleich mit Großbritannien und den USA. Auch hier sind die Gründe historisch leicht verständlich. Man reagiert im öffentlichen Diskurs nervöser auf alle Abweichungen von einer Art Anywhere-inspiriertem „Zwangsliberalismus“. Ein Freund von mir in Deutschland schätzt, dass etwa 80 Prozent der deutschen Medien eher linksliberal eingestellt sind.

Ich bin mir sehr bewusst, dass der von mir im Text gelegentlich verwendete Begriff „besonnener Populismus“ („decent Populism“ im Original Anm. d. Übers.) für manches deutsche Ohr etwas schmerzhaft klingt, denn manche betrachten jedwede Form von Populismus als illegitim. Aber wir müssen unterscheiden zwischen legitimen und illegitimen Formen des Populismus. Meine Definition eines Wählers oder Aktivisten, der den „besonnenen Populismus“ unterstützt, ist die eines Menschen, der mit der großen Liberalisierung der zurückliegenden Jahrzehnte und ihren Ergebnissen in punkto ethnischer Herkunft, Geschlecht und Sexualität im weitesten Sinn einverstanden ist, auch wenn er sich selbst nicht unbedingt zur Gruppe derer rechnet, die diese Forderungen getragen und durchgesetzt hat. Ich denke auch, dass man populistische Parteien wie die französische Rassemblement National, wenn sie auf demokratischem Boden stehen, aber eine restriktivere Sicht auf die Einwanderung als liberale Politiker haben, ebenfalls als legitim betrachten sollte. Ich tue dies, weil der politische Versuch, solche Parteien auszugrenzen, allem Anschein nach wie bei den Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna) in Schweden eher zu deren Stärkung führte.

Immer noch viel zu oft werden vollkommen vernünftige Somewhere-Ansichten und -Gefühle – beispielsweise der Wunsch nach gesicherten Grenzen und einer Bevorzugung der eigenen Bürger – als illegitim abgetan. Und dadurch wiederum tut sich eine allzu große Kluft zwischen dem auf, was Leute im Privaten sagen und was sie öffentlich äußern. So kann eine Art Zynismus gegenüber der „politisch korrekten“ politischen Elite entstehen, und genau hier setzt die AfD den Hebel an.

Angela Merkels außergewöhnliche Entscheidung, die deutschen Grenzen im Jahr 2015 für Flüchtlinge zu öffnen, wurde zunächst fast euphorisch begrüßt. Die Menschen waren verständlicherweise von einer Art Nationalstolz auf diese ungewöhnlich großzügige Geste erfüllt, bis hin zur üblicherweise konservativen BILD-Zeitung. Nach den sexuellen Übergriffen in Köln am Silvesterabend 2015 kippte die Stimmung um in Skepsis und bahnte einer eher kontroversen Diskussion über das Vorgehen in Sachen Flüchtlingskrise den Weg.

Tatsächlich wird diese Diskussion zumindest in einer Hinsicht in Deutschland mindestens so hart geführt wie in Großbritannien, wenn nicht sogar härter. Dies betrifft die Zukunft des Islam in Europa. „Viele Mitgliedstaaten stehen vor der Herausforderung, eine durch Zuwanderung heterogener gewordene Gesellschaft zusammenzuhalten. Dies gilt gerade mit Blick auf Strömungen des Islams, die mit unseren Vorstellungen einer offenen Gesellschaft nicht vereinbar sind. Eine der großen Zukunftsfragen ist es deshalb, ob aus Europa heraus Impulse für eine mit unseren Wertvorstellungen kompatible Ausprägung des Islams gegeben werden können.“1 Diese Sätze stammen von der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer als CDU-Vorsitzender, die man wohl kaum als radikal bezeichnen kann. Ich glaube nicht, dass ein britischer Politiker eine so skeptische Äußerung tun könnte oder würde.

Unabhängig von der beherrschenden Stellung liberaler Anywhere-Weltsicht in Deutschland geht der Alltag wesentlich freundlicher mit Somewhere-Prioritäten um, als das in den individualistischeren angelsächsischen Ländern der Fall ist. So wäre es kaum denkbar gewesen, dass Deutschland seinen Arbeitsmarkt ohne Not bereits 2004 für Arbeitskräfte aus den früheren Ostblockstaaten geöffnet hätte, ohne die siebenjährige Übergangsfrist zu nutzen. In Großbritannien ist genau dies geschehen.

Aber inzwischen gerät diese Somewhere-freundliche Kultur unter Druck. Deutschland ist auf wirtschaftlichem Gebiet immer noch stärker auf Gleichheit bedacht als Großbritannien, doch in den letzten Jahren öffnete sich auch hier die Schere zwischen Reich und Arm weiter, möglicherweise aufgrund des wachsenden Finanzsektors und der Arbeitsmarktreformen der frühen Zweitausender-Jahre mit ihren Hartz-IV-Reformen und der Agenda 2010. Und Deutschland nähert sich auch insofern den angelsächsischen Ländern an, als mehr junge Leute zur Universität gehen, nachdem die Studiendauer durch Einführung des Bachelors verringert wurde. Das könnte dem dualen Ausbildungssystem schaden, indem zu viele intelligente junge Leute in die höhere Bildung gezogen werden. Die Folge könnte eine schärfere Status-Trennung zwischen Hochschulabsolventen und Nicht-Hochschulabsolventen sein, wie wir sie aus Großbritannien und den USA kennen.

Die bessere Verteilung von Status und Respekt ist ein Problem, mit dem alle entwickelten Gesellschaften zu tun haben. Ausgangspunkt muss ein stärkeres Bewusstsein der Klasse der Anywhere-Hochschulabsolventen darüber sein, dass sie Macht und Einfluss besitzen. Es nützt nichts, so zu tun, als würde dieser Einfluss nicht existieren oder als wären die Prioritäten und Gefühle dieser Gruppe gesellschaftlicher Konsens. Wir brauchen Eliten und Elite-Institutionen, aber wir brauchen multiple Eliten mit multiplen Wegen nach oben und eine breitere Verteilung von Ansehen, was verschiedene menschliche Fähigkeiten angeht.

Auf eigene Weise zeigen uns sowohl die Gelbwestenbewegung als auch der Aufstieg der Populisten in Deutschland und anderswo sowie der Brexit – übrigens auch das Problem, eine Einigung zum Brexit zu finden – die Zukunft der Politik. In all diesen Fällen kommt eine manchmal noch diffuse Frustration darüber zum Ausdruck, dass das demokratische Versprechen politischer Gleichheit sich nicht so leicht in eine breitere Gleichheit in Sachen Status und Respekt übersetzen lässt. In unseren liberalen, bildungsorientierten Meritokratien (oder Teil-Meritokratien) fühlen sich zu viele Menschen als Verlierer.

Alle diese Fälle deuten auf die Gefahr der Unregierbarkeit in repräsentativen Demokratien hin. In den letzten 25 Jahren wurde in der Politik zu viel über die Ausweitung der individuellen Freiheit und über die Möglichkeit gesprochen, dass jeder nach seiner Façon selig werden könne. Diversität wurde zu sehr in den Vordergrund gestellt und gefeiert. Mit dem Ergebnis, dass wir jetzt Mühe haben, genug gemeinsame Interessen und Bindungen zu finden, mit deren Hilfe wir tragfähige Kompromisse entwickeln können.

Politiker – oder politische Parteien, seien sie alt oder neu –, die eine tragfähige Brücke über die Kluft zwischen Anywheres und Somewheres bauen und eine neue politische Legitimität entwickeln könnten, haben viel zu gewinnen. Vielleicht ist Boris Johnson eine solche Figur. In weiten Teilen Kontinentaleuropas gilt er als Clown und Zwillingsbruder von Donald Trump. Man könnte ihn aber auch als Modell für die europäische Mitte-Rechts-Bewegung in der Art sehen, wie er die populistische Stimmung in den Mainstream umlenkte. Bei seinem Wahlsieg 2019 verlagerte er seine konservative Partei in Wirtschaftsfragen und der Regionalpolitik nach links. Er zog damit auch eine Wählerschaft aus der Arbeiterklasse an, die seine Partei, zumindest soziologisch gesehen, zu einer echten „Ein-Nationen“-Tory-Partei machte.

Kontakt und Dialog sind für den Weg über die neue Kluft zwischen den Wertvorstellungen noch wichtiger als sie es im Hinblick auf den alten Links-Rechts-Graben waren, weil es viel schwerer fällt, in soziokulturellen Fragen – wie Einwanderung oder die Zukunft der Familie – Kompromisse zu finden, als dies bei sozioökonomischen Fragen wie Steuern oder Ausgaben oder Wohlstandsverteilung der Fall ist. Es gibt viel weniger Möglichkeiten, die Differenzen zu überbrücken.

Nach der ausgedehnten liberalen Hegemonie der Ära nach dem Kalten Krieg und der anschließenden populistischen Gegenreaktion darauf warten wir immer noch auf ein neues Gleichgewicht. Im Moment scheint es schwer erreichbar, aber wenn die politische Klasse der Anywheres mehr emotionale Intelligenz zeigt und bereit ist, genau den Pluralismus zu praktizieren, dem sie sich verschrieben hat, dann sollte es durchaus möglich sein, ein solches Gleichgewicht zustande zu bringen.

 

*

 

Ein paar Gedanken zum Schluss: Noch ist es zu früh, um zu sagen, welche Art von Veränderungen die Covid-19-Krise für unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften und für jeden von uns als Individuen bedeuten wird. Ich habe dieses Buch vier Jahre vor dem Ausbruch der Covid-19-Krise abgeschlossen – aber ich denke, es hat erhebliche Bedeutung für die Richtung, die uns die Covid-Krise wahrscheinlich vorgeben wird. Wenn die Krise einen Paradigmenwechsel für die westlichen Gesellschaften darstellt, dann ist es ein Paradigmenwechsel, der zum Teil bereits im Gange war, vertreten durch Brexit, die Wahl Donald Trumps und den Aufstieg des europäischen Populismus.

Die meisten Leser dieses Buches werden von diesen Entwicklungen enttäuscht gewesen sein. Ich teile diese Enttäuschung ein Stück weit. Aber ich glaube auch, dass sie, zumindest in ihren gutartigen Formen, eine legitime demokratische Neugewichtung darstellen. Sie sind ein Schlag gegen die Radikalität der Globalisierung: Gegen eine beispiellose Offenheit gegenüber dem Handel und den Menschen, die Vielen in unseren Gesellschaften zahllose Vorteile, aber vor allem weniger Begüterten und eher konservativ denkenden Menschen die Erfahrung von Disruption und Unbehagen beschert hat.

Zu lange haben sich die Mainstream-Politiker ihre Beschwerden nicht angehört, und populistische politische Entrepreneure sind aufgetaucht, um sie zu vertreten. Die gebildeten, mobilen, beruflich erfolgreichen Menschen in unseren Gesellschaften, die ich als die „Anywheres“ bezeichne, haben im Allgemeinen von den Veränderungen der letzten Jahrzehnte profitiert. Sie haben ihre eigenen Präferenzen für Offenheit, Autonomie, soziale Fluidität und Traditionsfreiheit als moralisch überlegen gegenüber den gesellschaftlich eher konservativen Werten vieler ihrer Mitbürger gesehen. In diesem Buch geht es zum Teil um die Überdominanz der Anywhere-Schwerpunkte in der westlichen Politik, die dann eine politische Reaktion hervorrief.

Ich denke, die Reaktion auf Covid-19 wird diese Neugewichtung noch verstärken. Die Corona-Krise hat einige der Nachteile von Hyper-Konnektivität und Hyper-Globalisierung offenbart – nicht nur die Art und Weise, wie ein Virus innerhalb von Stunden den Globus umrunden kann, sondern auch die Abhängigkeiten, die durch global ausgedehnte Lieferketten entstehen, die Verwundbarkeiten, die durch eine globale Arbeitsteilung entstehen. Dies ist kein Argument für die Aufgabe des Freihandels oder der Globalisierung, sondern für den Einbau von mehr Vorbehalten und nationaler Widerstandsfähigkeit.

Auf einer grundlegenden Ebene wurden der Nationalstaat und die nationalen Sozialverträge gestärkt. Natürlich brauchen wir immer noch internationale Zusammenarbeit, und dies geschieht intensiv unter Wissenschaftlern und medizinischen Experten, aber in einer Krise schauen wir auf die nationalen Regierungen, nicht auf die EU oder die UNO, um uns zu schützen und uns zu sagen, wie wir uns verhalten sollen. In einer Krise wie dieser werden die lokalen Kräfte und die uns Vertrauten gestärkt, eine Agenda, die sich in hohem Maße mit der Sorge um die Umwelt über sorglose, ressourcenverschlingende, länderübergreifende moderne Lebensweisen überschneidet.

Vielleicht hat die Krise vor allem die versteckte Verdrahtung unserer Abhängigkeit nicht nur von den Gesundheits- und Versorgungssystemen, sondern auch von den ganz grundlegenden Dienstleistungen offenbart, die unsere Gesellschaften jeden Tag am Laufen halten – die Menschen, die in den Supermärkten Regale stapeln, die Fahrer der Auslieferungsfahrzeuge, die Menschen, die die Lebensmittel- und Arzneimittelversorgungsketten verwalten und den Hausmüll entsorgen. Viele von ihnen sind relativ ungelernt und schlecht bezahlt. Aber es stellt sich heraus, dass die meisten der wichtigsten Arbeitskräfte (abgesehen von den medizinischen Fachkräften) keine Menschen mit Universitätsabschluss sind. Ja, natürlich brauchen wir immer noch Experten, vor allem wissenschaftliche und medizinische, aber unsere kognitive Meritokratie hat eine Vorstellung von Fertigkeiten und Leistungen gefördert, die zu sehr auf die Manipulation von Daten und nicht auf Dinge ausgerichtet ist, und auf den IQ statt auf den EQ oder die emotionale Intelligenz.

Unsere Gesellschaften wurden für einen Moment in die Pause geschickt – ein ausgezeichneter Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, was für uns wirklich von Wert ist. Es besteht natürlich die Gefahr der Voreingenommenheit durch die „Corona-Bestätigung“ – die Neigung, die eigenen Annahmen darüber, wie sich die Welt entwickeln sollte, durch die Krise bestätigt zu sehen. Aber ich glaube, dass der Corona-Schock zu einer Neugewichtung unserer Gesellschaften im Interesse der verwurzelten und weniger gut ausgebildeten Menschen, die ich die Somewheres nenne, beitragen wird. Er könnte auch eine gewisse Versöhnung zwischen der liberaleren Anywhere- und der konservativeren Somewhere-Weltsicht nach sich ziehen, wenn es uns gelingt, ein breiteres Spektrum menschlicher Prioritäten und Fähigkeiten bei der Verteilung von Belohnung und Prestige angemessen zu berücksichtigen.

 

Einleitung

 

 

 

Bei der Veröffentlichung dieses Buchs Ende März 2017 gab es viele sehr unterschiedliche Reaktionen. Aber in einem Punkt waren sich alle einig: Das Timing war perfekt. Denn dieses Buch bot als eines der ersten eine Erklärung für die beiden Aufreger des Jahres 2016 an: Brexit und Donald Trump, und zwar mit Blick auf die Spaltung der Wertesysteme in den entwickelten Demokratien.

Im Kern lautet meine These: Eine starke Minderheit von hoch gebildeten und mobilen Menschen – ich nenne sie Anywheres –, die Autonomie und Offenheit schätzen und mit gesellschaftlichen Veränderungen mühelos zurechtkommt, dominiert seit einiger Zeit unsere Gesellschaft und die Politik. Daneben gibt es eine ebenfalls große, jedoch weniger einflussreiche Gruppe von Menschen – ich nenne sie Somewheres –, die stärker verwurzelt und weniger gebildet ist. Diese Menschen schätzen Sicherheit und Vertrautheit und sind stärker an Gruppenidentitäten gebunden als die Anywheres und sie haben das Empfinden, dass ihre eher konservativen Werte in den letzten Jahrzehnten in der Öffentlichkeit an den Rand gedrängt wurden, was das politische System destabilisiert, sodass das Pendel nun in die andere Richtung ausschlägt – der Brexit und die Trump-Wahl sind Beispiele dafür.

Seit der Erstveröffentlichung dieses Buches Anfang 2017 ist einiges passiert, nicht zuletzt die Wahlen in Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden, was auf eine Gegenreaktion der Anywheres gegen den Vormarsch der Somewheres von 2016 schließen lässt. Oder zumindest der Vormarsch von Somewheres-Prioritäten könnte vorerst gestoppt worden sein.

Es ist nicht so, dass die Somewheres ausschließlich populistische Parteien wählen – aber praktisch die gesamte Wählerschaft der Populisten stammt aus der Gruppe der Somewheres. Die wichtigsten populistischen Parteien in Frankreich und den Niederlanden erreichten starke Wahlergebnisse (der Front National kam beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl auf fast 34 Prozent, die PVV erreichte 13 Prozent und wurde zweitstärkste Kraft im niederländischen Parlament), aber sie konnten erwartungsgemäß den Sieg nicht für sich verbuchen und scheinen ihr Wählerpotenzial damit ausgeschöpft zu haben. Mehr noch: Emmanuel Macron führte in Frankreich einen Wahlkampf als „stolzer Anywhere“ und erreichte ein bemerkenswert hohes Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl, auch wenn es nicht so aussieht, als könne er die Spaltung der französischen Gesellschaft überwinden.

Und wie sah das unerwartete Wahlergebnis in Großbritannien 2017 aus? Einige Analysten interpretierten das relativ starke Abschneiden der Labour Party unter Jeremy Corbyn – unmittelbar gefolgt vom tragischen Brand des Grenfell Towers – als Rückkehr zum Zweiparteiensystem. Ein Zweiparteiensystem mit einer klaren Trennung zwischen Links und Rechts, das die Wertanalyse vom Typ Anywhere-Somewhere mit ihrer stärkeren Betonung soziokultureller Faktoren überflüssig machte.

Aber das Wechselspiel zwischen den beiden großen Parteien über Klassenschranken hinweg setzte sich fort, und genau dies stützt das Hauptargument des vorliegenden Buches, nämlich dass wir eine größere politische Annäherung zwischen Schichten und Wertegruppen im Hinblick auf ökonomische Themen beobachten können, und gleichzeitig ein größeres Auseinanderdriften im Hinblick auf kulturelle Fragen wie Sicherheit und Identität. (Es war auffällig, wie wirtschaftsfeindlich sich die Wahlprogramme beider großer Parteien darstellten.)

Im Großen und Ganzen neigten wohlhabendere Wähler weiterhin zu den Torys, aber nach Aussage der umfassendsten Wahlbefragung durch YouGov stieg der Anteil der Tory-Wählerstimmen aus der Arbeiterschicht (C2DE) dramatisch von 32 Prozent im Jahr 2015 auf 44 Prozent im Jahr 2017, also höher als bei der Labour Party (42 Prozent) und ebenso hoch wie der Wähleranteil aus der Mittelschicht (ABC1). Die Torys konnten fast 60 Prozent der früheren UKIP-Wählerstimmen auf sich vereinen, Labour nur 18 Prozent. Und einige traditionelle Labour-Sitze im Parlament, Mansfield beispielsweise, gingen an die Torys. Labour konnte dagegen vor allem in Mittelschicht- und Universitätswahlkreisen wie Bristol West, Hove und Hampstead dazugewinnen. In der Gruppe der Akademiker und Manager (AB) erreichte Labour fast 40 Prozent. Der Wechsel zu den Tories unter den Brexit-Wählern aus der Arbeiterklasse verstärkte sich bei den Wahlen im Dezember 2019 sogar noch mehr und trug zusammen mit dem Zusammenbruch der Labour-Stimmen zu Boris Johnsons stattlicher Mehrheit von immerhin 87 Sitzen bei.

Der Corbyn-Effekt, der letztlich zum Stillstand nach den Wahlen führte, weil die beiden großen Parteien nur 3 Prozent voneinander entfernt lagen, wurde von John Gray kurz nach der Wahl zusammengefasst. In einem Artikel im New Statesman schrieb er: „Corbyn hat einige der stärksten Kräfte auf der gegenwärtigen politischen Bühne zusammengeführt: den antikapitalistischen Radikalismus der Jungen, die von den Sünden der Geschichte unbeeinflusst sind, den bourgeoisen Kult um die persönliche Authentizität und das nackte Eigeninteresse, das sich als selbstverliebte Tugend darstellt.“

Die parlamentarische Pattsituation spiegelt möglicherweise einen tiefergehenden Stillstand zwischen den Werteblöcken der Anywheres und Somewheres, eine soziokulturelle Spielart der ökonomischen Blockade zwischen Mittelschicht und organisierter Arbeiterschicht in den Sechziger- und Siebzigerjahren, die schließlich von Margaret Thatcher durchbrochen wurde.

Das letzte Kapitel dieses Buches stellt die Forderung auf, dass die zentrale Aufgabe der Politik heute darin bestehen muss, eine neue Verständigung zwischen den Prioritäten der Anywheres und Somewheres in unserer Gesellschaft und Kultur zustande zu bringen. Die Wahl von 2017 hat gezeigt, wie schwer dies den beiden großen Parteien fällt. Als ich das Buch Ende 2016 schrieb, hatte ich den Eindruck, die Lösung würde am ehesten von wachsamen Anywheres wie Theresa May kommen, die begriffen hatten, dass unsere Politiker zu wenig auf die besonnenen populistischen Instinkte der Somewheres gehört hatten.

Tatsächlich schlug May, unterstützt von ihrem Berater Nick Timothy, eine plausible Einigung vor, die die Haltung der Somewheres zum Brexit und zur Einwanderungspolitik ernstnahm und gleichzeitig auf für die Konservativen neuartige Weise linke Forderungen zu Themen wie Sozialer Wohnungsbau, Managergehälter, Mitbestimmung, technische Bildung und höhere Sozialleistungen aufgriff. Das Problem war nur, dass all diese Forderungen von oben herab aufgezwungen wurden, während die traditionelle Tory-Basis noch gar nicht bereit dafür war. Am stärksten galt das für den Bereich der Sozialleistungen.

Die britische Politik ging also 2017 in einem Zustand der Verwirrung in die erste Phase der Brexit-Verhandlungen, sie befand sich in einem Spagat zwischen einem Somewhere- und einem Anywhere-Brexit. Und so blieb es die große Aufgabe für Politiker und politische Parteien, einer neuen Verständigung zwischen Anywheres und Somewheres, den mobilen akademisch gebildeten Eliten und den eher lokal gebundenen Menschen mit ihren konservativen Wertvorstellungen Stimme und Form zu geben.

 

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Aus der öffentlichen Diskussion über dieses Buch habe ich viel gelernt. Viele Kritiker wollten lieber über Technologie sprechen (weil die nächste technologische Revolution mit den Jobs der heutigen mobilen Eliten möglicherweise dasselbe macht, was die vorangegangene mit den Jobs der Somewheres getan hat), oder über die wirtschaftliche Entwicklung (keine Finanzkrise, keine Stagnation der Löhne, kein Populismus). Andere widersprachen der in ihren Augen zu einfachen binären Spaltung in Anywheres und Somewheres. Allerdings diente diese Vereinfachung zunächst auch dem Zweck, Aufmerksamkeit auf das Buch zu lenken, dessen Inhalt dann aber sehr viel mehr Grau- und Zwischentöne in Bezug auf die großen Wertegruppen sichtbar macht. Ich spreche darin auch von einer großen Gruppe Inbetweeners zwischen den beiden Extremen, ohne mich damit jedoch, wie ein Rezensent bemerkte, intensiver damit zu beschäftigen.

Meinen Kritikern gegenüber habe ich zwei Punkte hervorgehoben, die im Buch vielleicht nicht deutlich genug werden. Erstens: Beide Weltsichten, die ich beschreibe, sind legitim, auch wenn sie in einigen grundlegenden Bereichen in Konflikt zueinander treten. Zweitens: Die Bezeichnungen stammen zwar von mir, die Wertegruppen aber sind einfach da. Akademisch gesprochen: Die Datenlage (basierend auf Quellen wie den britischen Social Attitudes-Umfragen) zeigt, dass sie existieren, wenn man den Menschen die richtigen Fragen stellt.

Tatsächlich nehme ich mit einem gewissen Maß an gesundem Menschenverstand an, dass Menschen, die beispielsweise in Sachen Einwanderung eher restriktiv denken, sich auch Gedanken über Staatsbürgerschaft und gemeinsame Verhaltensnormen machen. Man kann mir nun vorhalten, dass die von mir angenommenen Anteile der einzelnen Gruppen und Untergruppen (vor allem der Anteil der besonnenen Populisten) nicht ganz so klar zu definieren sind. Aber die darin enthaltene Unschärfe führt lediglich zu kleineren Differenzen.

Wohlmeinende Kritiker machten korrekterweise aufmerksam auf das Fehlen des Themas Religion und dessen möglicher Bedeutung beim Brückenschlag zwischen der lokalen Verwurzelung einzelner religiöser Gemeinschaften einerseits und der universellen Weiträumigkeit vieler Glaubensrichtungen andererseits hin.

Mehrere Leser wiesen darauf hin, dass ich nicht darüber spreche, wie stark Kunst und Architektur von der Anywhere-Kultur dominiert sind. David Lucas argumentierte, ein großer Teil der Anywhere-Architektur sei gesichtslos und ohne den Schmuck, der eine traditionelle Form visuellen Storytellings sei. Roger Scruton hat zutreffend darüber geschrieben, wie häufig moderne Kunst jeder Vorstellung von Zuhause widerspricht.

Wichtig war mir auch die Kritik, dass ich nicht genug auf den metaphorischen Charakter des Begriffs Anywhere hinweise. Selbstverständlich haben auch die mobilen Eliten ihre Wurzeln. Aber die Mehrheit der „Nestflüchter“, die irgendwann ihre Geburtsstadt verlassen, um zu studieren oder sich beruflich weiterzuentwickeln, und nicht zurückkehren, schlagen eben an neuen Orten und in neuen Netzwerken ihre Wurzeln. Tatsächlich sind sie häufig in starken Wahlgemeinschaften in liberalen Anywhere-Hochburgen wie Brighton oder Stoke Newington angesiedelt. Und in solchen Gemeinschaften können „Echokammern“ ebenso entstehen wie bei den Somewheres.

 

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Drei Themen haben mich seit dem Schreiben dieses Buches stärker beschäftigt, und ich möchte die Gelegenheit nutzen, um hier kurz etwas zu sagen über Familie, Leistungsgesellschaft und Freihandel.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass das Kapitel über die Familie die meisten Kontroversen auslösen würde, und so war ich denn auch positiv überrascht, als es doch nicht die befürchtete polemische und polarisierende Aufmerksamkeit bekam. Bevor ich das Buch schrieb, hatte ich über diesen Bereich nie groß nachgedacht. Meine Mutter war noch recht prä-feministisch un-emanzipiert, aber Geschlechtergleichheit gehörte mein gesamtes Erwachsenenleben hindurch zu den Grundwerten der liberalen Akademikerkreise, in denen ich mich bewegte. Als ich jedoch für das Buch über die Tendenzen der aktuellen Politik nachdachte, stellte ich zu meiner Überraschung fest, wie sehr diese Politik auf die Prioritäten einer relativ kleinen Gruppe von Frauen konzentriert ist, denen ihr berufliches Fortkommen extrem wichtig ist.

Bei den Parlamentswahlen 2017 wurde von allen Parteien auf Familienpolitik abgehoben, aber in den Wahlprogrammen kamen die real existierenden Familien kaum vor. Man muss kein hartgesottener Traditionalist sein, um sich zu fragen, ob viele unserer derzeitigen Probleme nicht zumindest teilweise in einer Vernachlässigung des privaten Bereichs wurzeln.

Ich meine Dinge wie die Krise im Pflegebereich, die durchaus mit dem Nachlassen familiärer Verpflichtungen zu tun hat. Wohnraumprobleme werden durch die sinkende Zahl stabiler Ehen verschärft. Dass wir heute auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen sind, ist durchaus auch der wirtschaftlichen und kulturellen Ablehnung großer Familien geschuldet. Ganz zu schweigen vom ansteigenden Stresslevel und der Zunahme von psychischen Erkrankungen speziell bei jungen Menschen, dem Fluch der Einsamkeit, unter dem Millionen ältere Menschen leiden, und der Schwierigkeit, genug Pflegekräfte zu finden, weil sie zu wenig wertgeschätzt und unterbezahlt sind.

Eine zentrale Herausforderung für die heutige Politik besteht darin, dem häuslichen Bereich seine Würde und sein Prestige zurückzugeben – will sagen, ein Elternteil sollte in der Lage sein, länger zu Hause zu bleiben. Das wird in der Regel, aber nicht generell die Mutter sein, und damit ist nicht gemeint, dass die Fortschritte in Sachen Gleichberechtigung und Autonomie von Frauen, die in den vergangenen Generationen erreicht wurden, zurückgefahren werden sollten.

Im Augenblick läuft alles dem häuslichen Bereich entgegen, obwohl alle Umfragen zeigen, dass die Menschen das nicht wollen. Am oberen Ende geht es um Gleichheit am Arbeitsplatz und eine Minimierung der Auswirkungen von Mutterschaft auf die Karriere berufstätiger Frauen. Am unteren Ende, bei den alleinerziehenden Müttern mit niedrigem Einkommen, geht es darum, sie darin zu unterstützen, dass sie so viel wie möglich berufstätig sein können und so zum Haushaltseinkommen beitragen – und Steuern zahlen. Die wichtigsten Punkte im Wahlprogramm der Konservativen zum Thema Familienpolitik betrafen die Parität von Männern und Frauen im öffentlichen Dienst, bessere Möglichkeiten für Männer und Frauen, Elternpflichten zu teilen, und eine weitere Erhöhung des Kindergeldes (die jedoch nur dann gezahlt werden soll, wenn das Kind von Nicht-Familienmitgliedern betreut wird, während man selbst arbeitet).

Die Ambivalenz Familien gegenüber geht einher mit der Abnahme religiöser Überzeugungen und des traditionellen Bildes vom weiblichen Altruismus einerseits sowie einer eher individualistischen Lebensweise von Männern und Frauen andererseits. Stand Juni 2017 waren mehr als ein Drittel aller Führungskräfte in der EU kinderlos, sei es freiwillig oder unfreiwillig. Und er geht einher mit der wachsenden Ökonomisierung des öffentlichen Lebens.

Im Übrigen ist die heutige Entwicklung zunehmend von der Annahme getrieben, Geschlechterunterschiede im Berufsleben sollten nicht nur verändert, sondern komplett überwunden werden. Männer und Frauen sind nicht nur gleich, heißt es, sie haben auch dieselben Prioritäten. Und der Niedergang der Mainstream-Familie mit zwei Elternteilen wird als unvermeidlich angesehen, als Ergebnis von Entscheidungen, die Menschen nun einmal treffen, wenn sie die Fesseln der Tradition abstreifen.

Wohlhabende Akademikerfamilien halten sich selbst durchaus an konventionelle Familienmuster, predigen aber nicht, was sie praktizieren. Und sie verschließen leichthin die Augen vor den weniger stabilen sozialen und ehelichen Normen der geringer gebildeten Niedrigverdiener. (Dasselbe Muster haben der konservative Charles Murray und der liberale Robert Putnam auch in den USA aufgedeckt.)

Keiner unserer Mainstream-Politiker wünscht sich ein Zurück in die Fünfzigerjahre. Doch die größere Autonomie von Frauen und die zentrale Bedeutung von Berufstätigkeit sind so stark betont worden, dass wir zwei ebenso wichtige Ziele aus dem Blick verloren haben: den Respekt vor den Lebensentscheidungen zahlreicher, sehr unterschiedlicher Frauen, vor allem derjenigen, die ihre Familie an die erste Stelle setzen – und den Erhalt der Zwei-Eltern-Familie auch in einer Zeit größerer moralischer Freiheit.

Der Kampf um Gleichheit ist doch längst gewonnen. Meine beiden Töchter erleben so viele oder so wenige Hindernisse auf dem Weg zu beruflichem Erfolg wie meine beiden Söhne – zumindest bis sie Kinder bekommen. Im Interesse eines echten Pluralismus kann unsere Gesellschaft sowohl eine egalitär-androgyne Lebensweise unterstützen – bei der Männer und Frauen alle Aufgaben gleichermaßen teilen – als auch eine modifizierte Version der Arbeitsteilung unter den Geschlechtern, bis hin zu einem Modell, bei dem Mütter und gelegentlich auch Väter auf eine Berufstätigkeit verzichten.

Es besteht ein riesiges Gewinnpotenzial für jede politische Partei, die bei diesem Thema wirklich auf den Somewhere-Mainstream in Großbritannien hört. Ein Ende der Benachteiligung des häuslichen Sektors wäre fair, populär und würde nebenbei auch noch helfen, staatliche Gelder zu sparen. Es wäre Ausdruck einer modernen konservativen Gesellschaftspolitik, die wirklich Sinn ergibt.

 

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Der zweite Bereich, bei dem ich das Gefühl hatte, nur an der Oberfläche von etwas viel Größerem zu kratzen, war das Thema Leistungsgesellschaft/soziale Mobilität. Denn unter all den Veränderungen, die zahlreichen Somewheres in unserem Land in den letzten Jahrzehnten das Leben schwer gemacht haben, liegt eine große Verschiebung: der Aufstieg höherer Bildungsabschlüsse und kognitiver Fähigkeiten zum Goldstandard gesellschaftlicher Wertschätzung.

Vor wenigen Generationen führten sehr viele Menschen Tätigkeiten aus, die relativ wenig kognitive Fähigkeiten verlangten, dafür aber jede Menge Erfahrung. Dadurch waren die Arbeitsplätze dieser Menschen geschützt, und dieser Bereich der handwerklichen und industriellen Produktion bot sogar gewisse Aufstiegsmöglichkeiten. Heute wird für die Mehrheit der Jobs in Großbritannien entweder ein Universitätsabschluss verlangt oder überhaupt keine Qualifikation.

Und da man dort wohnen muss, wo man studiert, und da zudem London eine so große Bedeutung besitzt, stehen kognitive Fähigkeiten und sozialer Aufstieg immer in Verbindung mit dem Verlassen seines Zuhauses. Wer studiert, muss in der Regel seine Wurzeln kappen und zum Anywhere werden. (Diejenigen, die das getan haben, stellten beim Brexit-Referendum übrigens die Mehrheit der Brexit-Gegner, während diejenigen, die an ihrem Heimatort blieben, die Mehrheit der Brexit-Befürworter ausmachten.)

Heute leben immer noch drei von fünf Briten in einem Umkreis von 40 Kilometern rund um den Ort, wo sie im Alter von 14 Jahren gelebt haben. Aber die wenigsten von ihnen sind Absolventen renommierter Universitäten. David Morris stellte eine wachsende Spaltung innerhalb der Akademikergruppe fest zwischen denjenigen, die an mehr oder an weniger angesehenen Universitäten studiert haben. Diejenigen, die an Universitäten der sogenannten Russell Group ihre Ausbildung gemacht haben, verfügen eher über eine vollständige mobile Anywhere-Erfahrung. Sie haben sich weit von ihrem Herkunftsort entfernt und haben ein internationales Miteinander von Studierenden erlebt. Diejenigen, die die früheren Polytechnischen Hochschulen besuchten, haben sich weniger weit von ihrem Herkunftsort entfernt, viele leben immer noch zu Hause. Und an diesen Universitäten gibt es wesentlich weniger ausländische Studierende.

Soziale Mobilität ist das Mantra aller politischen Parteien. Das Mittel, um sie zu erreichen, war jedoch immer nur eine Ausweitung der höheren Bildung, wovon die Mittelschicht und Südengland unverhältnismäßig stark profitiert haben. Nach Aussage von Allen Simpson liegen 70 Prozent der obersten 20 Prozent sozial mobiler Regionen in London und dem Südosten des Landes, während Yorkshire und Humberside, also der Nordosten und die westlichen Midlands praktisch nichts davon haben. Wir haben in den letzten Jahrzehnten so etwas wie eine Erb-Meritokratie ins Leben gerufen.

Jeder will die bestqualifizierten Leute für die richtigen Jobs gewinnen, und die meisten finden nichts dabei, wenn Schlauköpfe welchen Hintergrunds auch immer so weit reisen, wie ihr Talent reicht. Aber in Oxford, Cambridge und den Top-Positionen der Wirtschaft gibt es nur eine begrenzte Anzahl an Jobs, und in jedem Fall beruht diese Annahme auf einer recht eng gefassten Vorstellung eines guten und erfolgreichen Lebens.

Kann man ein solches Leben nicht auch in Rotherham im Süden Yorkshires führen? Bildungsministerin Justine Greening bezweifelt das. In einer Rede vom März 2017 über soziale Mobilität sagte sie: „Ich denke gerade an meine Jugend in Rotherham, wo ich mir zum Ziel setzte, etwas Besseres zu finden – viele der Dinge, von denen wir hier geredet haben: einen besseren Job, ein eigenes Haus, einen interessanten Beruf, ein wirklich herausforderndes Leben … Ich wusste, da draußen wartet etwas Besseres auf mich.“ Ich bin sicher, ich hätte mir auch gewünscht, aus Rotherham wegzukommen. Aber die unbedarfte Art, mit der eine Ministerin behauptet, man könnte in einer Stadt mit 120.000 Einwohnern kein erfülltes Leben führen, deutet darauf hin, dass etwas wirklich nicht stimmt in unserem Land.

Es kann auch einen gesellschaftlichen Wert haben, dort zu bleiben, wo man ist. Und der Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, den Menschen leisten, die treu an einem Ort bleiben, sollte von Politikern stärker gewürdigt werden. Ein Leser schrieb mir die traurige Geschichte von einem Nachbarn im Osten Londons, der jetzt Ende 60 ist und immer noch in dem Haus lebt, in dem er geboren wurde. Die Leute nannten ihn den „Sheriff“, weil er jeden in seiner ethnisch gemischten Straße kannte und die Quelle war für allerlei Klatsch und Tratsch. Aber nachdem die Bevölkerung jetzt viel schneller durchwechselt, kennen ihn viele eben nicht mehr und wissen auch nicht, dass es „seine“ Straße ist.

Wie Joan Williams in ihrem Buch White Working Class: Overcoming Class Cluelessness in America schrieb: „Viele sehr fähige Menschen aus der Arbeiterschicht träumen nicht davon, zur oberen Mittelschicht mit ihrer ganz anderen Kultur zu gehören, sondern wollen in ihren eigenen Gemeinschaften den eigenen Werten treu bleiben, nur eben mit mehr Geld in der Tasche.“

Das also ist wohl der neue „dritte Weg“ unserer Zeit. Wie können wir eine offene, mobile Gesellschaft – und Elite – erreichen und dabei sinnstiftende (will sagen: stabile) Gemeinschaften höher schätzen? Wie können wir Erfolg und sozialen Aufstieg fördern, ohne automatisch all jene als Versager zu betrachten, die nicht aufsteigen und auch nicht wegziehen wollen – oder können?

Auf dem Weg zu einer neuen Verständigung soll es nicht darum gehen, in illiberale Zeiten zurückzufallen. Die große Mehrheit hat die Liberalisierung der letzten Jahrzehnte im Hinblick auf ethnische Durchmischung, Geschlechtergleichheit und Sexualität ja durchaus akzeptiert. Es geht darum, Status und gesellschaftliche Wertschätzung ebenso umzuverteilen wie Geld.

Und der Freihandel? Nun, die große Mehrheit der Menschen in Großbritannien und den USA arbeitet im Dienstleistungssektor, nicht im Handel. Aber die Diskussionen über den Handel haben eine breitere Bedeutung, wenn es um nationale Kontrolle und Souveränität geht.

Wie Michael Lind und andere beschrieben haben, ist es klar, dass Wirtschaftsvertreter den Nutzen des Freihandels über- und seine Kosten unterbewerten, vor allem, wenn es um Beschäftigung geht und Verbraucherinteressen keine große Bedeutung haben.

Technologie ist ein starker Faktor im Hinblick auf Arbeitsplatzverluste im Produktionssektor, aber der Handel ist ebenfalls ein starker Faktor. In einem wissenschaftlichen Aufsatz haben David Autor, David Dorn und Gordon Hanson festgestellt, dass 55 Prozent der US-Arbeitsplatzverluste in der Produktion von 2000 bis 2007 durch den Anstieg chinesischer Exporte verursacht wurde. Wie Milton Keynes schon sagte: „Die Idee des Freihandels tut so, als würde man den Leuten auf der einen Seite kündigen und in sie auf der anderen wieder anstellen. Doch sobald dieser Zusammenhang gekappt wird, bricht das gesamte Konzept von Freihandel zusammen.“

Seit den Sechzigerjahren ist das globale Wirtschaftswachstum rückläufig, von über 5 Prozent in den Sechzigern auf unter 3 Prozent in den 2000er Jahren. Und dies trotz der Tatsache, dass die Wirtschaftsintegration deutlich gestiegen und der Welthandel wesentlich freier geworden ist.

Ähnliches gilt für Freihandelsabkommen wie NAFTA. Robert Wade argumentiert, es habe für Aktienbesitzer und Topmanager in den USA, in Kanada und Mexiko große Gewinne gebracht, während das Wirtschaftswachstum in Mexiko selbst sich nur dahinschleppt und die durchschnittlichen Reallöhne in Mexico City mittlerweile niedriger liegen als in Shanghai. Diese Hinweise lassen zumindest den Schluss zu, dass der Freihandel nicht hingenommen werden sollte, ohne dass man ihn hinterfragt, zumal er dazu neigt, nationale Regeln der Wirtschaftsethik außer Kraft zu setzen, denen Unternehmen sich früher quasi verpflichtet fühlten. Arbeit ist heute nur noch ein globaler Produktionsfaktor. Der globale Handel mit hochqualifizierten Dienstleistungen ist wohl auch deshalb so viel schwächer, weil die akademisch gebildeten Anywheres in einer stärkeren politischen Position sind und sich vor globalem Wettbewerb schützen können.

Einige sanfte Formen von Schutz, die auf fest verwurzelte nationale Vorlieben Rücksicht nehmen und die Regeln lokaler Wertschöpfung bewahren, sollten nicht von vornherein von irgendwelchen internationalen Wirtschaftsinstitutionen über Bord geworfen werden.