Geschichte in Gedenkstätten

Inhalt

(Otto Dov Kulka, Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft, München 2013, S. 20f.)

 

 

„Ich spürte das bange Treiben um mich her. Die Erklärungen konnten warten. Ich hatte genug vom Mythos, von den Ideen, von der krankhaften Wissbegier. Ich versuchte zu hören, was sie sagten. Pass auf das Kind auf. Nein, nimm du’s mit. Der Kleine hat furchtbaren Durst. Wann geben sie uns denn was zu trinken. (…) Der Arzt saß zu meinen Füßen und musterte mich besorgt. Man reichte mir eine Wasserflasche. Sie kümmerten sich wirklich um mich. Ich brachte meinen Vortrag zu Ende.“

(Yishai Sarid, Monster, Zürich/Berlin 2019, S. 128f.)

Als „Zeugnisse eines Zeitbruchs“ hat der Germanist und Gewaltforscher Jan-Philipp ReemtsmaReemtsma, Jan-Philipp vor einigen Jahren Gedenkstätten bezeichnet. Unter dem Titel „Wozu Gedenkstätten?“ konzentrierte er sich dabei auf Orte der nationalsozialistischen Verbrechen. Trotz seiner provokanten Frage stand ihre Existenz für ihn nicht zur Debatte: „Man streitet nicht mehr um das Ob, sondern lebt im Konsens.“ Ohnehin skeptisch gegenüber Konzepten wie dem „kulturellen Gedächtnis“ oder der „kollektiven Erinnerung“, wandte sich Reemtsma entschieden dagegen, Gedenkstätten für nationale Sinnstiftungen zu nutzen, als „Orte der Umkehr“ zu betrachten oder auf Lernzwecke zu reduzieren, für die man sie eigentlich gar nicht bräuchte: Menschen zu diskriminieren und zu quälen, sei auch dann verwerflich, wenn daraus kein Massenmord erwachse, und dass man Menschen nicht anzünde, „lernt man genaugenommen gar nicht, das weiß man“ (Reemtsma 2010: 9).

Gerade die letzten Jahre lassen an diesem Optimismus zweifeln. Den Gründungsaktivisten des Dokumentations- und Informationszentrums (DIZ) EmslandlagerDokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager, Papenburg in Papenburg, das ich kurz nach seiner Gründung 1985 zum ersten Mal betrat, lag nichts ferner als die Frage nach dem Wozu. Die Fronten waren klar: Sie wollten die verdrängte, verleugnete und vergessene Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen am Beispiel der 15 Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager sichtbar machen, die im Emsland und in der Grafschaft Bentheim zwischen 1933 und 1945 bestanden hatten, und darüber im Rahmen einer kritischen, emanzipatorischen Bildungsarbeit aufklären. So brachten sie auch eine fundamentale Kritik an der unzureichenden Aufarbeitung des Nationalsozialismus nach 1945 zum Ausdruck. Sie verstanden ihren Einsatz als unverzichtbaren Beitrag zu einer weiteren – und aus der Sicht vieler: überhaupt noch ausstehenden – Demokratisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik.

Unter dem in der Nachkriegszeit aufgespannten Integrationsschirm einer konsequenten Tabuisierung und einer selektiven Erinnerung, der die 1960er und 1970er Jahre weitgehend überdauert hatte, war die Bundesrepublik vierzig Jahre nach dem Kriegsende sehr weit von einem erinnerungskulturellen Konsens entfernt und stritt heftig sowie mit offenem Ausgang mehr um das Ob als um das Wie. Bei der Handvoll Gedenkstätten, die es bis dahin in der Bundesrepublik gab, handelte es sich um Mahnmale an historischen Orten mit überschaubaren Ausstellungen, die aber weder über wissenschaftliches Personal verfügten, noch Bildungsarbeit leisten konnten. Nur die KZ-Gedenkstätte DachauDachau hatte eine

Nicht etwa eine vergangenheitsmoralische Läuterung der Bundesrepublik, sondern der Zusammenbruch des Sozialismus und die Globalisierung einer opferzentrierten Erinnerung haben seit 1990 weltweit eine Vervielfältigung von Gedenkstätten, ihren Ausbau und ihre museale und pädagogische Professionalisierung ermöglicht. Inzwischen sind sie mit mehreren Hundert Einrichtungen, die allein in Deutschland an die Verbrechen im Nationalsozialismus und die SED-Herrschaft in der DDR erinnern, zu einer zentralen Institution des kulturellen Gedächtnisses geworden. Aus der Staatsräson und dem Selbstverständnis der Bundesrepublik – manche sprechen hier wieder von nationaler Identität – ist die Verpflichtung nicht mehr wegzudenken, sich dauerhaft an die Opfer des Holocaust zu erinnern. Sie bildet den Fixstern eines neuen postheroischen Verständnisses der Vergangenheit.

Diesen konfliktreichen Prozess habe ich seit den späten 1980er Jahren partiell mitgestaltet und wissenschaftlich begleitet – unter anderem als einer der Verantwortlichen des Trägervereins des DIZ EmslandlagerDokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager, Papenburg, zeitweise als Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und Leiter der Gedenkstätte Bergen-BelsenBergen-Belsen sowie als Zeithistoriker, der sich mit der Geschichte der NS-Verbrechen, medialen Repräsentationen von Gewalt und der Erinnerungskultur nach 1945 beschäftigt hat. Für mich stellen die Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus und insbesondere der Holocaust eine historisch exzeptionelle Form kollektiver Massengewalt dar, weil sie mit den Worten von Reinhart KoselleckKoselleck, Reinhart dazu zwingen, „das Unausdenkliche denken zu müssen, das Unaussprechbare aussprechen zu lernen und das Unvorstellbare vorzustellen versuchen“ (Koselleck 2002: 29). Die Ausführungen in diesem Buch basieren in diesem Sinne auf einer Aporie, die den Kern des „negativen Gedächtnisses“ nach dem Holocaust ausmacht: Wie sich die Systematik, der Hass und die Sinnlosigkeit von Zerstörung und Vernichtung in die Körper der einzelnen Opfer eingeschrieben haben, ist nicht für die Nachlebenden erfahrbar. Dennoch lassen sich aus der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen kritisch zu reflektierende Perspektiven dafür gewinnen, in welcher gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung wir leben wollen.

Gedenkstätten sind Orte, an denen diese Aporie konkret wird. Letztlich kreist deren Geschichte seit 1945 bis in die Gegenwart darum, ob sie durch sinnstiftende, metahistorische Botschaften aufgelöst oder durch multiperspektivische Praktiken bewusst gemacht und reflektiert wird. Schon der Begriff ist schillernd: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden mit Gedenkstätten verdiente

Wer wie ReemtsmaReemtsma, Jan-Philipp nach dem Wozu von Gedenkstätten fragt, fragt nicht automatisch nach ihrem Ob und stellt selbst bei einer kritischen Analyse nicht ihr Bestehen und ihre Sinnhaftigkeit in Frage. Genau dies ist aber während des Entstehungsprozesses dieses Buches in erschreckendem Ausmaß zum Bestandteil öffentlicher und politischer Debatten in der Bundesrepublik geworden. In deutschen Parlamenten sitzen Vertreter einer Partei, die einen Bruch mit jenem geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Konsens fordert, von dessen Stabilität Jan-Philipp Reemtsma 2010 noch ausging. Sie hat sich nicht nur wiederholt gegen die staatliche Förderung von NS-Gedenkstätten ausgesprochen, für eine nationalistische Neuausrichtung der Erinnerungskultur plädiert und revisionistische Umdeutungen des Nationalsozialismus proklamiert, sondern bekämpft zugleich ausdrücklich die liberale, weltoffene und humanitäre Prägung der Bundesrepublik – eine Prägung, die erst seit den 1970er Jahren gegen beträchtliche Widerstände an Gestalt gewonnen hat und an der Gedenkstätten und die Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen einen maßgeblichen Anteil hatten.

Aber Befunde neuerer Meinungsumfragen, die das Verhältnis der Deutschen zur Erinnerung an den Nationalsozialismus thematisiert haben, lassen sich zu einem beunruhigenden Eindruck bündeln: An die Verbrechen des Nationalsozialismus zu erinnern, wird von einer großen Mehrheit zwar grundsätzlich begrüßt, aber vor allem als eine staatliche Aufgabe gesehen, die auf Druck von außen erfolgt. Die Institutionalisierung von Gedenkstätten („Geschichtskultur“) ist deshalb keineswegs mit einer kritischen Internalisierung ihrer Inhalte und Ziele („Geschichtsbewusstsein“) gleichzusetzen. So dürfte die größte Herausforderung von Gedenkstätten in einer wachsenden Drift zwischen staatlich unterhaltenen oder geförderten Institutionen des Gedenkens und einer immer komplexer werdenden Gesellschaft liegen, die sich zeitlich immer weiter vom

Angesichts dieser Herausforderungen – des gesellschafts- und geschichtspolitischen Revisionismus im Zeichen eines völkisch-nationalen Populismus, der distanzierten Wahrnehmung von Gedenkstätten als Orten einer staatlichen Wertevermittlung, der gesellschaftspolitischen Konflikte der Gegenwart sowie der Popularisierung und Eventisierung von Geschichte zusammen mit den Möglichkeiten des digitalen Zeitalters – mag Jan-Philipp ReemtsmasReemtsma, Jan-Philipp Antwort auf die Frage „Wozu Gedenkstätten?“ als Orientierung dienen: An einem Ort wie Auschwitz werde ein „Bewusstsein von der Fragilität unserer Zivilisation“ und eine „bis in die anthropologische Substanz gehende Scham“ erfahrbar (Reemtsma 2010: 9). Um diese Scham erfahren zu können, sind eine wissenschaftliche Aufarbeitung, ein reflektiertes Wissen und eine kritische Einordnung unverzichtbar, aber nicht hinreichend. Dies muss um einen emotionalen Resonanzraum und um einen ethischen Reflexionshorizont ergänzt werden: Was bedeuten diese Orte und das mit ihnen verbundene Gewaltgeschehen für unser heutiges und zukünftiges Verständnis von Menschheit, Humanität und Menschenwürde? Erst wenn Wissen, Emotion und Moral miteinander verbunden werden, treten die historischen Brüche im Gefüge der Zivilität in ihrer jeweiligen Tiefe hervor. Sie muss dabei selbst zum Gegenstand werden. Genau das können Gedenkstätten ermöglichen.

Mit dem Wort „Gedenkstätte“ assoziieren viele als Erstes Namen wie AuschwitzAuschwitz, BuchenwaldBuchenwald oder DachauDachau – Ortsbezeichnungen, die von den Nationalsozialisten genutzt wurden, um Konzentrationslager zu benennen. Andere denken womöglich an die Berliner MauerBerliner Mauer, an HohenschönhausenBerlin-Hohenschönhausen oder an BautzenBautzen – an Orte also, die mit dem Herrschaftssystem der SED verbunden sind. Als „Gedenkstätte“ können aber auch Orte bezeichnet sein, die an berühmte Personen erinnern, ebenso besondere Kirchen, Friedhöfe oder Mahnmale, Stätten, an denen Opfern von Katastrophen gedacht wird, sowie Orte von Krieg, Gewalt und Genozid in Europa und weltweit. Der Begriff wird in einer kaum mehr überschaubaren Vielfalt verwendet: Virtuell gibt es Gedenkstätten auch im Internet.

Im Folgenden werden Gedenkstätten als Institutionen verstanden, die dauerhaft dazu eingerichtet worden sind, um an Tatorten verbrecherischer und menschenverachtender, insbesondere staatlicher Gewalt in würdiger und würdigender Weise deren Opfern zu gedenken und an sie zu erinnern, Friedhöfe, Gräber und materielle Überreste zu sichern, Quellen zu sammeln und zu erschließen, zur historischen Aufklärung beizutragen und ein gegenwartsorientiertes, reflektiertes Geschichtsbewusstsein zu fördern.

Gedenkstätten sind mehr als Orte des Gedenkens, nämlich Überrest, Denkmal, Archiv, Sammlung, Forschungszentrum, Museum und Lernort. Um ihr heterogenes Aufgabenspektrum als eigenständige Institution des kulturellen Gedächtnisses dauerhaft und in der gebotenen Qualität erfüllen zu können, sind Gedenkstätten auf eigenes, insbesondere wissenschaftlich und pädagogisch hinreichend qualifiziertes Personal, auf für ihre Aufgaben ausgelegte Räume, eine Dauerausstellung mit festen Öffnungszeiten, die sich zumindest an den geltenden Standards und Möglichkeiten von Museen orientieren können muss, sowie auf ausreichende Finanzmittel angewiesen, die neben Forschung und Bildung insbesondere die Sicherung und Erschließung der baulichen und dinglichen Überreste zu gewährleisten haben (Knoch 2018).

In diesem Sinne haben sich Gedenkstätten erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt (Knigge 2004; Endlich 2009; Schmid 2011). In Polen wurde bereits im November 1944 am Ort des Konzentrations- und Vernichtungslagers MajdanekMajdanek ein „Staatliches Museum“ gegründet. Damit ging – wie auch kurz darauf für das Stammlager in AuschwitzAuschwitz – eine Selbstverpflichtung des polnischen Staates zum Erhalt des historischen Ortes und seiner baulichen Hinterlassenschaften sowie zum Sammeln und Ausstellen von Objekten und Dokumenten

In den folgenden Jahrzehnten richtete sich in der Bundesrepublik mit dem wachsenden öffentlichen Interesse für die NS-Verbrechen sowie vor allem aufgrund des Engagements von Überlebenden und zivilgesellschaftlichen Gruppen der Blick zunehmend auf die „vergessenen Orte“ der Tat (Garbe 1983). Seit den 1990er Jahren wurden in der Bundesrepublik viele der bis dahin entstandenen Gedenkstätten zur Erinnerung an die NS-Verbrechen ausgebaut und umgestaltet. Ihre Zahl hat sich inzwischen auf über 300 Einrichtungen vervielfacht (Lutz/Schulze 2017). Darunter sind aber auch Orte, die einzelne Kriterien der hier verwendeten Definition nicht erfüllen, weil sie sich zum Beispiel nicht an einem historischen Tatort befinden oder kein dauerhaftes Ausstellungs- und Bildungsangebot aufweisen.

Auch über Deutschland und die Orte der NS-Verbrechen hinaus werden das Wort „Gedenkstätte“ oder das englische Pendant „memorial museum“ uneinheitlich verwendet. Im Zuge der politischen Umbrüche, Genozide und Kriege der 1990er Jahre haben sich Orte des Gedenkens als globale Institution des kulturellen Gedächtnisses etabliert (Williams 2007; Sodaro 2018). Sie repräsentieren ein breites Spektrum an Ereignissen und Themen: nicht nur staatliche Gewaltverbrechen und Kriegsverbrechen, sondern auch koloniale Verbrechen, terroristische Anschläge, Umweltkatastrophen oder Verkehrsunfälle. Da auch Denkmäler, Gedenkzeichen, Informationstafeln oder Museen häufig als Gedenkstätte bezeichnet werden, wird deshalb in einem ersten Zugriff herausgearbeitet, was Gedenkstätten ausmacht und wodurch sie sich von anderen Orten des Gedenkens und Erinnerns unterscheiden.

Eine AnnäherungGedenkort denk.mal Hannoverscher Bahnhof, Hamburg

Wer Hamburg vom Süden aus mit der Bahn erreicht, passiert kurz vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof einen Teil der HafenCity. Die Neubauten dieses immensen Stadtentwicklungsprojekts erstrecken sich auf einem weitflächigen Areal früherer Hafen- und Industrieanlagen. Wer genau hinsieht, erkennt einen Park mit einer ungewöhnlichen Gestaltung. Er wird durch eine

Als einer von vielen lokalen Tatorten des Holocaust blieb der Hannoversche Bahnhof jahrzehntelang unbeachtet. Von 1906 an wurde er nur noch für den Güterverkehr genutzt, seit 1999 ist er gar nicht mehr in Betrieb. Das historische Empfangsportal wurde 1955 abgerissen, die Seitengebäude verschwanden wenige Jahre später. Mit der Umwandlung des innerstädtischen Hafengebiets zur HafenCity begann 2001 auch der Rückbau der Gleisanlagen. Bevor der Hannoversche Bahnhof aber in Gänze verschwand, geriet seine Nutzung während des Holocaust in den Blick. Noch 1993 hatten engagierte Bürger lediglich die Anbringung einer Tafel im Hauptbahnhof erreicht, um an die Deportierten zu erinnern. Auf viel mehr wagte kaum jemand zu hoffen. Doch in den 2000er Jahren änderten sich die Bedingungen: Durch das Engagement von Bürgern sowie von Institutionen wie der KZ-Gedenkstätte NeuengammeNeuengamme oder der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in HamburgForschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg wurden in einem mehr als zehnjährigen Prozess die Grundlagen für die Schaffung eines Gedenkorts gelegt. Bauhistorische Sondierungen, eine temporäre Ausstellung, pädagogische Projekte, ein Wettbewerb für die Freiraumgestaltung des gesamten Parks im Auftrag der HafenCity GmbH und ein 2013 eröffneter „Info-Pavillon“ bereiteten die schrittweise Realisierung vor.

Die späte Entdeckung des Hannoverschen Bahnhofs ist ein gutes Beispiel für die Konjunkturen des Vergessens und Erinnerns nach 1945, aber auch für jene Konstellationen, die seit gut drei Jahrzehnten die Einrichtung zahlreicher Gedenkstätten begünstigt haben. Er repräsentiert eine mittlerweile bestehende Vielfalt an unterschiedlichen Themen, dezentralen Orten und solchen mit zentralem Charakter, Gestaltungen und Organisationsformen der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Dabei hat ein Merkmal in den vergangenen Jahren immer größere Aufmerksamkeit erfahren: der konkrete historische Ort – die Tatsache also, dass sich die erinnerte Gewalt genau hier ereignet hat und noch Überreste erhalten sind. So vermittelt der Gleisrest am Hannoverschen Bahnhof nicht nur den Eindruck eines authentischen Bezugspunkts des Erinnerten, sondern weist auch über sich hinaus auf die Topographie der Todesorte, an die Menschen von hier aus transportiert wurden.

Das „denk.mal“ wird auch als „Gedenkort“ bezeichnet und besteht aus drei Elementen: An dem erhalten gebliebenen Gleisstück befindet sich ein Mahnmal mit Namenstafeln der Opfer, das auf Drängen von Überlebenden in die Planung

Der Gedenkort „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“Gedenkort denk.mal Hannoverscher Bahnhof, Hamburg weist somit wesentliche Merkmale auf, die heute mit einer Gedenkstätte verbunden werden: einen historischen Ort und zumindest fragmentarische Relikte als Sachzeugnisse; ein namentliches Gedenken an Opfer eines staatlichen Massenverbrechens; eine Verbindung von Überresten, Mahnmalen und Landschaftsgestaltung; eine Dauerausstellung und ein Bildungsangebot mit regelmäßigen Nutzungszeiten und festem Personal; eine Sammlung, eine Bibliothek und andere Informationsangebote; ein Netzwerk aus bürgerschaftlich Engagierten, wissenschaftlichen Experten und staatlich Verantwortlichen. Allerdings: Auch wenn bis zum „Gedenkort“ ein langer Weg und viele Verhandlungen führten, waren mit seiner Entstehung gegenüber früher entstandenen NS-Gedenkstätten wie der KZ-Gedenkstätte Neuengamme deutlich weniger erinnerungspolitische Konflikte verbunden.

Beispiel: Die KZ-Gedenkstätte NeuengammeNeuengamme

Zum 60. Jahrestag der Befreiung wurde 2005 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme im Südosten von Hamburg die neugestaltete Gedenkstätte der Öffentlichkeit übergeben. Sie umfasst eine Fläche von 57 Hektar – das ist mehr als das Elffache der Grünfläche vor dem Berliner Reichstag – mit 17 historischen Gebäuden sowie zahlreichen baulichen Überresten und Bodendenkmälern. Während vom Häftlingslager nur noch wenige Bauten erhalten sind, befinden sich in unmittelbarer Nähe mit dem ehemaligen Klinkerwerk und den früheren Walther-Werken zwei große Baukomplexe, in denen die Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten. Im Zuge der Neugestaltung der Gedenkstätte wurden frühere Standorte der Häftlingsunterkünfte und Teile ihrer Überreste symbolisch sichtbar gemacht und der Appellplatz teilrekonstruiert. An insgesamt fünf Standorten werden dauerhaft Ausstellungen gezeigt, darunter in einem der beiden erhaltenen Massivbauten des Lagergeländes die zentrale Dauerausstellung. Jährlich besuchen mit steigender Tendenz etwa 100.000 Menschen die Gedenkstätte.

Der Weg zu dieser Gedenkstätte war lang und konfliktreich. Das KZ Neuengamme wurde zunächst 1938 als Außenlager des KZ SachsenhausenSachsenhausen eingerichtet. Die SS machte daraus 1940 ein eigenständiges KZ mit schließlich 85 Außenlagern im gesamten Nordwesten Deutschlands, in das bis Kriegsende insgesamt etwa 100.000 Häftlinge verbracht wurden. Bis 1948 diente es als britisches Internierungslager für SS-Angehörige, zivile Funktionsträger des NS-Staats und mutmaßliche Kriegsverbrecher. Kurz zuvor hatte die hamburgische Gefängnisbehörde beantragt, das Gelände für eigene Zwecke nutzen zu dürfen. Während ein Neubau die Holzbaracken des Häftlingslagers ersetzte, wurden große Teile der befestigten Bauten des Konzentrationslagers für Insassen und Personal weitergenutzt. Als 1970 ein weiteres Gefängnis errichtet und zunächst für Jugendliche, dann ab den 1980er Jahren als geschlossene Erwachsenenanstalt verwendet wurde, war endgültig kein Zugang zum ehemaligen Häftlingslager mehr möglich.

Es waren zunächst Überlebende, die sich gegen die achtlose Weiternutzung und das lokale Vergessen für ein Gedenken am Ort selbst einsetzten. 1953 erreichten französische Überlebende die Aufstellung einer Gedenksäule auf dem Gelände der ehemaligen Lagergärtnerei, am westlichen Rand des ehemaligen KZ. Für die Überlebenden hat dieser Ort eine besondere Bedeutung: Hier hatte die SS die Asche der im Krematorium verbrannten Leichen verstreuen lassen. Die 1958 als Zusammenschluss der nationalen Verbände ehemaliger Neuengamme-Häftlinge gegründete Amicale Internationale KZ NeuengammeAmicale Internationale KZ Neuengamme setzte sich für eine würdige Gestaltung dieses Bereichs ein, den sie als Friedhof deklarierte und reklamierte. In den folgenden Jahrzehnten entstand außerhalb des ehemaligen Lagergeländes ein Gedenkhain mit internationalen Einzelgedenksteinen neben der Gedenksäule. 1965 wurde in diesem Areal ein weitläufigeres Mahnmal des Hamburger Senats eingeweiht. Die parkartige Anlage aus einer Stele, einer Steinmauer und einer Skulptur firmierte bereits als „Gedenkstätte“, verfügte aber weder über Personal noch über eine Ausstellung.

Hatte das Gedenken so einen ersten Ort gefunden, war der Weg zur Erinnerung vor allem im Sinne von Information und Aufklärung auf dem historischen Lagergelände selbst noch weit. Während sich auch in Hamburg zivilgesellschaftliche Erinnerungsinitiativen formierten, beschloss der Senat der Stadt den 1981 fertiggestellten Bau eines „Dokumentenhauses“, um das bestehende Mahnmal mit Informationen vor allem zu den Toten des Lagers zu ergänzen. 1985 wurde im Gedenkhain die bundesweit erste Gedenktafel zur Erinnerung an jene Häftlinge eingeweiht, die als Homosexuelle verfolgt wurden. In diesen Jahren kam es wiederholt zu Protesten gegen Bauentscheidungen der Justizbehörde und den Fortbetrieb ihrer Einrichtungen auf dem ehemaligen Lagergelände. 1989 entschied der Senat, die Justizanstalten zu verlagern. In dieser Zeit nahm die Gedenkstätte als Teil des Museums für Hamburgische GeschichteMuseums für Hamburgische Geschichte ihre Arbeit auf und eröffnete 1995 eine erste Dauerausstellung.

Vier Jahre später wurde die Gedenkstätte zwar zu einer selbstständigen Einrichtung der Hamburger Kulturbehörde erklärt, aber die geplante Verlagerung der Gefängnisse verzögerte sich. Gleichwohl wurden um den ehemaligen Lagerkern erste der umliegenden Bauten und Geländezeichen für die Gedenkstätte restauriert und nutzbar gemacht. 1999 eröffneten Finanzierungsmöglichkeiten im Rahmen der ersten Gedenkstättenkonzeption des Bundes die substantielle Förderung einer Neugestaltung der Gedenkstätte im Verbund mit Mitteln des Senats. Dem sollte später ihre Übernahme in eine anteilige dauerhafte, institutionelle Förderung des Bundes folgen.

Mehrere Beschlüsse der Hamburger Bürgerschaft sahen in dieser Zeit eine kurzfristige Schließung der 1948 eingerichteten Justizvollzugsanstalt vor. Doch der im Herbst 2001 neu gewählte Senat stoppte deren Verlagerung und damit den Ausbau der Gedenkstätte. Heftige Proteste sorgten für eine Rücknahme des Beschlusses. Die ältere Haftanstalt sollte nun doch abgebaut werden. Die Schließung des jüngeren der beiden Gefängnisse wurde hingegen erst 2006 verfügt – ein Jahr, nachdem die neugestaltete Gedenkstätte eröffnet worden war. Erst nach dem Abriss der zweiten Anstalt wurde das gesamte ehemalige Häftlingslager zur Gedenkstätte. An die Gefängnisse erinnern heute bewusst noch einzelne Überreste und ein Wachturm. Das seit den 1950er Jahren entstandene Areal des Totengedenkens wurde in die Gedenkstätte integriert. Es symbolisiert auch die unverzichtbare Bedeutung des langjährigen Engagements zahlreicher Bürger und vor allem vieler Überlebender auf dem hürdenreichen Weg bis zur heutigen Gedenkstätte.

 

Literatur: Wrocklage 1998; Garbe 2006; Klei 2011: 359574.

Die Stadt Hamburg bezeichnet den Hannoverschen Bahnhof bereits als Gedenkstätte. Eine offizielle Website (www.gedenkstaetten-in-hamburg.de) informiert über ihn zusammen mit etwa einhundert weiteren unter dem Rubrum „Gedenkstätten“, worunter sich aber auch Gedenktafeln, Gedenksteine, Gedenkplatten, Gedenkstelen, Plastiken und Bildtafeln, Mahnmale und Denkmale finden. Zehn dieser Orte verfügen über Ausstellungen und werden deshalb als „Lernorte“ bezeichnet. Eigenbezeichnungen durch Verantwortliche helfen also nicht immer weiter, wenn es um die Klärung der Frage geht, was eine Gedenkstätte ist. Die Zahl an Gedenkorten im Hamburger Stadtgebiet ist zudem noch weitaus größer: Neben mehr als 5000 „Stolpersteinen“, die an im Nationalsozialismus verfolgte Hamburger Bürgerinnen und Bürger vor ihren letzten Wohnorten erinnern, gibt es 200 weitere Gedenktafeln, die auf private oder kommunale Initiative hin entstanden sind.

Gedenkort – Gedenkmuseum – Denkmal – Erinnerungsort

Gedenkort soll hier als Oberbegriff für die vielfältige Landschaft materieller Orte zur Erinnerung an Gewaltopfer fungieren: für Gedenkstätten im engeren Sinne, Gedenkmuseen, Gedenktafeln, die historische Orte kennzeichnen, Denk- und Mahnmale, Friedhöfe, Sakralbauten oder Gedenk- und Museumsparks. Die seit den 1990er Jahren entstandenen „Stolpersteine“ des Kölner Künstlers Gunter DemnigDemnig, Gunter sind in diesem Sinne ebenso Gedenkorte wie die zahlreichen „living memorials“ in den USA, also Baumpflanzungen, Parks oder Wälder, die im öffentlichen Raum zur Erinnerung an Opfer von Katastrophen wie 9/11 – oft auf Initiative von Angehörigen, Helfern oder Künstlern – angelegt wurden.

Eng verbunden mit dem öffentlichen Gedenken an Menschen als unschuldigen Gewaltopfern sind die zahlreichen improvisierten, temporären Gedenkorte („grassroots memorials“) nach Unfällen, Anschlägen, „mass shootings“ oder an anderen Orten, wo Menschen etwa durch Misshandlung oder Kindesmord ums Leben gekommen sind (Doss 2008; Margry/Sánchez-Carretero 2011). Es ist üblich geworden, auch solche Orte als Gedenkstätte zu bezeichnen. Diese spontane, zugleich aber ausgesprochen ritualisierte, emotionalisierte und medialisierte Gedenkkultur im öffentlichen Raum hat – trotz vieler Vorläufer und kultureller Transfers – durch den Unfalltod von Lady Diana 1997 einen deutlichen Schub erfahren. Vor allem in London und Paris entstanden in kürzester Zeit Orte mit einem Meer aus Blumen, Karten und Erinnerungsobjekten, die zum Vorbild für

Solche Gedenkorte im öffentlichen Raum zeugen von einer neuen Aufmerksamkeitskultur für öffentliche Gefühlsgesten und von einem Bedürfnis, persönliche Emotionen – Erschütterung, Trauer, Angst – an einen sichtbaren, symbolischen, quasireligiösen Ort zu binden, der zunächst keiner institutionalisierten Verantwortung unterliegt. Ebenso nutzen viele sie als Orte der Schaulust und der Teilhabe an einem medialisierten Hype. Geht die Initiative an vielen Orten auch von Personen aus, die zu den Opfern einen persönlichen Bezug hatten, ist ein wesentliches Merkmal dieser öffentlichen, spontanen Praxis eine emotionale Mobilisierung vieler Menschen, die sowohl durch mediale Kommunikation als auch durch reale Begegnungen am Ort des Geschehens entsteht. So wird eine Beziehung zu den Toten und zur temporär sozialen, aber auch imaginären Gemeinschaft der unmittelbar und mittelbar Betroffenen ermöglicht.

Gedenkorte dieser Art haben auch eine politische Dimension: Sie sind oft als situativer Protest der Zivilgesellschaft mit Appellen verbunden, die mehr Schutz durch Staat und Politik einfordern; der Besuch eines solchen Gedenkorts durch hochrangige Politiker wird in der Regel erwartet und ist Teil des (Medien-)Rituals, wird aber nicht immer mit Beifall bedacht. Dies zeigt: Gedenkorte, Opfergedenken, Gemeinschaftsbildung und Sinnstiftung angesichts von Ereignissen, die als Einbruch in die funktionale Normalität des Alltags wahrgenommen oder als solche kommuniziert werden, sind nicht auf historische Phänomene beschränkt, sondern einer jener Kontexte, der zur Etablierung von Gedenkstätten als Institutionen des kulturellen Gedächtnisses vor allem seit den 1990er Jahren beigetragen hat.

Im Unterschied zu Gedenkstätten im engeren Sinne werden hier Einrichtungen, die zwar an Opfer staatlicher Massengewalt erinnern, sich aber nicht am historischen Ort des verbrecherischen Handelns befinden, als Gedenkmuseen bezeichnet – zum Beispiel die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-KonferenzGedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin in Berlin, das United States Holocaust Memorial MuseumUnited States Holocaust Memorial Museum, Washington (USHMM) in Washington oder Yad Vashem in JerusalemYad Vashem, Jerusalem. Yad Vashem wurde 1953 als zentrale „Memorial Authority“ des neuen Staates gegründet und viele Jahrzehnte lang als „The Holocaust Martyrs’ and Heroes’ Remembrance Authority“ bezeichnet. Inzwischen firmiert Yad Vashem unter dem Namen „The World Holocaust Remembrance Center“. Der Begriffswandel zeigt, wie sich Aufgabe und Anspruch von einem stark national bezogenen heroisierenden Gedenken hin zu einer Erinnerungs-, Forschungs- und Bildungsarbeit in internationaler Perspektive erweitert haben. Dennoch dient Yad Vashem immer noch vor allem der israelisch-jüdischen Identitätsbildung (Kurths 2008; Kashi 2012).

Die Entwicklung von Gedenkstätten ist durch ein zumindest ambivalentes, wenn nicht gebrochenes Verhältnis zur Tradition des Denkmals gekennzeichnet. Im klassischen Sinne ist Denkmal ein Oberbegriff für historisch bedeutsame Bauten, Landschaftsgestaltungen und ihre geschützten Überreste sowie für künstlerisch gestaltete, ortsgebundene Objekte, die an bestimmte Personen oder Ereignisse erinnern. Die Kategorie der staatlich geschützten Bau- und Bodendenkmäler umfasst also weit mehr Objekte als die zu Gedenkzwecken errichteten Denkmäler im engeren Sinne, wie sie vor allem seit dem 19. Jahrhundert entstanden sind. Ein wiederkehrendes Bedürfnis nach verbindlichen Deutungsangeboten im Zuge von Kriegen oder der Gründung von Nationalstaaten hat zur Errichtung zahlreicher öffentlicher Denkmäler geführt. So entstanden vor allem nach den beiden Weltkriegen europa- und weltweit eine Vielzahl von Kriegerdenkmälern. Allein in Deutschland wird ihre Zahl auf über 100.000 geschätzt, die zeitgenössisch vielfach auch als Ehrenmal bezeichnet wurden – ein Begriff, der bis heute Verwendung findet.

Weil die Heroisierung des soldatischen Todes nach 1945 in den Hintergrund trat und sich Begriffe wie „Ehre“ nicht mit der Erinnerung an die Kriegsverbrechen und den Holocaust vertrugen, etablierte sich eine besondere Form des Denkmals: das Mahnmal. Dabei handelt es sich um öffentlich zugängliche, meist künstlerisch gestaltete und auf Dauer angelegte Gedenkorte, die eine kritische Besinnung auf die Gewaltdimension eines historischen Ereignisses und dessen Folgen einfordern. Viele Holocaust-Mahnmale entstanden bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – wie das bereits 1948 eingeweihte „Denkmal der Helden des Ghettos“ in WarschauDenkmal der Helden des Ghettos, Warschau (Young 1993; Marcuse 2010b). Als ihre Vorläufer können die Grabmale für den unbekannten Soldaten gelten, die kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zuerst in London („The Tomb of the Unknown

Auch in den meisten Gedenkstätten gibt es mindestens ein Mahnmal, oft aber gleich mehrere, die an verschiedene Häftlingsgruppen erinnern. Bis in die 1980er Jahre haben sie sich an der Formensprache des nationalen Totengedenkens orientiert. Einer der frühesten Gegenentwürfe war der ursprüngliche Siegerentwurf des großen internationalen Wettbewerbs für ein Mahnmal in Auschwitz-BirkenauAuschwitz 1957/58. Es sah einen siebzig Meter breiten und einen Kilometer langen, abgesenkten Weg diagonal durch das ehemalige Vernichtungslager bis zu den Krematorien vor. Der abstrakte, moderne Entwurf wurde vor allem deshalb nicht verwirklicht, weil er dem Zweck traditioneller Denkmäler, Identifikation durch eine positive symbolische Repräsentation von Geschichte zu stiften, zu radikal widersprach.

Seit den 1980er Jahren lassen sich drei grundlegende Veränderungen der westlichen Denkmalkultur feststellen, in deren Kontext auch die Entwicklung von Gedenkstätten einzuordnen ist: Erstens werden statt ehrender Denkmäler immer mehr Mahnmale errichtet; im Amerikanischen hat sich der Sprachgebrauch dementsprechend von „monuments“ zu „memorials“ verschoben. Statt die Vergangenheit zu heroisieren, adressieren sie vor allem Gefühle wie Scham, Trauer oder Angst. Zweitens repräsentieren sie von der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung bis zu AIDS-Opfern eine große Bandbreite an Themen, die bis dahin nicht im kulturellen Gedächtnis präsent waren. Drittens dominiert ein ästhetischer Minimalismus: Viele Mahnmale sollen durch Elemente wie Reflexion (Wasser, Spiegelflächen), klare geometrische Formen ohne Verzierungen, Spalten („voids“), gelenkte Wegeführungen und gebrochene Blickachsen das Verhältnis des Besuchers zu seiner Welt irritieren. Ihr abstrakter Charakter zielt darauf ab, selbstreflexive, deutungsoffene und subversive Zugänge zu eröffnen (Doss 2012).

Vor allem verweigern sich diese Mahnmale dem Anspruch einer identifikatorischen und symbolischen Repräsentation der Vergangenheit. Den Paradigmenwechsel vom heroisierenden „monument“ zum postheroischen „memorial“ markierten in der Bundesrepublik um 1990 zahlreiche „Gegen-Denkmäler“. Die damit zum Ausdruck gebrachte Überzeugung einer ästhetischen Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust prägte auch die Entwicklung der Gedenkstätten. Sie ist mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber ästhetisch-figurativen Darstellungen verbunden, die mehrere Jahrzehnte lang auch die Mahnmale in Gedenkstätten bestimmt hatte. Gleichzeitig führten Mahnmale, die zum Beispiel an die Deserteure des Zweiten Weltkriegs oder an Menschen erinnerten, die als Homosexuelle verfolgt worden waren, zu grundlegenden Konflikten und Verschiebungen öffentlicher Zeigbarkeitsregeln. Allerdings sind Mahnmale im Unterschied

Gedenkstätten werden vielfach auch als Erinnerungsort („lieux de memoire“) bezeichnet oder verstanden. Der Begriff hat seit den 1980er Jahren eine erstaunliche Karriere erlebt (Robbe 2009; Siebeck 2017), die mit dem wissenschaftlichen Interesse an kulturellen Gedächtnisformen, aber auch identitätspolitischen Interessen korrespondiert. Ein Erinnerungsort kann dem französischen Historiker Pierre NoraNora, Pierre zufolge alles sein, was durch menschlichen Willen zum immateriellen, materiellen oder ideellen Symbol gemeinschaftlicher Erinnerungen geworden ist: geographische Orte, Institutionen wie Museen und gestaltete Artefakte wie Denkmäler, aber auch Topoi, Lieder, Begriffe, Kunstwerke oder Bilder (Nora 1996).

NoraNora, Pierre betrachtet Erinnerungsorte als „flüchtige Heiligtümer in einer Gesellschaft der Entheiligung“ (Nora 1990: 17). Sie sollen gemeinschaftsstiftend wirken und verbindliche Geschichtsbilder repräsentieren. Einerseits trifft dies durchaus auch auf Gedenkstätten zu, gerade wenn es um nationale oder partikulare Opfergedächtnisse geht. Andererseits ist aus den Ereignissen, die sie repräsentieren, gerade in der Bundesrepublik eine beträchtliche Skepsis gegenüber nationalen Identitätsstiftungen und der Anspruch erwachsen, Identitätsrelevanz und Identitätskritik unlösbar miteinander zu verbinden. Dies soll dazu beizutragen, die „Fluidität und Wandelbarkeit von Erinnerung“ in einer „permanenten Spannung“ zu halten, statt „Meistererzählungen“ der Vergangenheit geschichtspolitisch zu fixieren (Berger/Seiffert 2014: 33).

Gedenkstätte: Eine kurze Begriffsgeschichte

Bereits im 19. Jahrhundert entstanden unter der Bezeichnung „Gedenkstätte“ an Orten des Lebens und Wirkens berühmter Literaten, Musiker und Künstler wie SchillerSchiller, Friedrich oder GoetheGoethe, Johann Wolfgang von personenbezogene Gedenkorte (Bohnenkamp-Renken u.a. 2015). Sie dienten einer hagiographischen Form des verehrenden Angedenkens. Aus diesem Grund wurden auch besondere Kirchen oder Wallfahrtsorte ebenso wie Denkmäler oder Ehrenmäler für bedeutende Feldherrn und lokale Größen als Gedenkstätte bezeichnet. Nachdem die Nationalsozialisten 1934 den neun Jahre zuvor offiziell zum Gedenken an die Weltkriegstoten eingeführten „Volkstrauertag“ in „Heldengedenktag“ umbenannt hatten, wurde der Begriff zunehmend für Orte der Heldenverehrung verwendet. In Hannover diente seit 1935 das Leineschloss mit den Beständen der „Weltkriegssammlung“ als „HeeresgedenkstätteHeeresgedenkstätte, Leineschloss, Hannover“ einer musealen Kriegsverherrlichung (Schneider 1987). An diese Traditionslinie knüpfte die Bundesrepublik nach 1945 an, wenn auch auf das Wort „Helden“ offiziell weitgehend verzichtet wurde. Der Begriff „Gedenkstätte“ fand