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ANSELM GRÜN

„Was
soll ich
tun?“

Antworten auf Fragen,
die das Leben stellt

Herausgegeben von

Anton Lichtenauer

 

 

2. Auflage 2009

 

© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2008

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

 

ISBN (E-Book) 978-3-451-33324-8

ISBN (Buch) 978-3-451-29985-8

 

 

EINLEITUNG

Täglich bekomme ich Briefe, in denen Menschen ihre Probleme schildern. Sie wollen, dass ich ihnen eine Antwort gebe. Sie wollen wissen, was sie tun sollen, ganz praktisch. Sie fragen nach Sinn und suchen Hilfe und Orientierung in konkreten Alltagsproblemen. Sie möchten von mir nicht die Lösung ihrer Probleme. Aber sie möchten Denkanstöße haben, damit sie selbst die Lösung finden. Von den vielen Fragen zu schließen, die ich bekomme und die täglich in den Redaktionen von Illustrierten eintreffen, kann man vermuten, dass heute die Orientierungslosigkeit größer geworden ist. Das gilt sicher nicht nur für Einzelne. Manager, die ihre Unternehmen an schnelle Veränderungen im Markt anpassen müssen, holen sich den Rat von Experten ebenso wie Politiker sich in schwierigen Sachfragen durch wissenschaftliche Institute beraten lassen. Es gibt längst nicht nur die „klassischen“ Erziehungs- oder Eheberater. Ob Personalberater oder Kundenberater, Stilberater oder Ernährungsberater, Versicherungsberater oder Vermögensberater – Berater haben Konjunktur. Beratung für nahezu alle Lebensbereiche ist inzwischen zum profitablen Dienstleistungsgewerbe geworden und Soziologen haben dafür den Begriff der „Beratungsgesellschaft“ geprägt.

Das Leben ist unsicherer geworden, die Biographien oder Entscheidungen von Menschen sind nicht mehr durch Traditionen oder andere Vorgaben bestimmt. Die Welt als ganze ist riskanter, nicht mehr eindeutig und übersichtlich. Der Einzelne wird in der Folge davon immer mehr zum individuellen Gestalter des eigenen Lebens. Die Menschen geraten, so hat es ein Psychologe beschrieben, immer mehr in so etwas wie ein Labyrinth der Selbstverunsicherung, Selbstbefragung und Selbstvergewisserung hinein. Und bei vielen ist das Bedürfnis groß, aus diesem Labyrinth herauszufinden und andere Menschen zu fragen, wie das Leben gelingen kann und was man in einer konkreten Situation tun soll. Sie sind, auf sich allein gestellt, von ihren Schwierigkeiten so in Beschlag genommen, dass sie sie nicht richtig einordnen können in das Ganze des Lebens.

Was sollen wir tun? Diese Frage, die hinter der Suche nach Rat und Hilfe steht, ist allerdings auch nichts Neues. Sie ist eine uralte menschliche Frage und hat schon die griechischen Philosophen bewegt. Es war neben der Frage „Wer bin ich? Was ist das Sein?“ die Grundfrage, auf die sie Antwort geben wollten. Der Evangelist Lukas lässt die Leute, die zu Johannes dem Täufer kommen, diese Frage dreimal stellen. Und als Petrus an Pfingsten predigt, trifft es die Zuhörer mitten ins Herz und sie fragen Petrus: „Was sollen wir tun?“ (Apg 2,37) Es ist also eine Frage, die wir immer wieder stellen, wenn wir ratlos sind, wenn wir nicht weiterwissen und auch, wenn wir von etwas sehr berührt werden. Dann fragen wir, wie wir mit unserem Leben auf diese oder jene tiefe Erfahrung antworten sollen.

Wenn ich an die griechische Philosophie z.B. eines Sokrates denke, dann bekommt die Frage nach dem rechten Tun für mich etwas Sympathisches. Aber wenn ich die Frage isoliert betrachte, dann taucht in mir die Angst auf, sie sei zu moralisierend.

Von meinem spirituellen und psychologischen Ansatz her ist es erst einmal wichtig, zu fragen: Wer ich bin? Was macht das Geheimnis meines Menschseins und meiner Erlösung aus? Dann erst wird die Frage nach dem Tun wichtig. Das Tun muss aus einer neuen Erfahrung fließen.

Zum andern wehrt sich in mir etwas gegen diese Frage „Was soll ich tun?“, weil ich damit allzu einfache Patentrezepte assoziiere, die uns in zahlreichen Ratgeberbüchern gegeben werden. Auf wohlfeile Ratschläge verzichten wir lieber. Und zudem sind Ratschläge, wie schon die Sprache sagt, oft Schläge, die uns gegeben werden.

Das Sprichwort sagt: „Guter Rat ist teuer.“ Ich will mich also hüten, in diesem Buch billige Ratschläge zu geben: Tipps, die wie ein frommes Pflaster auf die Not des Fragenden geklebt werden oder wie ein Rezept klingen, das ich nur anzuwenden brauche, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen.

Ein finnisches Sprichwort sagt vom Rat: „Guter Rat ist wie Schnee, je leiser er fällt, desto länger bleibt er liegen.“ Dieser Satz gefällt mir gut. In diesem Sinn also möchte ich eher leise Antworten auf die Fragen geben, in der Hoffnung, dass das Gesagte länger liegen bleiben und in der Seele der Leser und Leserinnen Wirkung entfalten kann.

Die deutsche Sprache ist voller Weisheit. Sie spricht in einem positiven Verständnis vom Rat und meint damit ursprünglich das, was wir zum Lebensunterhalt notwendig brauchen. In diesem Sinn sprechen wir etwa vom Vorrat oder Hausrat. Erst im abgewandelten Sinn bedeutet dann Rat eine Unterweisung, eine Empfehlung. „Rat“ wird aber auch die Gemeinschaft der Beratenden genannt. Mit dem „Ratschlag“ assoziieren wir zunächst, dass wir dem Fragenden mit unserem Rat einen Schlag versetzen, also einen wirksamen Impuls geben. Doch eigentlich ist damit gemeint, dass wir einen Beratungskreis schlagen, dass wir den Kreis für die Beratung abgrenzen. Dieses Bild ist mir sympathischer. Ich möchte keine Ratschläge geben, die den Fragenden schlagen, sondern die einen Kreis abgrenzen, innerhalb dessen wir nach einer Lösung suchen können.

Noch lieber als das Wort „Ratschlag“ ist mir die Empfehlung. Ich versuche, dem Fragenden eine Empfehlung auszusprechen. Das deutsche Wort „empfehlen“ hängt mit „befehlen“ zusammen. Dieses Wort hat aber ursprünglich nichts mit „gebieten“ zu tun, sondern vielmehr mit: anvertrauen, übergeben. Die religiöse Sprache kennt das Wort noch in diesem Sinn: „Ich befehle meine Seele Gott“. Oder wie es im Lied von Paul Gerhard heißt: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.“ Die Antworten, die ich auf die Fragen gebe, möchte ich dem Leser und der Leserin zum Bedenken anvertrauen, damit sich in ihrem eigenen Herzen eine Antwort auf die Fragen bildet.

In den Antworten, die ich in diesem Buch versuche, habe ich nicht den Anspruch, die Probleme der Fragesteller zu lösen. Aber offensichtlich hilft es fragenden Menschen, wenn jemand ihre Situation aus einer anderen Perspektive heraus betrachtet. Der Perspektivwechsel weitet den eigenen Blick. Oft genügt es in der Tat schon, die Perspektive zu wechseln, um einen Sachverhalt anders und damit vielleicht auch klarer zu sehen. Und auf einmal können fragende Menschen im Licht einer Antwort, die ein Außenstehender gibt, für sich selbst eine Antwort finden.

Wenn ich antworte, überlege ich nicht lange hin und her, sondern höre in mich hinein, welche Worte in mir auftauchen. Ich weiß, dass ich keine endgültigen Antworten zu geben vermag. Vor allem kann ich die Probleme der Menschen nicht lösen. Die Lösung muss jeder selbst für sich finden. Ich kann nur ein paar Gedanken zu den Fragen formulieren und hoffen, dass die etwas bewirken. Manchmal helfen die Überlegungen eines anderen Menschen, um eine festgefahrene und immer mehr verengte Sicht etwas zu weiten. Denn manchmal ist man von seinen eigenen Schwierigkeiten so in Beschlag genommen, dass man sie nicht richtig in das Ganze des Lebens einordnen kann. Da ist es dann gut, einen Schritt zurück zu machen und vom Abstand her genau hinzusehen, ob man sein Leben nicht doch auch in einem anderen Licht sehen kann.

In meinen Antworten gehe ich von meinen eigenen Erfahrungen aus. Aber natürlich auch von meiner spirituellen Prägung und dem, was ich von Psychologen gelernt habe. Dabei unterscheide ich nicht, ob eine Antwort mehr psychologisch oder spirituell ist. Beides ist mir wichtig: die psychologische und die spirituelle Seite. Ich schreibe das, was mir meine Intuition oder besser gesagt: was mir der Heilige Geist eingibt. Ich vertraue meine Worte dem Fragenden an, damit er mit dem Vertrauen in sich in Berührung kommt. Und ich übergebe ihm meine Worte, damit er sich mit ihnen vertraut macht und sie in seine eigenen Worte verwandelt, sie mit seinem eigenen Leben in Verbindung bringt. Empfehlen meint ursprünglich: zum Schutz anvertrauen. Die Worte, die ich als Antwort auf die Briefe schreibe, sollen den Menschen, der sich bedrängt fühlt von seinen Nöten und Schwierigkeiten, Schutz gewähren. Sie sollen wie ein Haus sein, in dem er in aller Ruhe sein Leben bedenkt und neue Kraft schöpft, um es zu bewältigen.

Bei der Vorbereitung dieses Buches sind mir natürlich Zweifel gekommen, ob ich die Fragen so vieler Menschen benutzen darf, um eine Antwort zu geben. Ich habe die Fragen aus der jeweiligen persönlichen Situation so herausgenommen und verallgemeinert, dass die Person nicht mehr identifizierbar ist. Ich habe einige der an mich herangetragenen Fragen auch in einen größeren Horizont gestellt, damit sie für viele Leser und Leserinnen nachvollziehbar sind. Ich habe auch nicht einfach die Antworten wiederholt, die ich in persönlichen Briefen geschrieben habe. Diese Briefe waren für mich nur der Hintergrund und der Ausgangspunkt, wenn ich im folgenden Antworten formuliert habe, und ich hatte dabei immer Menschen vor Augen, die ähnliche Fragen haben könnten. Ich hoffe also, dass sich viele Leser und Leserinnen in diesem Buch wiederfinden und beim Lesen der Antworten für sich einen Weg entdecken, wie sie auf ihre eigenen Fragen antworten können.

ELTERN UND KINDER, FAMILIE

Wenn man mit anderen Menschen intensiver und näher ins Gespräch kommt, dann werden fast regelmäßig die Beziehung zu den eigenen Eltern thematisiert. Da gibt es Verletzungen in der Kindheit. Und es gibt die Probleme in der gegenwärtigen Beziehung zu den Eltern. Es ist natürlich, dass es Verletzungen gibt. Doch irgendwann sollten wir die Wunden nicht mehr den Eltern vorwerfen, sondern die Verantwortung für unsere Kindheit übernehmen. Sie war so, wie sie war, mit ihren positiven und negativen Erfahrungen, mit den gesunden Wurzeln und mit den Kränkungen, die wir erfahren haben. Es ist unsere Aufgabe, uns mit den Verletzungen auszusöhnen und die Wunden – wie die hl. Hildegard von Bingen sagt – in Perlen zu verwandeln. Gerade dort, wo wir verletzt worden sind, können wir auch unsere persönlichen Fähigkeiten entdecken und entwickeln. Es ist eine Weisheit schon der griechischen Antike, dass nur der verwundete Arzt zu heilen vermag. Denn wer die Schmerzen kennt, ist fähig zum Mitgefühl.

Häufig wirken sich die Verletzungen der Kindheit auch auf die gegenwärtige Beziehung zu den Eltern aus. Nur wenn ich mich ausgesöhnt habe mit meiner Geschichte, kann ich die Eltern so lassen, wie sie sind, ohne ihnen Vorwürfe wegen erlittener Verletzungen zu machen. Damit ich die Eltern lassen und auch ihre guten Seiten sehen kann, muss ich mich zuvor von meinen Erwartungen an die Eltern verabschieden. Wir alle haben die Erwartung an eine ideale Mutter und an einen idealen Vater. Doch diesen Erwartungen entsprechen unsere Eltern nicht. Sie müssen ihnen auch nicht entsprechen. Manchmal müssen wir auch betrauern, dass unsere Eltern so sind, wie sie sind, dass die Mutter kalt ist und der Vater so schwach, dass er uns keinen Halt geben kann. Wenn wir das betrauern, was wir als Defizit an den Eltern erleben, werden wir auch ihre Stärken entdecken. Immerhin haben sie ihr Leben gemeistert. Wir werden neugierig, ihre Lebensphilosophie zu entdecken. Was hat sie getragen? Wie kamen sie mit den Herausforderungen von außen zurecht? Wie haben sie sich arrangiert mit ihren eigenen Verletzungen? Welche Lebenskunst haben sie für sich entwickelt? Das Betrauern befreit uns davon, die Eltern anzuklagen oder uns selbst zu bedauern, dass wir diese Eltern haben. Vielmehr macht es uns neugierig, ihr Leben zu bedenken, ihr Gewordensein, ihre Art und Weise, mit Schwierigkeiten umzugehen, und die Liebe und Sorge anzuerkennen, die sie für die Familie aufgebracht haben.

Ein anderes großes Thema ist die Beziehung zu den eigenen Kindern. Alle Eltern haben den besten Willen, ihre Kinder gut zu erziehen. Aber sie kommen nicht selten an ihre eigenen Grenzen. Sie haben manchmal den Eindruck, dass ihre Kinder ihnen entgleiten, dass sie ganz andere Wege gehen. Dann kommen Schuldgefühle hoch. Gerade in der Erziehung von Kindern und der Begleitung von jungen Menschen erleben wir, dass wir auf den Segen Gottes angewiesen sind. Ob das, was wir für die Kinder tun, wirklich Segen bringt, hängt nicht allein von uns ab. Da bringt es nicht viel, auf die „Autorität“ von Erziehungsbücher zu setzen und sich in Vorwürfe zu vergraben, dass man irgendwelchen Idealbildern nicht entspricht. Viel entscheidender ist, Kinder mit aller Sorge und Liebe zu erziehen und dabei auch dem eigenen Gefühl zu trauen. Und viel wichtiger ist, darauf zu vertrauen, dass der Samen, den wir in die Kinder hinein gelegt haben, irgendwann auch einmal aufgehen wird. Und wenn sich die Kinder anders entwickeln, dürfen Eltern darauf vertrauen, dass ihre Kinder einen Engel haben, der sie auf allen Umwegen und Irrwegen begleitet und sie irgendwann auf den Weg führen wird, der für sie stimmt und sie zum Leben bringt.

Wir haben uns immer sehr um unser Kind gekümmert und es gefördert. Schulisch haben wir es mit allem Möglichen probiert, mit Überreden, mit Belohnung, mit teurem Nachhilfeunterricht. Aber mein Kind schafft den Übergang ins Gymnasium nicht. Ich selber stamme aus einfachen Verhältnissen, konnte durch glückliche Umstände studieren und weiß, wie sehr es in unserer Gesellschaft darauf ankommt, „mitzukommen“. Natürlich will ich unser Kind keinem allzu großen Druck aussetzen, andererseits kommt man vermutlich ohne Druck auch nicht weiter.

Wie sehr dürfen wir

unser Kind fordern?

Jedes Kind ist einmalig und hat seine besondere Begabung. Es muss nicht immer die intellektuelle Begabung sein. Wenn Ihr Kind den Übertritt ins Gymnasium nicht schafft, ist das kein Beinbruch. Es hat vermutlich andere Begabungen, die es zu entdecken und zu fördern gilt. Sie sollten auch die eigenen Erwartungen nicht in das Kind hinein projizieren. Viel hilfreicher ist es, sich in das Kind hinein zu meditieren. Was hat es für Stärken? Wo blüht es auf? Was möchte in ihm fließen? Vertrauen Sie darauf, dass Ihr Kind seinen Weg für sich finden wird, auf dem das Leben gelingt. Das Gelingen muss aber nicht immer so aussehen, wie wir uns das vorstellen. Manchmal gibt es auch Spätzünder, die erst später aufwachen und dann auf das Gymnasium gehen oder andere Kurse belegen, auf denen sie sich weiterbilden. Es gibt viele Wege zum gelingenden Leben. Vertrauen Sie dem Kind und vertrauen Sie, dass Gott seine gute Hand über es hält und dass sein Engel es begleitet und es auf den Weg führt, auf dem es in seine Einmaligkeit und Einzigartigkeit hinein wächst.

Sie sprechen von dem Druck, ohne den wir nicht weiter kommen. Natürlich kann sich Ihr Kind nicht einfach seinen Launen überlassen. Es braucht die Herausforderung. Und es braucht Grenzen, an denen es sich reibt. Ohne Herausforderung und ohne Grenzen wird das Kind nicht wachsen. Aber es ist für die Eltern immer eine Gratwanderung: Wie eng setze ich die Grenzen und wie viel ist von den Kindern zu fordern? Entscheidend ist, dass wir nicht unsere Erwartungen in das Kind hinein legen, sondern uns fragen, was das Kind braucht, damit es seine Begabungen auch entwickelt. Es gibt leider auch Kinder, die ihre schwächere Begabung als Ausrede benutzen und sich einfach nur hängen lassen. Das tut ihnen jedoch nicht gut. Fordern Sie das Kind also heraus, aber so, dass das, was in ihm steckt, wachsen kann. Und glauben Sie an Ihr Kind. Der Glaube lässt es wachsen. Und Sie brauchen die Hoffnung auf das, was Sie noch nicht sehen. Hoffen meint nicht, bestimmte Erwartungen an das Kind zu haben. Ich hoffe vielmehr für das Kind und auf das Kind, dass es das, was noch verborgen in ihm ist, auch entfalten wird. Ihre Hoffnung ist der beste Dünger für den verborgenen Samen, der im Kind aufblühen möchte.

Ich habe in meiner Jugend, vor allem was Sexualität angeht, eine ziemlich rigide und mit vielen Verboten belastete Erziehung „genossen“ und leide noch heute darunter. Meinen Kindern möchte ich eine solche angst- und drohungsbesetzte Erziehung ersparen. Sie würden das auch nicht akzeptieren. Und andererseits will ich doch nicht in bloße Beliebigkeit verfallen, die ich allenthalben in unserer Umgebung bemerke.

Wo sollte ich

Grenzen setzen?

Sprechen Sie mit Ihren Kindern darüber, was sie über Sexualität denken. Und dann erzählen Sie von Ihrer Erfahrung mit der Sexualität, natürlich auch von der rigiden Erziehung, aber auch von den Maßstäben, die Sie beim Erleben der Sexualität selber als stimmig erlebt haben. Wenn Sie sich einig sind über den Sinn der Sexualität, dann können Sie auch Grenzen setzen. Die Grenzen sind nicht willkürlich. Sie erinnern mit den Grenzen Ihre Kinder nur an den wahren Sinn der Sexualität, auf den Sie sich im Gespräch geeinigt haben. Wenn Sie im Gespräch keine Einigung erzielt haben, dann trauen Sie Ihrem Gefühl. Wenn die Kinder noch zu jung sind, um verantwortliche Entscheidungen bezüglich der Sexualität zu treffen, dann können Sie sich einfach auf Ihr Gefühl verlassen. Sie können den Kindern durchaus zumuten, dass Sie es nicht erlauben können, dass die Freundin, die noch keine 16 Jahre alt ist, mit Ihrem Sohn in einem Zimmer übernachtet. Es kann sein, dass Ihre Kinder Sie als eng und altmodisch bezeichnen. Wenn Sie von etwas überzeugt sind, dürfen Sie sich von solchen Vorwürfen nicht verunsichern lassen. Das ist der Versuch, Sie zu drängen, Ihre Entscheidungen rückgängig zu machen. Aber eigentlich sehnen sich Kinder nach klaren Grenzen. Auch wenn sie darüber schimpfen, werden die Kinder Sie achten und sich gleichzeitig an den Grenzen reiben. Natürlich kann es nicht darum gehen, Grenzen willkürlich zu setzen. Dazu bedarf es reiflicher Überlegung. Gerade in unserer Welt, in der alles erlaubt zu sein scheint, sehnen sich Kinder nach Klarheit. Aber sie sehnen sich auch nach Verstandenwerden. Sie möchten ernst genommen werden. Fragen Sie daher Ihre Kinder, wie sie selbst die Sexualität sehen und was sie sich von ihr erhoffen. Viele Jugendliche haben durchaus ein gesundes Gespür für das Wesen der Sexualität, die nur dort als beglückend erlebt werden kann, wo ich Sicherheit, Bindung, Akzeptanz und Treue erfahre.

Wir haben drei Kinder. Wie kann es uns gelingen, unsere Kinder zu wertbewussten, dankbaren, hilfsbereiten und religiös sensiblen Menschen zu erziehen – wenn das doch Werte sind, die im praktischen Leben unserer „Gesellschaft der Sieger und der Ellenbogentypen“ kaum mehr eine Rolle spielen?

Was ist das Wichtigste

in der Kindererziehung?

Wichtig ist, dass Sie Ihren Kindern vermitteln, dass sie wertvoll und einmalig sind. Das lässt sich nicht mit Worten zeigen. Das müssen die Kinder durch Ihre Art, wie Sie mit ihnen umgehen, spüren. Werte machen das Leben wertvoll. Werte zeigen uns unsere eigene Würde. Dankbarkeit kann man nicht befehlen. Aber man kann den Kindern die Dankbarkeit vermitteln, indem Sie etwa selber beim Tischgebet für die Gaben danken oder indem Sie am Abend mit Ihren Kindern für alles danken, was Sie heute von Gott empfangen haben. Und die Hilfsbereitschaft lernen Kinder gerade im konkreten Tun in der Familie, indem sie an greifbaren Diensten in der Familie teilhaben, am Geschirrspülen, Einkaufen und Saubermachen. Sie dürfen darauf vertrauen, dass das soziale Verhalten, das Kinder in der Familie lernen, auch weiter gehen wird. Mit moralischen Appellen kann man keine Hilfsbereitschaft erzwingen. Aber das konkrete Erleben prägt sich in die Herzen der Kinder ein. Selbst wenn es manchmal verloren geht, wird es doch im Herzen bleiben und immer wieder auftauchen. Manchmal ist es natürlich hilfreich, mit den Kindern darüber zu sprechen, was einen Menschen wertvoll macht. Nicht was er an Kleidung trägt, welche Marken er benutzt oder welches Auto er fährt, macht ihn wertvoll, sondern sein eigener innerer Wert. Wer Werte schätzt, der ist auch selber wertvoll. Dessen Wert wird von anderen geachtet. Das spüren auch Kinder, und das macht sie auch innerlich stark.

Wenn doch alle Welt unter dem Einfluss der Medien steht und Kinder bei ihren Freunden nicht mehr mitreden können, wenn sie nicht auch das neueste Handy haben oder die Sendungen im Fernsehen gesehen haben, über die auch ihre Klassenkameraden reden – wie können wir als Eltern reagieren?

Können wir unsere Kinder

noch vor der Medienwelt

schützen?

Sie können Ihre Kinder nicht völlig vor den Medien schützen. Sie können keine heile Welt aufbauen, in der diese Medien nicht existieren. Aber Sie können Ihre Kinder zu einem maßvollen Gebrauch der Medien erziehen. Statt ständig passiv fernzusehen, wäre es besser, wenn Kinder miteinander oder auch mit den Eltern spielen. Fernsehen ist ja oft Ersatz für mangelnde Zuwendung. Wenn die Kinder die Nähe ihrer Eltern spüren, dann werden sie nicht fernsehsüchtig. Im Vergleich mit andern Kindern wäre es wichtig, den Kindern Selbstwert zu vermitteln. Wer genügend Selbstwert besitzt, der hat es nicht nötig, mit andern zu konkurrieren mit dem neuesten Handy oder mit den Fernsehsendungen. Die Kinder sollen vielmehr voller Stolz verkünden, dass sie es nicht nötig haben, diese oder jene Sendung unbedingt sehen zu müssen. Der Soziologe Helmut Schelsky meinte einmal, die Eliten hätten sich immer schon durch Askese, also den bewussten Verzicht auf Genuss oder Konsum, ausgezeichnet. Wer seine Kinder zu selbstbewussten Menschen erziehen will, der muss Grenzen setzen, nicht weil er etwas verbietet, sondern weil er den Kindern die Chance gibt, wirklich zu wachsen. Wer ständig vor dem Fernseher oder dem PC sitzt, der wächst innerlich nicht weiter. Es braucht aber auch auf Seiten der Eltern genügend Selbstbewusstsein, wenn die Kinder ihnen vorwerfen, die andern würden Markenkleidung tragen, sie hätten das neueste Handy und dürften alles fernsehen. Mit solchen Vorwürfen wollen Kinder ihren Eltern ein schlechtes Gewissen machen, sie wollen sie aber auch testen, ob sie darauf hereinfallen oder ob sie standhaft bleiben. Wenn die Eltern im Gespräch mit den Kindern klar bleiben, wird das den Kindern Eindruck machen. Eigentlich warten sie darauf, dass ihre Eltern nicht so sind wie die vielen, die alle Wünsche erfüllen, nur damit sie ihre Ruhe haben. Auch wenn die Kinder Ihnen Vorwürfe machen, irgendwann werden sie stolz auf Sie sein. Sie werden dann sagen: „Meine Eltern kümmern sich wenigstens um mich. Sie setzen sich mit mir auseinander. Sie streiten auch mit mir und geben nicht sofort nach.“ Die Kinder haben ein feines Gespür dafür, ob ihre Eltern den Mut haben, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, oder ob sie zu feige dazu sind und das tun, was alle tun. Es braucht also auf Seiten der Eltern beides: Mut und zugleich liebende Zuwendung. Nur so kann man Kindern vermitteln, dass es andere Werte gibt, als alles zu besitzen, was die andern besitzen.

Mit 39 Jahren bin ich zum ersten Mal schwanger – und sehr glücklich darüber. Mein Gynäkologe rät mir jetzt dringend zu einer Pränataldiagnose, auch Freundinnen reden mir zu. Ich will mich eigentlich nicht darauf einlassen und denke, dass man das Leben so annehmen soll, wie es kommt. Aber ich merke, auch wenn mein Partner es ähnlich sieht, dass ich letztlich damit allein bin.

Und dann

kommt doch wieder die Angst

vor einem behinderten Kind.

Trauen Sie dem eigenen Gefühl. Auch wenn Sie damit alleine sind, ist es Ihr Gefühl. Und das ist wichtiger als die Meinungen der Freundinnen. Ich möchte Ihnen nur zwei Beispiele berichten, die ich selbst miterlebt habe. Zwei Frauen hat ein Arzt geraten, das Kind abtreiben zu lassen, da es behindert sein wird. Beide haben sich für das Kind entschieden. Und beide Kinder sind bis heute gesund. Die Pränataldiagnose hat die beiden Mütter sieben oder acht Monate völlig durcheinander gebracht und in große Gewissensprobleme gestürzt. Auch eine Diagnose ist nicht immer zutreffend. Oft ist sie aus der Angst entstanden, es könnte ja sein, dass das Kind behindert ist. Legen Sie sich und Ihr Kind in Gottes Hand und vertrauen Sie darauf, dass Seine Hand Sie beide schützt. Selbst wenn das Kind behindert wäre, könnte es zum Segen werden für die Familie. Überlassen Sie sich Gott. Das gibt Ihnen Freiheit und Vertrauen. Und sprechen Sie mit Ihrem Partner darüber, was ihm Angst macht. Männer meinen oft, alles sei machbar oder kontrollierbar. Doch das gilt nicht für das Kind. Ein Kind ist immer ein Geheimnis. Auch ein gesundes Kind kann zur Sorge werden – und ein behindertes zum Segen. Wir lassen uns immer auf ein Geschenk ein und brauchen den Glauben und das Vertrauen, dass Gott aus dem Kind, das heranwächst, einen einzigartigen und einmaligen Menschen macht, der für uns zum Segen wird.

Wir haben ein seit der Geburt behindertes Kind. Unsere Ehe ist an dieser Belastung damals fast zerbrochen. Solange die Kleine – sie ist inzwischen acht Jahre alt – in der Familie ist, werden wir ihr helfen und zu ihr stehen können. Ich fürchte das, was auf meine Tochter zukommen wird. Die Gesellschaft ist heute nicht so, dass Schwache eine Chance haben.

Was wird sein,

wenn wir einmal nicht mehr

helfen können?

Lassen Sie sich von Ihrer

Angst nicht lähmen,

sondern sprechen Sie mit

Ihrer Angst.

Zunächst dürfen Sie dankbar sein, dass Sie für Ihre Tochter soviel Liebe aufbringen und ihr mit all Ihren Kräften helfen. Und Sie dürfen vertrauen, dass nicht Sie allein für Ihre Tochter sorgen. Natürlich sollten Sie die Sorge nicht einfach nur Gott überlassen. Aber zu vertrauen, dass Er seine Hand über Ihre Tochter hält, kann Sie entlasten. In diesem Vertrauen werden Sie auch ganz konkrete Lösungen und Wege finden. Es gibt das betreute Wohnen oder ähnliche Einrichtungen, die unsere Gesellschaft ja durchaus anbietet, um behinderten Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Manchmal fühlen sich behinderte Menschen in diesen Einrichtungen daheim. Lassen Sie sich von Ihrer Angst nicht lähmen, sondern sprechen Sie mit Ihrer Angst. Ihre Angst kann in Ihnen Phantasien auslösen, Wege für Ihre Tochter zu finden, so dass sie ihr Leben zu leben vermag. Aber solange Sie bei Ihnen ist, nehmen Sie täglich das Geheimnis des Kindes wahr. Nicht nur wir geben dem behinderten Kind etwas. Das Kind gibt auch uns etwas. Es hat oft eine Tiefe, die uns den Blick öffnet für das Geheimnis unseres eigenen Lebens. Fragen Sie sich, was die Botschaft Ihres Kindes für Sie und Ihre Familie ist, welchen Segen das Kind – trotz aller Belastung – auch für Sie und die Familie bringt.

Mein kleiner Sohn – er ist gerade vier – zieht gerne Mädchenkleider an. Meine Mutter warnt mich schon, er könne eines Tages homosexuell werden. Ich will mich davon nicht verrückt machen lassen. Anderseits merke ich auch, wie mich das beunruhigt.

Wie verhalte ich

mich richtig?

Wenn Sie sich vom Verhalten Ihres kleines Sohnes zu sehr beunruhigen lassen, wird er es merken. Besser ist es, dass Sie mit ihm darüber sprechen, aber nicht in einem Ton der Besorgnis oder gar des Vorwurfs. Projizieren Sie nicht Ihre eigenen Ängste in die Frage hinein. Es ist das Natürlichste der Welt, dass er neugierig ist, dass er seine eigene Identität überprüft. Nehmen Sie sein Verhalten als Neugier, als frühkindliches Erkunden, was der Unterschied zwischen Junge und Mädchen ist. Fragen Sie ihn einfach, was ihm an den Mädchenkleidern so gefällt. Aber legen Sie in die Frage keine Hintergedanken hinein. Sie unterhalten sich einfach mit ihm über sein Tun. Sie können ihn auch fragen, ob er lieber ein Mädchen sei als ein Junge und warum. Je ruhiger und offener Sie mit Ihrem Sohn darüber sprechen, desto eher wird diese durchaus normale Phase vorübergehen. Wenn Sie allzu besorgt darauf reagieren, wird Ihr Sohn möglicherweise nur länger in dieser Phase bleiben. Denn dann kennt er einen Weg, um Sie an sich zu binden und Ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Für Ihren Sohn wird es sicher gut sein, wenn er mit anderen Jungen spielen kann. Und wenn der Vater sich um ihn kümmert, dann wird ihm das auf jeden Fall gut tun und auch das für seine Entwicklung seiner Identität wichtig sein. Aber es gibt nicht das einheitliche Männerbild. Jeder Junge muss seine persönliche Identität als Mann entwickeln.

Wir haben unsere Tochter christlich erzogen. Sie hat, zu unserer Freude, sogar ein paar Semester Theologie studiert. In Israel hat sie dann einen muslimischen Palästinenser kennen gelernt, sich in ihn verliebt und ihn auch geheiratet. Inzwischen ist sie Muslimin geworden, hat Kinder und lebt in Palästina. Ihr Mann verbietet ihr heute, nach Deutschland zu kommen und uns die Enkelkinder sehen zu lassen. Angesichts unserer Erfahrung frage ich mich:

Was soll das Gerede

über den Dialog

mit dem Islam?