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Anselm Grün

Leben ist jetzt

Die Kunst des Älterwerdens

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2009

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ISBN (E-Book) 978-3-451-33326-2

ISBN (Buch) 978-3-451-30238-1

Einleitung

Älter werden wir von alleine. Aber ob und wie uns das Älterwerden gelingt, das ist eine andere Frage. „Zu wissen, wie man älter wird, – das ist das Meisterstück der Weisheit und eines der schwierigsten Kapitel in der Lebenskunst“, meint Fréderic Amiel. Kunst kommt von Können, ist also nichts Selbstverständliches. Wir müssen erlernen, wie wir auf gute Weise älter werden. Können hängt mit Verstehen und wissen und weise zusammen. Um die Kunst des Älterwerdens zu erlernen, braucht es das Verstehen dessen, was in diesem Prozess an uns und mit uns geschieht. Kunst hängt übrigens auch mit dem deutschen Wort „kund“ zusammen. Wer die Kunst des Älterwerdens erlernt, wird nicht allein für sich in guter Weise alt. Wir lernen die Kunst des Älterwerdens nie nur für uns selbst, sondern immer auch für die anderen. Wir zeigen ihnen mit unserem Leben etwas, das ihr Leben bereichert.



Der griechische Philosoph Platon meint, Kunst sei Nachahmung. Und er denkt an die Natur, die der Künstler in seinen Werken nachahmen soll. Die Natur lehrt uns nach diesem Verständnis auch, wie wir auf gute Weise alt werden. Der Herbst steht für das Alter. Im Herbst wird geerntet. Auch das Alter zeigt die Ernte eines Lebens. Wir dürfen dankbar auf die Früchte schauen, die das Leben gebracht hat. Die Farben des Herbstes sind bunter als die des übrigen Jahres. Und es sind milde Farben. Das ist eine Lehre, die uns die Natur erteilt: auf gute Weise alt wird der, der milder wird, nicht nur in seinem Urteil, sondern in seinem ganzen Sein. Und zugleich wird er entdecken, dass sein Leben innerlich reicher wird, bunter, oft so leuchtend wie ein goldener Oktober. Der Blick in die Natur zeigt noch etwas anderes: Zur Kunst des Älterwerdens gehört es auch, loszulassen, so wie die Bäume das Laub loslassen, es auf die Erde fallen lassen, damit es zum Wurzelgrund für neues Leben werden kann.



In dem Wort „Älterwerden“ ist noch etwas Wichtiges, etwas Positives beschrieben: Älterwerden ist nichts Statisches oder ein für alle mal klar Abgeschlossenes. Es ist eine Bewegung. Da wird noch etwas im Menschen. Da wächst etwas.

Wenn jemand alt ist, dann hat das zwei Bedeutungen. Zum einen: er ist alt geworden. Man merkt ihm seine Schwächen an. Aber das ist nur eine Seite. Die andere Seite: er ist alt, er ist sein Alter. Er muss nichts mehr leisten. Er genießt das reine Sein. Da ist jemand präsent, ganz er selbst.



Worte wandeln sich und nehmen immer neue Bedeutungen in sich auf. Vom Wortstamm kommt „alt“ von einem Verb, das „wachsen, aufziehen, ernähren“ bedeutet. Es hängt auch mit dem lateinischen Wort „altus = hoch“ zusammen, das von „alere = nähren, großziehen“ stammt. Der hochgewachsene Baum ist alt. Vom Ursprung hat „alt“ also eine positive Bedeutung. Aber in Redewendungen wie „wenn du verlierst, siehst du alt aus“ kommt eine negative Wertung in dieses Wort. Die Abwertung des Alters in einer Zeit, in der nur das Junge und Jugendliche gilt, hat sich bis in unsere Sprache hinein ausgewirkt. Daher ist es wichtig, so von Altsein und Älterwerden zu sprechen, wie es der ursprünglichen positiven Bedeutung entspricht.



Die Kunst des Älterwerdens ist nicht nur auf das Alter beschränkt. Von Geburt an – so sagt schon der hl. Augustinus – altern wir. Die uns zugemessenen Tage werden weniger. Wir werden älter. Das ist nichts, was statisch oder festgeschrieben wäre, es ist ein lebenslanger Prozess. Aber es ist nicht nur ein Prozess des Abnehmens, sondern des Reifens. Älterwerden, wie schon gesagt, drückt genau diese positive Bewegung aus: Es wird etwas.



Die Natur macht es uns auch hier wieder vor. Jede Phase in unserem Leben hat ihre eigene Bedeutung. Der Frühling steht für das Aufbrechen des Lebens, für die Frische und Lebendigkeit. Der Sommer steht für die Fülle des Lebens, der Herbst für die Buntheit und für die Ernte und der Winter für die Stille und für das Ausruhen, damit neues Leben aufbrechen kann.

Wie jede Jahreszeit voller Bedeutung ist, so hat auch jede Lebenszeit des Menschen eine je eigene Bedeutung. Und es ist gut, in jeder Lebensphase das zu leben, was ihr entspricht. Der Jugendliche muss andere Werte betonen als der alte Mensch. Man sagt zwar, Jugend sei ein Geschenk, Älterwerden eine Aufgabe. Aber auch der junge Mensch muss die Aufgabe erfüllen, die ihm die Jugend stellt. Und die besteht darin, zu kämpfen, sich das Leben zu erobern und seine eigene Identität zu finden. Wenn der alte Mensch immer noch um seinen Platz im Leben kämpfen würde, wäre das für uns eher lächerlich. Jeder Mensch braucht ein Gespür für das je Eigene, das in seiner Lebensphase verwirklicht werden will.

Im Herbst, sagten wir, wird geerntet. So geht es beim Älterwerden um das Reifen einer Frucht, an der wir uns erfreuen, die wir genießen, die aber auch andere Menschen befruchtet. Die Frucht, die im Alter heranreift, will – um im Bild zu bleiben – auch anderen das Leben versüßen. Wer vom Älterwerden redet, spricht nicht nur von nachlassenden Kräften, Verfall und Schwäche, im Gegenteil: Bis ins hohe Alter gibt es Chancen und positive Möglichkeiten, des Wachsens, des Reifens und der Vollendung.



Der bekannte Altersforscher Paul Baltes erzählte gern eine Anekdote über Arthur Rubinstein. Der 80-jährige wurde demnach einmal gefragt, wie er denn in seinem hohen Alter immer noch ein so begnadet guter Konzerpianist sein könne. Der Künstler spricht in seiner Antwort von drei Prinzipien, die es ihm immer noch erlaubten, so gut Klavier zu spielen: Auswählen, Optimieren, Ausgleichen. Er habe durch eine Auswahl ihm wichtiger Stücke sein Repertoire verkleinert – also eine Wahl getroffen. Durch diese Selektion könne er diese Stücke auch mehr und intensiver üben als früher. Dadurch verbessere er sich technisch. Das ist also eine Optimierung. Und weil er die ausgewählten Stücke nicht mehr so schnell wie früher spielen konnte, wandte er einen Kunstgriff an: Vor besonders schnellen Passagen verlangsamte er sein Tempo; im Kontrast erschienen diese Passagen dann wieder ausreichend schnell. Das ist eine sehr wirksame Form der Kompensation und Teil einer positiven Strategie. Sie widerlegt das Vorurteil, Älterwerden sei nur unter dem Vorzeichen des Nachlassens und der Verminderung zu sehen. Sich auf wenige Ziele zu beschränken, diese aber sehr energisch zu verfolgen und dabei nach geeigneten inneren und äußeren Ressourcen der Kompensation zu suchen – das ist die Kunst des guten Älterwerdens.



Was Arthur Rubinstein da als Geheimnis seiner Kunst im Älterwerden beschrieben hat, gilt nicht nur für Künstler, sondern für jeden, der sein Alter spürt. Er kann vielleicht nicht mehr soviel schaffen wie früher. Also muss er auswählen, was ihm wichtig ist, um seine Kräfte besser einzusetzen. Das, was ihm wichtig ist, soll er bewusst leben und sich ganz darauf einlassen. Natürlich braucht er Methoden, um mit den Defiziten gut umzugehen. Er muss manche Lücken in seinem Wissen mit seiner Erfahrung ausfüllen und manche Lücken in seiner körperlichen Leistungskraft wettmachen durch die Fähigkeit, mit weniger Energieeinsatz trotzdem etwas zu vollbringen.



Man lebt nur einmal, sagt man. Das heißt: Das Leben jedes Menschen ist einmalig. Jeder Mensch ist einzigartig. Romano Guardini meint, Gott habe über jeden Menschen ein Passwort gesprochen, das nur für diesen ganz bestimmten Menschen „passt“. Unsere Aufgabe in jeder Lebensphase ist es, dieses einmalige Wort, das Gott nur über uns spricht, in dieser Welt vernehmbar werden zu lassen. Wir leben nur dann wirklich gut, wenn wir uns unserer Einzigartigkeit bewusst werden und wenn wir verinnerlichen, dass wir nur einmal leben. Jesus hat uns in seiner Predigt immer wieder ermahnt, aufzuwachen und wirklich zu leben – nicht irgendwann, sondern jetzt. Denn wir haben nur dieses eine Leben. Und das sollen wir nicht verschlafen. Leben ist immer jetzt: Wir sollen nicht einfach so dahin leben, sondern mit offenen Augen durch die Welt gehen und unsere Lebensspur bewusst in diese Welt eingraben.

Manche bekommen Angst, wenn sie sich bewusst machen, dass sie nur einmal leben. Sie stopfen alles ins Leben hinein, was schnellen Genuss verspricht. Für sie ist Älterwerden eine Katastrophe. Denn im Alter könnte ja alles zu spät sein. Aber so werden sie unfähig, ihr Leben in jedem Moment wirklich zu genießen. Sie starren auf das zu kurze Leben und meinen, sie müssten alle ihre Sehnsüchte vom Leben auch ausleben. Doch da sie das nie schaffen, weil Sehnsucht keine Grenze kennt, werden sie immer hektischer und zugleich unzufriedener.

Manch einer mag dieser Einmaligkeit und Unwiderruflichkeit seines Lebens vielleicht aus dem Weg gehen, indem er an ein nochmaliges Kommen auf die Erde glaubt, an die Reinkarnation. Doch das ist für mich eine Flucht vor der Einmaligkeit des Lebens. Anstatt bewusst und intensiv zu leben, vertröste ich mich, ich hätte ja nochmals eine Chance, es besser zu machen. Doch die andere Seite der Reinkarnationslehre übergeht man dann, nämlich die, dass durch das im Hier und Jetzt ungelebte Leben ein negatives Karma das künftige Leben erschweren soll.



Mir ist eine andere Alternative sympathischer: wenn Menschen die Einmaligkeit ihres Lebens als Einladung verstehen, ihr einzigartiges Leben bewusst zu leben und es auszukosten, es in allen seinen Facetten wahrzunehmen und es, hier und heute, in jeder Lebensphase, zu gestalten. Ich lebe nur einmal. Das ist auch eine Herausforderung, dieses eine Leben so gut zu gestalten, wie es mir möglich ist. Die Kunst, das einmalige Leben bewusst und intensiv zu leben, beginnt nicht mit dem Eintritt ins Alter. Vom ersten Tag an, seit unserer Geburt werden wir mit jedem Tag älter. Daher besteht die Kunst des Lebens eben in dieser Kunst des Älterwerdens: darin, sich dem inneren Wandlungsprozess des Lebens zu überlassen. Das Ziel der Verwandlung ist, dass wir mehr und mehr in die einmalige und einzigartige Gestalt hineinwachsen, die Gott uns zugedacht hat.



Die Kunst des Älterwerdens besteht darin, in allen Erlebnissen unseres Lebens, auch in allen Dissonanzen, nach der eigenen Melodie zu suchen, in der sich die Spannungen auflösen, die wir in uns wahrnehmen. In dieser Kunst des Älterwerdens können wir uns ein Leben lang üben, sie fängt nicht erst mit der Pensionierung an. Im Blick auf das Alter stellen sich nur verschärft die Fragen, die eigentlich für das ganze Leben gelten. Wir leben ja schließlich nicht, um jung zu bleiben, sondern um alt zu werden.



Erich Fromm vergleicht unsere Aufgabe im Leben mit einer Geburt. Unsere Aufgabe ist es, ganz geboren zu werden. Leonardo Boff hat dieses Bild aufgegriffen, wenn er in einem Text zu seinem eigenen 70. Geburtstag schreibt: „Das Alter ist die letzte Etappe menschlichen Wachsens. Wir werden ganz geboren, aber wir sind nie fertig. Wir müssen unsere Geburt vollenden, indem wir unsere Existenz verwirklichen, Wege öffnen, Schwierigkeiten überwinden und unseren Lebensweg formen. Wir sind immer im Werden. Wir beginnen mit dem Geborenwerden. Wir werden im Laufe unseres Lebens in Raten weiter geboren, bis wir unsere Geburt vollenden. Dann treten wir in die Stille ein. Und wir sterben. Das Alter ist die letzte Gelegenheit, die uns das Leben bietet, um das Wachsen, Reifen und schließlich das Geborenwerden zu vollenden.“ Das Älterwerden ist Teil dieses ganzheitlichen Lebensprozesses.



Dies ist kein Buch über das Alter. Ich möchte im folgenden keine medizinischen Einsichten, aber auch keine systematische Beschreibung des Altwerdens geben. Vielmehr möchte ich auf Fragen eingehen, die sich uns beim Älterwerden stellen. Es sind Fragen, die mich in Gesprächen mit Menschen berührt haben und die sich dem eigenen Älterwerden gestellt haben. Ich kann natürlich keine letztgültigen Antworten geben. Ich möchte nur versuchen, so zu antworten, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, für Ihren eigenen Prozess des Älterwerdens in sich einen Weg entdecken, der Sie durch alle Etappen Ihres Lebens zum wahren Leben führt, zum Leben, das auch durch den Tod nicht zerstört werden kann.

1. Wie die Zeit vergeht

Zeit ist Leben. Unser Älterwerden ist auch davon bestimmt, dass wir zu spüren glauben, wie die Zeit vergeht. Wie das Verrinnen des Sandes in Sanduhr wird es uns bewusst. Mit zunehmendem Alter empfinden wir das Tempo, in dem die Zeit vergeht, als sich steigernde Geschwindigkeit: „Die Zeit fährt Auto“, hat Erich Kästner gedichtet. Wenn wir plötzlich Freunde der Kindheit oder der Jugend wiedertreffen und sehen, wie sie sich verändert haben und wie die Zeit ihre Spuren in ihre Gesichter eingegraben hat, dann wird uns – im Spiegel der anderen – bewusst, dass auch an uns die Jahre nicht spurlos vorübergegangen sind. Hugo von Hoffmannsthal, der das Libretto zur Oper „Der Rosenkavalier“ geschrieben hat, hat viel über dieses Thema der vergehenden Zeit nachgedacht. „Die Zeit“, sagt die Marschallin im Rosenkavalier, „die ist ein sonderbares Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Dann, auf einmal, spürst du nichts als sie; sie ist um uns herum und ist in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, in dem Spiegel da rieselt sie, und zwischen mir und dir fließt sie dahin, wie eine Sanduhr, lautlos. Manchmal hör' ich sie rinnen, unaufhaltsam; und ich steh' auf, mitten in der Nacht und lass die Uhren alle stehen.“ Uhren kann man anhalten, die Zeit läuft weiter.

Älterwerden hat mit dieser besonderen Erfahrung zu tun. Wir haben das Gefühl, dass die Zeit zwischen unseren Händen zerrinnt, dass sie „abläuft“, dass uns immer weniger Zeit zum Leben bleibt. Manchen macht diese Erfahrung der begrenzten und endlichen Zeit Angst. Die einen reagieren panisch und wollen die Wirklichkeit nicht wahr haben. Sie versuchen, die Spuren der Zeit zu vertuschen, indem sie Cremes benutzen, die die Falten glätten oder indem sie ihre welkende Haut liften lassen. Andere stürzen sich in Hektik und Betriebsamkeit. Sie möchten die Zeit, die ihnen bleibt, möglichst intensiv nutzen und stopfen alles Mögliche in sie hinein. Und sie haben doch den Eindruck, dass ihnen die Zeit davon läuft, immer schneller und unaufhaltsam. Die Zeit wird dann zum Gegner, mit dem sie kämpfen. Doch das ist nicht der Umgang mit Zeit, den uns Jesus empfiehlt oder zu dem uns die griechische Philosophie einlädt.



Die Griechen haben ihre Erfahrung mit der Zeit in einen Mythos gefasst. Durch die Erzählung verdeutlichen sie einen beängstigenden Aspekt dessen, was – bis heute und in jedem einzelnen Leben erfahrbar – für uns das Geheimnis der Zeit ist: Zeit als eine verschlingende Macht. Dieser alte Mythos erzählt uns vom Urgott, dem Chronos. Er hat seine Kinder aufgefressen aus Angst, sie könnten ihm die Herrschaft streitig machen. Doch seine Frau Rhea überlistet ihn. Als Chronos Zeus geboren hat, wickelte sie einen großen Stein in die Windeln. Als Chronos diesen Stein aß, konnte ihn Zeus überwinden. Wir sprechen heute noch vom Chronometer, vom Zeitmesser. Das ist die quantitativ gemessene Zeit, die immer zu wenig da ist, die Zeit, die uns auffrisst, und die Zeit, die wir als Gegner erleben.

Aber das ist nicht die ganze Weisheit der Griechen zur Erfahrung der Zeit. Sie kennen auch noch ein anderes Wort für Zeit: kairos, die angenehme Zeit, die Gelegenheit und Chance ist. Jesus spricht – in der Tradition dieses griechischen Verständnisses – immer vom kairos, von der angenehmen Zeit, von der erfüllten Zeit. Es ist die Zeit, die uns geschenkt ist und die wir genießen dürfen. Ob wir die Zeit als chronos oder kairos erleben, hängt von uns und unserer Einstellung zur Zeit ab. Wenn wir ganz im Augenblick, im Jetzt, leben, dann nehmen wir die Zeit als angenehme Zeit wahr, als kairos, als Zeit, die uns geschenkt ist. Wir spüren etwas vom Geheimnis der Zeit, die wir nicht festhalten können, die aber im Augenblick uns gehört. Wir atmen in der Zeit, wir fühlen in der Zeit. Wir bekommen ein Gespür für die Zeit.

Das Älterwerden wird uns nur gelingen, wenn wir in diesem Sinn Zeit bewusst erfahren und unsere Beziehung zur Zeit bedenken.

Leben – eine lange Zukunft, oder eine kurze Vergangenheit?

Es heißt, vom Standpunkt eines Kindes aus gesehen sei das Leben eine unendlich lange Zukunft, vom Standpunkt des Alters aus eine sehr kurze Vergangenheit. Sicher ist: die Erfahrung von Zeit ändert sich im Verlauf des Älterwerdens. Kinder können es kaum erwarten, bis Weihnachten wird. Für sie dauert die Zeit länger. Wenn sie an ihren nächsten Geburtstag denken oder gar an den Abschluss ihrer Schulzeit, dann haben sie den Eindruck, dass das unendlich weit weg ist. Sie können sich das oft gar nicht vorstellen. Ältere Menschen haben ein anderes Zeitgefühl. Sie sagen: „Schon wieder ein Jahr vorbei. Es ist schneller vorbeigegangen, als man denkt.“ Warum Kinder und alte Menschen die Zeit so verschieden wahrnehmen, darüber kann ich nur spekulieren. Kinder haben die Zeit noch vor sich. Sie möchten ihr Leben leben. Sie sind ganz und gar auf die Zukunft ausgerichtet. Kleine Kinder sind ganz im Augenblick. Aber sobald sie die Zeit wahrnehmen und sich bewusst machen, leben sie im Blick auf die Zukunft, auf den kommenden Urlaub, auf ein besonderes Fest. Sie erwarten von dem künftigen Ereignis eine Steigerung ihres Lebens. Dabei hängt diese Erwartung davon ab, dass sie etwa den Geburtstag oder Weihnachten schon einmal als wunderbare Feste erlebt haben. So sehnen sie sich danach, dass dieses Fest wieder kommt. Und die Zeit des Wartens wird ihnen leicht zu lang.



Alte Menschen haben viel Vergangenheit hinter sich. Sie haben viel erlebt. Oft genug verweilen sie in ihren Gedanken in der Vergangenheit. Gerade wenn ein Ehepartner gestorben ist oder wenn die Gegenwart nicht viel Aufregendes zu bieten hat, leben sie in der Erinnerung. Das Verweilen in der Vergangenheit lässt die Zeit schneller verstreichen. Alte Menschen warten weniger auf die Zukunft. Sie versuchen, ihren Alltag zu meistern. Um ihn meistern zu können, beziehen sie ihre Kraft aus der Erinnerung an Zeiten, in denen es ihnen noch leichter fiel, ihr Leben zu gestalten. Weil sie aus der Vergangenheit leben, geht die Gegenwart schneller an ihnen vorbei. Die Zukunft ist für sie nicht mehr so wichtig. Das Denken an die Zukunft konfrontiert sie mit dem eigenen Sterben. Und so leben sie lieber in der Vergangenheit. Sie ist der Quelle, aus dem sie schöpfen.



Es gibt allerdings auch alte Menschen, die sich darüber beklagen, dass nichts passiert. Sie sitzen einfach nur da und warten, dass andere kommen, um ihre nachlassende Lebenskraft aufzufrischen und ihre Leere zu füllen. Wie ein alter Mensch die Zeit erlebt, hängt also immer davon ab, wie er zu leben versteht. Wer nur von anderen her lebt, wer sich nur lebendig fühlt, wenn andere mit ihm sprechen und ihn besuchen, dem wird die Zeit leer und lange – und langweilig. Wer jedoch die Gegenwart anfüllt mit guten Erinnerungen an früher, dem geht die Zeit schnell vorbei. Er wundert sich, dass das Jahr schon wieder vorbei ist, dass er ein Jahr älter geworden ist.



Andere alte Menschen leben ganz in der Gegenwart. Sie sind damit beschäftigt, diesen Tag gut zu bestehen. Sie haben ihre festen Rituale, die ihrem Tag einen bestimmten Rhythmus geben. Und so geht ein Tag nach dem andern vorüber. Sie fühlen sich im Leben daheim, auch wenn es nicht ständig etwas Neues bietet. Ja vielleicht gerade deswegen. Auch für solche Menschen geht die Zeit schneller vorüber als für die Kinder, die die Gegenwart gerne überspringen möchten und für die sie deshalb umso länger dauert.

Wer bewusst lebt, dem wird die Zeit nicht lang

Unser Verhältnis zur Zeit ändert sich im Verlauf des Lebens. Kinder und alte Menschen haben auch ein anderes Verhältnis zur Zeit als Menschen, die im Beruf stehen: Menschen im Beruf erleben ihre Zeit stark strukturiert. Der Beruf zwingt sie, täglich zur gleichen Zeit aufzustehen und zur Arbeit zu gehen, wenn sie eine regelmäßige Arbeitszeit haben. Wenn ihre Arbeitszeit variiert zwischen Früh- und Spätschicht, dann wird ihre Zeit auch durch die Arbeit bestimmt. Und ihr Erlebnis der Zeit ist davon abhängig, wie weit der Arbeitsrhythmus ihrem eigenen inneren Rhythmus entspricht. Ganz gleich, wie gut es ihnen gelingt, sich auf den vorgegebenen Rhythmus einzulassen, ihre Zeit wird von außen bestimmt. Sie sehnen sich oft während der Woche nach dem Wochenende, an dem sie sich erholen oder das tun können, worauf sie Lust haben. Ihr Zeitempfinden wird vor allem durch den Wechsel von Arbeitszeit und Freizeit geprägt.



Kindern und alten Menschen fehlt diese Bestimmung der Zeit von außen. Doch Kinder haben durchaus ihren Rhythmus. In den ersten Jahren achtet die Mutter darauf, dass sie das Kind immer zur gleichen Zeit stillt und ins Bett bringt. Sie hört auf den inneren Rhythmus des Kindes und versucht, es an einen Rhythmus zu gewöhnen, von dem sie überzeugt ist, dass er für das Kind gut ist. Später wird das Kind dann vom Rhythmus des Kindergartens und anschließend von dem der Schule bestimmt. Trotzdem gehen Kinder nicht so stark im vorgegebenen Rhythmus auf. Sie freuen sich auf das Außergewöhnliche, auf Feste, auf Partys, auf die besonderen Erlebnisse.



Alte Menschen haben weniger Verpflichtungen von außen. Sie könnten morgens lange im Bett bleiben und einfach in den Tag hinein leben. Doch viele ältere Menschen haben ihren Rhythmus so verinnerlicht, dass sie ihn auch im Alter weiter leben. Sie stehen immer um die gleiche Zeit auf. Sie strukturieren ihren Tag so, dass es ihnen gut tut. Wer seinem Tag gar keinen Rhythmus gibt, der erlebt ihn oft als langweilig und leer. Wer jedoch einen guten Rhythmus für sich gefunden hat, der lebt jeden Tag gleich, gleich erfüllt und nicht gleich langweilig. Er freut sich auf seinen täglichen Spaziergang, oder auf das Hobby, dem er täglich bestimmte Stunden reserviert hat. Er steht nicht mehr unter Zeitdruck. So kann er sich ganz seinem inneren Rhythmus überlassen.



So lange der alte Mensch noch gesund ist, kann er sich an seinem Rhythmus und an seinem Leben freuen. Doch sobald er krank wird und jeden Tag als Last empfindet, erlebt er die Zeit anders. Da möchte er gerne, dass die Zeit zu Ende geht. Allerdings gibt es auch kranke Menschen, die trotzdem noch am Leben und an der Zeit hängen. Papst Johannes XXIII. erzählt bei seinem Besuch eines Arbeiterviertels in Rom, er habe einmal eine alte Frau besucht, die im Sterben lag. Er wollte sie trösten, indem er sagte, dass doch diese Welt, die sie jetzt verlassen müsse, nur ein Tal der Tränen sei. Darauf richtete sich die sterbende Frau in ihrem Bett auf und antwortete: ¸Aber, Herr Pfarrer, es weint sich doch so schön in diesem Tal der Tränen!'“ Auch in ihrer Krankheit hing diese Frau noch am Leben: Lieber noch in der Zeit leben, als die Zeit verlassen.



Es gibt Unterschiede im Zeiterleben, je nachdem in welchem Lebenszyklus ich gerade stehe. Aber das Zeitlerleben hängt nicht nur vom Lebenszyklus ab, sondern auch von der Art und Weise, wie ich mein Leben verstehe und lebe. Wer sich um das Leben betrogen fühlt, der erlebt die Zeit immer als Last. Dem kann die Zeit nicht schnell genug vorbei gehen. Wer dankbar lebt, der lebt in der Zeit. Der genießt den Augenblick. Und zugleich vergeht ihm die Zeit so schnell. Weil er bewusst lebt, wird ihm nie langweilig. Er genießt die Zeit und weiß zugleich, dass sie begrenzt ist. Gerade im Wissen um die Begrenztheit seiner Zeit erlebt er sie mit allen Sinnen, voller Dankbarkeit und Achtsamkeit.

Wer weise ist hat alle Zeit der Welt

In der Jugend geht es vor allem darum, möglichst viel in der Zeit zu erleben. Man neigt dazu, Zeit mit den Erlebnissen zu verwechseln, die man in der Zeit macht. Je älter wir werden, desto mehr Gespür bekommen wir für den Augenblick, für das Geheimnis der Gegenwart. Wer im Augenblick lebt, der braucht keine äußeren Erlebnisse, um sich lebendig zu fühlen. Er spürt sich selbst. Und er nimmt seine Umgebung wahr. Da genügt ihm ein Spaziergang im Wald, um ganz im Augenblick zu sein und ihn zu genießen. Oder es genügt ihm das intensive Gespräch mit einem Freund, um die Zeit zu vergessen. Oder aber er lässt sich auf die Stille ein. In der Stille der Meditation steht die Zeit still. Da ahnt er mitten in der Zeit etwas von der Ewigkeit, die in seine Zeit einbricht.



Je älter der Mensch wird, desto mehr wird er sich der Endlichkeit seiner Zeit bewusst. Manche versuchen, die Begrenztheit ihrer Zeit mit möglichst vielen Aktivitäten aufzufüllen. Sie haben Angst, sie könnten etwas versäumen. Letztlich ist es die Angst vor dem ungelebten Leben, die sie dazu antreibt, möglichst viel mit der Zeit anzufangen. Doch je mehr sie sich unter Druck setzen, möglichst viel zu erleben, desto weniger erleben sie wirklich. Sie werden unfähig, im Augenblick zu sein und das, was sie gerade wahrnehmen, mit allen Sinnen wahrzunehmen.



Andere nehmen die Endlichkeit ihrer Zeit zum Anlass, sich ganz dem Augenblick zu widmen. Sie überlegen sich, welche Spur sie in diese Welt eingraben möchten, was sie dem, mit dem sie gerade sprechen, sagen möchten, was sie ihm an Lebensweisheit vermitteln möchten. Was ist die Essenz meines Lebens, die ich weitergeben möchte? Solche Menschen könnte man weise nennen: Sie gehen mit ihrer Zeit behutsam um. Sie können die Zeit genießen. Für sie gibt es nichts Wichtigeres als den momentanen Augenblick. Sie sind ganz gegenwärtig. Sie vermitteln den Eindruck, dass sie alle Zeit der Welt haben. Weil sie die Endlichkeit ihrer Zeit zulassen, sind sie gelassen, lassen sie die Zeit sein, was sie ist: ein Geschenk Gottes an den Menschen.

Die erste und die zweite Lebenshälfte

Der französische Moralist Jean de La Brugere hat einmal gesagt: „Die meisten Menschen leben die erste Hälfte ihres Lebens so, dass die zweite Hälfte nur noch schwieriger wird.“ Da ist etwas dran. Wie wir das Alter erleben, das hängt immer davon ab, wie wir bisher gelebt haben. Wer in der ersten Lebenshälfte nur das Äußere kennt, nur Geldverdienen, Arbeiten, ein Haus bauen, der wird sich in der zweiten Lebenshälfte schwer tun, wenn das, was bisher sein Leben ausgemacht hat, wegfällt. Im Alter kann man nicht weiterhin Häuser bauen. Da kann man sich nicht mehr von der Arbeit definieren. Da zeigt sich, worauf ich mein Lebenshaus gebaut habe.