The Cover Image

Barbara Hennings/Gisela Niemöller



Ermutigen statt kritisieren

Ein Elternratgeber nach Rudolf Dreikurs



Vorwort von Theo Schoenaker

Originalausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2007

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de



Umschlaggestaltung und -konzeption:

R·M·E München / Roland Eschlbeck, Liana Tuchel

Umschlagmotiv: © Mauritius



Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig



ISBN (E-Book) 978-3-451-33357-6

ISBN (Buch) 978-3-451-05855-4

Vorwort von Theo Schoenaker

Glauben an eine Gesellschaft, in der selbstbewusste Menschen in allen Angelegenheiten auf Augenhöhe miteinander beraten, in der Ermutigung und Gemeinschaftsgefühl gelebte Werte sind, das können Menschen, die Rudolf Dreikurs’ Erziehungsmethoden und das Encouraging-Elterntraining Schoenaker-Konzept® kennen gelernt haben.

Es geht dabei um ein Training, in dem Gruppen von etwa 10 bis 20 Eltern Schritt für Schritt lernen, ihre Kinder zu selbstbewussten, ermutigten und ermutigenden Menschen wachsen zu lassen.



In einer Gruppe kann man soviel mehr lernen als in Einzelberatungen. Rudolf Dreikurs war davon so sehr durchdrungen und hat dafür so sehr gearbeitet, dass man nach seinem Tod in Nord-Amerika 20.000 Zentren zählte, in denen Eltern seine Erziehungsmethoden üben konnten. Ich denke gerne an den Moment zurück, in dem wir pünktlich zu einer Sitzung zusammengekommen waren und er nicht da war. Auf die Frage: „Wo ist Rudolf?“ antwortete seine Frau Tee strahlend: „Er hat bestimmt im Aufzug einige Leute getroffen und bildet jetzt eine Studiengruppe.“



Das vorliegende Buch zeigt die Wirkung eines zeitgemäßen Trainings. Die Autorinnen schöpfen aus eigener Erfahrung. Daher die Sicherheit und die Begeisterung.

Dies ist ein nützliches Buch.



Theo Schoenaker

Worum es geht

Noch ein Erziehungsratgeber? Nein! Zumindest keiner der üblichen Art. Vielmehr werden hier Leserinnen und Leser eingeladen, einen Blick zu tun auf das Miteinander in Familien, auf Mütter und Väter und auch Großeltern, wie sie gelernt haben, respektvoll mit ihren Kindern umzugehen. Gleichsam wie Großaufnahmen werden einzelne Szenen dargestellt, wie wir sie alle aus dem Alltag kennen.

Nur dass wir häufig am Ende anders da stehen als diese Familien hier: Streit, Geschrei, Wut, Tränen und schlechte Stimmung haben uns dann wieder eingeholt. Genau das passiert in den hier zusammengetragenen Beispielen nicht.

Dabei sind es ganz normale Eltern und Großeltern aus unserer Zeit und aus unserer Gesellschaft, die uns mit ihren Berichten gewissermaßen Zutritt in das Innere ihrer Familien gewähren: Mütter, die Erwerbstätigkeit und Familie managen; eine Großmutter, die in die Tagesmutterrolle schlüpft; ein allein erziehender Vater; Familienfrauen, die sich eine Zeit lang im Wesentlichen auf die Kinderbetreuung konzentrieren. Nichts ist gestellt, alles direkt aus der Realität gegriffen und von den Beteiligten selbst erzählt.

Wir dürfen Zeugen sein, wie sie die Alltagsherausforderungen mit ihren Kleinkindern, Schulkindern, ja sogar jungen Erwachsenen anders angehen und dadurch ein besseres Klima schaffen. Ein Klima, in dem Eltern wie Kinder sich wohl fühlen und deshalb auch anders miteinander umgehen.

Es ist das Klima der Ermutigung, und es sind die Erwachsenen, die es erst einmal schaffen. Sie haben sich auf den Weg gemacht, die Umsetzung zu üben. Denn ein Klima der Ermutigung kann man nicht einfach per Knopfdruck herstellen: Ermutigung will geübt sein!

Die Berichte zeigen nicht das bestmögliche Verhalten angesichts der jeweiligen Situation, sondern das, was der Mutter, dem Vater oder der Großmutter zu diesem Zeitpunkt möglich war.

Auch die beteiligten Kinder sind ganz ‚normale‘ Kinder: Sie sind Einzel- oder Geschwisterkinder, Zwillinge; haben Erfahrung mit einer Trennung der Eltern; einige leben mit Behinderungen, anderen ist das ADHS-Syndrom bescheinigt; schließlich umspannen sie die Altersphasen vom Spracherwerb bis zum Studium.

Eben diese Normalität aller Beteiligten, so hoffen wir, wirkt wiederum ermutigend auf Sie als Leserinnen und Leser, und löst in Ihnen den Gedanken aus: ‚Wenn andere Eltern diese guten Erfahrungen machen mit ermutigendem Umgang in der Familie, dann schaffe ich das auch!‘

Was ist Ermutigung?

Wenn man die Frage stellt: Wie verhalten sich Menschen, zu denen Kinder sich hingezogen fühlen, von denen sie bereit sind, Neues anzunehmen oder denen sie sich mit ihren Sorgen und Nöten anvertrauen? Dann kommen immer wieder ähnliche Antworten, egal wie viele Leute man fragt. Und zwar:



Das sind Menschen, die

Genau diese Verhaltensweisen haben die Erwachsenen, die zu diesem Buch beigetragen haben, systematisch geübt, denn sie schaffen ein Klima der Ermutigung.

Ob das wirklich so ist, zeigt sich an der Wirkung.

Denn auf die Wirkung kommt es bei Ermutigung an – nicht auf die Absicht!

Alle Eltern wollen gute Eltern sein. Sie wollen das Beste für Ihr Kind. Auch wenn sie als Erwachsene besserwisserisch auftreten, drohen oder strafen, haben sie gute Absichten: Ihr Kind soll sich an Regeln gewöhnen, seine schulischen Leistungen voranbringen, gutes Sozialverhalten zeigen. Ihre Erfahrung zeigt ihnen aber, dass die Methoden des Schimpfens, Strafens, Belehrens und Drohens langfristig nicht funktionieren.

Was ist das Beste für ein Kind?

„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen:

Wurzeln und Flügel.“

(Goethe zugeschrieben)

Wurzeln wachsen durch die Geborgenheit, das Urvertrauen, die Nestwärme, die Eltern geben, und die das Wachstum und Lernen erst ermöglichen. Zu den Flügeln gehören die Fähigkeiten und Fertigkeiten, das Leben gut zu meistern. Beiden gemeinsam ist ein gutes Selbstwertgefühl. Die Grundlagen für Wurzeln und Flügel legen erst mal die Eltern und die Menschen, die den Kindern am nächsten sind. Wurzeln geben die Beziehungsqualitäten, die die Eltern im Buch geübt haben. Flügel wachsen den Kindern durch die Instrumente der individualpsychologischen Kindererziehung, die die Eltern anwenden.

Zu den Wurzeln des Kindes gehört das tief empfundene Gefühl: So wie ich bin, bin ich gut genug. Ich bin hier in der Familie angenommen, so wie ich bin. Ich habe meinen Platz. Ich gehöre dazu und bin wichtig, auch wenn ich Fehler mache, auch wenn ich mich durch ein Verhalten mal schuldig mache. Dann muss ich mein Verhalten ändern, aber als Person bin ich trotzdem wertvoll und liebenswert. Dieses feste Vertrauen darf ich haben und werde darin nicht enttäuscht.

Deshalb können wir auch anders formulieren:

Ermutigen bedeutet, das Zugehörigkeitsgefühl eines Kindes zu stärken.

Jedes Kind möchte sich zugehörig fühlen

Mutter schneidet sich die Zehennägel, die zweijährige Susanne schaut interessiert zu. Mutter schimpft vor sich hin: „Wenn das so weiter geht, brauche ich eine Zange.“ Susanne verschwindet und bringt Mutter die Würstchenzange aus der Küche.



Mutter hängt im Garten Wäsche auf. Der zweijährige Valentin reicht ihr die Stücke. „Nein, das nicht, das gehört in den Trockner“, sagt Mutter. Sie merkt kaum, dass Valentin verschwindet. Als sie fertig ist, liegt das Stück im Trockner.

(Eltern berichten)

Wir Menschen sind soziale Wesen und brauchen andere Menschen. Deshalb ist das ‚Gemeinschaftsgefühl‘ (Adler) eine angeborene Fähigkeit, die es aber zu entwickeln gilt. Das geschieht am besten, wenn Kinder sich zugehörig fühlen und auf gute Art beitragen können.

Valentin und Susanne fühlen sich zugehörig und machen mit. Alle Kinder möchten sich zugehörig fühlen, wichtig sein, ihren Platz haben in der Familie, der Kindergartengruppe, der Schulklasse. Sie denken mit, und helfen mit – wenn sie dürfen! Leider geht das manchmal schief.

Das Baby schläft im Kinderzimmer. Der zweijährige Jens spielt mit seinen Autos. Mutter, in der Küche, hört das Baby schreien und schaut nach. Die Autos liegen im Bettchen, das Baby hat eine Schramme im Gesicht.

Eine kritische Situation. Was hat der ‚große‘ Bruder gemacht? Das Baby, das ihn störte, mit Autos beworfen? Oder dem Baby, das sich langweilte, Autos zum Spielen gereicht? Die Reaktion der Mutter wird Weichen stellen. Nimmt sie das Gute an, erklärt dem ‚großen‘ Jens, dass das Baby zu klein ist für die Autos, und macht die Sache nicht so wichtig, lässt ihn aber beim Wickeln und Eincremen mitmachen, wird sich ‚der Große‘ als Helfer fühlen. Sein durch die Geburt des Babys verunsichertes Zugehörigkeitsgefühl wird sich langsam wieder herstellen.

Wird Mutter schimpfen und strafen, das ‚Vergehen‘ wichtig machen, wird der ‚Große‘ lernen, dass er Aufmerksamkeit erhält, und Zuwendung erfährt, wenn er das Baby zum Weinen bringt. Auch wenn Mutter schimpft, ist das für ihn besser als übersehen zu werden. Sein positives Beitragen wird sich in negatives wandeln. Gerade Erstgeborene, auf die sich die Aufmerksamkeit der ganzen Familie zu konzentrieren pflegte, fühlen sich aus dem Gleichgewicht geworfen, wenn das zweite Kind geboren wird. Die Kronprinzen und -prinzessinnen sind entthront. Das ist schwer zu verarbeiten.

Wir sehen: Eltern haben einen großen Einfluss auf das Verhalten der Kinder. Kinder sind nicht wie CD-Rohlinge, die wir einmal brennen, oder Münzen, die geprägt werden. Sie entwickeln sich, indem sie auf die Erwachsenen reagieren – und die Erwachsenen reagieren auf das Verhalten der Kinder. In dieser ständigen Wechselbeziehung finden Entwicklung und Wachstum statt.



Sehr oft können Eltern nichts dafür, dass Kinder das Zugehörigkeitsgefühl verlieren! Niemand ist schuld, wenn die Mutter krank wird, und das Kind von einer Aushilfe betreut werden muss. Niemand ist schuld, wenn ein Baby geboren wird und das ältere Kind sich zurückgesetzt fühlt. Niemand ist schuld, wenn unsere Kinder sich durch Umzug, Schulwechsel, Tod in der Familie, Arbeitslosigkeit, Wegzug von Freunden, Trennung der Eltern, also das ganz normale Leben, verunsichert und nicht mehr zugehörig fühlen. Den Erwachsenen geht es ja auch so. Auch sie fühlen sich verunsichert, belastet, haben mehr Arbeit als normal. Auch ihr Zugehörigkeitsgefühl ist manchmal wackelig.

Ermutigung in der Familie, für den Partner, die Partnerin und die Kinder, wird allen helfen, sich wieder wohler zu fühlen.

Was die Erwachsenen in ihren Beispielen berichten, zielt darauf ab, das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken. Wenn Kinder sich zugehörig fühlen, wollen sie sich von ganz allein sinnvoll in die Gemeinschaft einbringen und ihren Teil nach ihren Möglichkeiten beitragen, damit das Miteinander funktioniert. Das ist dann die spürbare Auswirkung von Ermutigung.

Denn ein ‚sattes‘ Zugehörigkeitsgefühl macht ein Kind nicht etwa träge oder ‚übermütig‘, sondern im Gegenteil aufgeschlossen, motiviert, lern- und unternehmungsfreudig. Das Gefühl haben zu dürfen: Ich bin schon gut genug – aber ich darf alles, was noch in mir steckt, entwickeln, setzt wunderbare Kräfte im Kind frei. Mut eben.

Das ist das Wesen der Ermutigung: Sie lässt das Potenzial, das in einem Menschen steckt, wachsen. Mit Ermutigung entwickeln Kinder sich besser und schneller, sie lernen leichter und freudiger, sie entdecken ihre Fähigkeiten und nutzen sie.

Das Klima der Ermutigung

Das Kind braucht dauernd Ermutigung.

Es braucht Ermutigung, wie eine Pflanze das Wasser braucht.

(Dreikurs)

In einem Klima der Ermutigung geht es um die Qualität der Beziehung zwischen den Erwachsenen und den Kindern. Je mehr die von Gleichwertigkeit geprägt ist, und von der Grundannahme:

du hast Bedürfnisse – und ich habe Bedürfnisse

du hast Gefühle – und ich habe Gefühle

du hast Rechte – und ich habe Rechte

du hast Pflichten – und ich habe Pflichten

umso mehr bestimmen gegenseitiger Respekt, gegenseitige Achtung und Höflichkeit die Atmosphäre und den Umgang. Umso friedlicher gelingt das Zusammensein, umso entspannter und freudvoller erleben die Erwachsenen das Miteinander, umso besser entwickeln sich die Kinder. Die Mutter unterbricht das versunkene Spiel der Dreijährigen nicht unbedacht, der Vater klopft beim 13-Jährigen an. Durch das Vorbild lernt die Dreijährige, auch Mutters Mittagsschlaf zu respektieren, und der Teenager ist bereit, die Lautstärke seiner Musik runterzudrehen, wenn der Vater freundlich darum bittet.

Ermutigend wirkt, wenn Erwachsene den Kindern vorleben, dass sie auch untereinander respektvoll umgehen. Selbstrespekt gehört dazu. Eltern dürfen und sollen auch Ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse deutlich aussprechen:

‚Ich akzeptiere nicht, dass mein Tulpenbeet zertrampelt wird.‘

‚Ab 20 Uhr ist Elternzeit.‘



Auf das Wie kommt es an! Wir sollen mit unseren Kindern umgehen wie mit unseren besten Freunden, höflich und mit Wertschätzung.

Die Qualität unserer Beziehungen lebt vom Tun, von unserem Verhalten.

Aber hinter diesem Verhalten steckt noch mehr, unsere innere Haltung.

Wollen wir die Beziehung zwischen uns und unseren Kindern verbessern, müssen wir sowohl an unserem Verhalten als auch an unserer inneren Haltung arbeiten.

Unser Verhalten kann die innere Haltung beeinflussen. Das können Sie mit dem alltäglichsten aller Mittel ausprobieren: Ihrer Stimme. Versuchen Sie einmal, in einer Situation der Anspannung und Gereiztheit mit ihren Kindern ihre Stimme trotzdem ruhig und freundlich zu halten. Sie werden merken, wie ihre Stimmung (nicht zufällig derselbe Wortstamm) dadurch ebenfalls ruhiger und freundlicher bleibt. Mit dieser Stimmung wiederum sind Sie weit besser in der Lage, den Herausforderungen der Kinder ruhig und freundlich zu begegnen.

Die Haltung hinter dem Verhalten üben Instrumente wie Trennung zwischen Person und Verhalten, Vier Schritte zur Klärung der Beziehung und Drei Schritte zur Wiedergutmachung, ganz besonders aber das fundamentale Denken in Zuneigung.

Erwachsene, die Gleichwertigkeit praktizieren lernen, werden für Kinder zu eben jenen ermutigenden Menschen, zu denen sie sich hingezogen fühlen. Solchen Partnern gegenüber legen Kinder Fehlverhalten schon ein Stück weit ganz von allein ab. Es erübrigt sich einfach für sie.

Dann erübrigen sich auf der Elternseite auch so genannte ‚Erziehungsmaßnahmen‘, die wir bisher für unverzichtbar gehalten haben im Umgang mit heranwachsenden Menschen: schimpfen, drohen, strafen – ebenso wie belohnen. Denn gleichwertige Menschen belohnen und bestrafen einander nicht.

Sie nehmen aber aufrichtig Anteil aneinander, freuen sich mit über Erfolge, z. B. bei der Eins in Mathematik: „Ich bin glücklich, wie leicht du lernst und mit Zahlen umgehen kannst (oder: „wie hart du gearbeitet hast, um dieses Ziel zu erreichen“).“ Vielleicht genießt man aus Freude zusammen ein Eis. Und wenn etwas schief geht, lenken sie den Blick auf das – dennoch – Gute bei Misserfolgen und Fehlschlägen, und vermitteln: ‚Ich glaube trotz allem an dich‘. Ein Kind braucht das feste Vertrauen der Eltern in seine Fähigkeiten – und ihre Zuversicht, dass es seinen Weg schon machen wird.

Das tief sitzende Bedürfnis nach Mitdenken, Mitreden und Mitentscheiden macht sich der Familienrat zunutze, indem er systematisch die Jüngeren in Planungen einbezieht, die oft über ihre Köpfe hinweg stattfinden. Kinder, die sich dergestalt wahrgenommen und ernstgenommen fühlen, bekommen jedes Mal einen großen Schub Ermutigung mit. Garant dafür sind die Gesprächsregeln: Jeder darf in diesem Rahmen unzensiert sprechen, niemand macht Vorwürfe, jeder spricht höflich und jeder hört dem anderen bis zum Ende zu.

Wer von Mitmenschen solchen Umgang erfährt, mobilisiert sein Bestes, das gilt für Kinder wie für Erwachsene. Und mehr als sein jeweils Bestes kann ein Mensch sowieso nicht geben. Vergleiche mit anderen Kindern oder abstrakte Zielvorgaben (was ‚man‘ eigentlich alles wissen, können, tun müsste) wirken dagegen sehr entmutigend.

Stör- und Fehlverhalten von Kindern, das Eltern so herausfordert, ist nichts anderes als Ausdruck von Entmutigung!

Gerade, wenn Kinder uns nerven oder ständig mit uns kämpfen, ist es für uns Erwachsene so wichtig, das kindliche Verhalten richtig zu verstehen. Denn dann sind die Kinder auf der Suche nach jenem Zugehörigkeitsgefühl, das wir oben beschrieben haben. Nur haben sie sich leider eine falsche Meinung gebildet, wie sie Zugehörigkeit erreichen können. Aufgabe der Erwachsenen ist es, das zu erkennen und zu beherzigen, was auch immer das Kind tut. Hier sind wir Älteren in der Bringschuld: Wir haben die Weichen in die richtige Richtung zu stellen durch unser überlegtes, einfühlsames Reagieren. Dazu gehört die Kenntnis über die ‚irrtümlichen Nahziele‘ (Dreikurs) oder Notlösungen des Kindes.

Es ist wichtig zu unterscheiden, ob ein Kind quengelt und stört, weil es übermüdet ist, eine Krankheit ausbrütet, Kummer hat oder sich langweilt, oder ob es seinen Launen nachgibt oder sich in eine Notlösung verstrickt hat. Das übermüdete Kind braucht Schlaf. Das Kind, das in der ersten Entmutigungsstufe steckt, braucht unsere gezielte Aufmerksamkeit, wenn es sich gut benimmt. Das Störverhalten wird am besten ignoriert.

Kinder brauchen unsere Zuwendung und unsere Zeit. Kinder setzen Zeit mit Liebe gleich! Dabei ist die Qualität der gemeinsam verbrachten Zeit wichtiger als die Dauer. Ein gemeinsames Spiel mit Lachen und Freude schafft Beziehung und Zugehörigkeit, auch wenn es nur zwanzig Minuten dauert. Ein liebloser gemeinsamer Nachmittag mit gereizter Stimmung und viel Schimpfen ist Entmutigung. Bekommen die Kinder unsere Zeit nicht freiwillig und auf positive Weise, werden sie sich die Zeit nehmen, indem sie Verhaltensweisen entwickeln, die die Erwachsenen dazu zwingen, sich mit ihnen zu beschäftigen.

Nerven, kämpfen, verletzen und dumm stellen – die Notlösungen des Kindes

Alle Menschen handeln entsprechend ihrer subjektiven Einschätzung einer Situation!

So geht es Kindern auch. Sie gehören zwar objektiv dazu – zur Familie, zur Kindergartengruppe oder zur Klasse – aber manchmal geht ihnen das Zugehörigkeitsgefühl verloren. Sie fühlen sich nicht mehr zugehörig, und handeln, als ob sie dächten, die Eltern liebten sie nicht mehr und wollten sie nicht mehr haben. Solche Gefühle tun sehr weh!

Kinder möchten ihren Platz haben, mitdenken und beitragen. Manchmal entwickeln sie eine falsche Überzeugung davon, wie sie in ihrer Familie wichtig sein, Gefallen finden oder beitragen können. Wenn sie glauben, dass die Eltern sie nicht (mehr) lieben, oder weniger lieben als die Geschwister, wenn sie sich unerwünscht fühlen, verstricken sie sich in Notlösungen. Wir nennen sie Notlösungen, weil das Kind in Not ist. Dreikurs spricht von den vier ‚irrtümlichen Nahzielen‘, weil das Kind eine irrtümliche Meinung davon hat, wie es sein Ziel, sich zugehörig zu fühlen, erreichen kann. Man könnte sie auch Entmutigungsstufen nennen. Eltern können ihren Kindern helfen, aus diesen Notlösungen wieder herauszufinden. Dazu müssen sie sie durchschauen.

Das einfachste Mittel ist, das eigene Gefühl und spontan auftretende Gedanken wahrzunehmen:

Entmutigungsstufe 1: ‚Nimm mich wahr!’
Irrtümliche Meinung des Kindes ‚Ich glaube, ich gehöre hier nur dazu, wenn ich ununterbrochen Beachtung finde.’
Das Kind möchte eigentlich beteiligt sein, sich wichtig fühlen, spüren, dass es einen Platz hat.
Seine Notlösung Aufmerksamkeit bekommen. Auch negative Aufmerksamkeit durch Schimpfen und Strafen nimmt es in Kauf.
Die Erwachsenen ärgern sich, fühlen sich genervt
Sie können das Störverhalten ignorieren;
Aufmerksamkeit geben für gutes Verhalten;
Verantwortung übertragen;
Aufgaben geben; freundlich und fest bleiben.
Entmutigungsstufe 2: ‚Jetzt gerade’
Irrtümliche Meinung des Kindes Ich glaube, ich gehöre hier nur dazu, wenn ich stärker bin als die Erwachsenen, wenn ich der Boss bin, wenn ich die anderen durch Worte oder Verhalten wie trödeln oder Wutanfälle provozieren kann.
Das Kind möchte eigentlich Selbstständigkeit, Freiraum, sinnvoll beitragen.
Seine Notlösung Rebellion. Die Eltern in Machtkämpfe verwickeln.
Die Erwachsenen fühlen sich provoziert, in ihrer Autorität in Frage gestellt.
Sie können aus Machtkämpfen aussteigen;
sich nicht provozieren lassen;
dem Kind Verantwortung übertragen;
freundlich und fest bleiben.
Entmutigungsstufe 3: ‚Das sollt ihr büßen’
Irrtümliche Meinung des Kindes Ich glaube ich gehöre nur dazu, wenn ich anderen so sehr wehtun kann, wie sie mir wehgetan haben.
Das Kind möchte eigentlich Gerechtigkeit.
Seine Notlösung Rache, Vergeltung für erlittenen Schmerz und empfundene Ungerechtigkeiten.
Die Erwachsenen fühlen sich verletzt oder blamiert. Sie denken: ‚So ein bösartiges Kind! Wie kann es mir (oder andern) so etwas antun.’
Sie können das Verhalten nicht persönlich nehmen;
intensiv auf der Beziehungsebene arbeiten;
individualpsychologische Erziehungsberatung aufsuchen;
freundlich und fest bleiben.
Entmutigungsstufe 4: ‚Hoffentlich merkt niemand, wie unfähig ich bin’
Irrtümliche Meinung des Kindes Ich glaube, ich kann hier überhaupt nichts beitragen. Ich bin total unfähig. Ich gebe auf.
Das Kind möchte eigentlich kompetent sein, an sich selber glauben.
Seine Notlösung Rückzug in scheinbare Unfähigkeit
Die Erwachsenen fühlen sich hilflos. Sie denken: ‚Was soll ich mit dem Kind bloß noch machen?’
Sie können die kleinsten Fortschritte anerkennen;
das Kind möglichst non-verbal ermutigen;
ihm in vielen kleinen Schritten zu einem anderen Selbstbild verhelfen;
es anlernen;
kein Mitleid geben, Zuversicht zeigen;
freundlich und fest bleiben.

Ein Kind, das sich in eine Notlösung verstrickt, handelt unbewusst.

Es ist nicht böse, sondern entmutigt. Es hat den Glauben verloren, dass es sein Ziel, wichtig und angenommen zu sein, mit positiven Mitteln erreichen kann.

Es braucht vor allem Zuwendung, Verständnis und Ermutigung, auch wenn es den Eindruck erweckt, dass es den Erwachsenen gegenüber gleichgültig oder gar feindselig eingestellt ist. Die Zuwendung, Anerkennung und Bestätigung sollte es für alles erhalten, was es gut macht, und nicht über das negative Verhalten.

Für diese kritischen Momente gibt es Instrumente wie Abkühlungsphase, Rückzug aus einem Machtkampf, Unerwartetes tun und eingeschränkte Wahlmöglichkeiten sowie natürliche und logische Folgen. Mit ihnen signalisieren Eltern ihren Kindern auf ermutigende Weise: „Nein, so nicht!“ ohne dabei zu schimpfen, zu schreien und zu strafen. Stattdessen handeln sie mit Respekt für sich selbst und für die Kinder. Das ist schwer! Wer jedoch einmal aus einer solchen kritischen Situationen mit Würde, tiefem Ausatmen und zunehmender Gelassenheit herausgefunden hat, möchte solche Erfolgserlebnisse immer wieder haben! Und die Kinder lernen neues Verhalten, indem sie neue Erfahrungen machen, ohne klein beigeben zu müssen, und ohne sich blamiert zu fühlen. Das lässt sie wachsen und selber Verantwortung übernehmen.

Gleichwertigkeit

Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung werden oft verwechselt. Es sind aber zwei verschiedene Konzepte.

Die Gleichwertigkeit bezieht sich auf die Person des Menschen. Alle Menschen, also auch unsere Kinder, haben ein Recht darauf, dass ihre Bedürfnisse respektiert werden, dass sie mit Höflichkeit und Achtung behandelt werden, dass sie weder geschlagen noch beschimpft noch erniedrigt werden. Dieses Recht ist im deutschen Grundgesetz verankert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Alle Menschen sind gleichwertig, egal ob sie Kinder sind oder Greise, Mann oder Frau, krank oder gesund, arm oder reich, und egal was für eine Hautfarbe oder Nationalität sie haben.

Die Gleichberechtigung bezieht sich auf die Rolle des Menschen in der Gesellschaft. Alle Erwachsenen sind vor dem Gesetz gleich. Kinder und Heranwachsende werden besonders geschützt. Rechte gehen immer mit Pflichten einher. Ein Schulleiter hat andere Rechte und Pflichten als die Schüler. Ein Chef hat andere Rechte und Pflichten als der Azubi. Eltern haben andere Rechte und Pflichten als die Kinder.

Die gute Zumutung

Die größte Anregung für die Entwicklung eines Kindes besteht darin, es Erfahrungen auszusetzen, die jenseits seiner Reichweite zu liegen scheinen, es aber nicht sind.

(Dreikurs)

Kindern etwas zu-Mut-en? Genau darum geht es. Eltern machen Kindern Mut, an sich selbst und ihre Fähigkeiten zu glauben, indem sie ihnen erlauben, sie einzusetzen, sie zu üben und praktisch zu erleben. So lernen die Kinder, dass sie Flügel haben, und sie lernen, sie zu gebrauchen.

Wenn Eltern Kindern Schwierigkeiten abnehmen, Probleme für sie lösen, und ihnen Hindernisse aus dem Weg räumen, entmutigen sie sie. Auf solche Art verwöhnte Kinder lernen nicht, dass sie etwas selber können. Da Fähigkeiten nur wachsen, wenn sie geübt werden, nehmen diese wohlmeinenden Eltern den Kindern die Chance, sich weiterzuentwickeln.

Zu-Mut-ung richtig verstanden ist dagegen Ermutigung. Sie enthält die verschlüsselte Botschaft: ‚Ich glaube an dich. Du bist in meinen Augen mutig und stark genug, diese Aufgabe zu meistern oder die Folgen deines Handelns zu tragen.’

Ein Kind, das erlebt, dass es die Zu-Mut-ung tatsächlich bewältigt, wächst jedes Mal ein Stück in seinem Können und in seinem gesunden Selbstwertgefühl. Der Mut, den nächsten Schritt zu wagen, baut sich wie von allein auf. Die Scheu und Angst vor dem Fehler machen verlieren sich. Kinder können Fehler dann als Chance erfahren, als Aha-Erlebnis: ‚So geht’s nicht. Ich muss mir etwas anderes überlegen.’

Hierzu gehören vor allem das Eintreten lassen natürlicher und logischer Folgen und Verantwortung abgeben an das Kind. Ein Übungsfeld, auf dem viele Eltern sich zunächst sehr skeptisch und misstrauisch bewegen aus dem Glauben heraus: „Ach das arme Kind! Es ist ja noch so jung! Diese Enttäuschung oder diese Frustration möchte ich ihm aber unbedingt ersparen.“

Was wir den Kindern tatsächlich unbedingt ersparen sollten, ist Predigen vorher und das berühmte Schimpfen hinterher: „Siehst du, wusste ich’s doch!“ Dadurch fühlen Kinder sich bloßgestellt und erniedrigt. Am besten ziehen wir uns in Situationen der Herausforderung auf die Tribüne wohlmeinender Zuschauer zurück, die nicht ins Geschehen eingreifen (also auch nicht reden) und sich darauf verlassen: Mein Kind schafft das!

Überhaupt reden: Weniger ist mehr! Auch Ermutigung geschieht oft viel mehr durch Handeln als durch Worte. Wirklich zuhören oder kleine Gesten, ein Augenzwinkern des Einverständnisses im richtigen Moment, ein Lächeln oder eine Hand auf der Schulter ‚sagen’ und bewirken oft mehr.

Was sein soll und was ist – die Sache mit den Regeln

Denken wir an Verkehrsregeln. Sie regeln den Verkehr, damit er möglichst sicher fließt. Familienregeln regeln den Umgang miteinander, damit Bedürfnisse, Rechte, Pflichten und Werte in der Gemeinschaft respektiert werden. Eltern und überhaupt Erwachsene sollen sich über deren Sinn Gedanken machen – und die Kinder und Heranwachsenden frühzeitig in die Überlegung von Regeln mit einbeziehen, denn sie haben das Bedürfnis, in der Familie wichtig zu sein, mitzureden, beizutragen und Verantwortung zu übernehmen.

In der Familie ist zu regeln, wer morgens wann und wie lang das Bad benutzt, wer die Einkäufe erledigt, wer zuständig ist für das Tisch decken, Kochen, Auftragen, Abräumen und Geschirr spülen, so dass keiner sich überarbeitet oder ausgenutzt fühlt. Auch das Saubermachen, die Gartenarbeit, Reparaturen und Renovieren wollen geregelt sein.

Regeln sind nicht jeden Tag neu verhandelbar. Die Diskutierfreudigkeit der Kinder gehört in den Familienrat. Wenn die Regeln festgelegt sind, ist es die Aufgabe der Eltern, dafür zu sorgen, dass sie eingehalten werden. Gegebenenfalls werden logische Folgen verabredet oder natürliche Folgen dürfen einfach eintreten, wenn Regeln missachtet werden.

Je kleiner die Kinder sind, desto wichtiger ist ein fester Rahmen, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen machen können. Das gibt ihnen Sicherheit. Wenn die Eltern freundlich und fest darauf bestehen, dass die Regeln und Grenzen eingehalten werden, zeigen sie sich als zuverlässige Partner: Das Kind weiß, woran es ist.

Auch ein geregelter Tagesrhythmus gibt Halt. Je jünger die Kinder sind, desto mehr leben sie im Augenblick. Jeden Tag zur gleichen Zeit aufstehen und zu Bett gehen, zur gleichen Zeit essen, ein festes Gute Nacht Ritual, die tägliche Ruhepause nach dem Mittagessen geben Sicherheit und Geborgenheit und helfen dem Kind, die festen Gewohnheiten zu entwickeln, die es in der Schule brauchen wird. Wenn das Kind älter wird, wird der schützende Rahmen der Regel erweitert, die Zubettgehzeit nach hinten verschoben, es darf länger draußen spielen. Ältere Geschwister dürfen mehr: das fordert die Gerechtigkeit.

Durch die Familienregeln lernen Kinder auch: Verschiedene Gemeinschaften leben unterschiedlich. Die eine Familie erlaubt grundsätzlich kein Essen und kein Malen mit Wasserfarbe im Kinderzimmer (weil dort Teppichboden liegt). Die andere erlaubt beides, weil der Korkboden alles toleriert. Dafür gilt dort bei Tisch: Keiner steht auf, ehe nicht alle fertig sind mit essen.

Kinder führen ihre Freunde gern und selbstverständlich in die Regeln ihrer Familie ein („du musst hier im Flur die Schuhe ausziehen“), weil damit auch ein Wir-Gefühl verbunden ist: So sind wir, so ist das bei uns.

In vielen Familien gibt es Regeln, die eingehalten werden sollten, aber nicht eingehalten werden. Dabei gilt:

Eine Regel ist, was regelmäßig passiert!

Beispiel: Die Soll-Regel lautet: Die Kinder räumen den Tisch ab. Die Ist-Regel lautet: Mama schimpft und räumt den Tisch ab.



In diesem Fall ist die Regel:

Die Kinder ignorieren ihre Mutter und die Abmachung z.B. des Familienrats. Die Mutter tut die Arbeit, mit Schimpfen und Jammern.



Die Kinder lernen daraus:

Wir können tun, was uns am besten behagt. Mütter braucht man nicht ernst zu nehmen. Mütter tun die Arbeit. Mütter schimpfen und jammern. Abmachungen kann man ignorieren.



Wundern wir uns, wenn Kinder dann auch andere Regeln ignorieren? Zum Beispiel, dass Hausaufgaben gemacht werden sollen?

Wir sollten nicht überregulieren! 5 bis 6 Regeln zu einer Zeit, nicht mehr. Sie sollen Orientierung geben, keine Fallstricke werden. Regeln ergeben sich aus den Bedürfnissen der Gemeinschaft und ihrer Mitglieder. Ein jung gepflanzter Baum braucht einen starken Pflock zur ersten Stütze. Irgendwann wird der überflüssig, aber die groß gewordene Baumkrone braucht den ersten Schnitt. Alles zu seiner Zeit!

Haben Sie Mut zur Unvollkommenheit

Genau wie ihre Kinder, möchten Eltern alles gut machen. Sie möchten liebevolle Eltern sein, die ihren Kindern das nie antun, unter dem sie selber durch die eigenen Eltern manchmal gelitten haben. Sie wollen immer geduldig sein, freundlich, zugewandt, sie wollen Zeit für die Kinder haben und ihnen das wichtige Urvertrauen und die nötigen Fähigkeiten mitgeben, damit sie später im Leben gut zurechtkommen, im Beruf erfolgreich sind, und beziehungsfähige, teamfähige, sozial kompetente Erwachsene werden.