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Georg Schmidt

Durch Schönheit zur Freiheit

DIE WELT VON
WEIMAR-JENA UM 1800

C.H.Beck

Zum Buch

Was Goethe bei seinem ersten Eintreffen in der Residenzstadt Weimar sah, war ernüchternd: das Schloss eine Brandruine, die Infrastruktur schlecht – ein Nest, das Hauptstadt spielt, hieß es. Und auch Jena ist zunächst kaum mehr als eine kleine, arme Universitätsstadt. Dennoch zieht es um 1800 die bedeutendsten Dichter und Denker in die Doppelstadt. Doch was hielt die Genies in der Thüringer Provinz? Georg Schmidt führt kenntnisreich in die faszinierende Welt von Weimar und Jena ein und öffnet neue Perspektiven auf die Werkstätten der Schönheit, die wir so gut zu kennen glauben.

Das klassische Weimar beginnt in den frühen 1770er-Jahren, als sich in Deutschland das bleierne Gefühl des Stillstands und Verharrens verbreitete und neue Impulse dringend benötigt wurden. Vor dem Hintergrund des dramatischen Zeitgeschehens schildert Georg Schmidt den Alltag an Ilm und Saale, lässt Motive und Netzwerke der Akteure verständlich werden und zeigt, wie die befruchtende Symbiose aus Hof und Universität, Dilettantismus und Wissenschaft, Aufklärung und Klassik, Romantik und Idealismus die Doppelstadt zu einem Brennpunkt geistiger Bestrebungen in Deutschland werden ließ. So entsteht das Bild einer Stadt der Bürger, Musen und Genies, in der im Schatten von Revolution, Terror, Krieg und den vielfältigen Verwerfungen der Moderne eine unterschätzte und verdrängte politische Alternative entworfen wurde, die den Menschen durch ästhetische Erziehung auf die Freiheit vorbereiten sollte.

Über den Autor

Georg Schmidt ist Professor (em.) für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist Experte für die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und leitete den Sonderforschungsbereich «Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800». Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Der Dreißigjährige Krieg (92018), Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert (2009) sowie Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (22018).

Inhalt

Prolog – Freiheit und Schönheit

I. Weimar – die Voraussetzungen

1. Die Regentin Anna Amalia
im Krisenmodus

2. Wieland und der Kosmopolitismus

3. Goethes Weg nach Weimar

4. Die Ideengeber Möser, Herder
und Winckelmann

II. Sachsen-Weimar-Eisenach –
Regieren und Dilettieren

1. Das unscheinbare Weimar

2. Die Last des Regierens

3. Das polarisierende Genietreiben

4. Der repräsentative Hof

5. Anna Amalias Witwenmusenhof
als Refugium

6. Maskierte Botschaften Goethes

7. Herders Predigt

8. Carl Augusts Reichspolitik

9. Sinnkrisen allenthalben

III. Jena – Wissenschaften
und Politisierung

1. Wiedergeburt in Italien

2. Das kleine Jena

3. Zukunftweisende Universitätsreformen

4. Goethes Neuausrichtungen

5. Bertuchs Wirtschaftsimperium

6. Schillers freie Republik

7. Revolution in Gedanken

8. Politisierung in Jena

9. Klassizismus in Weimar

10. Schillers Ästhetischer Staat

IV. Die Doppelstadt –
das Ereignis Weimar-Jena

1. Glückliches Ereignis

2. Frieden, französische Emigranten
und Engländer

3. Herders Humanität als Unruhefaktor

4. Programmatische Horen

5. Giftige Xenien

6. Die Propyläen und das Theater

7. Die Jenaer Frühromantiker

8. Fichtes Entlassung

9. Schelling, Hegel und der Idealismus

V. Neue Konstellationen –
alte Illusionen

1. Politische Umgestaltungen

2. Deutsche Größe

3. Klassikdämmerung

4. Schlacht und Zäsur 1806

5. Kultur und Geselligkeit als Politik

6. Goethes deutsche Nation

7. Rheinbund und Befreiungskriege

8. Goethes politisches Vermächtnis

VI. Fokus Weimar –
Arbeiten am Mythos

1. Großherzogtum und Pressefreiheit

2. Das Wartburgfest als Fanal

3. Das Weimarer Monument

4. Die Reichsoption in Faust II

Epilog – der Geist von Weimar

Dank

Anmerkungen

Prolog
Freiheit und Schönheit

I. Weimar – die Voraussetzungen

II. Sachsen-Weimar-Eisenach – Regieren und Dilettieren

III. Jena – Wissenschaften und Politisierung

IV. Die Doppelstadt – das Ereignis Weimar-Jena

V. Neue Konstellationen – alte Illusionen

VI. Fokus Weimar – Arbeiten am Mythos

Epilog – der Geist von Weimar

Gedruckte Quellen und Literatur

Gedruckte Quellen

Sekundärliteratur

Bildnachweis

Personenregister

Für Runa, Marius, Kaja, Theo und Bero

«Jüngling, merke dir in Zeiten,
Wo sich Geist und Sinn erhöht,
Daß die Musen zu geleiten,
Doch zu leiten nicht verstehen».

Goethe

Das Großherzogtum Weimar (1824)

Stadtplan von Weimar (1782)

Stadtplan von Jena (1758, Ausschnitt)

Prolog – Freiheit und Schönheit

«Wir bleiben hier».[1] Diese trotzige Mahnung auf einem Pappkarton hing im Herbst 1989 am Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar. Die Botschaft des anonymen Schildermalers hielt diejenigen nicht auf, die zur Freiheit, zum besseren Leben und zum Konsum der schönen Dinge in den Westen strömten. Sie erinnerte aber auch daran, dass die beiden Klassiker trotz aller Unzulänglichkeiten und Ungewissheiten geblieben waren, weil sie vor Ort eine bessere Zukunft gestalten wollten. Sie hatten um 1800 von Weimar und Jena aus mit ihren Mitteln, der Literatur und den Wissenschaften, aufklären und durch Schönheit auf die möglich gewordene Freiheit vorbereiten wollen. Wenige Tage nach dem Fall der Mauer blickten die beiden an ihren Granitsockel gefesselten Klassiker auf die Menschen, die Schillers Festlegung, dass «es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert»,[2] allzu wörtlich nahmen und zu den schönen Dingen zogen. Er wollte die Leidenschaften, die in der Französischen Revolution zu Chaos und Barbarei geführt hatten, durch die Harmonie stiftenden schönen Künste zähmen. Zwei Jahrhunderte später drohten die Menschen jedoch erneut die wahre, die möglich gewordene weltbürgerliche Freiheit aus verständlichem, aber kurzsichtigem Egoismus zu verspielen. Damals hatte er gereimt: «Wenn sich die Völker selbst befrein;/Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn».[3]

Goethe stand den Forderungen des Volkes skeptisch gegenüber: «Das Wort Freiheit klingt so schön, daß man es nicht entbehren könnte, auch wenn es einen Irrtum bezeichnete».[4] Freiheit war für ihn «die leise Parole heimlich Verschworner, das laute Feldgeschrei der öffentlich Umwälzenden, ja das Losungswort der Despotie selbst, wenn sie ihre unterjochte Masse gegen den Feind anführt und ihr vom auswärtigen Druck Erlösung für alle Zeiten verspricht».[5] Goethe hätte 1989 wohl gefragt, ob denn das Volk wirklich wisse, was es wolle, und er hätte «mehr Licht», mehr Aufklärung gefordert. Die Überlieferung seiner engen Vertrauten berichtet von seiner letzten Bitte, «macht doch den zweiten Fensterladen in der Stube auch auf, damit mehr Licht hereinkomme»,[6] nach der er am Morgen des 22. März 1832 verstorben war. Goethe hatte dem Licht als Wissenschaftler alle Geheimnisse entlocken, mit ihm als Dichter das Geheimnisvolle und Verborgene erhellen und als Politiker die Menschen anleiten, ihnen aber auch konkret helfen wollen. Sein Aufruf, «flieht die dunkle Kammer,/Wo man euch das Licht verzwickt»,[7] betont die Eigenverantwortung der Menschen: sie dürfen ihr Leben niemandem anders überantworten. Vielleicht wollte er in der Helligkeit des Lichts sterben, während die moderne Welt mit den Unruhen 1832 dem dunklen Abgrund von nationalistischer Borniertheit und Gewinnsucht, Umsturz und Kriegen entgegentaumelte.

Goethe, Schiller und die Dichter und Denker in der Doppelstadt Weimar-Jena hätten die kommunikative und wirtschaftliche Globalisierung am Ende des zweiten Jahrtausends nicht als Vorstufe der weltbürgerlichen Freiheit in Frieden und Humanität akzeptiert, die ihnen vorschwebte. 1989/90 siegten die Sachzwänge. Sie führten zur Restitution des deutschen Nationalstaates und zur Bildung neuer Nationalstaaten in Mittel- und Osteuropa. Hat die Geschichte damit die ästhetische Bildung und die gewiss vagen kosmopolitischen Zielvorstellungen der Klassiker widerlegt? Treffen die pointierten Angriffe der Germanisten und Kulturkritiker zu,[8] die Weimar zum Mythos, die Klassik zur Legende und den Musenhof zum Witwenplaisir erklären? Bestand das «Wesen der Weimarer Hofklassik» darin, «daß hier zwei hochbedeutende Dichter die Forderung des Tages bewußt ignorierten»?[9] Richtete sich deren Mahnung, die Macht-, Tages- und Parteienpolitik zu meiden, an die Bürger und Untertanen oder nur an die Schriftsteller und Künstler? Haben sie im Streben nach Schönheit, Klarheit und Einigkeit mit den Musenspielen die Nöte des Volkes aus den Augen verloren? Interessierten sie überhaupt die Lebenswelt ihrer Mitbürger und die sozialen Missstände in ihrem Umfeld? War für sie die Masse nur eine Kulisse und die Schreibhemmung Goethes angesichts hungernder Untertanen nur Rhetorik? Oder war – so die hier verfolgte These – ihre Inszenierung des schönen Scheins ein unterschätzter und verdrängter alternativer Politikentwurf zur Revolution und zur immensen Beschleunigung der Moderne? Könnte sich dessen Rekonstruktion auch zum Zweck des selbstreferentiellen Vergleichs angesichts der heutigen, die individuelle Vernunft außer Kraft setzenden algorithmischen Fremdbestimmung des Menschen lohnen?

Die frühen und höchsten Vergleiche «Weimars» mit Bethlehem, Athen oder der Arche Noah sollten Aufmerksamkeit erregen und auf den Anbruch einer neuen Zeit einstimmen, in der das verfügbare Wissen frei von moralischen Skrupeln und politischen Zwängen neu durchdacht, gedeutet und zusammengeführt wurde. Bei dieser Reunion des Disparaten und Getrennten bestimmten Menschen das Ziel, die Musen den Ton. Diese humane Dominanz scheint angesichts digitalisierter Informationsflüsse oder des Abgrunds der Klimakatastrophe heute nicht mehr gewährleistet. Um die Freiheit der Entscheidung zurückzugewinnen, könnten die verschütteten, dem Diskurs bisher entzogenen kosmopolitisch-freiheitlichen Vorstellungen wichtige Fingerzeige geben. Sie stehen am Ursprung der modernen Entwicklung des Immer-mehr, Immer-schneller und Immer-komplexer und setzen sich kritisch damit auseinander.

Die Weimar-Jenaer Dichter und Denker wollten Vorurteile, Aberglauben und fragwürdige Traditionen, vermeintliche Sachzwänge und Alternativlosigkeiten, Fehlentwicklungen und vor allem die Entfremdung als Preis des Fortschritts aufdecken und überwinden. Sie hielten die Umschaffung des Menschen, nicht des Systems für vordringlich. Neben dem Verstand und den Gefühlen, die eine inzwischen reflektierte Aufklärung beachtete, rückten sie als neuen Faktor die Musen – Literatur, schöne Künste und Wissenschaften – ins Zentrum ihrer Bemühungen, weil sie davon überzeugt waren, dass ihr schöner Schein Triebe und Leidenschaften beruhige und somit Harmonie verspreche. Die ästhetische Kultur war das neue Medium, das nicht nur die individuelle Bildung zum Wahren, Guten und Schönen, sondern zugleich auch eine Vermittlung zwischen den egoistischen Zielen des Menschen und den gesellschaftlichen Notwendigkeiten herbeiführen sollte.

Das Projekt Nationalstaat verdrängte allerdings schon im frühen 19. Jahrhundert die kosmopolitisch-freiheitlichen Zielvorstellungen. Die Klassiker, die Weimar zum Musenhain, Olymp und Parnass, zum Symbol nicht-machtstaatlicher Größe stilisiert hatten – ihr mit Abstand erfolgreichstes Werk[10] –, wurden als Beginn dieser zum Bismarckreich führenden Erfolgsgeschichte vereinnahmt. Das gab dem neuen Machtstaat geistig-kulturellen Glanz, machte die Klassiker unsterblich und Weimar zur Chiffre des Neuhumanismus. Wer hier das Authentische sucht, erliegt dem schönen Schein der Wirkungsstätten Goethes und Schillers, Wielands und Herders, der Regentin Anna Amalia und des Herzogs Carl August. Was wir sehen, ist keine Fata Morgana und keine Lüge, sondern der von der Imagination der Musen geleitete, die Sinne betörende Abglanz eines Geschehens, das in seiner vollen Tragweite erst in der wiederholten Spiegelung deutlich wird, die das Vorwissen und der zeitliche Abstand ermöglichen. Das seit 1998 zum Welterbe zählende Ensemble «Klassisches Weimar» taucht die nicht immer einzigartigen Bauten und Gärten in den Glanz des Ganzen, das nicht nur ästhetisch und kulturell, sondern auch politisch immer wieder neu zu deuten ist.

Nachdem Wieland und Goethe die kleine Residenzstadt zum Knotenpunkt der Welt erklärt hatten, erweiterte letzterer in den 1780er Jahren den Fokus auf die Jenaer Universität, um Literatur und Wissenschaften enger zu verbinden. Seine Freundschaft mit Schiller, der sich der Zukunft nach dem Terror in Frankreich nicht mehr durch die Rekonstruktion der Vergangenheit vergewissern, sondern jene durch die ästhetische Erziehung gestalten wollte, wurde zum Fundament des Klassischen. Jena, die «Stapelstadt des Wissens und der Wissenschaft»,[11] prägte mit ihren das «Ich» betonenden Gelehrten, den Frühromantikern und herausragenden Journalen den kulturpolitischen Anspruch Weimars maßgeblich mit, steht aber in dessen Schatten. Goethe akzentuierte dagegen 1807 die «Ehre des Weimar-Jenaischen Wesens, welches denn doch eigentlich nicht separirt werden kann, und bey unmittelbarer Wirkung und Gegenwirkung mit einander stehen und fassen muß».[12] In den Zahmen Xenien spricht er von «Weimar-Jena, der großen Stadt,/Die an beiden Enden/Viel Gutes hat».[13] 1825 erklärt er, dass man «Jena und Weimar wie zwey Enden einer großen Stadt anzusehen habe, welche im schönsten Sinne geistig vereint, eins ohne das andere nicht bestehen könnten».[14]

Die befruchtende Symbiose von Hof und Universität, Dilettantismus und Wissenschaft, Aufklärung und Klassik, Romantik und Idealismus machte die Doppelstadt zum nationalkulturellen Brennpunkt. Der Widerstreit der Meinungen auf engstem Raum füllte eine Leerstelle, denn in Deutschland fehlte eine Hauptstadt, die wie London oder Paris vorbildhaft und geschmacksbildend auf die Nation wirkte und ihr ein Zentrum gab. Diese Lücke sollte «Weimar» schließen. Die Klassiker stilisierten ihr Spiel mit den Musen im Umfeld eines angesehenen Fürstenhauses und in der Nachbarschaft einer aufblühenden Universität zum deutschen Parnass. Das auf einer nicht machtpolitisch bestimmten Größe beruhende Kunstprodukt Weimar wurde zum geistig-kulturellen Kristallisationskern der Vision «Deutscher mit Deutschen».[15] Der Weimar-Mythos, den der Journalist Peter Merseburger 1998 beschwor und infrage stellte,[16] ist keine Lügengeschichte.[17]

Während Goethe und Schiller antike Muster und moderne Erfordernisse, Verstand und Gefühl auf unterschiedliche Weise harmonisch verbinden wollten, wandten sich die Romantiker gegen den Heilsanspruch der Vernunft. Sie gaben subjektiven Sinnesempfindungen den Vorrang, wollten die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischen und idealisierten das Reich und die Kirche des Mittelalters, um an die heroische Zeit der Deutschen anzuknüpfen. Die Jenaer Philosophen rückten mit Fichte und Schelling das «Ich» ins Zentrum der Welterfassung und erklärten die Materie zum Objekt der subjektiven Idee. Sie alle verband das Streben nach Schönheit. Ihre Konzepte des Sich-Bildens an und mit den Musen sind die Finalchiffren einer reflexiven Aufklärung, die sich mit einer Moderne konfrontiert sieht, die Egoismus und Eigennutz betont, die Entfremdung ignoriert und Liberalismus, Kapitalismus sowie vor allem den Nationalstaat als Lösung aller Probleme preist. Um dem Fortschreiten auf dem falschen Weg entgegenzuwirken, setzten die Klassiker auf Bildung und Kultur,[18] die sich dadurch merklich veränderten und zu Ressourcen des Politischen wurden.

Am Ausgang des 18. Jahrhunderts umfasste der Kulturbegriff die «Gesamtheit des menschlichen Wirkens an sich selbst, an anderen Menschen und an der umgebenden Natur».[19] Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart definierte Kultur als «Veredlung und Verfeinerung der gesamten Geistes- und Leibeskräfte eines Menschen oder eines Volkes».[20] Kulturen gliederten die Menschheit, weil Sitten und Gebräuche, geistige und künstlerische Aktivitäten und Artefakte wie Sprache, Verfassung oder Gewohnheiten orientierende Verhaltensmuster schufen, Identitäten begründeten und Völker oder Nationen trennten.[21] Um 1800 trat jedoch eine Verengung des Kulturbegriffs auf die schönen Künste, Literatur und Wissenschaften ein, die zum «Medium der Bildung» wurden. Da Kultur sich mehr und mehr nur noch auf das bezog, was «die Steigerung der Individualität zur Idealität, zur harmonischen Selbstentfaltung befördert», wurde sie zu dem Deutungsmuster, «das Wahrnehmung leitet, Erfahrung verarbeitet und Verhalten motiviert».[22] Goethe fragte allerdings 1827: «Was ist Kultur anders als ein höherer Begriff von politischen und militärischen Verhältnissen»?[23] Für ihn war Kultur die Voraussetzung des Fortschritts. Gäbe es in Deutschland nur die «Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich sehen, wie es um die deutsche Kultur stände, ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht».[24]

Kultur war ein Parameter im Wettkampf der Nationen, der insbesondere in Krisenzeiten Bedeutung gewann. Ursprünglich bezeichnete Krise eine Entscheidungssituation über Leben oder Tod, Sein oder Nichtsein, Heil oder Verdammnis, bevor der Begriff im späten 17. Jahrhundert als soziostrukturelles Deutungsmuster eingeführt wurde. In Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit charakterisierte Goethe seinen Gemütszustand vor seinem Aufbruch nach Weimar als «Krise».[25] Sinn- und Lebenskrisen führten auch Wieland und Herder an die Ilm. Sie sind symptomatisch für eine Zeit, in der vermeintliche Sachzwänge und Alternativlosigkeiten Freiräume einschränkten, ohne neue Perspektiven zu eröffnen. Goethes Die Leiden des jungen Werther brachte die individuelle Krise als Hoffnungs- und Ausweglosigkeit auf den Punkt. Die Französische Revolution verschärfte die Krisenstimmung, war jedoch auch ein Zeichen des Auf- und Umbruchs. Die Rufe nach Freiheit und einer nicht nur rechtlichen Gleichheit, nach Aufstieg durch Können und Leistung wurden lauter. Die ästhetischen Angebote der Dichter sollten den Einzelnen und die Menge verbessern und sozialen Unruhen vorbeugen; die ständische Ordnung aufheben oder das Volk an der Herrschaft beteiligen wollten sie nicht. Die bittere Armut, die Not und das Elend der Massen berührte aber auch sie. Bezeichnend ist Goethes Seufzer: «Es ist verflucht, der König von Tauris soll reden, als wenn kein Strumpfwürker in Apolda hungerte.»[26] Konkrete Hilfe konnte aber auch er nur selten leisten. Die öffentliche Fürsorge reichte nie, um dem ganzen Elend zu begegnen.

Auch politisch befand sich die Welt im Krisenmodus. Großbritannien beherrschte die Meere, ferne Länder und Völker. Russland und Österreich expandierten zu Lasten des Osmanischen Reichs und Polens, das sie mit Preußen unter sich aufteilten. In Frankreich formierte sich der Widerstand gegen die als despotisch empfundene Königsherrschaft. Die Deutschen litten unter dem Phantomschmerz fehlender staatlicher Einheit, konkret an den Folgen des Siebenjährigen Krieges, des österreichisch-preußischen Dualismus und der Hungersnot zu Beginn der 1770er Jahre. Der Reichs-Staat drohte von Österreich und Preußen in einen protestantischen Norden und einen katholischen Süden gespalten zu werden. Die Koalitionskriege verschärften die Not der Massen. Nach dem Basler Frieden von 1795 zerfiel Deutschland in eine nördliche Friedens- und eine südliche Kriegszone sowie in die von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebiete. Es stellte sich die Frage, ob es noch ein Deutschland gab und was es ausmachte. Die Massen wollten Ruhe und Frieden; die geistige Elite wollte das auch, pflegte jedoch ihre weltbürgerliche Attitüde.

Das Leben der Händler, Handwerker und Bauern, ihrer Frauen und all derjenigen, die unter der schweren Last der Steuern, Abgaben und Dienste stöhnten und denen niemand ein Denkmal setzte, veränderte sich um 1800 rasant. Fortschritt und Stabilität stießen an die von der Natur und den menschlichen Trieben gesetzten Grenzen. Die Macht des Marktes, die Kapitalisierung der sozialen Beziehungen und der Zwang zur Freiheit vergrößerten die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen unten und oben; sie führten zu einem dramatischen Anstieg der Zahl der Menschen, die allein von ihrer Handarbeit leben mussten und von allen feudalen Sicherungen abgekoppelt waren. Ängste, Orientierungsverluste und fragwürdige Lösungsstrategien machten das Leben nicht einfacher. Die Politik kapitulierte vor einem Geschehen, das scheinbar schicksalhaft zuschlug. Während sich Familienbande lösten und uneheliche Geburten zu einem Massenphänomen wurden, blieben die Menschen mental der vermeintlich guten alten Ordnung verhaftet. Sie sollten – das war die Idee der kulturellen Elite Weimar-Jenas – durch den schönen Schein in Literatur, Künsten und Theater angeleitet werden, ihre Freiheit nicht egoistisch zu missbrauchen.

Schiller und Goethe hielten den Schein für ein Trugbild, das allerdings das Wesen der Dinge erkennbar mache, sobald es als etwas wahrgenommen werde, was Gestalt haben könne. Die Fiktion wirke jedoch lediglich in der Imagination, ansonsten verfliege der Zauber. Für Schiller lebte der Mensch in zwei Welten, einer natürlichen, die er als Untertan und Bürger nicht ignorieren durfte, und einer inneren-geistigen, die er mit seinen Ideen selbst formte. Die Natur hebe «den Menschen von der Realität zum Scheine» empor, denn sie habe ihn mit Augen und Ohren ausgestattet, «die ihn bloß durch den Schein zur Erkenntniß des Wirklichen führen». Nur im Spiel, im «wesenlosen Reich der Einbildungskraft» besitze er das «souveräne Recht», zwischen Gestalt und Wesen, zwischen der Wirklichkeit und der sie transzendierenden Schönheit zu unterscheiden.[27] Hier entstehe im Austausch von Vernunft und Sinnlichkeit die wahre Freiheit. Um mit dieser umgehen zu können, mussten sich die Menschen ändern.

Goethe betrachtete es als die höchste Aufgabe der Kunst, «durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit» hervorzurufen. Falsch sei es jedoch, «den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliches übrig bleibt».[28] Das romantische Ideal einer Poetisierung der Welt, der «gedichtete Himmel»,[29] schien ihm freilich eine fehlgeleitete Schwärmerei. Im Epilog zu Schillers Lied von der Glocke legte er 1805 die Spur, welche die Erinnerung prägen sollte.

Indessen schritt sein Geist gewaltig fort
Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen,
Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine,
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.[30]

Schiller strebte nach dem Wahren, Guten und Schönen.[31] Das Gemeine, der Zwang, konnten ihm in diesem Reich nichts anhaben. Als Dichter distanzierten sich Goethe und Schiller deswegen von der Tages- und Parteipolitik, auf die sie als Bürger Einfluss nehmen wollten. Für Goethe ist das unstrittig. Er gestaltete die Weimarer Politik aktiv und in vorderster Front mit; bei Schiller blitzt sein Interesse am Weltgeschehen immer wieder auf. Beide verurteilten Revolution und Krieg, Unterdrückung und Gewalt. Als Dichter huldigten sie den Musen und einem alternativen Politikentwurf, der den Weg zu Frieden und Freiheit durch Schönheit und Geselligkeit wies. Ob ihre Vorstellungen meta-, anti- oder überpolitisch waren, kann offenbleiben.[32] Der humane Raum musste neugestaltet und dem in sich gespaltenen, rastlos nach Neuem drängenden Menschen das innere Gleichgewicht zurückgegeben werden. Diese Zerrissenheit war eine Folge des Fortschritts der Moderne und konnte in der Wirklichkeit nur um den Preis des Stillstands und Rückschritts aufgehoben werden; für den schönen Schein des Spiels galt das nicht.

Obwohl Goethe vor der Vermengung des Fiktiven mit dem Wirklichen stets gewarnt hatte, berief sich das gebildete Bürgertum im 19. Jahrhundert auf das Wahre, Gute und Schöne, um sich von der Masse abzuheben. Das war der Sündenfall. Die Distanz einer führenden Schicht zur Politik war einer der Faktoren, der in Deutschland den Rückfall in die Barbarei ermöglichte. Die Klassiker hatten den schönen Schein als Medium und Katalysator der angestrebten Gesinnungsveränderung betrachtet, nicht als Ersatz für Machtpolitik und das wirkliche Leben. Den Sinn ihrer um die Autonomie von Kunst und Wissenschaft kreisenden Ideale verstanden jedoch nur wenige Zeitgenossen. Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai verwarf die ästhetische Erziehung und den schönen Schein als Traum, weil durch Stimmungen die Menschheit nicht zu verbessern sei.[33] Mit Befehlen und Anordnungen aber offensichtlich auch nicht. Es brachte nichts, wenn der Barbier Schnaps, die Hauptfigur in Goethes Der Bürgergeneral, mit vorgehaltener Waffe dem Bauer Märten erklärt: «So wißt, daß ihr schuldig seid, Euch zu unterrichten, neue Gedanken zu erfahren; daß Ihr gescheit werden müßt; daß Ihr frei werden müßt; daß Ihr gleich werden müßt; ihr mögt wollen oder nicht.»[34]

Die Zwangsbeglückung war der große Irrtum aufgeklärter Reformer und revolutionärer Volksbefreier. Der elitäre Anspruch der Klassiker, dem Publikum nicht zu gefallen, sondern es zu lehren, sich zum Menschsein zu bilden, sowie ihre Kritik an Macht und Krieg passte jedoch nicht zu dem 1871 verwirklichten Nationalstaat. Deswegen wurden ihre Ideale als Folgen ihrer angeblich unpolitischen Haltungen umgedeutet. Das Wahre, Schöne und Gute wurde zum verhängnisvollen Muster einer in Familie, Sozietäten, Salons und Vereinen eingeübten harmonischen Geselligkeit, die soziale Konflikte und den politischen Streit tendenziell ignorierte und die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland formte.[35] Die Distanz führender Gruppen zu der Tages- und Machtpolitik hat ihren Teil zur totalen Katastrophe von Nazi-Regime, Holocaust und Zweitem Weltkrieg beigetragen.

Damit stellt sich die Frage nach der Verantwortung der Klassiker für die Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts neu und anders. Sind sie mitverantwortlich, weil die kulturellen Vorstellungen, die zum «deutschen Wesen» gehören, unter Berufung auf sie geformt wurden? Goethe und Schiller schätzten die Natürlichkeit der griechischen Kunst und Literatur und suchten die «weltbürgerliche Neuaneignung der Antike».[36] Sie forderten «klare, strenge Formen» sowie «letzten Ernst und höchste Verbindlichkeit».[37] Die ästhetische Autonomie sollte den schönen Schein strahlen lassen, der Humanität, Bildung und Selbstbestimmung dienen und den neuerlichen Rückfall in die Barbarei verhindern. Genau dies geschah jedoch. Die neuhumanistische Hochkultur hat die Deutschen nicht vor den schlimmsten Menschheitsverbrechen bewahrt.

Die herkömmlichen Definitionen des Klassischen, die das Vorbildliche und Musterhafte durch Nachahmung oder Annäherung an das zeitlos gültige Alte sowie die Vollendung des Eigenen betonen, gelten den literarischen Formen und deren Funktionen. Sie verfehlen sowohl die bildungs- und metapolitischen Intentionen als auch die fatalen Folgen. Der Streit, ob es eine klassische deutsche Literatur gibt, ist müßig.[38] Europaweit werden Goethe und Schiller der Romantik zugeordnet. Dadurch wird freilich Unterschiedliches, auf jeden Fall Unterscheidbares eingeebnet. Eine klassische Epoche wie in Frankreich, wo in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Dominanz der Sprache und Kultur mit der politischen Hegemonie Ludwigs XIV. einherging, gab es in Deutschland nicht. Da auch die Epoche der Klassik in anderen Ländern mit den jeweiligen Goldenen Zeitaltern koinzidiert – dem perikleischen in Griechenland, dem augusteischen in Rom, dem elisabethanischen in England und so fort –, wird das Prädikat für die deutsche Literatur um 1800 infrage gestellt. Der Reiseschriftsteller Johann Kaspar Riesbeck nannte freilich 1783 Wieland einen Schriftsteller, den «die Nachwelt unter die klaßischen setzen wird».[39] Die zeitgenössischen Verleger warben mit Klassikern, um ihren Absatz zu steigern,[40] und Friedrich Schlegel sprach 1797 dezidiert von «deutschen Klassikern».[41] Goethe hat angeblich behauptet, «alles, was vortrefflich sei, sei eo ipso klassisch».[42] Wer wollte ihnen widersprechen oder ihm eine «nationalliterarische Horizontverengung» unterstellen?[43]

Die Epoche deutscher Machtlosigkeit um 1800 gilt als das Zeitalter der deutschen Klassik – der literarischen in Weimar, der philosophischen in Jena, der musikalischen in Wien und der architektonischen in Berlin.[44] Ihre Addition zu einer deutschen Klassik dient der Prestigemehrung, ignoriert aber die kosmopolitischen Ambitionen, die für Musiker und Künstler selbstverständlich sind, nicht jedoch für die ihrer Muttersprache verpflichteten Schriftsteller. Wieland gebrauchte 1782 den Terminus «Weltliteratur» in einer Zueignungsschrift an Herzog Carl August.[45] Goethe fasste mit ihm den Kommunikationsprozess zusammen, der die «Weltcultur», das Wissen eines Gebildeten, mit den Erfordernissen der Gegenwart in Einklang bringt.[46] Zu vermitteln war vor allem zwischen der nur sich selbst verantwortlichen Weimarer Kunst und der für Konsum und Massengeschmack stehenden Pariser Weltkultur, die im Großverleger Justin Bertuch einen beargwöhnten Statthalter an der Ilm besaß.[47] Dessen Erfolgskonzept, den guten Geschmack mit Hilfe der Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Möbel oder Kleider anerziehen zu wollen, hielten die Klassiker für falsch, weil dadurch dem Gefallen des Publikums nachgegeben werde.

Um die sozioökonomische Wirklichkeit, Literatur und Wissenschaften als Ganzes zu erfassen, prägte ein interdisziplinäres Jenaer Forschungsprojekt den Begriff «Ereignis Weimar-Jena». Was sich im Zeichen des kulturellen Aufbruchs um 1800 in der Doppelstadt ereignete, war der spektakuläre Versuch, mit den Musen die Menschen anzuleiten, sich zu Weltbürgern zu formen. Goethe gebrauchte den Ereignisbegriff unter anderem an zwei herausragenden Stellen; er bezeichnete sein richtungweisendes Gespräch mit Schiller im Juli 1794 in Jena in seiner autobiografischen gleichnamigen Erzählung als ein «glückliches Ereignis», und er lässt ganz am Ende von Faust II den Chorus Mysticus nach der Grablegung Fausts über das Jenseits singen: «Das Unzulängliche/Hier wird’s Ereignis».[48]

Doch war das, was in Weimar und Jena um 1800 geschah, ein Ereignis? Der Leipziger Kulturhistoriker Wilhelm Wachsmuth hatte 1844 die beiden Versatzstücke des Weimar-Mythos erfunden. Er schuf mit dem «Musenhof» Anna Amalias ein Verstand und Gefühl ansprechendes Zentrum und mit Wielands Eintreffen den Anfang, ohne den keine große Erzählung auskommt: «Da geschah es, daß Wieland nach Weimar berufen wurde. Damit begann der weimarische Hof Lieblingsstätte der deutschen Musen zu werden».[49] Mit ihm oder mit dem 1775 ankommenden Goethe hatte allerdings auch schon für die Zeitgenossen etwas Neues begonnen. Heinrich Heine erklärte 1831 die Goethesche Kunst-Periode für beendet, weil deren «Prinzip noch im abgelebten, alten Regime, in der heiligen römischen Reichsvergangenheit wurzelt». Die neue Zeit brauche eine neue Kunst, die sich ihre Symbolik «nicht aus der verblichenen Vergangenheit» borge.[50] Der Versuch, über die Kunst die verlorene Ganzheit zurückzugewinnen, führe nur zu romantischen weltfernen Träumereien oder, wie bei Goethe, zu herrlichen Werken, die kalt, leblos und unfruchtbar wie Marmorstatuen seien.[51]

Der Universalhistoriker Schiller hatte gefragt, wie die Vergangenheit ausgesehen haben müsse, um dem Ziel einer Vereinigung aller Menschen vorzuarbeiten. Goethe ließ Faust den Geschichtsoptimismus seines Famulus zurückweisen: «Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit/Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln./Was ihr den Geist der Zeiten heißt,/Das ist im Grund der Herren eigner Geist,/In dem die Zeiten sich bespiegeln».[52] Der Erzähler des vergangenen Geschehens bringt die Quellen in einen ihm vernünftig erscheinenden Zusammenhang von Ursache und Wirkung, von Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Immanuel Kant, die Königsberger Gallionsfigur der kritisch-reflektierenden Aufklärung, hatte 1784 die menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten auf naturgesetzliche Kausalitäten beschränkt. Die Dinge waren nur mit den Vorgaben des erkennenden Subjektes wahrnehmbar. Die praktische Vernunft konnte es allerdings gebieten, den Geschichtsprozess so zu konstruieren, als ob er das Ziel größtmöglicher Freiheit verfolge. Es sei prinzipiell möglich, «die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten».[53]

Der Historiker kennt die Folgen des von ihm beschriebenen Handelns der Akteure. Er schließt von Wirkungen auf vermeintliche Ursachen und formt dann eine chronologisch strukturierte sinnvolle Erzählung. Er macht Geschichte, sollte sich aber hüten – so Wilhelm von Humboldt –, «der Wirklichkeit eigenmächtig geschaffene Ideen anzubilden».[54] Doch wer etwas erzählt, macht zumindest ein Angebot, wie es verstanden werden soll. Das ist jedoch nicht das Gleiche wie die beanspruchte höhere Wahrheit einer literarischen Fiktion, die gattungstypischen Regeln, nicht aber der Überlieferung verpflichtet ist. Klio, die Muse der Geschichtsschreibung und der epischen Erzählung, berichtet, dichtet und rühmt. Die Alternative, den Texten der Klassiker mit Hans-Georg Gadamer eine «unmittelbare Sagkraft» zu attestieren,[55] führt nicht weiter, weil kulturelle Selbstverständlichkeiten überall und zu allen Zeiten anders sind und Analogien fragwürdig machen. Das Vergangene muss historisiert werden, um als Mahnung oder Vorbild erinnert und über das jede Lektüre leitende Vorwissen hinaus neu verstanden werden zu können.

Die Klassiker, Frühromantiker oder Idealisten bieten keine Normen für alle Zeiten und Kulturen. Auch sie müssen zur eigenen Zeit in Bezug gesetzt werden. Der alte Goethe erzählte Kanzler von Müller, Weimar sei nur deswegen interessant gewesen, weil es in Deutschland nirgends sonst einen Mittelpunkt gegeben habe. «Es lebten bedeutende Menschen hier, die sich nicht miteinander vertrugen; das war das Belebenste aller Verhältnisse, regte an und erhielt jedem seine Freiheit».[56] 1780 hatte er die Weimarer Gesellschaft noch als einen Sack voller Erbsen karikiert: «Sie reiben und drücken sich, es kommt aber nichts weiter dabey heraus, am wenigsten eine Verbindung».[57] Goethe hatte dazugelernt. Konflikte mussten nicht desintegrierend wirken, sie konnten auch stabilisieren.

Dieses Buch erzählt, was sich zwischen der Ankunft Wielands und dem Tod Goethes in Weimar-Jena ereignete, was gedacht und gehandelt wurde. Es beschäftigt sich mit den Voraussetzungen und Folgen, primär aber mit den 60 Jahren um den Epochenumbruch von 1800 vor der Folie des Alten Reiches, der Französischen Revolution, Napoleons und des epochalen Wandels von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Der Ereignisraum Weimar-Jena war nicht die zufällige Kulisse eines faszinierenden Spiels mit den Musen, sondern der Raum, in dem den vielfältigen Verwerfungen der Moderne mit den Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern gebotenen Mitteln, in geselligen Zirkeln, an der Universität und am Theater gegengearbeitet wurde. Der zur Revolution und konservativem Beharren alternative Politikentwurf wird hier als Leitbild und Gegenmacht glaubhaft gemacht.

Das Buch ergänzt die kulturhistorischen Darstellungen Weimars von Walter H. Bruford, der kompetent und konzise die älteren sozial- und ideengeschichtlichen Forschungen zusammenfasst, und von Dieter Borchmeyer, der vor allem die literaturhistorischen Aspekte eindrucksvoll würdigt, sowie den reich bebilderten Ausstellungskatalog «Ereignis Weimar». Das erste Kapitel erzählt von Personen, Kräften und Konstellationen, die in den 1770er Jahren in Weimar maßgeblich waren. Das zweite rückt die soziopolitischen Verhältnisse im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, die aufgeklärten Reformen und die dilettierenden Bemühungen um Vervollkommnung in den Mittelpunkt. Das dritte Kapitel fokussiert die Jenaer Universität und die Neuausrichtung vom Musenidyll zum Ereignis Weimar-Jena. Das vierte kreist um den Freundschaftspakt zwischen Goethe und Schiller und die Idee des Wahren, Guten und Schönen, die als Grundkonzept der Klassik und Frühromantik gelten darf. Der fünfte Abschnitt thematisiert die politischen Veränderungen unter dem Druck Napoleons und die Sorgen um die deutsche Nation. Der sechste gilt der politischen Neuausrichtung, dem Wartburgfest und einem Goethe, der zu retten versuchte, was zu retten war. Er missbilligte das veloziferische Geschehen, arbeitete an seiner Monumentalisierung und setzte sich in Faust II kritisch mit dem modernen «Gewimmel» auseinander. Der Epilog behandelt die Folgen und den neuen Ruhm, der Goethe und Schiller zu Klassikern machte und Weimar über alle Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte hinweg einen vorderen Platz im kollektiven Gedächtnis sichert.

I.

Weimar – die Voraussetzungen

Das klassische Weimar begann in den frühen 1770er Jahren, als der Prinzenerzieher Christoph Martin Wieland, dessen Zeitschrift Der Teutsche Merkur, das Theater und dessen Förderin, die Regentin Anna Amalia, deutschlandweit Aufmerksamkeit erregten. Als wirklich herausragend wahrgenommen wurde Weimar jedoch erst, als mit Goethe der junge Star der Literaturszene sich dort niederließ und kurz darauf Johann Gottfried Herder berufen wurde. Zu dieser Zeit, Mitte der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts, verbreitete sich in Deutschland das bleierne Gefühl des Stillstands und Verharrens. Die alteuropäische Ordnung schien ausgereizt. Die Menschen fühlten sich gegängelt; die Aufklärung benötigte neue Impulse.

Die polnische Teilung galt als Menetekel. In den deutschen Residenzen griff die Angst um sich, Österreich und Preußen könnten nur auf eine günstige Gelegenheit warten, um das Heilige Römische Reich in einen protestantischen Norden und einen katholischen Süden zu spalten. Die Reichsjuristen idealisierten die Reichsverfassung, die Schriftsteller suchten den deutschen Nationalgeist und empfahlen einen patriotisch gezähmten Kosmopolitismus, bei dem der Weltbürger seine Pflichten gegenüber dem Vaterland nicht vergaß. Patriotismus und Kosmopolitismus sollten sich ergänzen und wurden zum Rollenmodell der Aufklärer,[1] die durch Vorbild, Anleitung und Erziehung alle Menschen zumindest in die Lage versetzen wollten, Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen, um die eigene Glückseligkeit und das Gemeinwohl zu fördern. Vormünder wie König Friedrich II. und Immanuel Kant, die mit ihren Armeen oder Argumenten allen ihre Vorstellungen aufzwingen wollten, provozierten intellektuellen Widerstand. Das «Feyerabendkleid der Freyheit» helfe niemandem, der ansonsten den «Sclavenkittel» trage.[2] Die Masse verharrte in ihrer angeblich «selbstverschuldeten Unmündigkeit»;[3] sie hatte andere Sorgen.

Die nach dem Dreißigjährigen Krieg nahezu verschwundene Angst, auch morgen noch genügend zu essen zu haben, kehrte in der durch extreme Niederschläge und lange Kältephasen verursachten Hungerkrise der Jahre 1770 bis 1772 zurück. In Deutschland lebten damals etwa 20 Millionen Menschen und es wurden mehr,[4] denn die verbesserte medizinische und hygienische Vorsorge, Seuchenpräventionen und Pockenimpfungen senkten die Sterberate. Die Ernährungslage blieb deswegen trotz des sich langsam durchsetzenden flächendeckenden Anbaus von Kartoffeln prekär, sobald witterungsbedingt die Ernten schlechter als üblich ausfielen. Das Bevölkerungswachstum wurde darüber hinaus von den neuen Arbeitsplätzen im verlagsmäßig organisierten Heimgewerbe, in Fabriken und Manufakturen begünstigt, die auch denjenigen eine Familiengründung erlaubten, denen dies zuvor versagt worden war. Das Mehr an Menschen und die Agrarkonjunktur gingen zu Lasten der Gewerbe,[5] weil die Verbraucher immer mehr Geld für Lebensmittel ausgeben mussten. Um die Erträge zu steigern, sollte der Ackerbau von Diensten und Abgaben befreit werden und auf bäuerlichem Eigentum stattfinden, denn Eigennutz diene dem Gemeinwohl.

Die Kritiker der alten, korporativ-gebundenen Wirtschaftsordnung verlangten nach dem Leistungsprinzip und einer marktorientierten Wirtschaftsgesinnung, die sich primär an den Bedürfnissen der bäuerlichen und gewerblichen Produzenten orientieren sollte. Die deutschen Staatsaufklärer wollten dadurch die alte Ordnung ohne gewaltsamen Umsturz neu stabilisieren. Der Despotismus Friedrichs II. und Josefs II. diskreditierte jedoch die Reformen von oben. Die Hoffnungen richteten sich auf kleinere, für Experimente offene Fürstenstaaten, in denen Herrschaft ohne einen Minimalkonsens mit den Untertanen nicht möglich war. Hier schien auch die Loslösung von der die höfische Oberschicht prägenden französischen Sprache und Kultur am ehesten möglich.

Der Weimarer Herrscherwechsel von der Regentin Anna Amalia zu Carl August stand ganz im Zeichen derartiger Veränderungen. Die Finanzkrise und die unruhigen Untertanen waren eine schwere Hypothek für die neue Regierung, die parallel zum kulturellen Aufschwung sozioökonomische Reformen einleiten musste. Wielands in Weimar herausgegebener Teutscher Merkur propagierte eine vernünftige Aufklärung; Goethe brachte der Stadt viel Prestige. Er glaubte, vor allem mit den Anleitungen des Osnabrücker Staatsmanns und Schriftstellers Justus Möser das Muster für erfolgreiches Regieren in einem Kleinstaat zu besitzen. Darüber hinaus wollte er die Literatur fördern, um im Geiste Johann Joachim Winckelmanns Schönheit und Freiheit zu verbinden. Weitere Ansätze für eine gezielte Neuausrichtung boten Wielands Kosmopolitismus und Herders christlicher Humanismus.

1. Die Regentin Anna Amalia
im Krisenmodus

Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach war ein Teil der thüringisch-fränkischen Konkursmasse, die Kurfürst Johann Friedrich nach seiner Niederlage im Schmalkaldischen Krieg geblieben war. Der ernestinische Zweig der Wettiner erntete für die Unterstützung Martin Luthers und der Reformation ewigen Ruhm, zahlte aber mit dem Verlust der sächsischen Kurwürde und der Kurlande einen hohen Preis. Die Ernestiner zählten dennoch weiterhin zur Spitze des alten Reichsfürstenstandes. Daran änderten die vielen Herrschaftsteilungen nichts. Sie mögen machtpolitisch nachteilig gewesen sein, wirtschafts- und kulturpolitisch waren sie es nicht. Zum einen floss ein beträchtlicher Teil der Gelder für die höfischen Bau- und Luxusbedürfnisse an die Untertanen zurück; zum anderen sorgten die vielen Residenzen überall in Deutschland für Schulen, Bibliotheken oder Parks, für eine flächendeckende kulturelle Entwicklung.

Das Doppelherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach entstand 1741, als das Eisenacher Gebiet an Weimar fiel. Staatsrechtlich blieben die beiden Landesteile getrennt. Herzog Ernst August war überschuldet. Er gilt als Verschwender, weil er gewaltige Summen in eine übergroße Armee und in repräsentative Bauwerke wie das Belvedere bei Weimar oder das Rokokoschlösschen Dornburg steckte. Da bei seinem Tod 1748 sein Sohn Ernst August II. Constantin erst elf Jahre alt war, folgte eine Vormundschaftsregierung. 1755 erklärte Kaiser Franz I. den Erbprinzen für volljährig; die Politik gestaltete sein bisheriger Erzieher Graf Heinrich von Bünau. Er sorgte für die baldige Heirat des kränklichen Herzogs am 16. März 1756 mit der 16-jährigen Anna Amalia, einer Tochter Herzog Karls I. von Braunschweig-Wolfenbüttel und seiner Frau Philippine Charlotte, einer Schwester König Friedrichs II. Das junge Paar teilte die Vorliebe für Musik und förderte das Hoftheater. Die Herzogin übertraf alle Erwartungen; sie gebar am 3. September 1757 den Erbprinzen Carl August und ein Jahr später Constantin, bei dessen Geburt sie allerdings bereits Witwe war.[6]