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Für Julia

Prolog

Seth breitete die Arme aus und rannte.

Geschwindigkeit.

Er drückte sich ab und flog dicht über dem Boden.

Aufwind.

Er winkelte die Arme an, spürte, wie seine Federn die Luft durchschnitten. Mit einem Jauchzen erhob er sich in die Luft.

Schneller.

Er spürte den raschen Aufstieg tief in der Magengrube, suchte sein Gleichgewicht und blinzelte mit Tränen in den Augen gegen den Wind.

Nichts zog ihn zu Boden. Nichts hielt ihn zurück.

Esta flog begeistert lachend neben ihm und er folgte ihr. Beide sanken hinab und drehten sich in den Wind, lernten zu fliegen. Er war bei Esta, Flügelspitze an Flügelspitze – und das verdoppelte seine Freude.

Hatte er nicht sein ganzes Leben davon geträumt?

Fliegen, mit anderen, die waren wie er. Dazugehören.

Diesmal war es kein Traum.

EINE WOCHE ZUVOR

Kapitel 1

Hoch über ihren Köpfen kreiste das geflügelte kryptogene Wesen. Die goldenen Flügel schimmerten im Sonnenlicht, das zwischen den Wolken hindurchfiel.

Anaya blickte blinzelnd nach oben, unfähig, sich zu bewegen. Das war das Letzte, was sie erwartet hatte, nachdem das Raumschiff eine Bruchlandung hingelegt hatte. Kein Laufender, kein Schwimmender, sondern … ein Fliegender.

Der Feind.

Wo war Terra? Oder hatte es nie eine Terra gegeben – und auch keine Rebellen? Hatte sie sich die ganze Zeit getäuscht? Warum hatte sie ihr vertraut?

Sie hatte naiv ein friedliches Aufeinandertreffen zwischen Menschen und drei kryptogenen Rebellen erwartet, um ein Bündnis zu schließen. Um zusammenzuarbeiten und eine Waffe zu fertigen, die ihren gemeinsamen Feind besiegen würde.

Das war alles Einbildung, eine Lüge – und es war ihr Fehler.

Schockiert sah sie zu, wie sich der Fliegende und der Helikopter in der Luft gegenüberstanden. Das stachelförmige Wappen auf dem Helm des Fliegenden schimmerte blassviolett und aus ihm entsprang ein unheilvolles Heulen. Selbst unten auf dem Boden konnte Anaya es hören. Alle um sie herum zuckten zusammen: Seth, Petra, Dr. Weber, Colonel Pearson, der übrig gebliebene Soldat. Sie wusste, dass dieses Heulen jeden Augenblick anschwellen konnte, um Menschen zu töten und Gebäude zu zerstören.

»Warum ist da ein Fliegender?«, schrie Pearson sie an.

»Ich weiß es nicht!«

»Ist dieser Helm eine Waffe?«

»Ja!«

»Sie wollten unbewaffnet kommen!«

Ihr habt uns angegriffen!

Diese Stimmte war nie zuvor in Anayas Kopf gewesen. Es war auf keinen Fall die von Terra, sondern gehörte dem Fliegenden. Die Worte trugen einen Hauch von beißendem Benzin und schmeckten metallisch – so als hätte sie sich gerade auf die Zunge gebissen.

Das war ein Versehen!, gab sie zurück und hoffte, dass der Fliegende ihren verzweifelten Worten Glauben schenkte.

»Nicht schießen!«, rief sie Pearson zu, plötzlich voller Hoffnung. »Ich spreche mit dem Fliegenden.«

»Sag ihm, er soll sich zurückziehen«, blaffte Pearson.

Anaya hatte nicht den Eindruck, dass sie in der Position waren, Forderungen zu stellen.

»Wir haben zuerst geschossen! Obwohl wir versprochen hatten, das nicht zu tun. Schicken Sie den Helikopter weg!«

Pearson sagte nichts. Es war eine Pattsituation. Der Helikopter bräuchte lediglich noch einmal zu schießen und der Fliegende würde ihn zerstören – und dann den Rest von ihnen auf dem Boden.

Plötzlich verstummte das Geräusch aus dem Helm des Fliegenden und er drehte sich vom Helikopter weg.

»Da!«, rief Petra.

Sie zeigte nicht in die Luft, sondern auf das qualmende Kryptogenenschiff auf dem Rasen. Aus der Luke tauchte eine zweite Kreatur auf. Auf den ersten Blick sah sie einem menschlichen Astronauten so ähnlich, dass Anaya erst einmal genau hinschauen musste, um zu erkennen, dass die Kreatur keinen Raumanzug, sondern eine künstliche weiße Haut trug, die ihren Körper fast komplett bedeckte.

Unter der Kapuze ragte ein fellbedecktes Gesicht mit einer langen, spitzen Schnauze hervor. Über den großen Nasenlöchern war eine Atemmaske befestigt, deren Schläuche zu einem dünnen Behälter auf ihrem Rücken führten. Die Erdatmosphäre war nicht für die Kryptogenen geeignet – noch nicht. Die Kreatur richtete sich auf ihren starken Beinen vollständig auf und machte dann einen Schritt auf Anaya zu.

In ihrem Kopf sah sie das vertraute bernsteinfarbene Leuchten, roch nasse Erde – und sofort überkam sie ein Gefühl der Vertrautheit und der Erleichterung. Das war das Wesen, dessen Stimme in den letzten Tagen so oft ihren Kopf erfüllt hatte. Und jetzt stand sie vor ihr. Tränen der Erleichterung liefen Anayas Wangen hinab.

»Es ist Terra!«, sagte sie zu den anderen.

»Bist du sicher?«, fragte Petra.

Instinktiv bewegte sich Anaya vorwärts, um Terra zu begrüßen.

Du hast versprochen, dass ihr nicht angreifen würdet!

Terras lautlose Worte vibrierten vor Fassungslosigkeit und Kränkung, aber auch Wut.

Es tut mir leid!, antwortete Anaya. Es war ein Soldat, der auf eigene Faust gehandelt hat. Wir haben das nicht befohlen!

Sie fühlte sich schuldig dafür, dass sie so schnell das Vertrauen in Terra verloren hatte. Doch der Anblick des Fliegenden war so schockierend, so Furcht einflößend gewesen – was hätte sie sonst denken können?

»Bleib auf Abstand, Anaya«, hörte sie den Colonel sagen.

»Das ist schon in Ordnung«, antwortete sie.

Dennoch blieb sie ein Stück von Terra entfernt stehen. Sie betrachteten sich gegenseitig. Trotz ihres weißen Anzugs ähnelte Terra verblüffend einem Känguru. Einem Känguru ohne Schwanz. Ihre Oberschenkel waren massiv, und die Unterschenkel wirkten sehr dünn, fast wie Knochen. Lange Zehen ragten aus der künstlichen weißen Haut hervor und Anaya sah die mörderisch scharfen schwarzen Krallen – im Vergleich dazu wirkten ihre eigenen mickrig.

Sind wir in Sicherheit?, fragte Terra.

»Anaya, sprichst du mit ihnen?«, blaffte Pearson.

»Sie wollen wissen, ob sie sicher sind. Lassen Sie den Hubschrauber abdrehen!«

»Nicht solange der Fliegende in der Luft ist!«

Warum ist da ein Fliegender?, fragte Anaya Terra. Du hast nicht gesagt, dass ein Fliegender mitkommt.

Er ist ein Rebell, genau wie wir.

War es eine Lüge? Aber wie immer fühlte sich alles, was von Terra in ihrem Kopf ankam, wie die Wahrheit an. Sie holte tief Luft und drehte sich zu Pearson um.

»Der Fliegende gehört zu den Rebellen. Von ihm geht keine Gefahr aus!«

Anaya konnte Pearsons Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber sie vermutete, dass sich darin Ärger zeigte. Dennoch sprach er in sein Funkgerät und befahl: »Rückzug.«

Sofort drehte der Helikopter ab und flog zurück nach Deadman’s Island.

Du bist in Sicherheit, sagte Anaya zu Terra und sah, dass diese zitterte. Ist dir kalt?

Wolken hatten sich am Himmel gebildet und es roch nach Regen. Aber wegen ihrer dichten Behaarung war es Anaya angenehm warm, manchmal sogar zu warm, jetzt, da es Sommer geworden war.

Eure Atmosphäre ist kalt – für uns. Diese Häute halten uns warm.

Wie immer verstand Anaya mehr als nur die einzelnen Wörter. Mit Häuten waren die weißen Stoffe gemeint, die Terra trug. Eine Art Mikrofaser, die ihre Körpertemperatur regulierte. Nach so vielen anfangs unbeholfenen Unterhaltungen hatten sie beide irgendwie eine gemeinsame lautlose Sprache entwickelt, die wie ein Trampelpfad im Wald mit zunehmender Benutzung immer gangbarer wurde.

Terra machte ein Geräusch, das Anaya schließlich als Niesen erkannte.

Bist du krank?, fragte sie besorgt.

Allergisch.

Natürlich! Terra hatte dieselben Allergien, unter denen Anaya ihr ganzes Leben lang gelitten hatte. Es war seltsam, sich vorzustellen, dass die Kryptogenen solche Schwächen hatten, aber das hier war nicht ihre Welt. Nicht ihre Luft, nicht ihre Sonne – oder ihre Pollen.

Seid ihr nicht zu dritt?, fragte Anaya.

Doch. Da.

Anaya sah, wie ein weiteres kryptogenes Wesen das Schiff verließ.

* * *

Petra verspürte sofort Hass, als sie die Kreatur sah.

Sie lief auf allen vieren. Der Kopf, der aus dem seltsamen weißen Ganzkörperanzug herausragte, war lang gezogen wie der eines Alligators. Vielleicht auch wie der eines Delfins – wenn man es nett ausdrücken wollte. Die Augen befanden sich weiter hinten. Petra konnte keine Ohren erkennen. Die Füße der Kreatur endeten in langen Zehen mit Schwimmhäuten dazwischen – und am hinteren Teil des Körpers wuchs ein geringelter langer Schwanz. Als sie den Mund öffnete, sah Petra dort scharfe Zähne.

Wie schon die laufende Kryptogene trug auch das schwimmende eine Maske über den Nasenlöchern, die schmale Schlitze vor den Augen waren. Als die Kreatur Petra fixierte, schaute sie zur Seite. Sie wollte nicht mit ihr reden – und sie hatte Angst, dass die Wörter einfach in ihrem Kopf erscheinen würden.

Als die Rakete das kryptogene Schiff getroffen hatte, war sie schockiert gewesen – aber auch hoffnungsvoll. Sie wollte, dass es zerstört wurde. Und als sie dann den Fliegenden sah, hatte sie befürchtet, dass sie und alle ihre Freunde hierhergelockt worden waren, um zu sterben.

Auch jetzt fühlte sie sich alles andere als sicher. Ihr Blick sprang zwischen den drei Kryptogenen hin und her. Sie erinnerte sich an die Bilder in Seths Skizzenbuch, die er ihnen vor langer Zeit gezeigt hatte. Seine Traumkreaturen aus einer anderen Welt. Sie hatte sie damals schon gehasst. Aber die echten Kreaturen jetzt wirklich vor sich zu sehen – das war noch mal etwas ganz anderes.

Sie bemerkte, dass sie zurückgewichen war.

Die Hälfte ihrer eigenen DNA stimmte mit diesen Dingern überein.

Sie wollte sie nicht ansehen. Und ganz bestimmt wollte sie nicht so sein wie sie.

War es das, was auf sie zukam?

Die Schwimmhäute. Auf allen vieren laufen.

Würde ihr Körper sie eines Tages zu Boden werfen? Und würde sie dann umherkrabbeln und versuchen, ihre scharfen Zähne zu verbergen?

Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt und bereit zur Flucht. Sie spürte ein paar Regentropfen auf ihren nackten Armen und wischte sie hastig weg – im Wissen, dass die Stellen jucken würden. Zu ihrer Überraschung sah sie, dass das schwimmende Kryptogen genau dasselbe tat, sich durchs Gesicht wischte und mit dem Schwanz auf den Boden schlug, um ihn zu trocknen.

»Dieselbe Wasserallergie wie bei mir!«, sagte sie zu Dr. Weber.

»Wir müssen sie alle ins Biodom bringen«, antwortete Dr. Weber. »Anaya, kannst du das Terra erklären?«

* * *

Ehrfurcht. Seth war nicht sicher, ob er das Gefühl jemals zuvor verspürt hatte.

Im leichten Regen sah er zu, wie der Fliegende herabglitt und elegant neben den anderen Kryptogenen landete, während sich die beeindruckenden Federn entlang seiner Arme anlegten. Er war mit Abstand der größte der drei. Seine breiten Schultern und seine muskulöse Brust verjüngten sich in eine schlanke Taille und skelettartige Beine, ebenfalls befiedert, die in Füßen mit langen Krallen endeten. Seth sah, wie sich die spitzen Krallen bewegten und in den Boden bohrten.

Die Krallen erschreckten ihn. Sie ließen den Fliegenden noch wilder wirken, als er ihn sich in seinen Zeichnungen vorgestellt hatte. Der Kryptogene strahlte Energie aus – und unglaubliche Gefahr. Seth konnte den Blick nicht abwenden, sein Herz klopfte wild. Er hatte das Gefühl, ebenfalls genau taxiert zu werden. Seine eigenen Flügel wirkten schäbig im Vergleich zur spektakulären goldenen Spannweite des Fliegenden. Er hatte dessen Kopf noch nicht gesehen und wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass dieser den Helm abnahm.

Mit den krallenbesetzten Händen packte der Fliegende den Helm an beiden Seiten und zog ihn in einer fließenden Bewegung ab.

In seinen Zeichnungen hatte Seth den fliegenden Kreaturen manchmal menschliche Köpfe gegeben, manchmal die von Vögeln. Aber die Realität sah ganz anders aus.

Die Augen waren groß und dunkel, auch wenn ihre Eindringlichkeit und die geschwungenen Augenbrauen etwas von einem Falken hatten. Es war schwer zu sagen, ob er Haare oder Federflaum hatte, aber es wuchsen definitiv silberne und goldene Federn aus dem beeindruckenden Kranz, der wie eine Krone auf seinem Hinterkopf thronte.

Er hatte keinen Mund.

Stattdessen hatte er einen Schnabel. Die Spitze war nach unten gebogen und wirkte besorgniserregend scharf.

Wie die anderen Kryptogenen trug er eine Maske über den schmalen Nasenlöchern oberhalb des Schnabels.

Seth sehnte sich danach, mit dem Fliegenden zu sprechen, hatte aber gleichzeitig riesige Angst davor. Plötzlich flammten Wörter in seinem Schädel auf.

Ihr habt unser Schiff beschädigt.

Das war so nicht geplant, antwortete er.

Schweigen. Seth war nicht sicher, ob seinen Worten Glauben geschenkt wurde. Er konnte die Energie dieser Kreatur spüren, wie eine instabile elektrische Ladung – jederzeit bereit, wie ein Blitz zuzuschlagen. Er wusste, was der Fliegende mit seinen Gedanken tun konnte, welche Zerstörung er verursachen konnte.

Wurde jemand von euch verletzt?, fragte Seth.

Nein.

»Anaya«, sagte Dr. Weber. »Sag ihnen, was als Nächstes passieren wird.«

Seth hörte, wie Anaya allen drei Kryptogenen lautlos von dem Ort erzählte, der für sie vorbereitet worden war. Die Kuppel auf der anderen Seite der Bäume. Mit Luft und Wasser, die für sie verträglich waren. Und geeigneten Pflanzen.

Seth folgte dem Blick des Fliegenden über die Wiese zum Biodom und spürte, dass die Kryptogenen untereinander sprachen und ihn davon ausschlossen. Dann versammelten sich die drei, um den beschädigten Rumpf des Schiffes zu untersuchen.

»Sag ihnen«, sagte Pearson zu Seth, »dass wir bei der Reparatur helfen werden.«

Als Seth das an den Fliegenden weitergab, triefte die Antwort vor Spott.

Ihr könnt es nicht reparieren. Nur wir können das. Und wenn wir versagen, haben wir die Schlacht vielleicht schon verloren.

Kapitel 2 

Petra war dankbar für die fensterlosen Wände um sie herum. Sie brauchte Wände. Etwas zwischen ihr und all dem, was gerade draußen passiert war. Wände waren gut. Wände waren normal.

Auf der Wiese hatte sie zugesehen, wie die Kryptogenen in einem gepanzerten Truppentransporter zum Biodom gefahren worden waren. Sie, Seth und Anaya waren in einem Jeep gefolgt. Im Gebäude war Petra erleichtert gewesen, dass sie nicht zum Beobachtungsraum gebracht worden waren. Stattdessen hatte Dr. Weber sie nach unten in einen Konferenzraum inmitten eines Labyrinths unfertiger Büroräume geführt. Sie hatte ihnen gesagt, dass sie dort warten und sich entspannen sollten, dann war sie verschwunden, um Colonel Pearson zu treffen.

Entspannen?

Petra lief schnurstracks zu den Toiletten und schloss sich in einer Kabine ein. Noch mehr Wände. Dr. Weber hatte ihr eine Packung mit Feuchttüchern gegeben und sie wischte sich damit gründlich ihr Gesicht ab.

Draußen, kurz bevor das Raumschiff gelandet war, hatte sie ein riesiges, nashornähnliches Ding angegriffen, mit Tentakeln und einem kraterförmigen Mund. Und einer Zunge. Einer sehr langen, gelben, klebrigen Zunge, mit der das Wesen sie am Kopf über die Wiese gezogen hatte. In ihrem Gesicht war immer noch Schleim von dieser Zunge, und sie versuchte verzweifelt, jedes kleine bisschen davon loszuwerden.

Sie hatte sich zusammengerissen, als sie gegen das Nashornding gekämpft und es schließlich getötet hatten, als das Raumschiff gelandet war und die drei Kryptogenen aufgetaucht waren. Das war eine lange Zeit, um sich zusammenzureißen, und jetzt begann ihr ganzer Körper zu zittern.

Sie hatte Wochen gehabt, um sich an kryptogene Pflanzen und Insekten zu gewöhnen, und nach all dem hätte man denken können, dass sie nichts mehr schockieren könnte. Aber die echten Kryptogenen gaben ihr das Gefühl, dass die Welt auseinanderbrach. Sie waren wie Personen, trotz ihrer Flügel und Krallen und Schnäbel. Sie waren intelligent – intelligenter als Menschen, oder wie hätten sie sonst die Galaxie durchqueren und hierhergelangen können?

Jetzt, da sie sie mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte Petra sich nicht mehr einreden, dass sie gar nicht existierten. Sie waren real und die ganze Welt war nun eine andere – und näherte sich möglicherweise ihrem Ende.

Sie konnte praktisch hören, wie ihre Panik durch die Toilettenkabine schallte, also öffnete sie die Tür und ging hinaus. Vor dem Waschbecken hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen, und atmete zehnmal tief ein und aus.

Als sie den Konferenzraum wieder betrat, hockte Anaya auf einem Tisch, und Seth lief auf und ab. Sie unterhielten sich telepathisch. Petra wurde sofort von ihrem Gespräch bombardiert. Sie redeten schnell, fielen sich gegenseitig ins Wort, als müsste alles aus ihnen heraus, bevor ihnen der Atem ausging.

Als er aus dem Schiff herauskam –

… ich wusste nicht, was es war. Dieser Helm –

… und diese Krone –

… wie ein verdammter Engel, die Flügel –

… und die Stimme des Fliegenden, die war so –

… Rauch und Benzin. Es fühlte sich an, als hätte ich mir auf die Lippe gebissen –

… hätte nicht gedacht, dass die Beine so dünn sind –

… verwirrt von der weißen Haut, als ich Terra das erste Mal gesehen hab –

… wer erwartet, dass Aliens Kleidung tragen, aber … wahrscheinlich –

… es war, als ob, keine Ahnung, ich eine andere Version meiner selbst treffen würde, sagte Anaya.

Ja, stimmte Seth zu.

»Ist das euer Ernst?«, fragte Petra laut. Sie war nie so gut im lautlosen Sprechen gewesen wie die anderen, und sie hatte gerade keinerlei Lust, Telepathie zu benutzen. »Sie sind Außerirdische! Echte Aliens!«

Sie setzte sich hin und zitterte so stark, dass sogar ihre Zähne klapperten.

»Kann es sein, dass du gerade etwas durchdrehst?«, fragte Seth.

»Ja, das tue ich!«

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Anaya.

»Vielleicht auch durchdrehen? Wie könnt ihr so ruhig bleiben?«

»Ich bin nicht ruhig, glaub mir.«

»Das ging alles so schnell«, sagte Petra. »Oh Gott, wir haben sie gerade wirklich getroffen!«

Seth setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. All ihre Aufmerksamkeit wanderte zu der Hand, zu seinen warmen Fingern, die ihre eisigen umfassten. Ein bisschen von ihrer Panik verflog. Sie verstand nicht, wie Seth sie so einfach beruhigen konnte. Aber er konnte es. Er roch fürchterlich, aber das war ihr egal.

Es war ihr peinlich, wie oft sie darüber nachgedacht hatte, wie es sein würde, wenn er zurückkehrte. Vielleicht würde er sie umarmen. Vielleicht sagen, wie sehr er sie vermisst habe. Vielleicht würde er sie küssen.

Nun war er hier neben ihr am Tisch. Es war genug, dass er ihre Hand für ein paar Sekunden hielt, bevor er sie drückte und freigab. Alles um sie herum schien sich zu verlangsamen – und sie kamen ein wenig zur Ruhe. Es gab eine Menge zu bereden.

Sie hörte zu, wie Anaya Seth von dem Code erzählte, den die Kryptogenen-Rebellen in der DNA aller Hybriden verborgen hatten, und dass sie ihn nun benötigten, um eine Waffe zu fertigen, mit der sie die Fliegenden besiegen konnten. Sie erzählte ihm von dem Heilmittel, das ihr gegen das Virus der Moskitovögel gegeben worden war. Und von dem Pestizid, das Dr. Weber entwickelt hatte, das gegen die Insekten wirkte.

»Aber das Nashornding, das du auf der Wiese getötet hast«, sagte Petra, »das ist nicht geschlüpft, sondern wurde lebend geboren. Das Spray konnte dem Ding nichts anhaben.«

Der Gedanke daran, welche anderen neuen Monster auf dem Planeten auftauchen konnten, ließ ihre Zähne vor Furcht beinahe wieder klappern.

Ein Soldat brachte einen Pappkarton voller Sandwiches und Wasserflaschen. Petra verspürte nicht den geringsten Hunger, aber Seth schnappte sich eins der Sandwiches und biss gierig hinein. Anaya prüfte den Belag mehrerer Sandwiches und nahm eins, gegen das sie nicht allergisch war. Petra öffnete eine Wasserflasche und nahm einen tiefen Schluck.

Seth hatte ihnen schon ein kleines bisschen von dem erzählt, was passiert war, seit sie bei der Flucht aus dem Bunker getrennt worden waren. Jetzt erzählte er ihnen detaillierter von seiner Reise. Der Güterzug, auf den er aufgesprungen war, klang schlimm genug – mit einem dieser Stelzen-Insekten, das darin geschlüpft war, und Vincent, der vom Zug geflogen war –, aber die Sache war nur noch schlimmer geworden, als sie den Bundesstaat Washington erreicht hatten.

»Wir sind in eine Sprühzone gegangen«, sagte Seth, »und haben einen Supermarkt gefunden, in dem man einkaufen konnte. Dort hab ich ein Kind vor einem seltsamen Gürteltierinsekt gerettet, aber dann haben alle meine Flügel gesehen und wir mussten schnellstmöglich fliehen.«

Die Polizei hatte sie auf einer Brücke gestellt. Siena, die sich das Schlüsselbein gebrochen hatte, war festgenommen worden. Charles war entkommen, aber niemand wusste, wo er war.

»Esta und ich sind von der Brücke gesprungen«, sagte Seth.

»Im Ernst?«, rief Petra.

»Im Gleitflug. Es war unglaublich.« Er hielt inne, und Petra konnte erkennen, dass er vor seinem inneren Auge den Moment voller Faszination noch einmal erlebte. »Und dann haben wir Darren getroffen und uns zum Jachthafen durchgeschlagen. Und ein Boot gestohlen.«

Aber draußen auf dem Wasser hatten sie sich darüber gestritten, wohin sie fahren sollten, und Esta hatte Darren beschuldigt, sie an die Polizei verraten zu haben. Dann hatte Darren Seth mit seinem Schwanz gestochen.

Petra blickte auf den Riss in der Mitte von Seths Windjacke.

»Du warst betäubt? Das muss so gruselig gewesen sein!«

»Ich dachte wirklich, ich würde sterben«, sagte er.

»Aber die Wirkung hat nachgelassen?«

»Innerhalb von ein paar Stunden, ja.«

Das beruhigte Petra ein bisschen. Im Bunker hatte sie während ihrer Flucht einen Wachmann gestochen und hatte befürchtet, ihn getötet zu haben. Also war er nicht gestorben – es sei denn, Etwas hatte ihn gefressen, während er betäubt war. Zum Beispiel eine Grubenpflanze. Oder ein Riesenwurm. Aber dafür konnte man sie nun wirklich nicht verantwortlich machen.

»Was ist mit Darren passiert?«, fragte Anaya.

»Esta hat ihn dazu gebracht, zu springen.«

Petra sagte: »Du meinst, sie hat ihn mit Schall angegriffen, bis er über Bord gesprungen ist?«

Seth nickte.

»Wie weit wart ihr vom Ufer weg?«, fragte Anaya mit weit aufgerissenen Augen.

»Er wird es geschafft haben«, sagte Petra. »Er ist ein Schwimmer. Glaubst du wirklich, dass er euch verraten hat?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Seth. »Aber Esta war sich sicher. Vielleicht hatte sie recht. Die Wasserschutzpolizei hat uns wirklich verdächtig schnell gefunden.«

»Also haben sie Esta erwischt?«, fragte Anaya.

»Sie sind an Bord gesprungen und haben sie mitgenommen.«

Petra sah, wie er bei der Erinnerung daran das Gesicht verzog. Ihr Schwanz machte vor Eifersucht eine unkontrollierte Bewegung und erschreckte Seth.

»Tut mir leid«, sagte sie und versuchte, ihn zu verstecken.

»Ich hab keine Ahnung, wohin sie sie gebracht haben«, fuhr er fort. »Ich war ziemlich nah an der Grenze, ich weiß also nicht mal, in welchem Land sie sich befindet.«

»Vielleicht kann Pearson das herausfinden«, sagte Anaya.

Seth schnaubte. »Das wird er nicht tun.«

Petra hoffte, dass Seth recht behielt. »Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht«, sagte sie und fügte dann schnell hinzu: »Wir alle.«

Sie hatte gehofft, dass er etwas antworten würde wie »Ich hab mir auch Sorgen um euch gemacht« oder wenigstens »Gut, wieder hier zu sein«.

Doch er sagte nichts und seufzte nur resigniert. Er erinnerte Petra an den in sich zurückgezogenen Jungen, der vor ein paar Monaten neu an der Salt-Spring-Sekundarschule aufgetaucht war. Er schien eine Abwehrhaltung eingenommen zu haben. Dafür gab Petra Esta die Schuld. Sie hatte seine Gedanken vergiftet und ihn wahrscheinlich davon überzeugt, dass er ihr, Anaya oder irgendwelchen der Erwachsenen um sie herum niemals wieder vertrauen konnte.

Dr. Weber kam herein und brachte frische Kleidung für Seth.

»Die sollten dir passen«, sagte sie.

»Danke.«

Petra fühlte sich ruhiger, wenn Stephanie Weber im Zimmer war. Die Wissenschaftlerin strahlte etwas Stützendes, sogar Beruhigendes aus – oder vielleicht vermisste Petra auch einfach nur ihre eigene Mutter. Dr. Weber hatte als Mikrobiologin für den kanadischen Geheimdienst gearbeitet, und als Petra sie zum ersten Mal getroffen hatte, war beruhigend nicht das erste Wort, dass Petra zu ihr eingefallen war. Sie hatte sie schließlich mit dem Hubschrauber zur Militärbasis auf Deadman’s Island bringen lassen. Und ihnen gesagt, dass sie kryptogene Hybriden waren. Halb außerirdisch. Nicht gerade ein beruhigender Gedanke. Und dennoch hatte Dr. Weber gemeinsam mit ihnen unheimlich viel durchgestanden – und Petra vertraute ihr.

Sie wusste, dass das für Seth nicht mehr galt, und es brach Petra das Herz. Dr. Weber betrachtete Seth doch praktisch als ihren eigenen Sohn – sie hatte ihm sogar angeboten, seine Pflegemutter zu werden. Aber das war vor dem zweiten Regen und Ritters schrecklichem Bunker gewesen – und bevor die Rettungshelikopter Seth zurückgelassen hatten.

Dr. Weber sah so aus, als ob sie Seth etwas sagen wollte – etwas erklären oder sich erneut entschuldigen –, aber sie schien nicht die richtigen Worte zu finden.

»Da hinten liegen Handtücher«, sagte sie. »Und es gibt eine Dusche, wenn du willst.«

Petra hätte nichts gegen eine Dusche einzuwenden gehabt, aber sie bezweifelte, dass das Wasser hier so behandelt worden war, dass es für sie sicher war. Sie brauchte säurehaltiges Wasser, das die Haut normaler Menschen verbrennen würde. So eine Person war sie jetzt.

Nachdem Seth ins Bad gegangen war, sagte Dr. Weber: »Wir haben schon mit euren Eltern gesprochen. Sie wissen, dass es euch gut geht.«

»Danke«, sagte Petra. Ihr Dad drehte wahrscheinlich durch vor Sorge. Alle in der Basis mussten mitbekommen haben, wie die Rakete am Raumschiff explodiert war, und waren vermutlich vom Schlimmsten ausgegangen.

»Wie geht es euch?«, fragte Dr. Weber.

Petra blickte Anaya an und konnte sich ein sarkastisches Lachen nicht verkneifen. »Gut. Ja, ziemlich großartig!«

»Wie geht es ihnen?«, fragte Anaya an Dr. Weber gewandt.

Mit ihnen meinte sie die Kryptogenen, insbesondere Terra, mit der Anaya seit Tagen kommuniziert hatte. Petra fragte sich langsam, ob ihre Freundin Terra vielleicht ein kleines bisschen zu nahestand. Ehrlich gesagt interessierte sie nichts weniger, als wie es diesen Kryptogenen ging.

»Sie sind im Biodom. Und ihr Raumschiff ebenfalls. Gerade haben wir die Tore zur Laderampe versiegelt und stabilisieren Temperatur und Atmosphäre. Als ich den Beobachtungsraum verlassen habe, waren sie gerade dabei, ihr Raumschiff zu untersuchen.«

»Sie wirkten ziemlich sauer«, sagte Petra.

»Ist das verwunderlich?«, fragte Anaya.

»Ich habe fest damit gerechnet, dass dieser Fliegende uns angreift!«

»Terra hat ihn aufgehalten, da bin ich sicher.«

»Der Colonel will sofort anfangen«, erklärte Dr. Weber und fuhr nach einer kurzen Pause fort. »Mit den Befragungen.«

Das war der einzige Grund, warum Anaya und sie bei der Landung hatten anwesend sein dürfen. Sie wurden gebraucht. Als Hybriden waren sie die Einzigen, die mit den Kryptogenen kommunizieren konnten.

Dr. Weber blickte Anaya mit mütterlicher Fürsorge an. »Hast du etwas gegessen? Brauchst du noch etwas Zeit?«

»Alles gut.«

Petra lächelte ihre Freundin mitfühlend an. Sie wusste, dass Colonel Pearson und Dr. Weber die letzten Tage damit verbracht hatten, Fragebögen für die kryptogenen Rebellen zu erstellen. Und Anaya war die Dolmetscherin.

»Ich hab dem Colonel gesagt, dass wir regelmäßige Pausen machen müssen«, sagte Dr. Weber.

»Ich kann helfen«, sagte Seth, der in sauberer Jeans und einem Hoodie aus dem Bad kam. Es waren praktisch dieselben Sachen, in denen Petra ihn zum ersten Mal gesehen hatte, nur dass er jetzt kein schlaksiger Junge mehr war. Seine breite Brust und die massigen gefiederten Arme ließen ihn aussehen wie einen Footballspieler in einer gepolsterten Uniform.

»Dann muss Anaya nicht alles alleine machen«, erklärte er. »Und es wird viel schneller gehen.«

»Danke«, sagte Anaya und lächelte ihm zu. »Wird der Colonel darauf eingehen?«

»Ich kann ihn fragen«, sagte Dr. Weber.

»Warum machen wir es nicht zu dritt?«, fragte Seth. »Die Telepathie ist am stärksten, wenn dieselben Arten von Außerirdischen miteinander kommunizieren, oder?« Er blickte Petra an, als würde er darauf warten, dass sie ihm zustimmte.

Erschrocken blickte sie Dr. Weber an. »Ich will nicht mit ihnen reden!«

Sie war nicht einmal sicher, ob sie froh war, dass die Kryptogenen die Bruchlandung überlebt hatten. Zeit mit ihnen verbringen wollte sie allerdings definitiv nicht.

»Petra, wenn dir das unangenehm ist, werde ich dich nicht dazu zwingen«, sagte Dr. Weber. »Wir können dich zurück zur Basis bringen.«

Die Vorstellung, ausgeschlossen zu werden, fühlte sich erbärmlich an. Zurück zur Basis bringen. Wie ein Kind, das einen Ausflug nicht durchstand. Wenn Seth und Anaya das taten, wollte sie nicht das schwächste Glied sein.

Sie zwang sich dazu, ein paarmal tief ein- und auszuatmen.

»Nein, alles gut«, sagte sie. »Ich werde auch dolmetschen.«

Schließlich hatte sie ein paar eigene Fragen, die sie stellen wollte.

Kapitel 3 

Durch das Beobachtungsfenster warf Anaya einen Blick ins Biodom.

Als das Vancouver Aquarium dieses Gebäude entworfen hatte, war geplant, dass es vier verschiedene Umgebungen beherbergen sollte: einen borealen Mischwald, eine subpolare Region, einen pazifischen Meereslebensraum und einen tropischen Regenwald. Jetzt war dort eine kryptogene Landschaft mit hohem schwarzem Gras, beerenbeladenen Ranken, die aus Grubenpflanzen im Boden wuchsen, sowie samenspuckenden Seerosen, die seelenruhig auf einem Teich trieben, der so säurehaltig war, dass sich kein Mensch hineinwagen würde. Und im Zentrum all dieser außerirdischen Dinge, ähnlich einem riesigen Schneckenhaus: das kryptogene Raumschiff persönlich. Es war auf einem Tieflader zum Biodom gebracht und dann mit einem Kran hineingehoben worden.

Und dann waren dort noch die Kryptogenen.

Anaya sah, wie der Schwimmer, nun von der weißen Kleidung und Maske befreit, Runden im Teich drehte und dabei Seerosen verschlang.

Am Dach der Kuppel zog der Fliegende ruhelos seine Kreise. Den Furcht einflößenden Helm und die Silberrüstung hatte er abgelegt, aber das schnabelförmige Gesicht strahlte immer noch Brutalität aus, genau wie der benzinartige Geruch seiner lautlosen Stimme. Seiner. Anaya hatte sich unwillkürlich für ein Pronomen für den fliegenden Kryptogenen entschieden. Sie konnte nicht erklären, warum. Genauso wenig, wie sie erklären konnte, dass sie gespürt hatte, dass Terra eine Sie war. Dennoch wusste sie, dass die Kryptogenen möglicherweise Wörter wie diese füreinander gar nicht benutzten. Während sie zusah, stieß der Fliegende auf den Kadaver des Nashorndings hinab, das als Nahrung ins Biodom befördert worden war. Mit seinen Krallen riss der Fliegende einen Brocken Fleisch ab, nahm ihn in die Hände und verzehrte ihn gierig.

Nahe dem kleinen Hain aus schwarzem Gras sprang Terra in die Höhe und pflückte Beeren von den Ranken. Dann hackte sie einen Grashalm ab. Mit der Spitze ihrer Krallen schlitzte sie den Halm auf und zog die harte äußere Hülle zur Seite, um an etwas Weiches im Innern zu gelangen.

Anaya erinnerte sich plötzlich an das Wildgras, an dem sie als Kind gesaugt hatte. Wie süß es gewesen war. Sie merkte, dass ihr beim bloßen Anblick das Wasser im Mund zusammenlief. Es war ungewohnt, das schwarze Gras als Nahrung zu betrachten. Als es auf Salt Spring Island zuerst aufgetaucht war, war es stachelig und erbarmungslos gewesen. Wenn es brannte, erzeugte es giftigen Rauch, der Menschen ersticken ließ. Und doch war es Nahrung für die Laufenden – und angesichts Terras Begeisterung schien es wirklich gut zu schmecken.

Man hatte das Gefühl, als hätte Terra seit Jahren nicht gegessen. Vielleicht galt das sogar für sie alle, fiel Anaya plötzlich ein. Während der ganzen Zeit an Bord ihres Raumschiffs, jahrelang auf dem Weg zur Erde, mussten sie irgendwie ernährt worden sein – aber wahrscheinlich nicht mit frisch geernteter Nahrung wie diesen Pflanzen von ihrem Heimatplaneten.

Immer noch kauend, untersuchte Terra neugierig einen der Stühle, die vor der Ankunft der Kryptogenen ins Biodom gebracht worden waren. Die Möbel wirkten fehl am Platz: ein bizarres Wohnzimmer inmitten eines Dschungels. Niemand hatte so richtig gewusst, wie man es den Kryptogenen so gemütlich wie möglich machen konnte, also war eine bunte Mischung aus Stühlen, Betten und Tischen aus der Militärbasis hergebracht worden.

Terra versuchte nun, auf einem Stuhl zu sitzen, aber die Sitzfläche war zu schmal, sodass ihr Gesäß den Stuhl auseinanderbrechen ließ. Die Überreste lagen verteilt auf dem Boden.

Entschuldigung, sagte Terra lautlos.

Kein Problem, antwortete Anaya und grinste.

Wie eine außerirdische Version von Goldlöckchen untersuchte Terra misstrauisch eine Reihe weiterer Stühle, prüfte dann eine Matratze und ließ sich darauf vorsichtig auf und ab federn.

Anaya fiel es schwer, ihren Blick von ihrem kryptogenen Gegenstück abzuwenden. Sie war außerordentlich schön. Jetzt, wo sie nicht mehr ihre weiße Astronautenkleidung und die Maske trug, konnte Anaya sehen, wie lang ihre Ohren waren. Die Art, wie diese aufmerksam nach oben zeigten, ließen sie wie ein Känguru aussehen.

Colonel Pearsons Stimme zwang ihre Aufmerksamkeit zurück in den Beobachtungsraum.

»Ihr drei seid essenziell für diese Operation«, sagte er und reichte ihr, Seth und Petra kabellose Headsets. »Wir stellen die Fragen, ihr gebt sie an die Kryptogenen weiter und übersetzt dann ihre Antworten für uns über das Mikrofon. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig es ist, dass ihr nichts auslasst. Seid so exakt wie möglich.«

»Ich hab noch nie mit einem von ihnen gesprochen«, sagte Petra nervös.

»Das ist kein Problem«, beruhigte Anaya sie. »Das ist nicht viel anders als die Art, wie wir lautlos kommunizieren – höchstens am Anfang ein bisschen schwerfälliger.«

Entlang der hinteren Wand des Beobachtungsraums warteten Soldaten mit Headsets an ihren Laptops – bereit, Transkripte anzufertigen.

»Ihr werdet jeweils nur mit eurem kryptogenen Gegenstück sprechen«, sagte Pearson. »Damit wir alles eindeutig zuordnen können, ist der Läufer C1, der Schwimmer C2 und der Fliegende C3.«

Anaya blickte Pearson bestürzt an. »Muss das sein?«

»Ungefähr so hat Ritter uns im Bunker benannt«, murmelte Seth.

»Ist mir egal«, sagte Pearson. »Das ist effizient. Los jetzt!«

»Lassen Sie mich zumindest reingehen«, sagte Anaya. »Es fühlt sich seltsam an, von hier draußen mit ihnen zu reden, als wären sie Gefangene. Besonders, wenn diese Typen auch noch da sind.« Sie deutete auf die drei bewaffneten Soldaten im Beobachtungsraum.

»Die Kryptogenen sind keine Gefangenen«, sagte Pearson gereizt. »Sie sind auf eigenen Wunsch in einem besonderen versiegelten Lebensraum.«

Dennoch mochte Anaya die Vorstellung nicht, eine Glasscheibe zwischen sich und Terra zu haben. Das fühlte sich an, als wäre sie im Zoo.

»Willst du da wirklich reingehen?«, fragte Petra und blickte Anaya entsetzt an.

»Ich würde davon abraten«, sagte Colonel Pearson. »Wir wissen nicht, zu was die Kryptogenen in der Lage sind.«

»Wenn sie uns töten wollten«, sagte Seth, »hätte der Fliegende das da draußen auf der Wiese bereits erledigt.«

»Ist es sicher für die drei?«, fragte Pearson Dr. Weber.

»Die toxikologische Untersuchung des Schiffsrumpfs war in Ordnung«, sagte Dr. Weber. »Und die Luftproben, die wir aus dem Biodom entnehmen, weisen keine Pathogene auf. Nichts, was ihnen schaden könnte.«

»Was ist mit der Atmosphäre an sich?«, fragte Pearson.

Anaya wusste, dass die Luft darin nicht gut für normale Menschen wäre, aber sie ging davon aus, dass sie als Hybride damit klarkommen würde.

»Die Luft ist nur ein bisschen wärmer und enthält ein bisschen weniger Sauerstoff, oder?«, fragte sie.

»Was ist mit den Pflanzen?«, erinnerte Petra sie.

Seth zuckte mit den Schultern und ließ seine Federn rascheln. »Nichts, wo wir uns nicht durchkämpfen könnten.«

»Du willst da auch rein?« Petra blickte ihn zweifelnd an.

»Wir haben Schutzbrillen für euch«, erklärte Dr. Weber. »Nur für den Fall, dass die Seerosen schießen. Wenn euch schwindelig wird, kommt ihr sofort wieder raus. Seid ihr zwei euch absolut sicher?«

»Ja«, sagte Anaya gleichzeitig mit Seth und lächelte ihn an.

»Aber vielleicht wollen sie euch gar nicht da drinnen haben«, sagte Petra.

Anaya empfand das als einen berechtigten Einwand. »Kann ich Terra fragen?«

Pearson sah langsam aus wie ein grummeliger alter Opa. Er nickte.

Können wir reinkommen? Um zu reden?

Im Biodom drehte sich Terra zu Anaya um, als hätte sie nach ihr gerufen.

Ja.

»Terra sagt, es ist in Ordnung.«

»Na gut«, sagte Pearson. »Bringt sie rein.«

Am Ende des Beobachtungsraums öffnete ein Soldat eine Tür und führte sie und Seth einen kurzen Flur entlang, der an einer fensterlosen Tür endete.

»Wenn es da grün leuchtet, könnt ihr reingehen«, erklärte der Soldat und ließ sie allein.

Sie spürte ihren Herzschlag im Hals, und ihre Ohren ploppten, als sich der Luftdruck veränderte. Sie blickte Seth an, plötzlich froh, nicht allein zu sein.

»Hättest du jemals gedacht …«, begann er, seine Lippen wirkten trocken.

»Nein«, sagte sie. »Nicht mal in einer Million Jahren.«

»Es ist, als wären wir Entdecker oder so.«

»Ja.« Anaya sah, dass seine Knie zitterten. »Geht’s dir gut?«

Er nickte kurz. »Fühlt sich an, als ob ich mein ganzes Leben darauf gewartet hätte.«

Das Licht über der Tür wurde grün. Anaya zog die Klinke runter und drückte die Tür auf. Warme Gewächshausluft umfing sie, doch sie zitterte vor Nervosität. Sie machte einen Schritt ins Biodom hinein. Es fühlte sich surreal an. Gerade war sie noch da draußen gewesen und jetzt war sie hier drin. Sie atmete tief ein. Die Luft war angenehm.

Und nicht nur angenehm.

Sie war besser.

Was auch immer in dieser neuen Atmosphäre war, es sorgte dafür, dass sich ihre Lunge geweitet anfühlte.

»Merkst du das?«, fragte sie Seth.

»Ich fühle mich stärker«, sagte er leise. »So wird die ganze Welt eines Tages sein.«

»Außer wir halten es auf.«

»Ja«, sagte Seth, aber da war ein kurzes Zögern vor seiner Antwort gewesen. Anaya schaute ihn besorgt an. Er wollte doch nicht, dass die Welt sich in so etwas verwandelte, oder? Wollte sie das? Umgeben von dieser Luft, hatte sie das Gefühl, noch schneller laufen und noch höher springen zu können. Es gab ihr ein ungutes Gefühl, dass sie das auch nur dachte.

Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.

Das Biodom zu betreten, war ein bisschen, wie in ein fremdes Haus zu kommen, mit eigenen Gerüchen – anders, aber nicht vollständig fremd. Nahe dem Hain aus schwarzem Gras wartete Terra auf sie. Anaya nahm wahr, dass der Fliegende, der auf dem Kadaver der Nashornkreatur saß, sie ebenfalls beobachtete, und es erfüllte sie mit Beklemmung. Das schwimmende Wesen war immer noch im Teich, auch wenn sein Kopf aus dem Wasser ragte und es sie mit den Augen fixierte. Anaya wich den Ranken auf dem Boden aus und hielt Abstand zum Teich. Ein paar Seerosen richteten sich auf und lehnten sich in ihre Richtung.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie ruhig die Kryptogenen waren. Sie schienen überhaupt keine gesprochene Sprache zu haben. Sie hatte kein Grunzen oder Zwitschern oder irgendetwas gehört. Ihre Kommunikation musste ausschließlich über Telepathie stattfinden.

Als sie sich Terra auf eine angenehme Distanz genähert hatte, hielt sie an, aber Seth bog ab und ging tiefer ins Biodom auf den Fliegenden zu, der jetzt schützend auf dem schneckenhausartigen Raumschiff stand.

Viel Glück, sagte sie zu Seth.

Dir auch!, antwortete er, drehte sich dabei um und erwiderte ihr nervöses Lächeln.

Terra kam ihr nun mit ausgreifenden, federnden Schritten entgegen, halb gehend, halb rennend. Anaya spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten. Als Terra anhielt, waren sie keine zwei Meter mehr voneinander getrennt.

Sie betrachteten sich gegenseitig. Anaya merkte, dass nicht nur sie verwundert war. Sie waren beide Kreaturen aus verschiedenen Winkeln des Universums.

Terras große Augen waren bemerkenswert schön. Statt weiß waren sie bernsteinfarben, mit einer goldgesprenkelten Iris und Pupillen, die nicht kreisförmig waren, sondern horizontale Striche bildeten. Auch wenn der gesamte Körper der Läuferin mit Fell bedeckt war, wirkte die Art, wie sie sich bewegte, frappierend menschlich.

Sie war größer als Anaya, aber nicht viel. Sie hatte schmale, schlanke Schultern und hielt ihre langen Arme aufmerksam vor ihrem Körper. Ihre nach vorne zulaufenden Hände wirkten trotz der Krallen erstaunlich geschickt und anmutig. Ihre kraftvollen Beine waren ständig angewinkelt, als wären sie jederzeit sprungbereit. Sie beugte sich leicht nach vorne, als würde sie etwas erwarten. Dabei strahlte sie etwas Majestätisches aus.

Anaya fühlte sich plötzlich lächerlich, wie eine Stofftierversion des Originals.

Angst?, fragte Terra.

Ja.

Ich habe auch Angst.

Terra riss einen Beerenzweig von einer nahe gelegenen Ranke und bot ihn Anaya an. Als sie ihn entgegennahm, berührten sich ihre Hände einen Augenblick. Terras Finger fühlten sich warm an und das Fell daran weich.

Anaya kaute auf den Beeren. Terra lächelte. Ihr Gesicht hatte eine so ganz andere Form, aber es war eindeutig ein Lächeln. Ihre Mundwinkel zogen sich zurück und die Lippen öffneten sich leicht. Anaya erwiderte das Lächeln.

Der Geruch von Terras Fell war irgendwie beruhigend. Anaya wurde an den sanften, freundlichen Geruch der Pferde erinnert, die sie manchmal in einem Stall auf Salt Spring Island besucht hatte.

Anaya sah, wie sich Terras Nasenlöcher weiteten, und merkte, dass diese sie ebenfalls beschnüffelte. Plötzlich fühlte sie sich verlegen und fragte sich, wonach sie wohl roch. Terra streckte vorsichtig einen Arm aus und berührte Anayas lange Haare. Der Drang, sie ebenfalls zu berühren, war überwältigend. Anaya streckte sich und berührte eines von Terras Ohren, weil es so weich aussah. Es fühlte sich genauso an, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Anaya zuckte zusammen, als die Stimme eines Soldaten in ihrem Headset erklang.

»Wir müssen anfangen.«

»Oh, ja, okay.«

Terra blickte sie neugierig an, überrascht vom plötzlichen Geräusch – und ohne zu wissen, was gesagt worden war.

»Frag C1 nach dem Rang«, instruierte sie der Mann.

Es war so ein unfassbar unfreundlicher Einstieg in ein Gespräch – und es klang definitiv wie eine Befragung. Das war nicht der richtige Beginn.

Geht es dir gut?, fragte sie Terra stattdessen. Ist es warm genug?

Ja.

Hast du hier genug zu essen?

Ja. Das Schiff hat uns mit dem versorgt, was wir brauchten, aber das hier ist wirkliche Nahrung.

»Anaya«, hakte der Offizier über das Headset nach. »Stellst du die Frage?«

Es war anstrengend, von der Telepathie zurück zu menschlichen Worten zu wechseln.

»Ja, eine Sekunde.«

Sie wollen, dass ich dir Fragen stelle. Ist das in Ordnung?

Ja. Wir haben auch viele Fragen an euch.

Sie wollen deinen Rang wissen.

Anaya konzentrierte sich auf die Antwort – mit all ihren Verzweigungen, die viel mehr Bedeutung trugen als schwerfällige Wörter – und gab sie weiter.

»Sie wurde als Wissenschaftlerin und Pilotin ausgebildet. Sie hat dieses Raumschiff gesteuert.«

Anaya war überrascht – und seltsamerweise froh –, dass Terra denselben Job hatte wie ihre Eltern. Sie blickte zu Seth hinüber, der angestrengt zum Fliegenden hochblickte. Sie schienen sich ebenfalls lautlos zu unterhalten. Ob er dieselben Fragen stellen musste wie sie?

, fragte sie Terra nun. ,