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Sarah Schmidt

Eine Tonne für Frau Scholz


Impressum und Copyright

Zweite Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2014
www.verbrecherverlag.de

© Verbrecher Verlag 2014

Lektorat: Kristina Wengorz
Grafik: Katharina Greve
Satz und Ebook-Herstellung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-943167-78-8
ISBN EPUB: 9783943167948
ISBN Mobipocket: 9783943167955

Der Verlag dankt Stefanie Gimmerthal.

Beide Kinder riefen an.

Ella war unglücklich, sie hatte das Gefühl, in ihrem Job ausgenutzt zu werden.

Ich bestärkte sie darin: »Du hast doch eine Ausbildung als Kamerafrau, warum lässt du dich als Mädchen für alles missbrauchen.«

»Mama, du verstehst nicht, wie das in meiner Branche läuft.«

»Trotzdem.«

»Ich kann nicht einfach aussteigen, ich brauche noch viel mehr Kontakte. Und außerdem wäre mein Name verbrannt, wenn ich kündige. Die Filmbranche ist ein Inzestbetrieb, jeder tratscht mit jedem, und Jobs gibt es nicht, weil man etwas besonders gut kann, sondern weil irgendjemand dich weiterempfiehlt.«

»Das weiß ich auch. Aber du könntest doch nebenbei etwas Eigenes entwickeln, oder?«

»Ja, Mama. Ach, ich weiß nicht. Vielleicht … Du, sag mal, hat Rafi schon mit euch gesprochen?«

»Nö, worüber denn?«

»Nur so.«

»Wie: ›nur so‹? Wenn du ›nur so‹ sagst, dann steckt da doch was dahinter.«

»Soll er euch lieber selbst erzählen.«

»Hat er sich von Ben getrennt?«

»Nein, Mama. Hör auf, mich auszuhorchen. Ich muss jetzt auch weiter. Geht es dir wieder besser?«

»Mir ging es nicht schlecht.«

»Aber du bist zu Hause, anstatt im Laden.«

»Dazu muss es einem doch nicht schlecht gehen, man kann auch einfach so zu Hause bleiben.«

»Na klar, du gehst nicht zur Arbeit, Papa ruft uns an, und alles ist in Ordnung. Das glaube ich nicht.«

»Fritz spinnt in letzter Zeit ein bisschen. Mach dir keine Sorgen.«

»Hat es wieder was mit der Scholz zu tun?«

»Ella, du nervst.«

»Danke. Du auch. Tschüss.«

»Tschüss, liebe Nervensäge.«

Rafi ging es wie immer geheimnisvoller und indirekter an. Nachdem er über viel Plauderei und in seinen Augen sicher geschickt erfahren hatte, dass mit mir nichts in Unordnung ist, fragte ich ihn über Ben aus.

»Seid ihr immer noch zusammen?«

Lange Aufregung über die Formulierung »immer noch«. Ob ich etwas gegen Ben hätte.

»Nein, natürlich nicht, ich kenne ihn doch überhaupt nur flüchtig.«

Ja eben, Ben sei nämlich ein ganz besonderer Mann, nicht nur auf Poppen und Party feiern aus, und genau darum hätten sie uns auch etwas mitzuteilen. Oh nein, schon wieder so eine Ankündigung.

»Vielleicht sollten wir mal zusammen etwas unternehmen?«, schlug Rafi vor.

»Es ist Winter, was soll man denn da unternehmen? Kannst du mir nicht am Telefon sagen, was du zu sagen hast?«

Nein, nein, dabei will er uns schon sehen. Am besten gingen wir in ein Restaurant, sie würden uns einladen. Ben träfe sich am liebsten in diesem total angesagten Club mit Restaurant in Mitte, da gäbe es geile Burger, und er würde vier Plätze reservieren.

Wir kannten den Laden und hatten bisher immer einen großen Bogen um ihn gemacht.

Er steht in jedem Reiseführer und ist immer proppenvoll mit Touristen, die hoffen, echte Stadtatmosphäre zu finden. Außerdem treffen sich gerne Schauspieler in dem Club, um ihre Premieren zu feiern und am nächsten Tag Fotos davon in der Presse zu sehen, auf denen sie ausgelassen und fast betrunken sind. Es wird prinzipiell Englisch gesprochen, Gitarrenjungs und -mädchen glauben, sie wären cool, dabei sind sie nur die Bedienung, im Keller wird Live-Musik gespielt, und in einer Ecke werden Tattoos gestochen, auf der Speisekarte stehen »New Orleans Style Burritos« und »Porno-Nachos«. Alles, was ich verachte, aber angeblich sollen die Burger und Steaks gut sein. Das gibt es in der Stadt allerdings in anderen Läden auch, besser und preiswerter. Ein weiterer Punkt gegen Ben. Wird der da mit seiner so gar nicht passenden Frisur nicht ausgelacht? Egal, als Eltern muss man sich beugen, und wenn es dem schlechten Geschmack der Kinder ist.

Ich hatte mich für Jeans und eine Art Rock’nRoll T-Shirt entschieden, und als ich in den Spiegel sah, fand ich mich ziemlich gutaussehend und beglückwünschte Rafi zu seiner Mutter. Das änderte jedoch nichts an meiner Laune, die sofort, als wir die Türen des Restaurants öffneten, noch mieser wurde. Boah, ist das hier blöd. Und jung. Wir waren ohne Frage die Ältesten, und kurz überlegte ich, ob nicht wir ausgelacht würden statt Ben. Der hatte eine neue Frisur. Immerhin. Die langen Stirn-Strähnen waren abgeschnitten und nun halbkurz und mit Gel zerzaust. Besser. Allerdings wuchs jetzt ein fusseliger Bart in seinem Gesicht. Eine Mode, die ich einfach nicht verstehe, weder bei Schwulen noch bei Heteros. Alle Männer unter fünfunddreißig tragen seit zwei, drei Jahren Bärte, und für die wenigsten ist er eine Verschönerung. Nun also auch Ben.

Ich versuchte, meine Abneigung nicht zu deutlich zu zeigen. Was konnte Ben dafür, dass er mir von Anfang an so unsympathisch war? Sein Ed-Hardy-Hemd machte die Sache nicht einfacher. Rafi hingegen sah einfach bezaubernd aus, immer wieder war ich überrascht und unfassbar stolz, ein so schönes Kind zu haben. Als hätte ich ihn geschaffen und nicht nur geboren und aufgezogen. Wir küssten und setzten uns, bestellten Gerichte mit albernen Namen, wir tranken Bier, denn das passte in den Laden und zu dem rustikalen Essen, und unterhielten uns über dies und das und jenes. Rafi wirkte glücklich und aufgeregt. Er knibbelte ständig an seinen Daumen, eine Angewohnheit von ihm, seit er sechs oder sieben Jahre alt war. Die Haut um seine Nägel herum war immer verhornt und oft blutig. Ich unterdrückte den Impuls, ihm auf die Finger zu hauen und dazu »Rafi, lass das!« zu sagen. Eine ziemliche Anstrengung, diese Fummelei machte mich wahnsinnig. Nein, dieser Mann ist ganz alleine für seine Daumen zuständig, misch dich nicht ein, nein, misch dich nicht ein! Statt zu schlagen, legte ich meine Hand auf seine. Wie geschickt!

Die Burger waren aufgegessen, die leeren Teller nicht abgeräumt, natürlich nicht, das wäre zu konventionell, und wir waren beim dritten Bier angekommen, als Fritz in einer Gesprächspause plötzlich fragte: »Ben, was machen deine Eltern beruflich

Eine Frage, für die ich Fritz liebte.

»Papa!« Rafi war so entrüstet, wie ich entzückt. Es ist immer noch unglaublich leicht, die Kinder aus der Fassung zu bringen.

»Na, was denn?«, fragte Fritz. »Ich dachte, wir feiern hier eure Verlobung, da muss man doch wissen, womit die Eltern von Ben ihr Geld verdienen.«

»Wir wollen nicht heiraten, und außerdem heißt das für Schwule verpartnern«, warf Ben ein.

Oh Mann, er war so ein Trottel.

»Zieht ihr etwa zusammen? Wir sind doch nicht einfach aus Spaß hier in diesem furchtbaren Laden. Wir warten seit drei Stunden darauf, dass ihr uns was sagen wollt. Und deine Mutter ist übrigens gleich betrunken.«

»Ja, also, dann …⁠«, Rafi sah Ben erwartungsvoll an. »Sollen wir?«

Ben nickte feierlich.

»Mama, Papa, Ben und ich, wir wollen ein Kind zusammen haben.«

»Ihr seid schwul!« Ich war aufgesprungen und hatte dabei mein Bierglas umgestoßen. »Ihr seid schwul, verdammte Scheiße! Das geht nicht.«

Ich war wohl ziemlich laut, denn um uns herum verstummten die Gespräche. Ich wurde angestarrt, eines der Gitarrenmädchen kam auf mich zugeeilt: »Wir dulden hier keine Homophobie.«

Rafi stand auf: »Meine Mutter ist nicht homophob, du kleine Schlampe.«

»Kümmert euch um euren eigenen Dreck, ihr Wichser«, schrie ich und setzte mich wieder. »Und du dummes Ding solltest mal lieber diese verfickten Teller abräumen!«

Das Gitarrenmädchen lief greinend zu seinem Vorgesetzten, ­einem tätowierten, bärtigem Mann Mitte vierzig mit Bauch und Hosenträgern.

Er kam an unseren Tisch: »Bitte verlassen Sie unser Lokal, ich werde sonst die Polizei rufen.«

»Ja, du Hosenscheißer, dann hol doch die Bullen.«

Fritz zog an meinem Jackenärmel: »Los, wir gehen.«

Er warf einen Fünfzigeuroschein auf den Tisch, dann verließen wir unter bösen Blicken und viel Getuschel den Laden. Ben kam als Letzter, er hatte den Rest der Rechnung bezahlt und sich bestimmt auch noch für mich entschuldigt.

»Was ist das für ein Scheißladen!«

Ben legte beruhigend seine Hand auf meinen Arm: »Ich kann verstehen, dass das jetzt etwas plötzlich kommt. Am besten wir gehen alle nach Hause und beruhigen uns und treffen uns morgen zum Frühstück.«

»Fass mich nicht an! Ich will mich nicht beruhigen. Ich will sofort wissen, auf was für eine Schnapsidee ihr da gekommen seid!«

»Es ist viel zu kalt, um auf der Straße rumzustehen.«

»Gehen wir eben rein.« Ich zeigte auf die nächstbeste Kneipentür. »Los kommt.«

Ich lass’ mich doch nicht von dem Freund meines Sohnes wie eine Idiotin behandeln. Beruhigen, ich hab’ mich noch lange nicht genug aufgeregt. Ein Kind! Die spinnen doch. Ich ging mit schnellem Stechschritt voraus, keinen Widerspruch duldend. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die drei hinter mir herliefen. Ich riss die Tür zur Kneipe auf, setzte mich an den nächsten freien Tisch, bestellte per Handzeichen vier Bier am Tresen.

»Na los. Ich höre.«

Fritz setzte sich dicht neben mich, so dicht, dass unsere Oberschenkel sich berührten, und drückte sein Bein gegen meines. So hatten wir es immer gemacht, als Rafi und Ella noch Teenager waren, während der endlosen Diskussionen um Ausgehzeiten, Schulnoten, unaufgeräumte Zimmer, oder wenn es darum ging, dass wir in den Augen der beiden unmögliche, peinliche Eltern wären. Wir pressten damals die Schenkel aneinander, wenn einer von uns dachte, es wäre besser, nicht zu schimpfen oder sich aufzuregen. Elternsprache. Jetzt war unter dem Tisch eine wilde Morsediskussion im Gange. Fritz drückte, ich zog mein Bein weg, er presste hinterher, ich schlug mein Bein mehrfach gegen seines, so ging es hin und her.

Mit betont ruhiger Stimme nahm er den Gesprächsfaden wieder auf:

»Gut, ihr wollt also ein Kind, haben wir das richtig verstanden? Wie wollt ihr das bewerkstelligen? Adoption ist für Schwule nicht möglich, oder sucht ihr etwa eine Leihmutter? Das ist in meinen Augen das Allerletzte. Und überhaupt: Ihr kennt euch doch gerade mal ein paar Monate.«

»Wir lieben uns aber, und wir wollen für immer zusammenbleiben.«

»Ja toll. Und was hat das mit einem Kind zu tun?«

Ben räusperte sich: »In meinen Augen gehört ein Kind einfach dazu.«

»Dann wärst du besser nicht schwul, wenn du so spießige Ansichten hast. Ein Haus, ein Gartenzaun, ein Kind, oder wie sieht dein toller Plan aus?«

»Mama!«

»Ja, was ›Mama‹! Ich möchte sofort, auf der Stelle eine Erklärung.«

»Ben hat da so eine Anzeige in der Siegessäule gefunden und gleich gesagt: Das ist es. Zeig doch mal, Schatz.«

Ben nestelte aus seiner Jackentasche einen zusammengefalteten Zettel und reichte ihn mir.

Ich holte meine Lesebrille aus meiner Tasche und las laut vor, was da stand. »›Nettes Lesbenpaar 37 u. 41 Jahre, mit Kinderwunsch, sucht ebensolches schwules Paar zur gemeinsamen Familienplanung. Keine finanziellen Interessen.‹ Ich glaub’, es hackt. Ihr wollt mit Frauen, die zu geizig sind, in ihrer Anzeige das ›Und‹ auszuschreiben, ein Kind?«

Fritz war entsetzt. »Das ist jetzt ein Witz, oder?«

»Nein, warum? Wir treffen uns nächste Woche mit den Frauen, und wenn sich alle sympathisch sind, dann denke ich, ist das genau das Richtige für Rafi und mich.«

»Und das Kind? Das hat dann vier Eltern, oder wie?«

»Ja, das ist doch schön.«

»Das ist überhaupt nicht schön. Das ist komplett bescheuert. Rafi, ich kann absolut nicht glauben, dass du das ernsthaft in Erwägung ziehst.«

Rafi schaute in sein Bierglas, dann hob er langsam den Kopf und sah uns mit traurigen Augen an.

»Du willst doch immer, dass ich mit meinem Leben etwas anfange. Und jetzt, wo ich mich endlich entschieden habe, was das sein wird, da bist du … einfach unmöglich. Man kann es dir nicht recht machen, Mamse. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr so spießig seid. Ich wünschte mir, ihr würdet euch mit mir freuen. Immerhin ist das die wichtigste Entscheidung, die ich bisher in meinem Leben getroffen habe.«

Obwohl ich nun wirklich ziemlich betrunken war, merkte ich, wie ernst es ihm war.

»Rafi, wir sind einfach nur sehr überrascht, das kannst du dir doch wohl vorstellen. Vielleicht ist es für den Moment besser, wenn wir alles zuerst sacken lassen und uns in Ruhe und vor allem tagsüber noch mal darüber unterhalten.«

»Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass wir uns noch etwas zu sagen haben. Rafi ist erwachsen, und ich werde dafür sorgen, dass er sich diesen Anschuldigungen nicht mehr aussetzen muss.« Das war Ben. Arrogant. Selbstgefällig. Widerlich.

»Wie meinst du das?«

»Ich werde Rafi ab jetzt vor euch schützen, ganz einfach. Und ihr werdet euch nicht mehr in sein Leben einmischen. Rafi gehört zu mir, wir werden ein Kind bekommen, und was ihr darüber denkt, ist mir, ehrlich gesagt, ziemlich scheißegal. Ich sehe nur, dass ihr Rafi nicht gut tut, ihr hindert ihn daran, er selbst zu sein. Ganz sicher lass ich mir von euch unseren Traum nicht kaputtmachen.«

Am nächsten Morgen hatte ich so starke Kopfschmerzen, dass ich nicht aufstehen konnte, ich konnte mich nicht bewegen, ohne dass der Schmerz in meinem Kopf raste und Blitze vor meinen Augen explodieren ließ. Mein Glück, dass es mein freier Tag war, Fritz, dem es ähnlich schlecht ging, schleppte sich zur Arbeit, nachdem er sich zweimal übergeben hatte.

Im Laufe des Nachmittags ging es mir langsam besser, zumindest so gut, dass im Kopf wieder Gedanken und nicht nur Gefühle hin- und herschwappen konnten. Wie war es gestern nur so weit gekommen? Ich konnte mich nicht mehr an jeden Satz erinnern, den ich oder einer der anderen gesagt hatte, etwas war jedenfalls gewaltig schiefgegangen. Ich fand die Idee der Kinderproduktion grundlegend falsch, aber das war nicht das Wichtige. Das Empörende war Bens Verhalten. Er versuchte, einen Bruch zwischen Rafi und uns herbeizuführen. Weil er ihn dann besser manipulieren kann? Was steckte hinter dieser Taktik, einen Streit nicht auszutragen, sondern das Gespräch zu verweigern? Ein armseliges Würstchen war dieser Junge, ein Würstchen, das ich am liebsten in der Luft zerreißen wollte.

Als Fritz am Abend zurückkam, war er ganz grau im Gesicht, wie mit Staub bedeckt, und um seine Augen saßen Fältchen, die mir neu gewachsen schienen.

»Mir ist immer noch so schlecht, wir sprechen morgen, ja?«

Natürlich. Wir aßen und schauten Fernsehen, als wenn nichts passiert wäre. Manchmal ist das das Beste.

Aber auch am kommenden Tag konnte ich nichts tun, war nicht in der Lage, Rafi anzurufen oder wenigstens Ella als Vermittlerin einzuschalten. In meinem Kopf führte ich erhitzte Debatten: über die Verantwortung Kindern gegenüber, über den unglaublichen Egoismus, der dieser Idee, mit wildfremden Frauen ein Kind zu zeugen, zugrunde liegt, Egoismus von gleich vier Personen. Ich diskutierte mit Rafi über die Folgen, darüber, dass ich glaubte, er werde mit diesem Kind nie etwas zu tun haben, denn die Lesben suchen nur einen Samenspender, keinen Vater, darüber was aus dem Kind werden soll, wenn sich die Elternpaare trennen, darüber, ob Ben vielleicht zu einer wahnsinnigen Sekte gehört, weil die auch immer die Familie und Freunde verbieten – aber außerhalb dieser Scheingespräche im Kopf passierte nichts. Einfach nur Schweigen. Kein Telefon klingelte, und Fritz und ich konnten uns auch nichts sagen, jeder war für sich alleine. Wir hatten ein paar Male ein Gespräch begonnen, aber es war so sinnlos, denn außer dem Austausch von Schlagworten, kam nichts dabei heraus. Also ließen wir es sein.

Nach einer Woche kam mir die ganze Situation unwirklich vor. Möglicherweise hatte ich mir alles nur eingebildet. Das Leben ging einfach so weiter, und dass Rafi sich länger nicht meldete, war überhaupt nicht ungewöhnlich. Vielleicht hatte ich nur im Rausch alles überinterpretiert, vielleicht hatte Ben nur gesagt, er glaube, wir hätten die falsche Sicht auf die Dinge, und nicht, dass er dafür sorgen wolle, dass Rafi uns nicht mehr sehen werde.

»Was genau hat Ben gesagt?«

»Dass Rafi sich unseren Vorwürfen nicht mehr aussetzen muss.«

»Ich meine genau, den ganz genauen Wortlaut.«

»Den weiß ich nicht mehr.«

»Warum rufst du ihn nicht an?«

»Weil er nicht rangeht, wenn er meine Nummer sieht.«

Es war schlimmer, als ich geglaubt hatte.

»Wie oft hast du es denn probiert?

»Weiß nicht, fünf-, sechsmal. Und du?«

»Ich schick’ ihm gleich mal eine SMS, dann kann er sich überlegen, ob er sich meldet und muss nicht direkt mit mir sprechen.«

»Du hast es bisher gar nicht versucht?«

»Nein.«

Ella lehnte es rundherum ab, zwischen Rafi und uns zu vermitteln, das müssten wir schon alleine klären. Auch hätte sie im Moment wenig Kontakt mit ihrem Bruder, wundere sich aber überhaupt nicht, weder über diese Lesbenkinderidee noch über sein Schweigen. Rafi sei schon immer schwach und zu leicht zu beeinflussen gewesen.

»Wie bitte?«

Ja, er suche immer eine starke Schulter an seiner Seite, um nicht selbst entscheiden zu müssen, ob mir das nie aufgefallen wäre?

»Nein, nie, in meinen Augen ist er selbstsicher, nicht ängstlich und nicht auf den äußeren Schein bedacht.«

»Nicht so wie ich«, erwiderte Ella, »das meinst du doch. Du denkst das doch nur, weil er schwul ist, Mama. Als ob Homo­sexua­li­tät automatisch Selbstvertrauen gäbe.«

Dazu sagte ich nichts, denn als ich einen Moment darüber nachdachte, begriff ich, wie richtig Ella mit dieser Einschätzung lag. Ich war tatsächlich der Meinung, dass Schwule nicht ganz so einfache Leben führen könnten, nicht ganz so unbedarft sein könnten wie Heteros.

Ella redete noch eine Weile beruhigend auf mich ein. »Das wird schon wieder«, sagte sie, »lasst Rafi einfach ein bisschen in Ruhe, der ist ja nicht doof, wird bald selber merken, dass Ben eine Pfeife ist, und Kinder, die sind nicht so schnell gemacht, wie die beiden Jungs sich das vorstellen.«

Meine große, vernünftige und schlaue Tochter.

Da ich weder auf meine erste noch auf die folgenden SMS eine Antwort bekam, versuchte ich, Rafi zu vertrauen. Er war zwar vielleicht nicht der gradlinige, kluge, klare Kopf, den ich in ihm sah, aber es blieb mir nichts anderes übrig. Ich konnte ihn schlecht zwingen, wieder mit uns zu sprechen, ich hoffte nur darauf, dass er uns bald vermissen würde.

Und auch wenn mein Entschluss sich meistens richtig anfühlte, spielte ich doch verschiedene Möglichkeiten durch, Rafi zu treffen. Ich ging, wie absichtslos, sehr oft an seiner Wohnung vorbei, in der Hoffnung ihn zufällig vor der Haustür zu treffen, ich überredete Fritz jeden dritten, vierten Tag, auf ein Bier ins Mölbe zu gehen, weil das auch Rafis Kneipe war. Ich fragte die Barkeeper beiläufig, ob sie ihn gesehen hätten, aber er hatte sich dort seit einiger Zeit nicht mehr blicken lassen. Ich besuchte, wie automatisch, immer wieder seinen Facebook-Account, um zu kontrollieren, ob er dort aktiv war.

Ich überlegte auch, ihm eine SMS oder Mail zu schicken, auf die er einfach antworten müsste. Ich könnte einen Infarkt simulieren, dann würde er sofort seinen Widerstand aufgeben und zu uns kommen. Oder reichte ein Unfall? Ein gebrochenes Bein vielleicht. Nein, es müsste etwas Dramatisches sein. Über die Krankheit sprächen wir natürlich zuerst, ich wäre sehr gefasst und stark: Es war nur ein kleiner Infarkt, nicht besonders lebensbedrohlich, aber ein ordentlicher Schuss vor den Bug, ein Zeichen, wie schnell alles vorbei sein könnte – und Rafi würde klarwerden, dass wir nicht mit einem Streit auseinandergehen dürfen. Nachdem er also hier wäre, Blumen mitgebracht hätte, sich ausreichend oft nach mir erkundigt und über seinen Schrecken gesprochen hätte, dem ihm die Nachricht versetzt hätte, kämen wir, ganz nebenbei, auf das Kinderthema zu sprechen, und er würde mit einer wegwerfenden Handbewegung erklären, dass alles ein Missverständnis und er blind vor Verliebtheit gewesen sei, aber dann hätte sich Ben doch nicht als Mister Right erwiesen, jedenfalls hätte er sich getrennt, und nein: Er leide nicht darunter, es gehe ihm eigentlich besser als in der Beziehung, Ben sei besitzergreifend und viel zu eifersüchtig, nein, alles ist gut, wie es ist. Und dann würden wir gemeinsam lachen über diesen seltsamen Abend und die Szene, als man uns aus dem Lokal rausgeworfen hat, ausschmücken, und wir würden sie – jeder in einer eigenen Version – als eine Familienerinnerung immer und immer wieder erzählen. Mama, weißt du noch, damals, als du …

Alternativ zu meinem eigenen Herzinfarkt könnte jemand sterben. Ich überlegte lange, auf wen in unserer Familie wir am ehesten verzichten könnten, wer mir tot mehr nutzen würde, als lebendig. Die Mutter von Fritz vielleicht? Wir trafen sie nicht besonders häufig, mal zum Geburtstag, und alle zwei, drei Jahre feierte sie mit uns Weihnachten. Ja, sie wäre einfach perfekt. Niemand wäre zu traurig, Fritz hat eine eher neutrale Beziehung zu ihr, sie gehört aber eindeutig zu dem engeren Kreis, aus dem ein Tod Rafi zu uns zwingen würde.

Ich rief sie sofort an: Hallo, ja, ich wollte wissen, wie es dir geht, was macht dein Herz, macht dir die Kälte zu schaffen, nein, ach, alles in Ordnung, na, das ist doch schön, hier ist auch alles wie immer, den Kindern geht es gut, du, ich muss los zur Arbeit, ich hatte nur kurz an dich gedacht, ja, bis bald.

Ich versuchte, alles normal erscheinen zu lassen, was mir aber nicht besonders gut gelang. Immer erbitterter glaubte ich, dass Ben tatsächlich zu einer Sekte gehörte, ich sah Rafi immer häufiger so schwach, wie Ella ihn beschrieb, und ich fand, Fritz war keine große Hilfe. Er konnte das Schweigen viel besser akzeptieren als ich.

»Ach, lass ihn doch«, sagte er. »Das ist normal, hast du deine Mutter ständig angerufen?«

Nein, natürlich nicht, aber ich empfand es als unlauter uns mit unseren Eltern, vor allem mich mit meiner Mutter zu vergleichen. Er ging mir mit seiner Gleichgültigkeit auf die Nerven. Vielleicht war er so, weil die beiden nicht seine leiblichen Kinder waren? War also doch etwas dran an der These vom Biologismus, die ich vehement ablehnte? War Fritz so cool, weil nicht sein Blut …?

Wir stritten häufiger als sonst, neben Alltäglichkeiten, die zum Anlass für gegenseitige Nickeligkeiten wurden, vor allem auch über Rafi, und so sehr ich Fritz in diesen Disputen hasste, am Ende musste ich immer zugeben, dass seine Haltung richtig war, alles andere dumm wäre, nur Aussitzen etwas bewegen könnte. Es war nicht die Zeit für Aktionen. Vielleicht war es Zeit für Selbstmord. Dachte ich mir.

»Jetzt hör doch mal auf mit diesem vernünftigen Scheiß, Fritz.« Ich schlug tatsächlich mit der Faust auf den Tisch. »Unser Sohn darf keinen Kontakt mehr zu uns haben, mit Ella stimmt schon seit Jahren irgendetwas nicht, und ich kann das nicht mehr aushalten. Deine Scheißlogik. Ja, ja, du hast recht, ich kann Rafi nicht zwingen, und ich kann Ella nicht stoppen in ihrem Wahn, immer perfekt sein zu wollen, aber was soll ich sonst machen?«

»Sprich nicht in diesem Ton mit mir! Spinnst du eigentlich? Was nervt dich denn so besonders?«

»Alles, ich kann alles nicht mehr aushalten, dich nicht, die Kinder nicht, Karl mit seinem Anti-Fortschrittswahn, ich kann mich nicht mehr aushalten und den Winter und diese Scheißstadt auch nicht mehr.«

»Mach bitte nicht schon wieder so ein Drama! Es ist alles nicht so wild, überlege einfach mal – falls du überhaupt noch in der Lage bist, über deinen kleinen Tellerrand zu gucken – was andere Leute für einen Mist am Hacken haben. Dagegen sind unsere Probleme Pipikram. Es läuft doch alles. Rafi kriegt sich sicher wieder ein, Ella wird bald berühmt und erfolgreich, und uns beiden geht es doch auch ganz gut, wir haben keine finanziellen Sorgen und wir …⁠«

»Was haben wir nicht? Wir wohnen in einer Wohnung, die wir uns nur leisten können, weil unser Hausbesitzer entweder ein Engel oder tot ist. Ich will endlich eine Terrasse oder einen Balkon, einen richtigen, auf dem man zu viert sitzen kann. Wenn hier saniert wird, ist Ende für uns, wir können uns in dieser Stadt nichts mehr leisten und müssen dann nach Buch ziehen oder nach Hellersdorf, obwohl, nee, Hellersdorf können wir uns auch nicht leisten, hast du mitbekommen, dass Erdgeschosswohnungen an Hauptstraßen mittlerweile über tausend Euro kosten? Du bist so blind, das ist unfassbar. Wir leben hier auf Zeit, und alles ist beschissen. So zufrieden und genügsam zu sein wie du, das ist unerträglich.«

»So, so, und was willst du tun?«

Er war einfach nicht aus seiner Bequemlichkeit herauszuholen, war fest in diesem Glauben, unser Leben wäre ganz okay, wenn man alles berücksichtigte und verglich.

»Was ich machen will? Pinkeln.«

Ich stürmte zum Klo, trat aus Wut gegen die Toilettentür. Sofort sah ich einen Riss im Lack oder sogar im Holz. Typisch, nicht mal einfach wütend kann ich sein. Ich riss die Tür auf, warf sie mit Wucht hinter mir zu, sie sprang wieder auf, ich kam mir vor wie im Film, mal wieder, diesmal ein dummer Slapstick. Warum geht diese beknackte Tür nicht einfach zu? Ich zog sie ins Schloss, sie rutschte wieder raus, erst beim vierten Versuch blieb sie geschlossen. Na bitte, Arschlochtür! Ich setzte mich aufs Klo, pinkelte, und versuchte zu heulen, ich wollte zusammenbrechen, aber es ging einfach nicht. Die paar Tränen, die ich unter mühevollem Schnaufen herauspressen konnte, sagten nichts, überhaupt nichts über meinen Zustand aus. Ich überlegte, mich auf den Boden zu werfen und zu schreien, ich wollte es gerne, mich nur noch zusammenkrümmen und nicht mehr vernünftig sprechen müssen, nicht mehr argumentieren und nicht mehr alles aushalten, nur weil es bei Licht betrachtet nicht so schlimm war, ich fand es schlimm genug, aber das ging nicht. Ich dachte an die Nachbarn, die mich hören würden, den Lärm und die generelle Plumpheit dieses Vorhabens. Badewanne volllaufen lassen, Pulsadern aufschneiden, längs natürlich, schluchzen, mich retten lassen, in der psychiatrischen Notaufnahme landen, dort endlich Verständnis finden, Erklärungen, warum ich mich so mies fühle und es nicht zeigen kann. Oder langsamer, subtiler: Tabletten schlucken, jeden Tag Beruhigungsmittel nehmen, das schaffen andere doch auch, um die sorgt man sich, ist vorsichtig im Umgang, immer auf der Hut, ob sie sich umbringen wollen oder nicht, nur mir wird nichts zugestanden an Ausnahmezustand, weil ich immer so vernünftig bin. Es ist zum Kotzen, aber nicht mal das konnte ich, alles rauskotzen, trotz Finger, den ich in meinen Hals steckte, nur ein scheußliches Würgen, es war gar nichts drin in mir, was raus musste. Ich stand auf und verließ das Badezimmer. Ich bin keine dramatische Person, leider.

Es beruhigte mich, in der neuesten Ausgabe der Siegessäule die Anzeige der Lesben erneut zu finden. Außerdem versuchte ich mir immer wieder einzureden, wie normal es sei, mal für eine Weile keinen ständigen Kontakt mit Rafi zu haben. Allerdings waren, sobald ich meine Gedanken nicht kontrollierte, Bilder im Kopf, Bilder, mal wieder aus einer Reality-Show. Schon dafür hätte ich mich umbringen wollen.

Konnte mein Gehirn sich nicht einigermaßen originelle Settings zurechtlegen, wenn es glaubte, permanent Filme nachzuspielen zu müssen? Konnte da nicht mal, was weiß ich, etwas von den Coen Brüdern oder Lars von Trier oder Michael Haneke dabei sein? Nein: Immer nur Privatsender-Mist auf dem Niveau von Scripted Reality. Nicht mal für eine Szene wie in der »Wanderhure« reichte es. Mein Inneres war eindeutig Unterschicht. Meistens spielte es Reportagen, Thema: Verlassene Mütter. Wir sitzen im Studio und breiten vor einer Moderatorin mit einfühlsamem Gesichtsausdruck unser Schicksal aus, wir weinen und fragen uns, wie es so weit hatte kommen können. Das haben wir doch wirklich nicht gewollt. Aber alles falsch gemacht. Der Bruch verlief für die Mehrzahl ähnlich, nur wenige bekamen Briefe oder Anrufe ihrer Kinder, in denen klipp und klar beschrieben wurde, warum sie ab sofort und unwiderruflich den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen. Das waren die Kinder der bösen Eltern, Missbrauch, der nicht gesehen werden wollte, Alkoholismus, Schläge in der Kindheit oder Frauen, die den brutalen Vätern die Treue hielten, anstatt sich zu trennen. Bei den anderen war es wie mit Rafi. Man meldet sich ein, zwei Wochen nicht, ein kleiner Streit ging voran, daraus wurden ein, zwei kontaktlose Monate, plötzlich sind es Jahre, in denen sich die Mütter, es sind immer die Mütter, alles Mögliche einfallen ließen, um die Kontaktsperre zu überwinden. Erfolglos. Was war denn nur passiert? Während der ganzen Sendung hängt ein Schild über unseren Köpfen »Schuld«. Wir weinen wieder und sind völlig verzweifelt. Die Moderatorin hilft hier und da nach, wenn wir nicht dramatisch genug sind, traurige Klaviermusik, vielleicht von Mahler, unterlegt unsere Geschichten. Zwischendurch Werbung für Kinderjoghurt – und spätestens dann greife ich ein und schalte ab.

Fritz tat weiterhin, als wäre er nicht beunruhigt, ich wünschte so, dass er das nicht wirklich glaubte, aber die Versuche, in diesem Punkt zueinanderkommen, scheiterten alle. Ich wollte mit ihm nicht mehr darüber sprechen, das musste jeder mit sich ausmachen. Die Illusion, dass man sich aus Liebe auch ständig verstehen und unterstützen muss, halte ich sowieso für kitschigen Unsinn. Wir führten keinen Krieg, sondern versuchten, die Unterschiedlichkeiten einfach stehen zu lassen. Anders ging es nicht.

Wenn Ella anrief oder zu uns kam, bemühte sie sich, nichts über Rafi zu erzählen. Ein gutes Zeichen, wenigsten standen die beiden in Kontakt, wenigstens gab es etwas, dass sie vor mir verheimlichte, wenigstens hatte Ben nicht auch Ella zur Nichtperson erklärt. Wir sprachen aber über die Kinderidee miteinander.

Ella meinte, es sei keine schlechte Möglichkeit: »Was sollen Schwule denn sonst machen? Adoption ist für sie immer noch nicht erlaubt.«

»Natürlich, das ist ungerecht, aber siehst du nicht, dass so ein Plan zum Scheitern verurteilt ist?«

»Nein, warum denn, es ist doch schön, wenn ein Kind vier Menschen hat, die sich kümmern, das ist doch fast wie bei uns.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass sich jemals vier Leute um euch gekümmert hätten.«

»Du und Fritz, mein Markus-Vater und seine Freundin.«

Das war gemein, aber ich schluckte meine Entgegnung, in der ich etwas Beleidigendes über ihren Vater gesagt hätte, herunter. Wie immer. Ich hatte verschwiegen, wie sehr ich mich über Markus’ Unzuverlässigkeit geärgert hatte, als die beiden noch klein waren. Oder wie schade ich es fand, wenn ich mir anschaute, was aus ihrem Vater geworden war, wie dick und … doch, dafür gab es kein anderes Wort – wie einfältig er war. Dass ich ausgerechnet mit dem zwei Kinder hatte! Das konnte man seiner Tochter nicht sagen, erst war sie zu klein dafür und trug am allerwenigsten die Verantwortung für die enttäuschte Liebe ihrer Eltern, dann war sie ein Teenager und witterte hinter jedem Satz, der eine Kritik an ihrem Vater enthalten könnte, ihre nächste große Chance einen Streit mit mir anzuzetteln. Es gab kein richtiges Alter, in dem man ihnen sagen konnte: Ich hätte lieber mit einem anderen Mann Kinder gehabt.

Natürlich lief zwischen Markus und mir alles ganz okay, aber nur, weil ich es so wollte und alles, was nicht dazu passte, ausgeblendet hatte. Ich hatte eine feste Vorstellung davon, was gut für Ella und Rafi war und was nicht. Streit gehörte nicht dazu, also hatte ich ihn vermieden. Heute würde ich anders entscheiden, vielleicht wäre Rafi dann auch nicht so ein ausweichendes Fischkind geworden. Egal, zu spät.

»Das kann man nicht vergleichen. Weil wir es nicht so geplant haben. Weil euer Vater und ich uns damals geliebt haben, weil es pervers ist, Kinder über Annoncen zu suchen, weil diese Lesben vielleicht nur geizig sind, sonst könnten sie es mit künstlicher Befruchtung versuchen, weil überhaupt nicht klar ist, wer der Vater und wer die Mutter sein wird, weil die beiden, die es nicht sind, damit kaum zurechtkommen werden, weil es egoistisch ist, dieses Gefühl, man hätte ein Recht auf ein Kind, scheißegal wie, und das gilt übrigens nicht nur für Homosexuelle, sondern ganz genauso für Heteros, die nach Indien fahren, um eine Leihmutter zu finden, und weil man sich mit manchen Sachen im Leben abfinden muss, und weil ich nicht die Großmutter von Bens Kind sein will.«

»Sag das alles einfach Rafi.«

»Wie denn? Er spricht doch nicht mit mir.«

Ella ging zur Toilette, blieb dort wie immer viel zu lange. Ich fragte mich seit Jahren, warum dieses Mädchen sich so lange auf Klos herumtreibt. Früher dachte ich ja, sie kotzt heimlich, aber das war lange her. Wahrscheinlicher war es, dass sie sich jedes Mal neu schminkte. Sie wirkte frisch, als sie aus dem Bad kam. Auf einem diese Frische noch unterstreichendem Pfefferminzbonbon herumlutschend, bot sie nun doch an, Rafi dazu zu überreden, mit uns zu sprechen.

Danach erzählte Ella von ihrem Job.

In Gedanken legte ich mir Argumente für ein Treffen mit Rafi zurecht. Unbedingt müsste ich ihm sagen, dass er und Ben sich erst viel zu kurz kennen, um sich auf ein von Beginn an kompliziertes, unüberschaubares Abenteuer einzulassen, keiner kann die Folgen einer so konstruierten Elternschaft berechnen, vor allem, da die beiden möglichen Väter sich überhaupt noch nicht in Stresssituationen erlebt haben. Das ist ein gutes Argument, ein sehr gutes sogar, das muss ich mir merken.

Feuerzeug, Zigarette, Kaffeeschluck, ein- und ausatmen von Rauch und mich davon abhalten, sofort auszuplaudern, was mir eben durch den Kopf ging, und damit zuzugeben, dass ich Ella kaum zugehört hatte, ihr Geplapper nur als Geräuschkulisse wahrgenommen hatte. Ich richtete meinen Blick auf Ellas Mund – er ist so schön, voll und breit, sie hat ihn von ihrem Vater geerbt, wie gerne hatte ich dessen Mund geküsst, eigentlich war ich damals hauptsächlich in diese Lippen verliebt gewesen – und während ich sie anstarrte, stellte ich überrascht fest, dass sich ihr Ton geändert hatte. Sie sprach nicht wie sonst mit nervtötender Begeisterung, die alles superwichtig und extrem interessant erscheinen lassen sollte, was ihre Firma plante, projektierte, anvisierte, sondern war kritisch und ihr Ton war scharf, pointiert und genau, und es ging um ihre Unzufriedenheit, ihr Gefühl, dort nie weiter zu kommen, ausgenutzt zu werden, ihre Zeit zu verplempern und dass sie tatsächlich über einen eigenen Film nachdachte.

Gab Rafis Rückzug Ella die Möglichkeit, mit mehr Selbstbewusstsein in unserer Familie aufzutreten, mehr von sich zu zeigen? Oder mehr zu sein?

Im Keller stank es von Woche zu Woche mehr nach feuchtem Kohlestaub, von dem ein saurer Geruch ausging. Es roch nach Moder, nach Krieg, nach Schwamm, nach toter Ratte, und ich verfluchte meine Idee vom Anfang des Winters. Ich wollte keine gute Tat mehr tun müssen, ich fand, mein Soll sei längst erreicht.

Manchmal tranken Frau Scholz und ich abends zusammen einen Schnaps oder nachmittags einen Kaffee. Immer in ihrer Wohnung, sie war trotz Einladung bisher nie zu uns nach oben gekommen.

»Was soll ich in Ihrer Wohnung, können Sie mir das mal sagen?«

»Ich dachte nur, einfach so. Als Abwechslung.«

»Ich brauche keine Abwechslung.«

»Ja, Sie brauchen überhaupt nichts. Weiß ich mittlerweile.«

Sie grinste, wobei sich ihr Mund auf einer Seite nach unten verzog, und rutschte tiefer in ihren Küchensessel. Viel besser kennengelernt hatte ich sie durch meine Besuche nicht. Immerhin hatte ich ihr ein paar Einzelheiten aus ihrem Leben entlocken können: Ihr Mann war vor elf Jahren gestorben, als Kind wohnte sie in einem der bürgerlichen Viertel, sie hatte keine Geschwister, der Vater war Kürschner, und sie ist früh, mit sechzehn, von zu Hause ausgezogen.

»Meine Mutter, wissen Sie, die war nicht so für mich.«

All das präsentierte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Lohnt sich nicht«, »Ist alles lange her« und »Ich habe es überlebt«, das waren die Sätze, mit denen sie meine Nachfragen abwehrte. Manchmal aber tat sie so, als ob sie mir wer weiß was für Geheimnisse erzählen würde. Dazwischen gab es nichts. Entweder: »Das ist nicht wichtig, was soll ich erzählen, es war alles ganz genauso wie bei allen anderen.« Oder: »Sie müssen wissen, mein Mann hatte nämlich eine Autowerkstatt!« Ach.

Ich wusste immer noch nicht, wie alt sie war, meine Schätzungen schwankten zwischen siebzig und achtzig.

Wenn sie über Sex sprach, und das tat sie ungewöhnlich häufig, wenn man bedenkt, dass sie sonst immer noch kaum mit mir sprach, dann schwärmte sie von früher.

»Jetzt ist bei mir untenrum nichts mehr los«, sagte sie, »aber früher, als mein Mann und ich jung waren, mein lieber Herr Gesangsverein, da war Halligalli angesagt. Kann man sich heute nicht mehr vorstellen, heutzutage sind die jungen Leute ja verklemmt wie meine Eltern, aber bei uns war das anders. Rudelbums mit allem Drum und Dran, wenn Sie wissen, was ich meine. Damals waren die Frauen kesser als heute. Haben Sie überhaupt Sex?«

»Frau Scholz, das geht Sie nichts an.«

»Also: nein. Dachte ich mir schon. Sieht man Ihnen an.«

Weder wollte ich mit Frau Scholz über mein Sexleben sprechen, noch wollte ich über ihres genauer Bescheid wissen. Schon dieses Wort »Rudelbums« war mir zuwider.

Das Rauchen, besser gesagt: das Rauchverbot, war zwar ein weiteres Thema, über das sie sich nicht genug echauffieren konnte, aber hierbei wirkte sie resignierter. Es gab kurze Empörungswolken, wenn sie einen Bericht las, in dem über die Schädlichkeit des Rauchens geschrieben wurde.

Dann stand sie mit der Zeitung wedelnd auf ihrer Fußmatte: