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Über dieses Buch

Kuba ist ein kultureller Tequila Sunrise: Die spanische, die afrikanische und die chinesische Einwandererkultur leben, jede mit ihrer eigenen unverwechselbaren Farbe, neben- und übereinander, nicht verquirlt, aber im selben Glas, mit fließenden Übergängen – bunter Regenbogen.

Zwei verführerische »Fremdenführerinnen«, Auxilio und Socorro, begleiten den Leser bei der Reise durch die drei Kubas. Zunächst lernen wir das Chinesenviertel Havannas kennen – der General, »Darsteller« der spanischen Einwanderer, stellt Lotosblüte nach, einer Sängerin an der chinesischen Oper; doch sie verschmäht seine Liebe. Aufstieg und Fall der üppigen schwarzen Rumbatänzerin Dolores, die durch das Bett eines Senators nach oben kommt und mit ihm stürzt, bilden den roten Faden der politischen Farce aus dem afrikanischen Kuba.

Katholisch und spanisch geht es schließlich zu bei der fantastischen Prozession, mit der Auxilio und Socorro einen beunruhigend lebendigen Holzchristus in Havanna einziehen lassen – ein virtuoser Parforceritt vom Spanien des Mittelalters ins Kuba der Castro-Revolution.

Sarduy wäre nicht Sarduy, wenn die Figuren und Episoden seines Romans nicht voller Verwandlungen, Überraschungen, ironischer Volten und sprühender Metaphern steckten. Diese sinnlich flirrende Entdeckungsreise durch sein Heimatland lässt sich ebenso als vielschichtige poetische Prosa lesen wie als literarischer Comicstrip: ein Lesevergnügen der ganz besonderen Art.

»Eine überraschende und verwirrend sprunghafte Folge von Eindrücken, die die Stimmung eines unwirklich schönen Kuba evozieren.« Sarduy »greift zur Straußenfeder, wo andere mit dem Gänsekiel arbeiten«. (Neue Zürcher Zeitung)

Woher die Sänger sind: »Ein hedonistischer und gerade deshalb revolutionärer Roman!« (Roland Barthes)

Der Autor

Severo Sarduy, 1937 auf Kuba geboren, lebte von 1960 an als Maler, Romancier, Dichter, Essayist, Hörspielautor, Dramatiker, Wissenschaftsjournalist, Lektor und Herausgeber in Paris. Er starb 1993 an den Folgen von Aids.

Sarduy, Enfant terrible unter den lateinamerikanischen Schriftstellern, zählt zu den bedeutendsten kubanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Auf Deutsch erschienen bisher, neben einigen Hörspielen, die Romane »Bewegungen« (1968), »Kolibri« (1991) und »Woher die Sänger sind« (1993).

Mehr zum Autor unter www.severo-sarduy-foundation.com

Der Übersetzer

Thomas Brovot, geb. 1958, lebt als Übersetzer (u. a. Juan Goytisolo, Federico García Lorca) in Berlin. Für seine Neuübersetzung von Mario Vargas Llosas »Tante Julia und der Schreibkünstler« erhielt er 2012 den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis.

Severo Sarduy
Woher die Sänger sind

Roman

Mit einem Nachwort
von Roberto González Echevarría
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot

Edition diá

Inhalt

Curriculum Cubense
Am Rosenaschenfluss
Die Dolores Rondón
Der Einzug Christi in Havanna
Domus Auxilii

Roberto González Echevarría: Woher sind die Sänger?

Impressum

Für Salamandra

Curriculum Cubense

Federn, ja, köstliche Schwefelfedern, ein Fluss aus Federn, der Marmorköpfe mit sich reißt, Federn auf dem Kopf, Hut aus Federn, Kolibris und Himbeeren; bis zum Boden herab fallen die orangefarbenen Haare Auxilios, glatt, aus Nylon, mit rosaroten Bändern und Glöckchen verflochten; zu beiden Seiten ihres Gesichts, ihrer Hüften, ihrer Zebralederstiefel herab bis zum Asphalt die Albinokaskade. Und Auxilio, gestreift, ein Indiovogel hinterm Regen.

»Ich kann nicht mehr!«, heult sie und bohrt ein Loch ins Brot.

»Krepier doch!« Das sagt Socorro. »Krepier, nimm’s hin, mach Schluss, beschwer dich bei der Regierung, beschwer dich bei den Göttern, drop dead, zerfall wie eine geteilte Apfelsine, ersäuf dich in Bier, erstick an Würstchen mit Sauerkraut, sieh zu, wie du aus der Scheiße rauskommst. Werd zu Staub, zu Asche. Das wolltest du doch.«

Auxilio streicht sich die Strähnen aus dem Gesicht. Sie lugt hervor, quevedianisch:

»Asche werd ich sein, doch fühllos nicht,

Werd zu Staub, daraus die Liebe bricht.«

Socorro: »Tu me casses les cothurnes! (En français dans le texte.) Halt den Mund. Ich kann auch nicht mehr. Wisch die Träne da weg. Schäm dich was. Setz dich anständig hin. Beherrsch dich. Nimm deinen Compact.«

Das Spiegelchen gibt Zeichen. Lenkt die Sonne zum gläsernen Wolkenkratzer. Im zwanzigsten Stock tritt ein Mädchen auf den Balkon, ebenfalls mit einem Spiegel in der Hand. Es hüpft umher, bewegt ihn auf der Suche nach dem Signal.

»Schau dich an. Die Tränen haben eine Furche in deine ersten fünf Schminkeschichten gemacht. Pass auf, dass sie nicht bis zur Haut durchkommen. Aber dafür bräuchte man schon einen Bohrer. Die Spargelcreme ist weg. Die Erdbeerschicht darunter verschmilzt mit der Baby-Ananas von Max Factor. Ganz kariert bist du. Ein Vasarely. Komm, sing mit:

Ist nicht hier, ist nicht dort,

aber böse immerfort.«

Auxilio, im Singsang:

»Ja, er ist es: das Rätsel der Rätsel. Die Vierundsechzigtausenddollarfrage, die Seinsdefinition. Das Spiel ist aus. Der Schinken alle. Vom Käse nicht das kleinste Stück. Das ist der Stand der Dinge: Wir sind geblieben, und die Götter gingen fort, nahmen das Schiff, zogen auf Lastwagen davon, passierten die Grenze. Die Pyrenäen waren ihnen schnuppe. Alle sind sie weg. Das ist der Stand der Dinge: Wir gingen fort, und die Götter sind geblieben. Sitzen geblieben. Verschüchtert. Im Siestaschlaf. Überglücklich, den Ma’ Teodora tanzend, den allerersten kubanischen Son, da capo immer wieder, in der Luft kreiselnd wie Gehenkte.«

»Halt den Mund. Genau das wolltest du doch.«

»Nein. Das wollte ich nicht. Ich bat um das Leben, mit allem Drum und Dran, mit Schellen und Tamburinen. Ich bat um unser täglich Brot mit Wurst. Aber nicht die Spur. Nichts. Sie schickten mir die Kahle, die Glatzige, die Gerupfte, die Geschorene: die Fratze des Todes.«

»Man kann deine Wange sehen. Sie ist wie die Oberfläche des Mondes: voller Krater.«

»Du Kanaille. Scheusal. Liederliches Luder. Soll dich doch das All verschlucken. Aufsaugen. Soll deine Klimaanlage den Geist aufgeben, sich die Erde auftun vor dir. Soll die Lacan’sche Kluft dich verschlingen. Aufgelöst, unbeachtet, weil unbemerkt.«

»Mir reicht’s. Ich gehe. Jetzt erst recht. Egal wie. Wenn man mich schon rauswirft. Ich werde angegriffen und steche mit der Lanze drauflos, kreuz und quer, nach rechts und links, vorn und hinten, wie ein japanischer Krieger im Kampf gegen einen unsichtbaren Feind.«

Auxilio schüttelt den Kopf. Goldene Fransen gegen die Scheiben. Wollsträhnen. Windmühlenflügel.

»Dann geh doch. Du Unwesentliche. Du verlässt das HAUS, jawohl, das HAUS in Großbuchstaben. Das Domus Dei.«

Und schüttelt den Kopf.

Socorro im Domus Dei

Wie sollte man sich da nicht vertun? Es waren Tausende. Tausende kleiner Füße. Wurmzerfressener kleiner Hände. Und dieses Quietschen. Blechteller und Löffel. Ganz grün kamen sie heraus und schossen gegen die Töpfe. Eine Sirene, und sie tauchten auf. Ein Quietschen, und sie verschwanden wieder. Gleichzeitig. Eine Frau trat an die Fenster. Und in jedem schüttelte sie ein schwarzes Tischtuch aus. Die Fassade verschwand hinter einem Vorhang aus Brotkrümeln. Fluss aus Federn.

»Guten Tag. Ich habe angerufen, aber es geht keiner ans Telefon.«

»Ach«, sagt das Dienstmädchen.

»Kann ich hereinkommen?«

»Das ist zwecklos. Niemand da.«

»Wie bitte? Nach all der Zeit. All dem Warten. All dem Buckeln und Betteln. In den Vorzimmern habe ich Speichel geleckt, habe mich in den Betten sämtlicher Minister gewälzt, Pförtner bestochen.«

»Nein, bestimmt nicht.«

Die Dienerin öffnet die Tür sperrangelweit, als öffnete sie dem Seienden par excellence ihre Beine, ihr gläsernes Kästchen. Von drinnen quillt ein Licht hervor: Widerschein der Glatze der Großen Kahlen. Socorro erstarrt von Kopf bis Fuß, wird weiß wie Tintenfisch in siedendem Wasser.

»Sehen Sie?«, krächzt die Ministrantin. »Er glänzt durch Abwesenheit.«

Als Socorro wieder den Aufzug nimmt, schreit sie schon wie am Spieß, die Ärmste. Tränenüberströmt, Froschgesicht. Sie verwechselt die Knöpfe, stolpert gegen einen Schwarzen, klemmt sich den Finger in der Tür. So erreicht sie das Erdgeschoss: wimmernd, bischofslila, zusammengekauert in einer Ecke des Aluminiumkastens, umgeben von kahlgerupften Hühnern, außer dort, wo ein Eisblock im Sägemehl und ein Korb voll Pomeranzen stehen.

Nun hör sich einer die Artigkeiten an, die der Pförtnerknirps für Besucherinnen übrighat! Unter seiner scharlachroten Kappe taucht er hervor und erschöpft sich in Synonymen. Bei Socorro kommt er damit allerdings nicht weit, denn in ihrem Zustand, verfroren und überhaupt, gibt sie ihm beim ersten Kompliment einen Tritt, schnallt ihn mit seinem eigenen Gürtel am Sitzbänkchen fest, drückt den Knopf zum Roofgarden und jagt ihn in dem klingenden Kasten hinauf.

In der Eingangshalle hängen Spiegel, und obwohl sie völlig verlottert ist, kann die Parze nicht widerstehen: sie holt ihre Bürste mit Schweinsborsten hervor, ihren orangefarbenen Glitterlidschatten, ihr Schönheitspflästerchen, das sie mit aller Sorgfalt genau über den rechten Mundwinkel platziert, so dass es bei jedem Lächeln nach oben rutscht, und greift zum Schluss nach ihren Yoruba-Halsketten. Als sie auf die Straße tritt, sieht sie schon ganz anders aus. So dass Auxilio, die mit einem Coupon auf sie wartet – gültig für zwei Mangoshakes in der Milchbar an der Ecke –, bei ihrem Anblick vor Freude aufspringt und mit dem Taschentuch winkt: sie glaubt, man hätte Socorro empfangen.

»Nein, natürlich nicht.«

Als die beiden sich grazil und symmetrisch zum Gebäude umdrehen, sind die Fenster bereits erloschen. Nicht ein Geräusch. Die Brotkrümel haben die Wipfel der Bäume geweißt, den schwarzen Rasen.

»Das ist wie Schnee.«

Self-Service

»Philosophen sind wir, das kommt vom Fasten! Auf zum Self-Service!«

Gesagt, getan. Sich vor Hunger den Bauch haltend, ziehen sie los, auf Zehenspitzen, schlüpfen zwischen den Schalen rostiger Autos hindurch – die seidigen Haare fließen zwischen den Blechbüchsen –, straucheln, springen über platte, speichenlose Fahrradreifen, über Kurbeln, bemooste Hupen, papiergestopfte Scheinwerfer, Aluminiumringe mit roten Stangen. Gelbe Gottheiten. Flavische Vögel. Damhirsche. Sie laufen zwischen den Scheiben hindurch, in Regen gegossen, mit gefrorenen Orchideen aus Palm Beach gekrönt, rein inmitten des Unrats, leuchtend wie Pilze auf Pferdeäpfeln, wohlriechend unter schrottreifen Dieselmotoren.

Sie kommen an den Gerüsten einer Baustelle vorbei – zwischen den Grundmauern sumpfig grünes Wasser –, balancieren mit ausgestreckten Armen über eine Eisenstange, singen Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, die hungrigen Fischmäulchen zum Kussmund gespitzt.

Und hinter ihnen, in den Quadraten, leuchten gleichzeitig tausend Papierballons auf. Kegel auf einem roten Wandteppich. Über den Gebäuden ritzt die milchige Leuchtspur der Metro die Nacht. Flackernde blaue Rauten.

Und weiter vorn überqueren die Blühenden, die Allgegenwärtigen noch ein Gerüst, noch eine Avenida. Dort laufen sie unter dem Straßenkleeblatt hindurch, von Helikoptern überwacht. Tönende Tunnel. Und über die Rolltreppen, über die Schienen, dort, wo eine Sekunde vor dem Abfahrtssignal die Straßenbahnen anhalten. Wie schnell sie sind!

Fritte für Fritte, Fritte für Fritte hebt sie alle wieder auf; unter den Tischen, zwischen den Füßen krabbelt sie die Beingalerien entlang hinter einer rollenden Tomate her, dem Pappbecher, dem Schälchen Rote Bete, geraspelt – violette Fädchen auf den Schuhen.

Die Leute steigen über sie hinweg. Dort unten, auf allen vieren, in ihre eigene Perücke verheddert, zwischen aufgeplatzten Mandarinen, dort ist Auxilio mit ihrem Teller hingefallen (ein spitzer Absatz durchlöchert das Ei in Aspik). Vollkommen eingesuppt.

Alles hebt sie wieder auf – die frittierten Kartöffelchen verdreckt –, schaut dabei hoch, zur einen Seite und zur anderen, ein verschrecktes Eichhörnchen. Sie setzt ihre grüne Brille auf. Mit der Stirnlocke verdeckt sie die andere Hälfte ihres Gesichts.

»Ich will weg hier!« Und schon ist sie kein Eichhörnchen mehr, sondern ein Maulwurf: sie kugelt sich zusammen, verbirgt den Kopf.

Socorro sitzt bereits am Tisch, isst aber nichts. Sie starrt auf ihr Essen und jammert rhythmisch vor sich hin. Sie schluchzt und schnäuzt sich mit einem Kleenex. Als Auxilio mit leeren Händen ankommt – den Teller hat sie in den Mülleimer geworfen –, packt Socorro sie an den Schultern, schüttelt sie.

»Ist nicht so schlimm«, sagt sie.

»Ist nicht so schlimm«, die andere.

Und schon lachen sie wieder.

Nun sitzen sie, hübsch zurechtgemacht, vor einem Aussichtsfenster aus Zelluloid. Nicht ein Fleck, nicht ein verrutschtes Haar, nicht ein Tröpfchen Tomatensoße auf der Wange. Starr; die Köpfe, nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt, im Schnittpunkt der Diagonalen des Panoramas – von Fenstern zerlöcherte blaue Kuppeln, ein Flugplatz: Moskitos und Zweimotorige steigen auf –, die blassen Hände über der Brust gekreuzt. Sie rühren sich nicht, aber es ist zwecklos: alle schauen sie an. Wie auf der Anklagebank.

»Spöttische Äuglein verschlingen uns von Kopf bis Fuß.«

»Finger zeigen auf uns, kennzeichnen uns mit Sternchen.«

Dann deutet Auxilio auf ihre rechte Schläfe, springt auf, schüttelt ihre Mähne wie einen Staubwedel, klingelt mit den Glöckchen, ein einziger Klangkörper.

»Ich weiß was!«

Sie öffnet eine runde Krokodillederschachtel, die sie, wie eine Feldflasche, an einem Silberkettchen über die Schulter gehängt trägt, und während sie nachzählt, nimmt sie fünfzig Farbfotos heraus. Zwei vergilbte wirft sie fort, überreicht Socorro eine Nahaufnahme in Schwarzweiß, und mit den restlichen siebenundvierzig begibt sie sich zum Ende des Speisesaals. Dort beginnt sie, die Bilder Tisch für Tisch zu verteilen. Bei jedem Foto lächelt sie, fährt sich kurz mit dem Kamm durchs Haar, stellt sich dem Empfänger mit einer Verbeugung vor und hält den Verwunderten mit der minuziösen Beschreibung der Aufnahme in Atem. Socorro folgt ihr mit ein paar Schritten Abstand, fügt den Adjektiven Adverbien hinzu, Knickse den Verbeugungen, kühlt die Luft mit einem Fächer aus Straußenfedern, den sie mit Balsam beträufelt. Auf ein Zeichen von Auxilio legt Socorro den Fotos Pralinen bei, dazu kleine Medaillen der Barmherzigen Jungfrau von El Cobre.

Das erste ist ein schon verblasstes, mit Blitzlicht aufgenommenes Foto. Auxilio im Guayaberahemd, das Gesicht gelb geschminkt, auf dem Kopf eine Zipfelmütze, kaffeetrinkend vor einem Pappturm oder einem Karnevalswagen oder einem Mausoleum mit arabischen Inschriften.

»Hier stehe ich vor der Blauen Moschee von Konstantinopel, auch wenn man die vier Minarette nicht sieht. Ich bin als Mingkaiserin gekleidet, deshalb halte ich auch diese Teetasse mit Drachenmuster in der Hand und in der anderen den langen Stängel mit nur einer Blüte. Wie Sie sehen, habe ich mir die Augen mit ein paar schwarzen Strichen verlängert, und wenn nicht die Ohren wären, könnte man im Profil erkennen, wie sie sich in kleine Fische verwandeln.«

»Du hast vergessen zu sagen, dass die splitternackten Rotzbengel da, die Mandoline spielen und in die Linse gaffen, deine Dolmetscher sind.«

»Meine Verehrer. Aber schauen Sie sich das hier an. Da bin ich bei den Caduveo- oder Cadiveo-Indianern und lese Franz Boas. Ein Tonband habe ich auch dabei. Was mir der Ureinwohner da überreicht, ist eine Maske, deren Züge mit dem Grundriss des Stadtplans übereinstimmen. Ich bin gut getroffen, nicht?«

Auf diese Weise verteilt sie sämtliche Fotos. Bis auf eins. Sie behält das Ausweisfoto, Format sechs mal acht, auf dem man sie von vorn sieht, leicht zur Seite schauend, nicht sonderlich ernst: ganz natürlich.

»Ich glaube, wir haben keinen schlechten Eindruck gemacht.«

»Mag sein. Aber lass uns gehen, bevor sie es sich anders überlegen.«

»Warte. Beinahe hätte ich die Sichel vergessen.«

Anmerkung:

Der Self-Service befindet sich im Erdgeschoss eines Oktaeders aus Bakelit. Wände aus Coca-Cola-Flaschen tragen die Decke, die ein Sturz des Ikarus ziert, ganz in Altrosa und Gold. Von den Ecken aus steuern vier bewegliche Lampen in einer Sinuskurve an den Wänden entlang und halten ab und zu über den Schüsseln mit geraspelten Möhren, Eiern in Aspik oder Roter Bete in Mandelsoße an, die zwischen den Flaschen in Korbnischen stehen. Jedes Mal, wenn das Licht vorbeizieht, erklingt ein Xylofon-Arpeggio, auf- oder absteigend, je nach Höhe des Lichtkegels, und der Ton wird so lange ausgehalten, wie das Licht auf einen Teller strahlt. Da die Rote Bete in Mandelsoße sich praktisch auf Deckenhöhe befindet, ist der dazugehörige Ton ein grelles Pfeifen, das erst dumpfer wird, wenn der Scheinwerfer wieder in die Kurve geht.

Sowohl das Geschirr als auch die Speisen sind aus Plastik.

Neue Version der Ereignisse: Parze und General

Ob sie ihn in ihre Champagnerlocken verwickelte, ob er sie mit der offenen Spange einer seiner Medaillen stach, ob die Kirschkonfitüre auf den Khaki der Uniform platschte, ob er sie mit einer Tresse ritzte, ob sich beide ineinander verfingen, ob sie aus Höflichkeit schwiegen oder sich beleidigten, ob die Spargelcreme zwischen seinen Orden landete, ob der Pyrrhische die Patronin der Kanoniere anrief, die unbesiegbare Changó, ob sie darauf bei der Königin des Flusses und des Himmels Zuflucht nahm, ihrem Gegengift: das weiß heute keiner mehr.

Halten wir also fest, wie die Dinge sich in diesem Augenblick darstellen: Gegenüber der Dessertabteilung, zwischen Klapptabletts, zitternd wie versengte Schmetterlinge, hat Auxilio ihre Haare … nein: haben ihre Haare sich in dem Blechwald verfangen, der einen spindeldürren General panzert.

Da stehen die beiden, zwei gefiederte Schlangen, cheek to cheek. Sie kleben aneinander, aneinander kleben die Tabletts. Miteinander ringende siamesische Zwillinge, Fledermaus von der Bacardiflasche, Tintenklecksbild, geöffnete Auster, ein Körper mit seinem Abbild: Auxilio und der General.

Da stehen sie immer noch, berühren sich an ihren Scheiteln, Extreme, die sich berühren. Wie eine Schlange, die auf einen klappernden Leckerbissen stößt, ein pyramidales Törtchen, das sie in einem herunterschluckt, um dann aufzuschreien: sie hat soeben ihren Schwanz verschluckt. Und so verschwindet sie und kehrt zurück ins Kahle Nichts.

»Aber warum zieht sich der General nicht einfach seinen Rock aus, und damit hat sich’s?«

Hört euch diese Frage an. Das ist mal wieder typisch Socorro.

Ich: »Meine Liebe, siehst du nicht, dass der General, wenn er sein Blechzeug auszöge, wie ein Vogel ohne Federn wäre? Wie ein Zebra, das seine schwarzen Streifen ablegt, um mit ihnen einen Vasarely zu kreieren?«

Socorro: »Ich will doch bloß, dass endlich jemand Auxilio aus dem Schlamassel hier rausholt.«

Ich: »Das schafft sie schon allein. Sie wird schon wieder nach Hause kommen, artig, hochmütig, keusch.«

Socorro: »Hör sich das einer an! Drei Adjektive auf einmal! Zu meiner Zeit hat es so was nicht gegeben. Wo will die junge Literatur bloß hin …«

Ich: »Ja, mein Schatz, drei Adjektive hintereinander, aber wohlgesetzt. Also schluck’s runter und halt den Schnabel.«

Socorro: »Für Abschweifungen hab ich nichts übrig, komm lieber zur Sache. Was ist aus meiner kleinen Freundin geworden?«

Eigentlich nichts. Nur zog sie Welt an, diese Schöpfung im Werden, saugte sie auf. Wie ein Magnet unter einem Fluss die Angelhaken oder ein Staubsauger in einem Hühnerstall die Federn. Und so saugte das Binom Auxilio-General alles auf, was um sie herum war, und natürlich auch eine Schwarze und eine Chinesin: womit das Curriculum cubense komplett war.

Das vierte Element war von Anfang an da, seit jeher die Unnennbare Kahlköpfige, und es klebte fest am dritten, das stets wegen seiner Stärke heroisiert wird. Nun gut, die beiden fehlenden eilten also hinzu. Da kamen sie, Zwillingssteine, gleichäugige Fische, um an den Haaren und Medaillen hängen zu bleiben, sich zu verfangen in Auxilio, Empfängnis des Universums:

1. eine Asiatin, mit Eierschalenpaste gepudert, Diva von der Oper im Shanghaiviertel,

2. eine Schwarze mit rundem Hintern und runden Brüsten, richtige Halbkugeln, sinuskurvig, in knallrotes Tuch gezwängt und mit frisch gebügeltem Haar wie ein Lianenfluss.

So sieht das Ensemble, von oben aus betrachtet oder in einem imaginären Spiegel, den wir beispielsweise über der Kasse des Self-Service anbringen könnten (und der auch dort hängt, jede Wette, um zu sehen, ob jemand Geschirr mitnimmt oder im Vorbeigehen ein Schokoplätzchen in die Tasche steckt), wie ein riesiges vierblättriges Kleeblatt aus, ein Tier mit vier Köpfen, die in die vier Himmelsrichtungen schauen, ein Yoruba-Zeichen der vier Wege:

der Weiße mit der Perücke und dem Uniformrock,

die Chinesin der Scharade mit der Mundkatze,

die Wifredo-Lam-Negerin,

und die Letzte – die zuerst da war: die rothaarige Betrügerin,

die Wächserne, die Weiche-von-uns!

Da haben wir also die vier Teile, von denen der Schwarzwälder Hengst im Glück spricht.

Socorro: »Ja, der Einzige, der den Nagel auf den Kopf getroffen hat!«

Ich überlasse sie jetzt euch. Vier verschiedene Wesen, die doch ein einziges sind. Und schon lösen sie sich voneinander, schon blicken sie sich an. Sind sie nicht reizend?

Am Rosenaschenfluss

Im Wald von Havanna

verirrte sich eine Chinesin.

Verirrt war ich schon lange,

so fanden wir uns bald.

Volkslied

Hommage an das »Shanghai«, Burlesque-Theater in Havanna

Weder der Mond – das Rebhuhn – noch der Farn im weißen Licht, die vier Tiere, der Wein des Windes oder das Wasser des Almendares: nichts fehlte für eine Begegnung.

Dort, zwischen den Stümpfen des violettgestreiften Rohrs, über die Stängel leckend, an den Klingen der Blattkanten entlang, ein silbriger Schleim, dort warf die Schlange ihr Klappern in das Rauschen des Flusses.

Bei ihr die rote Schildkröte, die so schnell laufen kann: Streitross der Unsterblichen.

Ein Stück weiter, Feueräuglein im schwarzen Laub des Flamboyants, eine Mähne aus Hanf: das Einhorn. Und neben ihm, stets auf einem Bein und rosenrot, der Reiher.

Das Raunen der Erde war wie das Prasseln der Stöcke in der Luft bei der Einnahme einer feindlichen Festung; und so verwundert es nicht, dass auch Rosenasche dort war. In die Landschaft geschmiegt, trainierte sie ihr Yin mitten im Wald von Havanna, ein weißer Vogel hinter dem Bambus, ein Gefangener, von Lanzen eingekeilt. Sie rezitierte die Fünf Bücher, sang im Falsett; sie sah aus, als wollte sie gleich platzen wie ein gesalzener Frosch, schwieg und schaute in den Mond, begann erneut zu rezitieren.

So überraschte sie das Rauchwölkchen der Romeo y Julieta, der besten aller Havannas; und das Geschepper der Medaillen.

Blass wurde sie nicht; das war sie längst von ihrem ständigen Reis mit Tee.

Ob sie gekleidet war, als empfinge sie die Botschafter aus den Provinzen in den Gärten der Ming, ob sie, wie üblich, schwarze Lastexhosen und eine Leinenguayabera trug oder ob sie schlicht und ergreifend so dasaß, wie ihre Mutter sie mit einem einzigen Pressen während einer Pause in der Oper auf die Welt gebracht hatte: keiner weiß es.

So überraschte sie der Hochdekorierte, der Ruhmreiche, honoris causa im Billard und im Bett – jedem sein Schlachtfeld. Moosgefederten Schrittes zermalmte er schlafende Skorpione und orangerote Schnecken. Sein Gang war der des Unbesiegbaren, vom Brustgold punktiert. Er war der Kapuzenmann der Sevillaner Prozession, die Majestät der Synagogen, das galicische Eidos auf dem Vormarsch. Kein General: ein Gladiator auf Stelzen.

Die Gelbe stieß einen Schrei aus. Und nicht von ungefähr. Das Geäst teilend, rückte er näher, hieb mit den Armen wie mit einer doppelten Machete, bahnte sich, ein Schlachtlied auf den Lippen, einen Weg durchs Gestrüpp. Er war ein Voyeur, dieser Lump: noch so ein Mystiker.

Doch eins muss man sagen, tägliche Gymnastik macht sich bezahlt! Lotosblüte springt auf, und wie das Fischchen sich, wenn es aus dem Wasser hüpft, in einen Kolibri verwandelt, so fliegt sie zwischen den Lianen. Jetzt ist sie eine weiße Maske, schraffiert von den Schatten des Rohrs, ist der Schimmer des Taubenflugs, die Fährte eines Hasen. Sag bloß, du siehst sie noch? Nichts mehr zu erkennen. Doch! Die beiden Augen verraten sie, zwei goldene Schlitze, Augen eines Schlangenbeschwörers. Sternapfel an den Ästen eines Sternapfelbaums. Mimikry. Sie ist Struktur – die weißen Flecken auf dem Stamm einer Ceiba –, eine verfaulte Blüte unterm Palmenzweig, ein Schmetterling, mit Pupillen bedruckt, ist reine Symmetrie. Wo steckt sie nur? Ich sehe sie nicht. Sie atmet kaum. Mit dem Augenbrauenstift zeichnet sie sich jetzt Gesichter auf die Handflächen und schwenkt sie hin und her, um den Großen Krieger zu trügen. Und er, er zerteilt die Luft mit Schwerthieben, verflucht Lotos in alphabetischer Reihenfolge.

Rosenasche verwandelt sich in eine Wolke, in ein Hirschkälbchen, in das Murmeln des Flusses zwischen den Kieseln. So kreisen sie umeinander, suchen sich mit Blicken wie zwei Kampfhähne. Und so vergeht die Zeit einer Rezitation.

Jetzt die Attacke der Chinesin. Sie wechselt die Maske, schleudert Steine, taucht auf und verschwindet, beides am selben Ort, schlägt Haken, damit keine Waffe sie erreichen kann, errichtet einen Staudamm aus Steinen, um den Fluss in die Gegenrichtung zu lenken und dem Großen Feind die Orientierung zu nehmen; sie stachelt Tausendfüßler, Eichhörnchen, Chamäleons an, ihn zu beißen; sie ahmt das Klirren der Medaillen und die Stimme ihres Verfolgers nach, erscheint sogar als lüsterner General, um ihm die Sinne zu verwirren. So erschöpft sie Stück für Stück das Repertoire ihrer Bühnenkunst.

Der Schlächter ist zum Kampf bereit. Für ihn sind die Fluchten der Chinesin wie die goldbeladenen Wagen, die man dem Invasor darbietet in der Hoffnung, ihn noch aufzuhalten. Unablässig umkreist er seine Beute: jetzt hat er nicht nur eins, sondern zwei Schwerter gezückt. Mit der zweiten Klinge, die sich biegt, doch nicht zerbricht, teilt er das Dickicht. Ein Pyrrhusflötchen hat er da!

Je flüchtiger, je flüssiger die Gelbe wird, umso flammender sein Schwert, ihr wisst schon, welches. Fast zweigespalten!

Klar, mit so einem Verbündeten zögert der Lüstling natürlich nicht, ein Schachmatt zu wagen.

Der Wald von Havanna umgibt den Sommerpalast, und das Wasser des Almendares ist der Jangtse. Rosenasche webt ihre eigene Gestalt aus Lianen und flieht, lässt dem Gegner diesen ungreifbaren Doppelgänger zurück, dieses fasrige, bewegliche Bild.

Listig nähert er sich von hinten; doch verlassen von Chola Angüengue, der Göttin der Waffen, bleibt er im Webstuhl hängen.

Da hinten, in der Ferne, da kreischt die Chinesin, tanzt den Kanton-Mambo. Und er, hier vorne: wie angenagelt. Starr.

Riechen Sie es? Genau, das ist dieses gewisse Düftchen: Kantonreis mit Soja, schwarze Soße. Aber da ist noch etwas: Hundepisse (es ist noch früh am Tag); und: Tee. Richtig, ihr habt es bereits geahnt, wir befinden uns im Chinesenviertel.

Der Leser: »Und was soll die Platte mit der Dietrich?«

Ich: »Schon gut, mein Lieber, im Leben passt halt nicht immer alles zusammen. Ein bisschen Unordnung in der Ordnung, nicht? Sie werden wohl kaum von mir verlangen, dass ich Ihnen hier auf der Calle Zanja, in der Nähe des Pacífico (genau, da wo Hemingway immer speist), in einer Stadt, wo man an jeder Ecke auf eine Destille, einen Billardsalon, eine Nutte und einen Seemann trifft, ein komplettes chinesisches ›Ensemble‹ hinzaubere. Aber ich werde tun, was ich kann.«

Nun denn:

»Ein bisschen chinesische Atmosphäre, Mädels!« Der Direktor tritt aus einem safrangelben Wölkchen hervor, das nach versengtem Gras riecht (jaja, das Gras, an das ihr denkt). Er tritt aus seiner Dunstpagode hervor, den Kopf gesenkt, das Haar schweißgelackt, die Augen – zwei rote Kugeln – einer Jadebulldogge, die Hände über der Brust gekreuzt (rezitiert er gerade das Buch der Wandlungen?); und folgt einer punktierten Linie. Er zittert, läuft grün an; die Opalwolke löst sich in der Dekoration auf. Limonengrün ist er, eine gesträubte Hahnenfeder; ein giftiger Wind ist ihm in seine neun Öffnungen gefahren.

Er ist inspiriert. Mit verklärter Miene nähert er sich, schaut zur Bühne, doch in seiner Wirklichkeit schreitet er über Schlachtfelder; er weicht Fledermäusen aus, die Toledoklingen sind, zerquetscht reihenweise Ameisen, rote Zwerge, reitet auf einer Schildkröte. Für uns nimmt er nur seinen Ring ab; er dagegen zieht sich Blutegel aus den Ohren. Fächelt er sich mit den Händen? Im Reich des Grases teilt er das Meer. Kratzt er sich am Hals? Er versucht einen Gorilla abzuschütteln oder einen Homunkulus, der ihm in die Schulter beißt. Stoned, wie er ist, spielt der Direktor auf beiden Registern; ein Bewusstseinslurch, dieser Schlawiner.

Er trägt Leinenhosen, um die Taille eine orangefarbene Schärpe, die Sandalen offen; vor allem aber schleppt er einen Duft mit sich herum, den ich lieber nicht wiedergebe, strenger jedenfalls als der von nur schlecht verdautem Schweinefleisch in Sirup.

Im leeren Proszenium bleibt er stehen, doch er fühlt sich beobachtet. Zwischen den Ritzen des Parketts ertappt er – dahingleitende Quecksilbertropfen – parallele, neongrüne Äugelchen.

»Ein Tässchen Kaffee, Maestro?«

Den geblümten seidenen Morgenrock aufgeschlagen, kommt Lotosblüte-vom-Rosenaschenfluss dahergeschlappt. Durch die andere Tür treten Maria Eng, Drachengesichtchen, Froschbaby und die Allgegenwärtigen auf die Bühne, besser bekannt als die Ärschelchen: Auxilio Chong und Socorro Si-Yuen, Chorsängerinnen an der Oper des Shanghaiviertels; eben jene, welche sich beim Sturm auf die Festung mit einem Salto mortale durch die Schießscharten schwingen und ins Innere der Burg krachen, eben jene, welche im Gedicht von der Barke als Schmetterlinge auftreten und sich zwischen den Blättern der Seerosen in Kröten verwandeln, jawohl: die beiden sind es. Bald werden wir sehen, wie sie sich verwandeln, sie, die das Geheimnis der achtundsiebzig Metamorphosen kennen.

Um sich einzustimmen – schließlich sind wir bei den Proben –, schmettert Lotosblüte einen Ton, halb verzerrt, halb versoffen (eine biergefüllte Flöte); da sie jedoch niemanden vorgewarnt hat, dieses Biest, eilen bei ihrem chinesischen C Drachengesichtchen, Maria und die Siamesischen herbei.

(Draußen erwacht das Viertel: in den Schaukästen der Bordelle Präservative mit Schnäbeln, Sporen und Kämmen, mit Glöckchen; Fingerlinge. Der Schwindsüchtige vom Kino wechselt das Plakat: für heute eine mondbeschienene Brücke unter Pinien, ein Gesicht, schwarz-gelb gestreift, wie ein indischer Fisch.)

Bei seinem Gleitflug durchs Himmelszelt verließen den Direktor die Kräfte, und von einem schwefligen Schleimfädchen umsponnen, machte er eine Bruchlandung. Worauf Maria Eng ihm ein Riechfläschchen mit Veilchensalz und eine Karaffe mit Orangensaft und Eiswürfeln brachte.

Das Pekingflötenorchester hatte die Melodie aus dem Gedicht von der Barke angestimmt, und da Lotos, wenn sie erst loslegte, nicht mehr zu halten war bis zum großen Finale, kamen nun von der Bühnendecke Auxilio und Socorro, halb nackt, durch die Luft gepurzelt, zwei Kolibris: die Köpfe hinten überhängend, mit dem Schwanz steuernd. Fuchsmähnen, Wollgarn, Flammen, Harzbänder, Nadeln, dunkelgrüne Münzen waren ihre Haare, und sie filterten das Licht der Lampen zwischen den Vorhängen – Imitate venezianischer Filzbehänge –, den Pappwällen, Brücken, etruskischen Vögeln.

Sie flogen, die Göttlichen, ja, flogen über die Bühne, orangegestreift, chlorophyllgestreift, gehalten von Nylonschnüren in den Farben des Prospekts: der Farbe der Paravents polynesischer Bordelle und der Farbe der Luft, durch die ein verschneiter Windmühlenflügel wirbelt.

Dort in der Höhe jaulten die Lächelnden, kastrierte Karnickel, entboten dem Großen Verrückten ihren Gruß und bepinkelten sich vor Angst. Von hoch oben schauten sie auf uns herab: Äuglein eines Ameisenbären.

Von Drachen gezogen, kämpfte Lotos in ihrem Wagen mit einem großköpfigen Dämon, und die Arie aus dem Raub schmetternd, durchquerte sie das Polarlicht der Bühnenzeit. Ihr Gesicht war eine flache Scheibe, drei Streifen unter einer Krone, auf der zwei Einhörner gegeneinander antraten.

Über dem kantonesischen Orchester – drei kleine Flöten, geblasen von zwei Schwarzen und einem struppigen Kantonesen – neigte sich die Kaiserin in ihrem Wagen, ein Bambus in der Strömung des Flusses.

Der Direktor klappte ein Auge einen Spalt auf. Er sagte, er habe von Lotos geträumt, er sei ein schwarzer Papierdrachen über goldenen Lettern gewesen und dann ein Vogel, von einer Lanze durchbohrt, und ein großer, in Federn gehüllter Schlüssel.