cover.jpg
logo-edition_standpunkte.jpg

Kapitel 1:
Der Westen schließt die Augen

An einem regnerischen Frühlingstag im April 2013 war es mal wieder so weit: Bundeskanzlerin Angela Merkel empfing im Berliner Bundeskanzleramt den indischen Premierminister Manmohan Singh. Während der Begrüßung lief ein wilder Rotfuchs durch die Polizistenreihen – ganz als wäre er von den Gastgebern bestellt. Denn in Indien ist man es gewohnt, dass im Park des Präsidentenpalastes in Delhi Pfauen und Affen von den Bäumen zuschauen, wenn mal wieder ein Staatsempfang stattfindet. Merkel und Singh trafen sich diesmal in Berlin mit einem Dutzend Minister beider Seiten, weil sie seit 2011 regelmäßige Regierungskonsultationen abhalten.

Viel Aufregung herrschte nicht. Die deutschen Medien ignorierten das Staatsereignis weitgehend. Die mitgereisten indischen Journalisten erfreuten sich vor allem daran, Berlin kennenzulernen. Schließlich schien nichts selbstverständlicher zu sein, als dass sich das größte demokratische Schwellenland der Welt und die größte Industrienation Europas im breiten, kontinuierlichen Austausch auf höchster Regierungsebene befanden. Als Merkel und Singh dann zur abschließenden Pressekonferenz im Bundeskanzleramt baten, erwarteten sie denn auch nur Routinefragen. Wie es in Brüssel mit den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen Indien und der Europäischen Union weitergehe, wollten die anwesenden deutschen und indischen Journalisten wissen. Jemand stellte noch eine Frage zur Iran-Politik beider Seiten, ob es da wirklich Übereinstimmung gebe. Es lag nicht der Hauch von einem Skandal über der Pressekonferenz.

Und doch glauben wir, dass der Auftritt der beiden Regierungschefs, der wieder einmal die wirklichen Probleme Indiens unerwähnt ließ, im Kern skandalös war. Hier saß die deutsche Bundeskanzlerin, die es sonst durchaus versteht, mit hohen Regierungsgästen auch unangenehme Dinge anzusprechen, und schwieg sich aus. Sie schwieg sich aus über ihren hohen Gast. Und über die Zustände in dem Land, das er führt.

Nun zählt Manmohan Singh vom Typ her wohl tatsächlich zu den letzten Aufrichtigen in der indischen Politikerklasse. Er ist ein alter Finanzbeamter, der es oberflächlich betrachtet ehrlich meint. Als gut geschulter Ökonom hat er viele interessante Dinge zu sagen. Auch hat er gelegentlich Reden gehalten, deren Schonungslosigkeit gegenüber den indischen Zuständen ihresgleichen sucht. Alles Gründe, die dafür sprechen mögen, dass die Bundeskanzlerin auch nach außen immer wieder ihre persönliche Freundschaft mit Singh zu erkennen gibt. Doch können kluge Worte und gute Absichten Singhs nicht darüber hinwegtäuschen, wofür er als Regierungschef seit 2004 politisch mitverantwortlich zeichnet: nämlich zum Beispiel für den Tod von 18 Millionen Frauen in seiner neunjährigen Regierungszeit. Fast ebenso viele verhungerte Kinder hat seine Regierung auf dem Gewissen – denn Schutz gewährte sie ihnen nicht. Was mit dem Wissen der höchsten Politiker des Landes in Indien geschieht, erinnert in seinen tödlichen Konsequenzen an die schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts.

Heute erkennt man etwa in der verfehlten Agrarpolitik von Mao Tse-tung einen der größten politischen Massenmorde der Geschichte. Mao hatte Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts den chinesischen Bauern befohlen, ihre Felder brachliegen und stattdessen ihre Werkzeuge für die Industrieproduktion einschmelzen zu lassen. Er nannte das »den großen Sprung nach vorn« – in Wirklichkeit war es ein gewaltiges Verbrechen am eigenen Volk. Die Folge war eine der größten Hungersnöte aller Zeiten. Nach westlichen Darstellungen starben dabei bis zu 30 Millionen Chinesen.

In Indien ist es nicht der eine Befehl, der zu Millionen unnötigen Opfern führt. In Indien führt die kollektive Ignoranz der Eliten zur Katastrophe. Die politische Führung gleich welcher Partei schert sich in ihrem täglichen Handeln nicht um die hilflosen Bauern, nicht um Frauen, nicht um Indiens arme Landbewohner.

Das brutale Versagen der indischen Politik ist alles andere als ein Geheimnis. Im Interview mit der indischen Wirtschaftszeitung Mint räumte der einflussreiche Minister für ländliche Entwicklung, Jairam Ramesh, im Februar 2014 offenherzig ein: »Ich kann nicht behaupten, dass wir heute eine paritätischere Gesellschaft sind als vor zehn Jahren.« Er fuhr fort: »Wir sind eine Gesellschaft, in der weiterhin eine sehr tiefgehende Chancenungleichheit besteht.« Dann aber folgte die Entschuldigung: »Ungleichheit in Indien ist strukturell. Man wird schon aufgrund des Kastensystems mit ungleichen Chancen geboren. Wir können also nicht über Nacht Chancengleichheit schaffen.«

Das hört sich gut an. In Wahrheit aber schert sich die politische und wirtschaftliche Elite herzlich wenig um Chancengleichheit. Die Weltbank ermittelte, dass in Indien 59 Prozent des Getreides, das die Zentralregierung unter Führung Singhs für die Speisung der Armen bereithält, die Empfänger nicht erreicht. Stattdessen wird das kostbare Gut von Mittelsmännern und Beamten auf dem Schwarzmarkt verhökert. Seit Jahren ist das Problem bekannt – doch die Regierung ergreift keine wirksamen Gegenmaßnahmen. Sie duldet, dass vor ihren Augen Millionen der eigenen Bürger sterben: weil sie ihnen nicht zur Hilfe kommt; weil Politiker gleichgültig und abgestumpft sind; weil sie nur ihre eigenen Interessen verfolgen.

Es ist höchste Zeit, dass der Westen für das indische Versagen endlich die angemessenen Worte findet. Völlig zu Recht kümmern sich die Demokraten rund um die Erde um jeden chinesischen Dissidenten, den die chinesischen Machthaber wegen seiner abweichenden Meinung zugrunde richten. Allerdings müssen sie sich endlich auch um jede indische Braut kümmern, die ihr Mann aus Habgier anzündet. Polizei, Richter und Manmohan Singh braucht er dabei nicht zu fürchten.

Als sich im Dezember 2012 in der indischen Hauptstadt jenes abscheuliche Verbrechen an einer jungen Frau ereignete, schien es einen Moment, als könne sich der Blick des Westens auf Indien klären. Eine Bande junger indischer Slumbewohner hatte die indische Studentin in einem fahrenden Bus aufs Grausamste sexuell misshandelt, sie anschließend halbnackt und schwer verletzt auf die Straße geschmissen. Wenig später starb sie an ihren inneren Verletzungen im Krankenhaus. Das Verbrechen geschah inmitten der bunten, neuen Hauptstadtwelt von Delhi, zwischen Einkaufspalästen und Autobahnbrücken. Das Schlaglicht der Medien erhellte über Nacht die Abgründe der Gewalt gegen Frauen. Plötzlich war klar: Keine noch so rohe, noch so brutale Frauenschändung ist in Indien unvorstellbar. Im Gegenteil: Die Schändung ist Alltag. Jede Inderin ist bedroht.

In Indien führte die Vergewaltigung der Physiotherapie-studentin zu einer der erstaunlichsten Bürgerbewegungen der letzten Jahrzehnte. Erstmals ließ die neue Mittelklasse des Landes politisches Bewusstsein und zivile Wehrhaftigkeit erkennen. Die vielen spontanen Frauendemonstrationen im Land, an denen durchaus auch Männer teilnahmen, waren sehr ermutigend. Nur wurden sie im Westen leider überbewertet: So als hätte Indien nun gleich auch eine Antwort auf sein Frauenproblem gefunden. Die Süddeutsche Zeitung etwa druckte ein Foto von indischen Demonstrantinnen mit brennenden Kerzen auf ihrer Titelseite. Dazu stimmte die Zeitung ein Loblied auf die mächtigste Person Indiens an, auf Sonia Gandhi, die Führerin der regierenden Kongresspartei, der im Ernstfall auch Manmohan Singh gehorcht. Gandhi, so schrieb die Zeitung, hätte sich mit gefühlvollen Worten an die Spitze der Demonstrantinnen gestellt.

Man hätte es in Indiens Führungsschicht, aber auch unter den politischen Entscheidungsträgern im Westen sicher gern gesehen, wenn nun alles wieder gut gewesen wäre. Wenn man nicht hätte erfahren müssen, dass die Vergewaltigung der jungen Frau nur eines von jährlich zwei Millionen tödlichen Vergehen an Indiens Frauen gewesen war, nur ein Verbrechen im Zuge einer geduldeten Massenvernichtung. Der Westen will, dass Indien auf seiner Seite steht, China Paroli bietet, westliche Wertmaßstäbe teilt. Der Wunsch ist verständlich.

Indien hat so viele verführerische Seiten. Natürlich haben auch wir uns verführen lassen. Wir haben mit indischen Pilgern im Ganges gebadet und deren Glück spüren können. Wir sind mit den tanzenden Massen durch Kalkutta gegangen und haben mitgetanzt, als die ganze Stadt die Niederkunft der Göttin Dunga feierte. Während des Holi-Festes in Udaipur haben wir uns mit Farbe bewerfen lassen. Die Fröhlichkeit, mit der die indischen Hindus Pilgerfahrten begehen und religiöse Feste feiern, ist wahrhaft ansteckend. Aber auch die indische Demokratie, die wir hier kritisieren, hat etwas ungeheuer Ansteckend-Faszinierendes. Man muss nur Fernsehen schauen. Jeden Abend veranstalten die Nachrichtensender ausführliche Talkrunden zu den Ereignissen des Tages. Dabei kommen die schillerndsten Intellektuellen zu Wort, große Persönlichkeiten, die wir als Korrespondenten oft auch selbst interviewen konnten. Und schon wird man hineingesogen und nimmt Teil am Elitediskurs der Nation. Zumal auf dieser Ebene die englischsprachigen Medien den anderen des Landes um nichts nachstehen und durchaus den öffentlichen Ton angeben. Auch ist es für westliche Korrespondenten in Indien nicht schwer, Zugang zu hohen Politikern, zu Maharadschas und Milliardären zu bekommen. Sie laden ein in ihre Paläste oder kolonialen Villen, die noch von den Engländern erbaut wurden. Dann wird guter schwarzer Tee serviert, und der Gast erhält nicht selten Einblick in beeindruckende Bibliotheken. Vor allem die indische Kongresspartei pflegt bis heute ihren intellektuellen Stolz. Schließlich fühlt sie sich dem Erbe der Republikgründer Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru verpflichtet, deren Glanz bis heute auf die Partei abstrahlt. Kein führender Kongressabgeordneter, der nicht unter ihren Bildern empfängt. Aber auch die parlamentarischen Galionsfiguren der oppositionellen hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Partei (BJP) sind heute in der Regel keine schrägen Populisten mehr, sondern meist erfahrene Rechtsanwälte und Politiker, die jede Frage souverän beantworten. Warum also nicht einfach mitmischen im lebendigen Politik- und Mediengeschäft der Hauptstadt?

»Es gab noch keinen ausländischen Korrespondenten in Delhi, der auf die Dauer nicht dem Charme der Nehru-Eliten erlegen ist«, hatte uns einmal der indische Schriftsteller Pankaj Mishra mit auf den Weg gegeben. Damit meinte Mishra, dass das von Gandhi und Nehru während des Unabhängigkeitskampfes geschaffene Bild der rechtschaffenen, demokratischen Eliten in Indien bis heute in der westlichen Öffentlichkeit ungebrochen ist. Keiner aber hat zur Wahrung dieses Bildes in den letzten Jahren mehr beigetragen als Premierminister Singh. Er war früher Generalsekretär der Sozialistischen Internationalen und diente ihrem Präsidenten, dem einst hochangesehenen sozialistischen tansanischen Regierungschef Julius Nyerere. Er arbeitete für die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds. Er war und ist ein brillanter Ökonom und Intellektueller. Man kann sich gut vorstellen, wie seine Analysen im Kreis der Regierungschefs der G20 während der großen Finanzkrise hervorstachen. Und wie dann eine wissenschaftliche, vorgebildete Politikerin wie Angela Merkel darauf reagierte. Doch auch sie erlag dem Charme der indischen Eliten.

In Zukunft könnte es so weitergehen. Singhs Nachfolger als Spitzenkandidat der Kongresspartei ist der jugendlich-verführerische Rahul Gandhi. Nur wenige glauben im Frühsommer 2014 an seine Siegeschancen, wohl aber erhält er die Kontinuität der immer noch populären Nehru-Gandhi-Dynastie und ist ein großer Frauenschwarm. Echtes Charisma, weil er sich von klein auf hocharbeitete, bietet im Wahljahr der Spitzenkandidat der Opposition, Narendra Modi. Weißer Bart, oranger Turban und eine feste, klare Stimme. Der Mann gilt als politischer Hoffnungsträger, obwohl er die politische Verantwortung für das berüchtigte Massaker an zweitausend Muslimen im Februar 2002 im Bundesstaat Gujarat trägt. Modi hat schon in den letzten Jahren die Stimmung in Indien polarisiert. Er verspricht ein liberaleres Wirtschaftsmanagement, das Indiens Armen durchaus nicht schaden muss. Aber auch er verspricht kein Umdenken, keine Einsicht.

Am Ende aber muss die Wahrheit doch auf den Tisch. So geschah es auf der Pressekonferenz anlässlich von Singhs Staatsbesuch im April 2013. Weil niemand mehr Fragen stellen wollte, bekamen schließlich wir die Gelegenheit dazu. Wir durften sogar referieren, wie kläglich die Menschenrechtslage in Indien aussehe, wie viele Frauen dort jedes Jahr völlig unnötig sterben würden – und siehe da: Weder die Bundeskanzlerin noch der Premierminister widersprach. Als hätten sie das alles schon immer gewusst. Mehr noch: Vor allem Singh nahm unsere Frage dankbar auf. Er räumte ein, wie schwer es gerade die Frauen in Indien hätten. Am nächsten Tag erschien auf der Titelseite der angesehenen indischen Tageszeitung The Hindu ein Artikel, der sich fast ausschließlich unserer Frage und der Antwort des Premierministers widmete. Die indische Autorin stellte fest, dass sich Singh nach der Vergewaltigungstat in Delhi vom Dezember 2012 zum ersten Mal in der Öffentlichkeit über die Gewalt gegen Frauen in Indien geäußert hatte. Die Antwort der Bundeskanzlerin erwähnte der Artikel nur im letzten Satz – zu Recht, denn sie war der Frage ausgewichen, hatte von deutsch-indischen Entwicklungsprojekten in der Landwirtschaft gesprochen, von denen auch arme indische Frauen profitieren. Sie hatte wieder mal nur Nettes zu Indien gesagt.

Doch das reicht nicht. Indiens Politiker, die Nachfolger Gandhis und Nehrus, benötigen eine intensivere Auseinandersetzung, mehr Anstöße von außen. Vor allem haben die Inderinnen und Inder verdient, dass man über die Zustände in ihrem Land offen redet, die Politiker ins Gebet nimmt, ja, auch Druck ausübt. Nur so wird die Republik Indien das Versprechen jeder Demokratie erfüllen können, ihren Bürgerinnen und Bürgern ein menschenwürdiges Leben zu sichern.

Kapitel 2:
Eine Braut klagt an

Erst nach zwei Stunden, als sie fast alles erzählt hat, beginnt Rekha Sharma zu weinen. Ein paar kleine Tränen kullern über ihre Wangen. Aber dann fängt sie sich gleich wieder. Sie ist mit ihren 26 Jahren so zierlich, ihre Stimme so weich, dass man ihr auf Anhieb gar nicht anmerkt, wie stark sie ist. Doch wäre sie es nicht, würde sie heute wohl nicht mehr leben.

Sharma war schon zum Tode verurteilt. Sie sollte einen Tod sterben, der heute in Indien nicht außergewöhnlich, aber doch schier unvorstellbar ist. Der Blick von außen auf die größte Demokratie der Welt führt leicht in die Irre. Denn in dieser Demokratie müssen laut wissenschaftlichen Untersuchungen jedes Jahr geschätzt hunderttausend Frauen denjenigen Tod erleiden, den auch Sharmas Ehemann für sie vorgesehen hatte. Er ist eine der brutalsten und unverständlichsten Mordtaten, welche Männer heute verüben: die Brautverbrennung. Das Kalkül dahinter ist so einfach wie grausam: Töte deine Frau, wenn sie nicht mehr genug Mitgift einbringt! Strafverfolgung muss der Mörder nur in seltenen Fällen fürchten.

Weder der Brockhaus noch die deutsche Fassung von Wikipedia kennt auch nur den Begriff der Brautverbrennung. Die Gräueltaten der Hexenverbrennungen sind bekannt, vielleicht noch der Begriff der Witwenverbrennungen in Indien, die ein historisches Phänomen sind. Sharma aber weiß viel mehr. Sie musste am eigenen Leibe erfahren, dass Brautverbrennungen keine längst vergessene Tradition sind, sondern ein modernes Übel »Made in India«.

Dabei schien die Gefahr für Sharma zunächst gar nicht greifbar. Sie war 22, als sie heiratete. Vorher hatte sie ihren Zukünftigen schon dreimal getroffen und viel mit ihm am Telefon geredet. Das ist bei arrangierten Ehen in Indien durchaus nicht üblich. »Ich war sehr glücklich«, erinnert sie sich an ihre Hochzeit. Gleich darauf verließ sie das einfache Elternhaus in einem der Slums von Delhi – der Vater war Tischler, die Mutter Hausfrau – und lebte nun bei der Familie ihres Ehemanns in Mathura, einer Stadt 150 Kilometer südöstlich von Delhi. Sharma tat, was von ihr erwartet wurde: Dass ein Ehemann zur Familie seiner Frau zieht, ist nach wie vor und in allen Schichten undenkbar. Vor allem aber brachte Sharma eine ordentliche Mitgift mit. Zwar war ihre Familie in Delhi arm, doch verausgabten sich die Eltern völlig, um ihre älteste Tochter zu verheiraten. Sharma zählt ihre Mitgift auf: »Ein Kühlschrank, ein Fernseher, eine Klimaanlage, ein Bett, ein Schrank, ein Bügeleisen, Edelstahlbesteck, Kindersachen, Silberschmuck, Ohrringe, Fingerringe, Fußringe, eine goldene Halskette, 50.000 Rupien (600 Euro) in bar, eine zweite goldene Kette und goldene Ringe für meinen Mann – meine Eltern hatten dafür viele Jahre gespart«, sagt Sharma. Für sie war das alles ein Vermögen wert. Doch nur für sie.

Drei Monate lang war die neue Familie mit ihrer Schwiegertochter zufrieden. Dann begannen die Sticheleien. »Mein Sohn hätte mit einer anderen Frau mehr Mitgift bekommen können«, tönte die Schwiegermutter. Von nun an verfolgte Sharma eine alte hinduistische Redensart: »Du isst nur und verdienst nichts.« Überall in Indien bekommen eingeheiratete Frauen das zu hören. Doch dürfen sie deshalb noch lange nicht auf Arbeitssuche gehen, vielmehr ist es üblich, die Frau daheim unter Verschluss zu halten. Genau so erging es Sharma: Sie durfte das Haus nicht einmal für Einkäufe verlassen. Ehemann und Schwiegereltern schlossen sie tagsüber ein. »Es war wie im Käfig. Ich konnte mit niemand sprechen«, sagt Sharma. Den ganzen Tag putzte sie und wusch. Über die Küche regierte die Schwiegermutter. Dem Ehemann erschien seine Frau zunehmend nutzlos. Also verlangte er weitere Mitgift. Er mochte dabei gedacht haben, dass das sein gutes Recht war.

Dann wurde Sharma vier Monate nach der Hochzeit schwanger. Es änderte nichts. Schon in dieser Zeit begann ihr Ehemann, sie zu schlagen. Er schlug sie mit einem vier Zentimeter breiten Ledergürtel auf die Beine und den Rücken. Die Gürtelschnalle behielt er in der Hand. Und er stellte immer höhere Forderungen. Ihre Eltern sollten ihr kleines Ziegelhaus in Delhi verkaufen, schlug er vor. Bei jedem Streit verlangte er mehr Mitgift. Bald wurde sie auch von ihrer Schwiegermutter und ihren drei Schwägerinnen geschlagen. »Normalerweise spricht man über solche Dinge nur in der Familie. Ich ging deshalb zuerst zu meinem Schwiegervater und beklagte mich. Doch der machte sich nur über mich lustig«, erzählt Sharma. Bald hörten die Nachbarn täglich ihre Schreie, wenn sie geschlagen wurde. Doch niemand störte sich daran. Denn es gehört zum Alltag, dass der Mann seine Frau schlägt. Er darf sie sogar nach Belieben vergewaltigen. Das Gesetz in Indien kennt keine Vergewaltigung in der Ehe. »Er war ständig über mir und schaute sich dabei Pornos an. Er zwang mich, bestimmte Dinge zu tun. Er biss mich. Hinterher fühlte ich mich jedes Mal vergewaltigt«, sagt Sharma. Doch sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich zu beklagen.

So verging die Zeit. Sharma gebar ihr erstes Kind, Nitin, einen Sohn. Bald wurde sie wieder schwanger. Da geschah es. »Es war ein gewöhnlicher Tag. Die Schwiegereltern waren zu Hause. Ich war schwanger, mein Mann war nicht betrunken«, berichtet Sharma. Wie immer forderte ihr Mann an diesem Tag weitere Mitgiftzahlungen. Doch dieses eine Mal widersprach sie. Das hielt er nicht aus. Der heute 30-jährige Fotoladenbesitzer Bipin Gautam überschüttete an diesem Tag seine Frau mit Kerosin. Er holte dafür einen eckigen Fünf-Liter-Kanister mit weißen Streifen aus der Küche. Dem Tode geweiht, stand sie vor der Haustür. Die Schwiegereltern und Nachbarn – alle konnten sie sehen. Er hatte sogar schon das Feuerzeug in der Hand. Sharma dachte, ihr Ende sei gekommen. Da endlich stürmte ein Nachbar herbei und rettete sie.

Eine normale Szene. Außergewöhnlich war die Rettung. Außergewöhnlich war, dass sich Sharma von nun an wehrte, weil sie verstand, dass ihr Mann sie ermorden wollte. Denn heute sind Brautverbrennungen in Indien weit verbreitet. Sie sind das Ergebnis wachsender materieller Gier in einer patriarchalischen Gesellschaft, deren demokratische Institutionen sich nicht um das Leben der betroffenen Frauen scheren.

Kaum ein Fall wird geahndet. Dabei gibt es für das Verbrechen keinerlei religiöse Rechtfertigung wie etwa früher bei den Witwenverbrennungen. Die Methode ist fast immer gleich: Die Mörder bevorzugen Kerosin. Doch Brautverbrennungen gelten in Indien als Familiendrama, die Zeitungen berichten nur selten davon, Politiker sprechen das Thema nicht an, Gerichte versuchen es zu meiden. Auch bei polizeilich gemeldeten Fällen kommt es daher nur bei einem Drittel zu Gerichtsurteilen. Sharmas Fall bedeutet insofern eine große Ausnahme, als er gerichtlich dokumentiert ist und sie bereit ist, über das Geschehene zu sprechen. Nach dem Mordversuch ihres Mannes flüchtete sie zu ihren Eltern. Ein Gericht sprach ihr das alleinige Sorgerecht für ihren Sohn und die später geborene Tochter Tanu zu. Heute lebt Sharma wieder in der kleinen Ziegelhütte ihrer Eltern in Delhi, die Kinder an ihrer Seite. Wenn sie erzählt, legt der Vater einen Arm um sie. Er unterstützt sie auch bei ihren öffentlichen Auftritten für eine NGO, eine Nichtregierungsorganisation der Hauptstadt.

Doch eine späte Genugtuung ist das alles nicht. Deshalb weint sie auch wieder, als sie erzählt, dass ihr Ehemann bis heute keinerlei Konsequenzen tragen musste. »Die Polizei in Mathura hat ihn immer geschützt«, sagt Sharma unter Tränen. Und natürlich auch die Nachbarn. Auch zu dem Mann, der sie rettete, hat sie keinen Kontakt mehr. Die gute Nachbarschaft war ihm wichtiger.

Die allgemeine Gleichgültigkeit den misshandelten Frauen gegenüber wird noch dadurch gefördert, dass sich Politik und Medien nicht einmischen wollen. Politiker und Journalisten sind stolz darauf, dass in Indien endlich eine neue, prosperierende Mittelschicht entsteht, und fühlen sich ihr zugehörig. Ihnen ist es unangenehm, wenn in dieser Schicht neue Formen des Verbrechens entstehen. Das verdrängt man lieber. Der Fotoladenbesitzer Gautam passt genau ins Bild. Für alle, die ihn kennen, ist er bis heute ein tüchtiger Mann. Und nicht etwa ein potenzieller Mörder.

Wie viele Brautmörder führen in Indien heute ein unbehelligtes Dasein? Es müssen Millionen sein. Bisher ahnte man wenig vom Ausmaß der Morde an jungverheirateten Frauen. Für das Jahr 2010 verbuchte das indische Amt für Kriminalstatistik 8391 tödliche Brautverbrennungen. Das macht fast eine pro Stunde. Auch schon ein Skandal. Doch die amtliche Zahl kann nur die Spitze des Eisbergs sein, da Brautverbrennungen auch von den Familien der Opfer nur in seltenen Fällen der Polizei gemeldet werden – schließlich schadet das Bekanntwerden dem Familienansehen.

Es bedurfte deshalb wissenschaftlicher Untersuchungen, um ein Gesamtbild der Brautverbrennungsfälle in Indien zu schaffen. Dieses ergibt sich heute aus den Berechnungen der nordamerikanischen Ökonomen Debraj Ray und Siwan Anderson. Ihre Forschungen zeigen, dass in Indien jedes Jahr 225.000 mehr Frauen als Männer aufgrund von tödlichen Verletzungen sterben. Ein Großteil dieser Toten sind Brandopfer und lassen sich laut Debraj und Anderson auf Brautverbrennungen zurückführen. Nach den Schätzungen der Forscher gibt es davon über 100.000 pro Jahr – mehr als 270 pro Tag.

Man stelle sich vor, in China oder einem islamischen Land würden jeden Tag 270 wehrlose Frauen von ihren Männern verbrannt – welchen Aufschrei würde es im Westen geben?

Doch das ist nur der Anfang der Geschichte. Denn von den vielen Frauen, die jedes Jahr in Indien aufgrund von Diskriminierung sterben müssen, wird »nur« jede Zwanzigste Opfer einer Brautverbrennung.