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Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1.

2.

3.

4.

5.

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8.

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10.

Report

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Kommentar

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Nr. 2768

 

Der Unglücksplanet

 

Trennung auf der RAS TSCHUBAI – Reginald Bull geht auf eine gefährliche Suche

 

Oliver Fröhlich

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1517 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Milchstraße steht weitgehend unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Dessen Richter behaupten, nur sie könnten den Weltenbrand aufhalten, der sonst unweigerlich die Galaxis zerstören würde.

Eine andere den Menschen bekannte Galaxis wird längst von den Atopen beherrscht: Larhatoon, die Heimat der Laren. Dort sucht Perry Rhodan Hinweise darauf, was die Atopen wirklich umtreibt und wo ihre Schwächen liegen. Dabei gerät er in Gefangenschaft: Die Atopin Saeqaer hält ihn an Bord der WIEGE DER LIEBE gefangen – und schickt ein Double zurück in die Galaxis.

Als der falsche Rhodan auf die RAS TSCHUBAI gelangt, die der Spur des Terraners von der Milchstraße aus gefolgt ist, wird er enttarnt. Kurz danach gelingt es einem Einsatzkommando, den echten Perry Rhodan zu befreien – ohne zu zögern plant er sofort seine nächsten Schritte.

Und auf die Galaktiker wartet DER UNGLÜCKSPLANET ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Reginald Bull – Der Unsterbliche zählt Reiskörner und Spinnen.

Perry Rhodan – Der Terraner führt ein inspirierendes Selbstgespräch.

Quick Silver – Der Androide hat einen Plan.

Goman Gonen Goer – Der Huzzadhi sieht die Zukunft trüber als manch anderer.

1.

Selbstgespräch

1. März 1517 NGZ

 

»Er sieht aus wie du.«

Der Blick des Wachmanns huschte zwischen dem Überwachungsholo im Hochsicherheitstrakt der RAS TSCHUBAI und Perry Rhodan hin und her. Das Holo zeigte einen Gefangenen in seiner kleinen Zelle hinter dem dicken Schott, das zusammen mit einer Prallfeldsäule einen Ausbruch unmöglich machen sollte.

Zusätzlich zu dem terranischen Wächter im Rang eines Korporals sorgten links und rechts der Zelle ein TARA-IX-Inside und ein eiförmiger Posbi mit fünf tentakelförmigen Greifarmen für Sicherheit.

»Das tut er«, bestätigte Rhodan. »Gerade das macht ihn so interessant für uns.«

Er kannte sein Gegenüber nicht. Es wäre auch zu viel verlangt gewesen, innerhalb der kurzen Zeit an Bord alle 35.000 Personen der Besatzung kennenzulernen. Also suchte er auf Brusthöhe der dunkelblauen Bordkombi des Mannes, die Gucky wegen der hautengen Tragweise zuvor erst als Strampelanzug bezeichnet hatte, nach einem Namensschild, fand aber keines.

»Hast du ihn vor deiner Schicht noch nicht gesehen, dass dich die Ähnlichkeit so überrascht? Immerhin hält er sich schon ein Stück länger an Bord auf als ich.«

»Doch, natürlich.« Der Wachmann nickte aufgeregt. »Aber nie im direkten Vergleich zu dir. Es freut mich sehr, nach der Kopie das Original kennenzulernen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Korporal ...«

»Lipshitz. Stanley Lipshitz.«

Rhodan betrachtete das Holo – und den Mann in der Zelle, der sein exaktes Ebenbild darstellte. Nein, mehr als das. Die Ähnlichkeit beschränkte sich nicht auf Äußerlichkeiten. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft war der Schwarze Bacctou, denn um niemand anderen konnte es sich handeln, nicht mehr als ein onyxfarbener Rohling mit humanoider Form gewesen, der allerdings statt Beinen einen Sockel aufwies. Wie eine Statue, deren Bildhauer die Lust verloren hatte, sein Kunstwerk zu vollenden.

Diese Aufgabe hatte der Schwarze Bacctou selbst übernommen. Er hatte Rhodan adaptiert, wie er es formuliert hatte, und sich nicht nur in ein Double mit den gleichen Erinnerungen verwandelt. Vielmehr war er der festen Überzeugung, selbst Rhodan zu sein.

Pseudo-Rhodan war nach der Ankunft auf der RAS TSCHUBAI aufgeflogen und verhaftet worden, auch wenn der echte Rhodan zugeben musste, dass es seinem Doppelgänger lange gelungen war, selbst Gucky oder Reginald Bull zu narren.

»Öffne mir bitte das Schott. Ich will mit ihm reden.«

Lipshitz zeigte sich überrascht. »Du willst ...? Aber ...«

»Gibt es ein Problem?«

»Nein, nein. Es ist nur ... Wenn ich dich hineingehen lasse, wie kann ich sicher sein, dass auch du wieder herauskommst? Ihr tragt ja sogar identische Kleidung.«

Rhodan lächelte. Da nahm jemand seine Aufgabe sehr ernst. Gut so. »Du könntest zum Beispiel auf dem Holo darauf achten, uns nicht durcheinanderzubringen.«

»Aber wenn er dich angreift und es zu einem Handgemenge kommt, kann ich meiner Sache nicht mehr sicher sein.«

»Er wird mich nicht angreifen.«

»Wir sollten ein Kodewort vereinbaren.«

»Zwecklos. Er hat meine gesamten Erinnerungen adaptiert. Vielleicht macht er damit weiter, sobald wir uns wieder unterhalten, und erfährt so das Kodewort.«

Die besorgte Miene von Stanley Lipshitz hellte sich auf. »Ich weiß!« Aus der Brusttasche der Kombi zog er etwas hervor, das als Speichermedium vor Jahrtausenden aus der Mode gekommen war: ein Stück Papier.

Rhodan nahm es entgegen, faltete es auf und betrachtete die Zeichnung. Ein erkennbar mit schnellen Stiftstrichen gezeichneter, aber phantastisch getroffener Gucky, der einem gleich großen Haluter – es lebe die künstlerische Freiheit – eine mit Mohrrüben verzierte Torte ins Gesicht drückte.

Der Terraner schmunzelte. »Was ist das?«

»Ein Holondarium. Cascard Holonder, der dritte Pilot, kritzelt bei Besprechungen häufig solche Szenen und lässt sie liegen. Wie leicht zu erkennen ist, besitzt er einen Hang zum Slapstick. Manche Besatzungsmitglieder nehmen die Zeichnungen mit und sammeln oder tauschen sie. Steck es ein und gib es mir später zurück.« Lipshitz zwinkerte ihm zu. »Ein Behelfsausweis.«

»Wenn es dich beruhigt.«

Der Wachmann desaktivierte an einer Holokonsole die Prallfeldsäule. Er wartete, bis Rhodan vor dem Zellenschott stand, schaltete die Säule hinter ihm wieder ein und nahm erst dann die nächste Schaltung vor. Das rote Leuchtband auf dem Schott wechselte die Farbe zu Blau und glitt zur Seite.

Rhodan trat ein.

 

*

 

Er war Perry Rhodan, der echte Perry Rhodan, auch wenn keiner das glauben wollte. Irgendwann würde er es ihnen beweisen. Irgendwie.

Er ging in der Zelle auf und ab. Fünf Schritte von einer Wand zur anderen. Das Quartier war spartanisch ausgestattet. Eine einfache, aber bequeme Liegemöglichkeit, die ihn in seiner Phantasie vage an die Gefängnispritschen aus den Western-Filmen seiner Jugend erinnerte. Fehlte nur, dass sie an zwei diagonalen Ketten von der Wand hing. Aber soweit würde die LFT nie gehen.

Ein winziger Tisch in der Mitte der Zelle, der nur aus dem Boden nach oben glitt, wenn ein Servo das Essen brachte.

Eine kleine Nische mit einem Hygienebereich, den man von draußen zwar nicht einsehen konnte, den dennoch Sensoren überwachten.

Ein kleines Mediengerät, angeschlossen an den autarken Rechnerkreislauf des Sicherheitsbereiches, der insgesamt vier dieser Zellen enthielt. Man konnte in Auswahl aus einem eingeschränkten Angebot lesen oder sich Holofilme anschauen, aber nicht auf den eigentlichen Positronikverbund der RAS TSCHUBAI zugreifen.

Mehr gab es in seiner derzeitigen Unterkunft nicht zu entdecken, in diesem Kerker, in den seine Freunde ihn gesteckt hatten. Sie vertrauten ihm nicht, bezweifelten, dass er Perry Rhodan war, hielten ihn für ein Werkzeug der Richterin Saeqaer, für eine Schachfigur im Spiel der Atopen.

Natürlich, sie alle hatten im Laufe der Jahrtausende mehr als genug Erfahrung mit Rhodan-Doppelgängern gesammelt. Er brauchte nur an Heiko Anrath, Rhotan Barry oder Andro-Rhodan zu denken, das Androiden-Gehirn, das während des Kosmischen Schachspiels zwischen ES und ANTI-ES seinen Körper übernommen hatte, während er selbst in der fernen Galaxis Naupaum verschollen war.

Er verstand, dass Gucky und Bully vorsichtig sein mussten, zumal die Flucht aus der CHEMMA DHURGA in die LUCVAIT sehr unerwartet für sie gekommen sein durfte. Er hatte Glück gehabt. Sollte er sich dafür entschuldigen? Machte ihn das weniger vertrauenswürdig?

Rhodan beendete den eintönigen Spaziergang von Wand zu Wand zu Wand und setzte sich auf die Liege. Was konnte er tun, um seine Aufrichtigkeit zu beweisen?

Ein leises sphärisches Summen erklang. Das Signal, dass sich gleich das Tischchen aus dem Boden erheben würde. War etwa schon wieder Essenszeit? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen, auch wenn man in einer Zelle schnell das Zeitgefühl verlor.

Die Tür glitt zur Seite, doch es war kein Servo, der ihn besuchte. Stattdessen betrat ein Mann das Quartier, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah.

Rhodan wusste, was das bedeutete: Der Schwarze Bacctou war an Bord gekommen – und es war ihm gelungen, die Mannschaft der RAS TSCHUBAI zu täuschen.

Das Schott schloss sich hinter dem Doppelgänger, und ein Schemel entstand neben dem Tisch. Der falsche Rhodan setzte sich.

»Lass uns reden.«

 

*

 

»Kaum bin ich der Gefangenschaft der Richterin entkommen, schon gerate ich in die nächste. Und diesmal in die meiner eigenen Leute. Ironisch, findest du nicht?«

»Das wäre es, wenn es der Wahrheit entspräche. Aber du bist nicht Perry Rhodan. Du warst auch nicht Saeqaers Gefangener. Du bist der Schwarze Bacctou, ihr Diener.«

»Natürlich, du kannst es nicht einmal vor mir zugeben, weil wir abgehört werden. Dennoch wissen wir beide, dass du der Schwarze Bacctou bist. Oder es warst, bevor du dich in mein Ebenbild verwandelt hast. Wie hast du es geschafft, sie alle zu überzeugen? Bully, Farye? Sogar Gucky, der dich am leichtesten durchschauen müsste?«

»Das war nicht schwer. Ich habe ihnen die Wahrheit gesagt, nämlich dass ich Perry Rhodan bin.«

Sekundenlanges Schweigen. »Oh, ich verstehe. Du glaubst es tatsächlich! Deshalb kann dich nicht einmal ein Telepath überführen.«

»Du irrst dich. Auch wenn Gucky nicht mehr annähernd über die Fähigkeiten früherer Zeiten verfügt, ...«

»Das brauchst du mir nicht zu erklären. Ich kenne ihn schon sehr lange, weißt du?«

»... so hat er den Doppelgänger sehr wohl identifiziert, wenn nicht auf Anhieb. Er hat einen Rest deines ehemaligen Selbst in dir entdeckt, einen winzigen Kern, der tief in der Kopie meines Bewusstseins in dir schlummert.«

»Unsinn. Ich habe mich ihm geöffnet. Er hat mich untersucht und bestätigt, dass ich Rhodan bin. Du bluffst!«

»Warum sollte ich? Wäre ich der Doppelgänger, hätte ich mein Ziel längst erreicht. Alle würden meine Lügengeschichte glauben, der echte Perry Rhodan säße sicher weggesperrt in einer Zelle. Wie du sagtest: Wir werden beobachtet und abgehört. Wieso sollte ich also behaupten, Gucky hat dich enttarnt, wenn es nicht stimmt und jeder, der uns zuhört, diese Lüge sofort durchschauen könnte? Was gäbe es mit einem plumpen Bluff zu gewinnen?«

Erneutes Schweigen. »Ich weiß es nicht.« Pause. »Vielleicht hast du etwas in mir hinterlassen, während du dich in mich verwandelt hast. Etwas, das Gucky fälschlicherweise mir zurechnet.«

»Da wir beide davon überzeugt sind, der richtige Rhodan zu sein, werden wir diesen Streitpunkt nicht lösen können.«

»Lass uns dennoch um der Diskussion willen für einen Augenblick annehmen, ich wäre dein Doppelgänger. Dann beantworte mir eine Frage: Was macht einen Menschen zu dem, was er ist?«

»Ich erinnere mich an ein Zitat von Konfuzius: Der Mensch hat drei Wege, klug zu handeln. Erstens durch Nachdenken, das ist der edelste. Zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste. Drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste. Der Mensch wird zu dem, was er ist, durch sein Handeln, durch seine Erfahrung.«

»Ich stimme dir zu, was uns beide nicht überraschen dürfte. Aber alles Handeln und Sammeln von Erfahrungen nützte ihm nichts, wenn er sich nicht daran erinnern könnte. Richtig?«

»Natürlich.«

»Wenn ich also tatsächlich nur eine Kopie wäre, die sich an dein Handeln, an deine Erfahrungen erinnern könnte, würde mich das nicht zu mehr als einer bloßen Kopie machen?«

»Nein. Denn auch wenn du dich daran zu erinnern glaubst, warst nicht du es, der die Erfahrungen gesammelt und aus seinem Tun gelernt hat. All das wurde dir von außen eingegeben.«

»Du hast Konfuzius zitiert. Lass mich mit Wilhelm von Humboldt kontern. Was nicht im Menschen ist, kommt auch nicht von außen hinein. Ich frage dich noch einmal: Wenn alle Erinnerungen, Erfahrungen, Moralvorstellungen, Vorlieben und Abneigungen, wenn also alles, was einen Menschen ausmacht, in einem identischen Wesen verlustfrei dupliziert wird, ist dann wirklich einer von beiden nur eine Kopie? Existieren nicht stattdessen zwei Originale? Hat einer von ihnen ein geringeres Recht darauf, das Leben, an das er sich erinnert, weiterzuleben?«

»Das sind interessante Überlegungen, aber sie gehen von falschen Voraussetzungen aus. Erstens sind wir nicht identisch. Ich wurde von zwei Menschen gezeugt, von meiner Mutter ausgetragen und zur Welt gebracht. Du hingegen bist aus einem schwarzen ... Rohling entstanden, auf welchem Weg auch immer. Außerdem trägst du, wenn ich dich daran erinnern darf, weiterhin einen Kern deines wahren Ichs in dir.«

»Was ich, wenn ich dich daran erinnern darf, bezweifle oder zumindest für einen Trick der Richterin halte.«

»Zweitens geschah das Duplizieren ohne meine Zustimmung. Ich bin das Opfer eines Identitätsdiebstahls. Du bist der Täter. Es steht also außer Zweifel, dass ich jedes Recht habe, mein bisheriges Leben fortzuführen. Du hingegen ...« Zögern.

»Ja? Ich habe keinerlei Recht auf das Leben, an das ich mich erinnere? Ich soll ein eigenes führen? Mit deinem Gesicht, deinem Wesen, deinem Ich in mir? Passiert damit nicht genau das, was du gerade anprangerst? Wird mir nicht meine Identität gestohlen? Wird mir nicht verboten, der zu sein, der ich nun einmal bin? Wo bleibt da die Moral?«

»Ich ... weiß es nicht.«

Erneutes sekundenlanges Schweigen, dann ein kurzes Auflachen. »Was für ein Glück, dass unsere Diskussion rein hypothetisch ist und ich keineswegs die Kopie bin. Sondern du.«

»Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären.«

»Ich mache dir einen Vorschlag. Lass uns herausfinden, wie identisch wir wirklich sind, und ob sich das auch auf die Teile erstreckt, die wir einer gewissen Superintelligenz zu verdanken haben.«

»Du meinst die Zellaktivatorchips?«

»Richtig. Sichu Dorksteiger soll überprüfen, ob Unterschiede zwischen ihnen bestehen. Vielleicht finden wir auf diesem Weg heraus, wer von uns das Recht hat, sein altes Leben fortzuführen.«

Schweigen. Länger als bisher. Dann: »Ich habe dir bereits gesagt, dass die Frage der Identität geklärt ist. Für eine Untersuchung gäbe es also keinen Grund. Ich stimme trotzdem zu, wenn auch nur, weil ich hoffe, dass du danach endlich die Wahrheit akzeptierst.«

»Das Gleiche gilt für mich, Bruder.«

2.

Geschundene Welt

 

Die Kälte klirrt,

und jeder irrt

durch Gletscher, Eis und Schnee.

Das Volk: betäubt.

Doch ein Mann sträubt

sich gegen Leid und Weh.

Führt uns alsbald

zu Wild und Wald:

Zi Zeralym Zysree.

(aus »Heldenlieder der Sigolater«)

 

»Jede Katastrophe gebiert ihre eigenen Helden.«

Die Stimme von Ada Assra Agala klang alt und brüchig, zog die Zuhörer innerhalb des verfallenen Mauerrings aber in ihren Bann.

Goman Gonen Goer brauchte sich nicht zur Geschichtenerzählerin umzudrehen, um zu wissen, dass die wenigen Kinder ihr an den spröden Lippen hingen und lauschten. So wie es die Kinder der Generationen vor ihnen seit dem Ende der Vierten Maschinellen Epoche getan hatten und wie es die Kinder späterer Generationen tun würden.

Wenn es dann noch welche gab.

Goman Gonen Goers Hinterhauptschal erzitterte. Er spürte die Vibration am Hals und bis hinab zu den Schultern. Ein leises Schaben erklang, doch auf diesen Laut der Verzweiflung achtete niemand. Alle lauschten der alten Ada; auch die, die dem Kindesalter längst entwachsen waren und die Geschichten bereits viele Male gehört hatten.

Selbst Goman, der jedes Wort auswendig kannte, hörte zu, während er auf der Mauer stand und auf die zerstörte Welt außerhalb des Rings starrte.

»Was glaubst du?«, fragte eine Stimme. »Wozu hat man die Geschichtenarena früher benutzt?«

»Peven!«, sagte Goman nach kurzem Blick zur Seite. »Solltest du nicht dem Allabendlichen Erinnern lauschen?«

Peven Pesh Pennery lachte leise. »Und was ist mit dir?«

»Ada erzählt die Geschichte vom Ende der Ersten Maschinellen Epoche. Ich habe sie oft genug gehört.«

»Ich auch. Außerdem sitzt der Bürgermajor zu nahe an meinem Lieblingsplatz. Ich habe keine Lust auf ihn und den Dreckschrazz, den er später gewiss von sich gibt. Also, wozu diente das Gebäude damals?«

»Als Ratssitz oder Gemeinsamkeitsgewölbe, nehme ich an.« Übrig geblieben war der schartige Außenmauerring, in dessen Innerem Süßgras und Schlitzblattstauden die Geröllberge aus eingestürzten Innenmauern, Dachplatten und Sonnenkollektoren überwucherten. Ein Ort, wie geschaffen für die verbliebenen Hundertzwanzig Einwohner von Ponten-Süd und deren tägliches Erinnerungsritual. »Warum fragst du? Du wirkst nachdenklich. Ist es wegen deines Auges?«

»Mit meinem Auge ist alles in Ordnung«, fauchte Peven ihn an.

»Wir haben viel gemeinsam erlebt, mein Freund. Kaum waren unsere Hauptschals ergrünt, haben wir den gleichen Mädchen nachgejagt. Wir haben die Huzzadhi-Ausbildung zusammen durchlaufen und Seite an Seite unsere Schlachten geschlagen. Die in der Luft gegen die Khazzyr und die auf dem Boden gegen die verheerende Wirkung des Jolla-Beer-Suds bei den Siegesfeiern. Meinst du nicht, ich habe die Wahrheit verdient?«

»Die Zeiten haben sich geändert, mein Freund. Es gibt nichts mehr zu feiern. Dafür waren die Siege zu teuer erkauft. Damals gab es noch hundert oder mehr von uns. Und heute? Jämmerliche acht Huzzadhi sind übrig geblieben. Ich werde euch nicht im Stich lassen, nur weil dir mein Auge nicht gefällt. Weißt du, was wir uns geschworen haben? Immer zusammen, nie mehr getrennt. Ich gedenke, den Schwur einzuhalten.«

»Das ehrt dich. Aber sieh dich an! Der Farbhof ist zersplittert. Das Gelb läuft ins Augenweiß aus. Du weißt, was das bedeutet.«

»Zu viel eingeatmete Khazzyr-Gase. Blindheit. Ein Mann weniger für die Verteidigung von Ponten-Süd.«

»Du musst aufhören, Peven. Es ist zu gefährlich geworden.«

»Was soll dieser Dreckschrazz? Ich wollte dir auf deiner Mauer etwas Gesellschaft leisten und keine Vorträge hören. Da hätte ich mich auch zum Bürgermajor setzen können. Ich gehe lieber zu Lalo.«

Goman versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Dazu war Peven Pesh Pennery zu stur, schon immer gewesen.

»Niemand weiß, wie lange die Erste Maschinelle Epoche zurückliegt«, sagte Ada Assra Agala in der Geschichtenarena. »Man erzählt sich von funkelnden Metallinsekten, die zu Abermillionen in der Luft schwirrten und das Licht der Sonne Loy Lo tranken, von den Wärmeparks in den Feuchten Höhen und von ...«

»... Häusern, die zu den Sternen und darüber hinaus flogen«, sprach Goman Gonen Goer die vertrauten Worte stumm mit.

»Raketen!«, rief ein junger Sigolater dazwischen, ein vorlauter Bengel namens Neslin Nuzz. Noch zu unreif für einen Mittelnamen, aber stets der Meinung, alles besser zu wissen. Trotzdem war er der Einzige, dem Goman zutraute, eines Tages den Huzzadh zu ergreifen und die Gemeinschaft zu verteidigen – falls er bis dahin noch lebte. »Das müssen Raketen gewesen sein. Ich habe niemals fliegende Häuser gesehen.«

Nun wandte sich Goman doch von den Ruinen der Stadt ab, von den skelettierten Rundtürmen, die im Licht der untergehenden Sonne Loy Lo rot schimmerten, von den verfallenen Fabriken, den abgeknickten Luftbrückenpfeilern, den abgestürzten Trassen der Schwebebahnen. Ein letzter Blick in den Himmel – wolkenlos und leer –, verbunden mit der Hoffnung auf einen ruhigen Tagesausklang und eine friedliche Nacht, dann sprang er von der Mauer und gesellte sich zu den Lauschern des Allabendlichen Erinnerns.

»Mag sein, Neslin Nuzz«, erwiderte Ada Assra Agala. »Mag sein. Du hast aber auch nie eine echte Rakete gesehen. Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. So viel ist verloren gegangen, seit die Seinsdämonen die Sigolatwelt als Spielball ihrer Launen auserkoren haben. So viel Wissen, so viel Information, so viele Geschichten. Wir können es nicht rückgängig machen. Aber mit dem Allabendlichen Erinnern wollen wir versuchen, wenigstens den Rest zu erhalten.«

Goman Gonen Goer setzte sich auf einen Steinbrocken in der Nähe des Bratfeuers. Fünf Jäger hielten an hitzebeständigen Stahlholzstäben winzige Ve-Vazcadym-Schenkel in die Flammen. Sie gaben einen widerlich tranigen Brandgeruch ab. Das in die Glut tropfende Fett stank beinahe so fürchterlich, wie das Fleisch schmeckte.

Aber die Sigolater lebten nicht in einer Zeit, in der man anspruchsvoll sein durfte. Außer den Ve Vazcadym gab es kaum noch jagdbares Wild. Sie waren nahrhaft, sättigend und leicht zu erbeuten, zumindest wenn man einen robusten Magen besaß und sich vom Dreckschrazz und den Fortpflanzungssekreten in den Höhlen der nackthäutigen, sechsbeinigen Kröten nicht schrecken ließ. Sie halfen, das Überleben der wenigen verbliebenen Sigolater aus Ponten-Süd zu sichern. Da verkam der Geschmack der Mahlzeiten zur Nebensache.

Ponten-Süd, dachte Goman. Der Name deutete darauf hin, dass es noch andere Stadtteile gab, doch weit gefehlt. Sie existierten lange nicht mehr, lagen in Schutt und Asche. Was aus den anderen Städten in der Nähe geworden war, wusste niemand. Der Kontakt zu Nevellec oder Yde war bereits zu einer Zeit abgebrochen, ehe Goman zum ersten Mal den Huzzadh ergriffen hatte.

Ponten-Süd war kein Teil einer Großgemeinsamkeit mehr, sondern der Unterschlupf eines jämmerlichen Haufens Überlebender. Längst tot, aber zu stolz, um es sich einzugestehen.

Und die Jäger waren keine Jäger mehr, sondern eine Handvoll Sammler, die im Kot und Glibber widerlicher Nacktkröten wühlten und genauso rochen.

Goman Gonen Goer schüttelte die trüben Gedanken ab und lauschte wieder Ada Assra Agalas Geschichte vom Untergang der Ersten Maschinellen Epoche.

»All ihr Wissen nützte unseren Vorvätern und Urmüttern nichts, als Loy Lo im Zentrum des Himmels für einige Jahrzehnte an Wärme und Strahlkraft verlor. Die Sigolatwelt vereiste, und keiner konnte es verhindern. Heute nennen wir diese Zeit das Winterjahrhundert, obwohl niemand mehr weiß, wie lange die Kälte anhielt. Die Licht trinkenden Metallinsekten starben, die Wärmeparks gefroren, die Sternenhäuser verharrten auf dem Boden. Die meisten Tiere und Pflanzen erfroren – und die meisten Sigolater.«

»Warum?«, fragte ein Mädchen. Es war höchstens fünf Jahre alt. »Die Sonne kann doch nicht einfach aufhören zu scheinen.«

Es schaute in den Himmel über der Geschichtenarena, als suche es nach Loy Lo, aber der Tagesstern war bereits hinter dem Mauerring versunken. Der Abend war nicht mehr fern.

»Auch das weiß heute niemand mehr, kleine Ladana. Die Wissenschaftler der Ersten Maschinellen Epoche kannten gewiss eine Erklärung, aber sie half ihnen nicht, die Sigolater zu retten.«

»Die Seinsdämonen!«, rief ein Junge dazwischen. Neslin Nuzz, das vorlaute Bürschchen. Wer sonst? »Mein Vater hat erzählt, sie waren für die Kälte verantwortlich.«

»Warum sollten sie so etwas Böses tun?«, fragte Ladana.

»Weil ihnen nicht gefiel, was die Sigolater trieben. Du hast es gehört: Sie flogen zu den Sternen und darüber hinaus. Sie haben sich erhoben und versuchten, den Seinsdämonen gleichzukommen. Also belegten diese die Sonne Loy Lo mit einem Schleier und straften die Sigolater.«

Ada schlug die vom Alter dunkelgrünen Schläfenschals als Zeichen der Zustimmung unter dem Kinn zusammen. »Wie du weißt, Neslin, ist das eine Frage des Glaubens. Haben die Seinsdämonen uns geschaffen und beobachten uns? Lenken sie unser Schicksal?«

Neslin Nuzz' Vater hatte daran geglaubt. Vor einem Jahr hatte er verkündet, dass sich kein Sigolater gegen den Willen der Seinsdämonen stemmen könne, dass der Kampf vergebens sei. Er hatte gefordert, jeder solle den gleichen Mut aufbringen wie er und Ponten-Süd den Rücken gekehrt. Allein und ohne Waffen. Er hatte seinen Sohn zurückgelassen und war in den sicheren Tod außerhalb der kleinen Gemeinschaft gegangen.