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Manfred Geier

Martin Heidegger

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Manfred Geier

Manfred Geier lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaft an den Universitäten Marburg und Hannover. Jetzt lebt er als freier Publizist und Privatdozent in Hamburg.

Buchveröffentlichungen: «Kants Welt. Eine Biographie» (2003), «Worüber kluge Menschen lachen. Kleine Philosophie des Humors» (2006), «Die Brüder Humboldt. Eine Biographie» (2009), «Aufklärung. Das europäische Projekt» (2012). Außerdem mehrere Bände in der Reihe rowohlts enzyklopädie sowie die Rowohlt-Monographien «Karl Popper» und «Der Wiener Kreis».

Über dieses Buch

Rowohlt E-Book Monographie

 

Martin Heidegger, der aus dem Kleinen eines provinziellen Lebens kam, inszenierte sein Leben und Denken als schicksalhafte Suche eines Metaphysikers nach dem «Geheimnis des Großen». In dramatischen Rückfällen und stets neuen Anläufen erschien es dem einflussreichen Denker als Gott, Dasein, Sein, Nationalsozialismus, schließlich als Dichtung und als Technik.

In dieser kurzen Biographie erfährt der Leser alles Wichtige über Leben und Werk den großen Philosophen.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Impressum

rowohlts monographien

begründet von Kurt Kusenberg

herausgegeben von Uwe Naumann

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2014

Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier

Umschlaggestaltung any.way, Hamburg, nach einem Entwurf von Ivar Bläsi

Umschlagabbildung Ullstein Bild, Berlin [Martin Heidegger, um 1964]

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Satz CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN Printausgabe 978-3-499-50665 (1. Auflage 2005)

ISBN E-Book 978-3-644-51761-5

www.rowohlt.de

 

Querverweise beziehen sich zwar im Wortlaut auf die Seitenangabe der Printausgabe, führen Sie jedoch per Klick auch im E-Book an die korrekte Stelle.

ISBN 978-3-644-51761-5

Anmerkungen

1

Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Frankfurt a.M. 1975ff.; im Text als GA zitiert.

2

Martin Heidegger und Elisabeth Blochmann: Briefwechsel 1918–1969. Hg. von Joachim Storck. Marbach am Neckar 21990; im Text als Blo zitiert.

3

Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795). In: dtv-Gesamtausgabe. Band 19. München 1966, S. 132

4

Ebd., S. 134

5

Fritz Heidegger: Ein Geburtstagsbrief (1969). In: Martin Heidegger zum 80. Geburtstag von seiner Heimatstadt Meßkirch. Frankfurt a.M. 1969, S. 60

6

Ebd., S. 62

7

M. Heidegger: Zur Sache des Denkens. Tübingen 1969, S. 72

8

Ebd., S. 74

9

Hannah Arendt/Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975. Frankfurt a.M. 32002, S. 113; im Text als Are zitiert.

10

F. Heidegger: Ein Geburtstagsbrief, a.a.O., S. 58

11

Ebd., S. 59

12

Ebd., S. 61f.

13

Ebd.

14

Ebd., S. 61. Zum «Meßkircher Kulturkampf» vgl. Victor Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus. Frankfurt a.M. 1989, S. 50ff.; Hugo Ott: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie. Frankfurt a.M./New York 1992, S. 46f.

15

M. Heidegger: Zur Sache des Denkens, a.a.O., S. 81

16

Ebd., S. 82

17

Zit. nach H. Ott: Martin Heidegger, a.a.O., S. 67

18

Martin Heidegger/Heinrich Rickert: Briefe 1912 bis 1933 und andere Dokumente. Hg. von Alfred Denker. Frankfurt a.M. 2002, S. 12

19

Ebd., S. 20

20

Zit. nach H. Ott: Martin Heidegger, a.a.O., S. 92

21

M. Heidegger: Zur Sache des Denkens, a.a.O., S. 86

22

Tagebuch von Engelbert Krebs. Zit. nach H. Ott: Martin Heidegger, a.a.O., S. 101

23

Zit. nach H. Ott: Martin Heidegger, a.a.O., S. 106

24

Zit. nach Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München/Wien 1994, S. 133

25

Martin Heidegger/Karl Jaspers: Briefwechsel 1920–1963. München/Frankfurt a.M. 1992; im Text als Jas zitiert.

26

M. Heidegger/H. Rickert: Briefe, a.a.O., S. 48

27

Hans-Georg Gadamer: Philosophische Lehrjahre. Frankfurt a.M. 1977, S. 210

28

Karl Jaspers: Philosophische Autobiographie. München 1977, erw. Neuausgabe, S. 95

29

Zit. nach Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Stuttgart 1986, S. 30

30

M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Stuttgart 2003, S. 35

31

H.-G. Gadamer: Philosophische Lehrjahre, a.a.O., S. 212

32

M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a.a.O., S. 14

33

Ebd., S. 22

34

Ebd., S. 23

35

Ebd., S. 24

36

Ebd., S. 28

37

Ebd.

38

H.-G. Gadamer: Philosophische Lehrjahre, a.a.O., S. 215

39

Vgl. Elzbieta Ettinger: Hannah Arendt. Martin Heidegger, München–Zürich 1995; Ludger Lütkehaus: Hannah Arendt – Martin Heidegger. Eine Liebe in Deutschland. Marburg a.d. Lahn 1999; als Romanstoff: Catherine Clément: Martin und Hannah. Berlin 2000

40

Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin. Berlin/Wien 2003, S. 102

41

Ebd., S. 29

42

Zit. nach H. Ott: Martin Heidegger, a.a.O., S. 125

43

M. Heidegger: Zur Sache des Denkens, a.a.O., S. 88

44

Vgl. Theodore J. Kisiel: The Genesis of Heidegger’s «Being and Time». Berkeley/Los Angeles/London 1993; Hans-Ulrich Gumbrecht: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt a.M. 2002

45

M. Heidegger: Zur Sache des Denkens, a.a.O., S. 87

46

Vgl. Thomas Rentsch: Heidegger und Wittgenstein. Stuttgart 1985; Manfred Geier: Heidegger, Wittgenstein und die letzte Warumfrage. In: Ders.: Das Glück der Gleichgültigen. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 67–83

47

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Vorrede. In: F. Nietzsche: Werke II. Hg. von Karl Schlechta. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1979, S. 561

48

M. Heidegger: Zur Sache des Denkens, a.a.O., S. 88

49

Zit. in Martin Heidegger: Briefe an Max Müller und andere Dokumente. Freiburg i. Br./München 2003, S. 123

50

Vgl. M. Geier: Kants Welt. Reinbek bei Hamburg 2003

51

Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (1918). Hamburg 2001

52

Vgl. Dominic Kaegi und Enno Rudolph (Hg.): Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation. Hamburg 2002; Heinz Paetzold: Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Darmstadt 1995, S. 86–105

53

Vgl. Michael Friedman: Carnap – Cassirer – Heidegger. Geteilte Wege. Frankfurt a.M. 2004

54

Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt. Wien 1928 (Frankfurt a.M.–Berlin–Wien 1979); R. Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie. Berlin 1928 (Frankfurt a.M. 1966). Vgl M. Geier: Der Wiener Kreis. Reinbek bei Hamburg 1992

55

R. Carnap: Tagebuch 18. März 1929. Zit. nach M. Friedman: Carnap – Cassirer – Heidegger, a.a.O., S. 22

56

Bericht von Ludwig Englert. Zit. nach Karlfried Gründer: Cassirer und Heidegger in Davos 1929. In: Hans-Jürg Braun, Helmut Holzhey und Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M. 1988, S. 290–302, S. 299

57

Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer. Hildesheim 1981, S. 182f.

58

Zur «Kehre» vgl. Dieter Thomä: Stichwort: Kehre. In D. Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Stuttgart/Weimar 2003, S. 134–141; Winfried Franzen: Von der Existenzialontologie zur Seinsgeschichte. Meisenheim am Glan 1975

59

Zit. nach H.-G. Gadamer: Philosophische Lehrjahre, a.a.O., S. 217

60

Edmund Husserl: Briefwechsel. Hg. von Karl Schuhmann. Dordrecht/Boston/London 1993. Band II, S. 184 (Brief an Alexander Pfänder, 1931)

61

Heinrich Wiegand Petzet: Auf einen Stern zugehen. Begegnungen mit Martin Heidegger. Frankfurt a.M. 1983, S. 18

62

R. Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Hubert Schleichert (Hg.): Logischer Empirismus – Der Wiener Kreis. München 1975, S. 149–171, S. 160

63

Ebd., S. 168ff.

64

Ebd., S. 170

65

Zit. nach V. Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus, a.a.O., S. 123

66

Vgl. Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger. Bern 1962; H. Ott: Martin Heidegger, a.a.O.; Bernd Martin (Hg.): Martin Heidegger und das «Dritte Reich». Darmstadt 1989; Victor Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus, a.a.O.

67

Hermann Heimpel. In: Günther Neske (Hg.): Erinnerung an Martin Heidegger. Pfullingen 1977, S. 116

68

Vgl. Bernd Martin: «Alles Große ist gefährdet» – der Fall Heidegger. In: B. Martin (Hg.): Martin Heidegger und das «Dritte Reich», a.a.O., S. 3–13

69

Vgl. Jacques Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage. Frankfurt a.M. 1988

70

Zit. nach B. Martin (Hg.): Martin Heidegger und das «Dritte Reich», a.a.O., S. 173/175

71

Zit. ebd., S. 214

72

Zit. nach V. Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus, a.a.O., S. 232

73

Zit. nach Jas, 255; vgl. H. Ott: Martin Heidegger, a.a.O., S. 241

74

Zit. nach H. Ott: Martin Heidegger, a.a.O., S. 244

75

Zit. nach ebd., S. 235

76

Vgl. Jürg Altwegg (Hg.): Die Heidegger-Kontroverse. Frankfurt a.M. 1988; Alexander Schwan: Politische Philosophie im Denken Martin Heideggers. Köln 1965; Otto Pöggeler: Philosophie und Politik bei Heidegger. Freiburg i. Br./München 1972; Peter Kemper (Hg.): Martin Heidegger. Faszination und Erschrecken. Frankfurt a.M. 1990; Philippe Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen. Stuttgart 1990; Richard Wolin: Seinspolitik. Wien 1991; Gottfried Schramm und Bernd Martin (Hg.): Martin Heidegger und die Politik. Freiburg i. Br. 2001

77

Vgl. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Franfurt a.M. 1990, S. 474–487

78

Brief Adornos, 3.1.1963. In: Gesammelte Schriften. Band 19. Frankfurt a.M. 1984, S. 638

79

Brief Adornos, 3.1.1963. In: Gesammelte Schriften. Band 19. Frankfurt a.M. 1984, S. 638

80

Carl Friedrich von Weizsäcker: Begegnungen in vier Jahrzehnten. In: G. Neske (Hg.): Erinnerung an Martin Heidegger, a.a.O., S. 246

81

K. Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, a.a.O., S. 58. Den Hinweis auf das Hakenkreuz am Kostüm Elfride Heideggers verdanke ich dem Augenzeugen Hermann Heidegger.

82

R. Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, a.a.O., S. 171

83

Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft Nr. 125. In: F. Nietzsche: Werke II, a.a.O., S. 400f.

84

Vgl. H. Ott: Martin Heidegger, a.a.O., S. 281

85

In: Heidegger-Studien 10 (1994), S. 5–11

86

Zit. nach H. Ott: Martin Heidegger, a.a.O., S. 306

87

M. Heidegger: Briefe an Max Müller und andere Dokumente, a.a.O., S. 139

88

Zit. nach H. Ott: Martin Heidegger und der Nationalsozialismus. In: Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie. Frankfurt a.M. 1988, S. 64–77, S. 65

89

Zit. nach V. Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus, a.a.O., S. 373

90

Hannah Arendt und Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969. Hg. von Lotte Köhler und Hans Saner. München 1985, S. 178

91

Jean-Paul Sartre: Ist der Existenzialismus ein Humanismus? In: Ders.: Drei Essays. Frankfurt a.M./Berlin 1966, S. 9

92

Zit. nach R. Safranski: Ein Meister in Deutschland, a.a.O., S. 404

93

J.-P. Sartre: Ist der Existenzialismus ein Humanismus? a.a.O., S. 25

94

Ebd., S. 35

95

Heinrich Wiegand Petzet. In: G. Neske (Hg.): Erinnerung an Martin Heidegger, a.a.O., S. 179–190

96

Martin Heidegger – Erhart Kästner: Briefwechsel 1953–1974. Hg. von K.W. Petzet. Frankfurt a.M. 1986, S. 22

97

Ebd., S. 26

98

Ebd., S. 43

99

G. Neske. In: G. Neske (Hg.): Erinnerung an Martin Heidegger, a.a.O., S. 298f.

100

Vgl. Zollikoner Seminare. Protokolle–Zwiegespräche–Briefe. Hg. von Medard Boss. Frankfurt a.M. 21994

101

Otto Friedrich Bollnow. In: G. Neske (Hg.): Erinnerung an Martin Heidegger, a.a.O., S. 29

102

Martin Heidegger – Bernhard Welte: Briefe und Begegnungen. Hg. von Alfred Denker und Holger Zaborowski. Stuttgart 2003, S. 150

Vorwort

Als Martin Heidegger am 27. Mai 1933 bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg am Ende seines Vortrags die Herrlichkeit und Größe des völkischen Aufbruchs pries, zitierte er eine alte griechische Weisheit: «Alles Große steht im Sturm …» (GA 16, 117)[1] Das war, wie er wusste, eine recht eigenwillige Interpretation von Platons nachdenklicher Feststellung «megala panta episphale», die alles Große, wörtlich übersetzt, als «bedenklich, zum Fallen geneigt und gefährdet» charakterisiert hatte. Heidegger kannte auch den politischen Hintergrund des Zitats. Der philosophische Einsatz Platons für den Tyrannen aus Syrakus war gescheitert. Doch warum verschob Heidegger jene tiefe und weite Besonnenheit, die er auch in Platons Aussage vernahm, 1933 ins Heroische eines großen Sturms?

Heideggers kurzfristiges Sympathisieren mit der inneren Wahrheit und Größe des Nationalsozialismus (GA 40, 208) hat die Auseinandersetzung mit seiner Person und seinem Werk nachhaltig politisiert. Gestritten wird um das komplementäre Problem: Wie konnte dieser große Denker vor allem 1933/34 der nationalsozialistischen Propaganda auf den Leim gehen? Oder gibt es in seiner Philosophie eine Disposition zum Totalitarismus des Dritten Reichs? So unausweichlich diese Fragestellung auch sein mag, hat sie doch Heideggers Leben und Philosophieren problematisch verkürzt oder in ein schiefes Licht gerückt. Denn wenn man sein ganzes Werk überblickt, dann bildet «Heidegger und der Nationalsozialismus» nur eine Etappe auf einem langen Weg, zu dem von Anfang an die Herbheit des Gespaltenseins, der Rückfälle u. neuen Anläufe (Blo, 7)[2] gehörte.

Das Bild von Rückfall und Anlauf verweist auf die «Größe», die Heidegger anstrebte. Sein ganzes Leben war von der Idee beherrscht, Großes zu denken und zu tun. «Größe» war zwar keine philosophische Kategorie für ihn. Aber ohne ihre orientierende Macht hätte Heidegger seinen Denkweg nicht gehen können. Der Mensch muß erst selbst im Grunde seines Wesens groß werden, um die großen Dinge zu sehen und in ihre Gefolgschaft zu treten. (GA 16, 284) Darin sah er die zentrale Aufgabe seiner geistigen Arbeit.

Der Philosoph, der aus kleinen Verhältnissen kam, wollte nicht in der Beständigkeit des Kleinen verharren, in dem stumpfen Eigensinn des alltäglich Immer-Selbigen, das sich gegen jeden Wandel sperrt. Er wollte das Geheimnis des Großen verstehen, um sich daran selbst zu erhöhen. Aber was waren die großen Dinge, denen er zu folgen suchte?

Heidegger war ein Meister der Verschiebung. Sein Wunsch nach Größe blieb zwar lebenslang gleich wirksam, und seine immer wieder neuen Anläufe und Rückschläge demonstrieren ein einzigartiges geistiges Abenteuer. Aber im Lauf der Zeit veränderten sich die Größen, nach denen er strebte. Stand am Beginn die Heimat, weil Heidegger in ihrer vertrauten Einfachheit das Rätsel des Bleibenden und des Großen (GA 13, 89) verwahrt glaubte, so traten nacheinander Gott, Dasein, Sein, Nichts, deutsches Volk, ursprüngliches Denken und große Dichtung an ihre Stelle. Am Ende aber stand das Gestell der planetarischen Technik, das ins Riesenhafte wuchs. Wie eine letzte, ernüchterte Einsicht liest sich, was Heidegger im «Spiegel-Gespräch» am 23. September 1966 festgestellt hat: Für uns Heutige ist das Große des zu Denkenden zu groß. (GA 16, 683) So blieb schließlich nur eine stille Gelassenheit, mit der sich Heidegger ins große Welt-Geviert von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen einfügen wollte.

Ich habe versucht, den einzelnen Etappen von Heideggers Denkweg zu folgen, den er selbst als schwankend und umstellt von Rückschlägen und Irrgängen (GA 66, 411) erlebte. Es war auch ein Weg durch die großen Illusionen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die in Heideggers Werk ihren philosophischen Ausdruck gefunden haben. Heideggers Irren hat exemplarischen Wert. Alles Streben zum Größten ist zum Fallen geneigt. In seinem Todtnauberger Text Aus der Erfahrung des Denkens kommentierte Heidegger seine Spruchweisheit Wer groß denkt, muss groß irren mit dem Hinweis: Die Irrnis der großen Denker (positiv gedacht) ist noch nicht bemerkt. (GA 13, 254) Vielleicht hat er sich auch darin getäuscht.

Heimat 1889–1903

Am 26. September 1959 wurde Martin Heidegger Ehrenbürger seiner Heimatstadt Meßkirch. Es war an seinem 70. Geburtstag. Das war ein guter Anlass, sich wieder einmal an das Heimatliche zu erinnern, in dem er sich noch immer verwurzelt fühlte. Er dankte seinen Mitbürgern und dachte sich zurück in das Gewesene, das heißt in jenes, was versammelt noch währt und uns bestimmt (GA 16, 559). Es war eine besinnliche Rede, in der das so lang zurückliegende Leben des Kindes und jungen Mannes in Meßkirch nicht als vergangen zur Sprache kam, sondern als gewesen, noch immer lebendig und bestimmend also, auch wenn es nur in der Erinnerung präsent war.

Es war ein gebrochener Tonfall, mit dem Heidegger von seinen heimatlichen Wurzeln sprach. Denn er dankte und dachte im Bewusstsein der Heimatlosigkeit, die für ihn zum Wesen des modernen Menschen gehörte. Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal, hatte er schon im Herbst 1946 in seinem Brief über den «Humanismus» an den französischen Freund Jean Beaufret geschrieben und dabei vor allem Karl Marx zugestimmt, der von Hegel her und aus der Heimat vertrieben die Entfremdung des Menschen (GA 9, 339) erfahren und wie kein anderer in ihrer geschichtlichen Tiefendimension erkannt hatte. In zahlreichen Reden und Aufsätzen hat Heidegger vor allem in den fünfziger Jahren die Spannung zwischen Heimat und Heimatlosigkeit dramatisiert, zwischen den unscheinbaren Kräften des Heimischen und der Gewalt des Unheimischen, zwischen Bodenständigkeit und Entwurzelung. Noch seine allerletzte handschriftliche Notiz galt diesem Widerstreit. Wenige Tage vor seinem Tod am 26. Mai 1976 hat er ein Grußwort an den neuen Ehrenbürger der gemeinsamen Heimatstadt Meßkirch gesandt, seinen befreundeten Landsmann und Kollegen Bernhard Welte: Es bedarf der Besinnung, ob und wie im Zeitalter der technisierten gleichförmigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann. (GA 13, 243)

Es war kein «naiver» Begriff der Heimat, den Heidegger entfaltete. Denn Heidegger fühlte sich bedrängt durch das Bewusstsein, dass Heimat als solche unwiederbringlich verloren zu gehen drohte. Die Vergegenwärtigung des Heimatlichen entsprach jenem «sentimentalischen Interesse»[3], das Friedrich Schiller gegen naive Illusionen als ein Zeichen des Verlustes reflektiert hatte. Der Mensch der Neuzeit kann nicht mehr, wie die Griechen, natürlich und heimatlich empfinden. Er kann nur noch an das Natürliche und das Heimatliche denken wie an ein verlorenes Gut. Sein Gefühl für Natur und Heimat «gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit»[4]. Doch nicht von Schiller, sondern von Novalis ließ sich Heidegger das entscheidende Stichwort geben. Denkwürdig schien ihm eine fragmentarische Notiz dieses romantischen Philosophen zu sein, der die Grundstimmung des Philosophierens als Heimweh identifiziert hatte: «Die Philosophie ist eigentlich Heimweh, ein Trieb überall zu Hause zu sein.» Heidegger wusste, dass dieses «Heimweh» in der Moderne zu einem fast schon unverständlichen Wort geworden war, selbst im alltäglichen Leben. Aber er hielt es dennoch für eine treffende Chiffre, um eine grundlegende philosophische Stimmung zu bezeichnen. Denn auch für ihn war Philosophieren Ausdruck dieses Heimweh-Triebes. Wer philosophiert, zielt auf das In-der-Welt-Sein, um in diesem Ganzen wohnen zu können, aus dem er immer schon vertrieben worden ist: Ein solcher Trieb kann Philosophie nur sein, wenn wir, die philosophieren, überall nicht zu Hause sind. (GA 29/30, 7)

Auch die Heimat bedrängte Heidegger nur als gewesen und fern. Je mehr ihm bewusst wurde, dass wir die Erwartung an das Heimatliche der Heimat nicht mehr weiterhegen (GA 16, 711) dürfen, desto sentimentalischer wurde sein Heimweh. Vor allem dem alemannischen Dichter Johann Peter Hebel fühlte er sich verwandt, dessen heimatliche Naturempfindung und natürliche Muttersprache Heidegger bewunderte, weil er in seinen «Alemannischen Gedichten» (1803) und seinem «Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes» (1811) das Unscheinbare zum Scheinen gebracht hatte aus der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat. Das Wesen der Heimat gelangt erst in der Fremde zum Leuchten. (GA 13, 123f.)

Als Heidegger am 27. September 1959 sein Wort des Dankes an die lieben Mitbürger und Gäste in Meßkirch richtete, zitierte er auch Friedrich Nietzsches «Der Philosoph ist eine seltene Pflanze». (GA 16, 560) Er braucht seinen eigenen Boden, in dem er wurzelt, um ins Freie und Weite wachsen zu können. Das gleiche Bild fand Heidegger auch bei Hebel; und mehrmals hat er es im Andenken an seine eigene Herkunft zitiert, die ihm so viel auf seinen langen Wegen des Denkens mitgegeben hatte: «Wir sind Pflanzen, die – wir mögen’s uns gerne gestehen oder nicht – mit den Wurzeln aus der Erde steigen müssen, um im Äther blühen und Früchte tragen zu können.» (GA 13, 150; GA 16, 521) Als Erde galt Heidegger alles, was uns sinnlich nährt und trägt, vor allem jene Tiefe des heimatlichen Bodens, auf dem der Mensch stehen kann in seiner Beständigkeit. Über ihm erstreckt sich der ätherische Himmel, den Heidegger als offenen Bereich des Geistes (GA 16, 521) verstand, in dessen nicht-sinnliche Höhe der Mensch hinaufsteigen können muss, wenn sein Werk gelingen soll.

 

Am 26. September 1889 wurde Martin Heidegger in Meßkirch geboren. Siebzig Jahre später hat er in seiner Ehrenbürger-Dankesrede selbst darauf hingewiesen, dass dieser heimatliche Boden, die Erde und der Himmel über ihm nichts Auffallendes haben, nichts Ungewöhnliches, nichts Hervorragendes (GA 16, 560). Meßkirch ist nur ein kleines Landstädtchen, gelegen in einer kargen und rauen Landschaft zwischen Bodensee, oberer Donau und Schwäbischer Alb. Hoch ragt nur das mächtige Schloss, flankiert durch die im spätgotischen Stil erbaute St.-Martins-Kirche, an der Heideggers Vater, neben der Arbeit als Küfermeister, seinen Kirchendienst leistete. Nichts Ungewöhnliches also, aber doch Heimat, in der der junge Martin die spendenden und heilenden und bewahrenden Kräfte des Heimischen (GA 16, 576) erleben konnte.

Es war eine «sorglose Jugendzeit»[5], die Martin und sein fünf Jahre jüngerer Bruder Fritz (1894–1980) vor allem dem einfach umgrenzten Lebenskreis (GA 16, 594) ihres Elternhauses verdankten, das weder arm noch reich war. Als «kleinbürgerlich wohlhabend» in materieller Hinsicht hat es der Bruder charakterisiert, wobei in der Familie das Zeitwort «sparen» groß geschrieben wurde.

Der Vater, Friedrich Heidegger (1851–1924), war «ein großer Schweiger»[6], der jahraus, jahrein fleißig als Küfer in seinem Ein-Mann-Betrieb arbeitete, zehn Stunden am Tag und sechs Tage in der Woche. In der Werkstatt dieses wortkargen Mannes, wo er das Kiefern- und Eichenholz für die Kübel, Zuber und Fässer zurichtete, bastelten auch seine beiden Söhne gern. Die Härte und der Geruch des Eichenholzes werden Martin Heidegger sein Leben lang sinnlich gegenwärtig bleiben. Aus der Eichenrinde schnitzten die Kinder ihre Schiffe, die sie dann im Bach oder im Schulbrunnen schwimmen ließen.

Oft folgten sie ihrem Vater auch auf dem Feldweg ins Gehölz, wo er das Material für seine Arbeit holte. Dann sahen und hörten sie, wie mitten im Wald eine Eiche unter dem Schlag der Holzaxt fiel und sonnige Waldblößen (GA 13, 88) den Wald hell werden ließen. Der dunkle, dicht verwachsene Wald, der altertümlich «Dickung» genannt wurde und in dem man sich so leicht verirren konnte, lichtete sich in die Offenheit der «Lichtung», wo im Licht der Sonne und unter dem Blau des Himmels alle Dinge am reinsten sichtbar werden konnten. Etwas lichten bedeutet: etwas leicht, etwas frei und offen machen, z.B. den Wald an einer Stelle frei machen von Bäumen. Das so entstehende Freie ist die Lichtung[7], wird Heidegger noch 1964 erläutern, um die Aufgabe des Denkens zu bestimmen. In den Lichtungen kann das Licht des Denkens einfallen, um mit dem Dunklen streiten und spielen zu können. Denn auch das Dunkle braucht die Lichtung. Wie könnten wir sonst in das Dunkle geraten und es durchirren?[8]

So also hatte Martin Heidegger in den heimatlichen Wäldern das Lichten jener Lichtung (GA 4, 56) kennengelernt, das er später in den Mittelpunkt seiner Philosophie der ursprünglichen Natur («physis») und der Wahrheit stellen wird. Das griechische «physis» wird ihm als Aufgehen in das freie Offene verstehbar sein, als ein Hervorgehen und Sichöffnen, bei dem sich die Dinge in ihrem Aussehen («eidos», «idea») zeigen können; und als Wahrheit wird er das Unverborgene («aletheia») zu denken versuchen, in dem die heimatliche Erfahrung der Waldlichtungen nachwirkt.

Ebenfalls in den Wäldern um Meßkirch wurden Martin Heidegger die Holzwege vertraut, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören (GA 5, Motto). Vor allem die Holzmacher und Waldhüter wussten sie zu nutzen. Doch auch der Philosoph wird sich viele Jahre später noch an diese früh erfahrenen Holzwege (GA 5) erinnern und 1949 eine Sammlung seiner Vorträge unter ihrem Namen veröffentlichen: Sie gehen in die Irre. Aber sie verirren sich nicht. (GA 13, 91)

Im gleichen Jahr wird Heidegger auch dem Feldweg seiner Jugend, der unmittelbar hinter dem Hofgartentor begann und in sanften Windungen durch Wiesen und Felder zum Ehnfried verlief, eine Schrift der Erinnerung und Orientierung widmen. Es kam ihm darauf an, wieder auf den Zuspruch des Feldweges zu hören und gegen die zerstreute Weglosigkeit des Menschen noch einmal den Sinn dessen zu vernehmen, wovon auch die hohe Eiche am Waldrand einst zu ihm gesprochen hatte: dass in ihrem langsamen und steten Wachstum allein gegründet wird, was dauert und fruchtet: daß wachsen heißt: der Weite des Himmels sich öffnen und zugleich in das Dunkel der Erde wurzeln (GA 13, 88). Nur im Schutz der tragenden Erde ließ sich der Anspruch des höchsten Himmels erfüllen. Auf diesem Feldweg lernte Heidegger, wovon und wohin er sich sein Leben lang führen ließ. Er strebte nach dem Großen, Weiten und Freien, das sich ihm im anfänglich Kleinen, Sanften und Begrenzten gezeigt hatte.

Vom Ehnfried kehrt der Weg zurück zum Hofgartentor, und hinter dem Schloss ist der Turm der St.-Martins-Kirche zu sehen, in dem nicht nur der Vater als Mesner, vor allem bei Taufen, Trauungen und Beerdigungen, tätig war und auch bei der Turmuhr und den Glocken seinen Dienst tat. In diesem Kirchturm spielten seine Buben gern, und oft haben sich ihre Hände an den Seilen heiß gerieben, wenn sie die alte Glocke unter den Schlägen des Stundenhammers erzittern ließen. Der Glockenturm war die Mitte des Lebenskreises unserer Jugend: die Glocken und die alte Turmuhr. Was uns dorthin rief und dort festhielt, war stets halb Dienst, halb Spiel. Sogar der Rhythmus der Spiele, die wir anderswo – im Hofgarten oder in der Hägelemühle oder am Mettenbach – pflegten, war vom Turm her bestimmt. (GA 16, 595) Besonders in der Sommerzeit verbrachten die Brüder ihre Spielnachmittage, nach dem Unterricht in der Meßkircher Volks- und Bürgerschule, die Martin Heidegger von 1895 bis 1903 besuchte, in der Glockenstube oder im höchsten Gebälk des Turms bei den Zifferblättern der Turmuhr. Dort oben hauste ich viel bei den Dohlen und Mauerschwalben und träumte in das Land[9], wird Heidegger mehr als ein halbes Jahrhundert später am 27. Juli 1950 an Hannah Arendt schreiben; und 1954 hat er dem Geheimnis des Glockenturms einen seiner schönsten Erinnerungstexte gewidmet. Hier klang noch einmal das Spiel der Glocken nach, das die Kindheit durchtönt hatte. Die kirchlichen Feste, der Lauf der Jahreszeiten, die mittäglichen und abendlichen Stunden waren durch den Klang der Glocken geheimnisvoll ineinander gefugt, so daß immerfort ein Läuten durch die jungen Herzen, Träume, Gebete und Spiele ging (GA 13, 115).

Täglich um drei Uhr nachmittags läuteten die beiden Mesnerbuben die kleinste Glocke. Dafür unterbrachen sie ihre Spiele auf dem «Marktbrückle» vor dem Rathaus, wo sie ihre Murmeln laufen ließen, oder ihre Fang- und Ballspiele im Hofgarten. Martin und Fritz waren keine Wunderkinder. «Nicht einmal zu Musterknaben hat es gereicht», wird der Bruder Fritz zum 26. September 1969 in seinem Geburtstagsbrief an den achtzigjährigen Jubilar schreiben, dessen Jugendjahre vor allem durch seine Freude am Sport mitgeprägt waren. Martin Heidegger war ein begeisterter Fußballspieler, ein gewandter Turner am Reck und am Barren, «im Sommer ein guter Schwimmer und im Winter ein flotter Schlittschuhläufer auf dem Eisweiher neben der Hegelemühle»[10]. Und auch an die Lausbubereien, Indianergefechte und Kämpfe mit den Kindern aus dem Nachbardorf Göggingen wird Fritz dabei erinnern. «Bei unserer Truppe spieltest Du den Hauptmann, geschmückt mit einem stattlichen eisernen Säbel»[11], was kein geringer Vorteil gegenüber dem Gegner war, dessen Soldaten nur mit Holzsäbeln bewaffnet waren. Man war mit vollem Ernst bei der Sache, aber genoss zugleich «die Wohltat einer seitdem nie mehr erlebten stetigen Schwerelosigkeit» und eines heimatlichen Glanzes, der auf allen Spielen lag.