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Thomas Reich

Christoffer

Teil I-III





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Serienmörder Christoffer Teil I-III: Sammelband

Serienmörder Christoffer

 

Teil I-III: Sammelband

 

 

 

 

Thomas Reich

Text Copyright © 2001 - 2009

Thomas Reich

Alle Rechte vorbehalten.

 

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mit Änderungen

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

 

Christoffer

 

 

 

 

 

 

 

Thomas Reich

Über das Buch:

 

Man muss keine Emotionen spüren, um welche zu zeigen. Christoffers Seelenleben gleicht einem harten Block aus Eis, der von tiefen Furchen und Rissen durchzogen ist. Enttäuscht vom Leben entwirft er sein eigenes Wertesystem: Er nimmt sich, was er braucht... und wehe dem, der sich ihm in den Weg stellt...

 

Christoffer ist der nette Nachbar von nebenan, ein freundlicher Arbeitskollege... und gnadenloser Serienmörder

Jahrelang hielt ein grausamer Serienmörder Deutschland in Atem. Achtzehn Menschen starben durch seine Hand, jeder auf eine andere Weise. Meist nahm der Mörder die Lippen seiner Opfer an sich. Eine Angewohnheit, die seitens der Presse den Spitznamen „Der Küsser“ einbrachte.

Christoffer ist ein Sadist. Auch wenn es uns ekelt, müssen wir uns vorstellen, dass er sich in das Leid und den Schmerz seiner Opfer hinein versetzt hat. Dass er erregt war und von Freude erfüllt. Mir gegenüber hat er es nicht zugegeben, aber ich vermute, dass er sich mit den Opfern identifizierte. Er war zu feige, sich selbst zu töten, also mussten Andere für ihn sterben. Er ist ein morbider Pessimist, alles fällt letzten Endes auf ihn zurück. Es gab Ansätze, die ihn als Nekrophilen bezeichnen. Mit einigen seiner Opfer hatte er nach dem Todeszeitpunkt Sex. Er sammelte Teile seiner Opfer. Sein primäres Fetischobjekt waren weibliche Lippen. Er tötete nicht, um Sex zu haben. Wenn er es tat, war er ein eiskalter Killer ohne Emotionen. Die Tötung als solche diente nur der Beseitigung möglicher Zeugen. Es ist- Ich wage es kaum auszusprechen- ein praktischer Vorgang, eine Notwendigkeit. Keiner seiner Sexualpartner wäre zu seinen Bedingungen bei ihm geblieben. Die logische Konsequenz kennen wir leider.

Ich will Ihnen Einblick in die Psyche Christoffers gewähren. Ich habe mich mit seiner Biographie befasst, ehemalige Nachbarn und Arbeitskollegen von ihm befragt, Klassenkameraden und Freunde, da keine direkten Verwandten seinen Hass überlebt hatten. An dieser Stelle möchte ich mich insbesondere bei Magnus Sommerberg, dem leitenden Ermittlungsbeamten, bedanken, der mir nach dem Prozess eine wertvolle Hilfe bei meinen Recherchen war.

Ich habe versucht, sein Leben, seinen ihm eigenen Alltag in diesem Roman darzustellen. Und dies aus seinem Blickwinkel. Ich denke, seine Taten sprechen für sich. Christoffer verbüßt eine lebenslängliche Strafe in der JVA Stammberg.

 

 

Der Verfasser

Der Hammer

Christoffer wurde in einem kleinen Dorf im Schwabenland als erstes von zwei Kindern geboren. Seine Mutter arbeitete als Volksschullehrerin im nahen Heilbronn, seinem Vater gehörte eine Metallwarenfabrik, die hauptsächlich Federn und mechanische Teile herstellte. Die ersten drei Jahre seines Lebens verbrachte er behütet im Haus seiner Eltern, spielte mit Bauklötzen und Murmeln wie andere Kinder auch. Seine Mutter hatte damals eine Kinderpause eingelegt und kümmerte sich rund um die Uhr um ihn. Eines Tages nahm sie ihn beiseite um ihm Änderungen zu erklären, die ihn bald betreffen würden. Christoffer spielte mit seinen Stofftieren.

„Christoffer, kannst du deinen Frosch mal zu Seite legen? Die Mami möchte mit dir reden.“

„Ja Mami.“

„Ich gehe nächste Woche wieder arbeiten. So wie früher.“

„Was maddu da?“

„Ich bringe anderen Kindern Sachen bei. In einer Schule.“

„Wasfü Sachen?“

„Das verstehst du in ein paar Jahren. Wenn du selber in eine Schule gehst. Das heißt aber, dass ich nicht mehr den ganzen Tag für dich Zeit habe. Deswegen bringe ich dich in den Kindergarten.“

„Was ist Kinnegada?“

„Da sind andere Kinder wie du. Die spielen auch mit dir. Und die Mami holt dich jeden Abend um fünf Uhr ab.“

„Juhu, Kinnegada, Kinnegada!“


*


Wie sich herausstellen sollte, war dies der Beginn von Christoffers Martyrium. Es verlief alles gut, Seine Mutter setzte ihn ab, die Kindergärtnerin zeigte ihm, wo er alles finden konnte. Es gab einen Waschraum mit Toiletten und Waschbecken, wo sich die Kinder die Zähne putzten. Die Zahnputzbecher waren Werbegeschenke der Firma Elmex mit einem aufgedruckten Krokodil das eifrig darauf bedacht war, seine Beißer sauber zu halten. Einen Speisesaal für Frühstück und Mittagessen. Ein großes Spielzimmer mit Maltisch und einem persönlichen Fach für jedes Kind, wo es seine Habseligkeiten aufbewahren konnte. Ein Gemeinschaftsschlafsaal mit einer kleinen Filmleinwand an der grauen Backsteinwand, wo gelegentlich Zeichentrickfilme liefen (jedenfalls laut der Erzieherin). Eine Leseecke und eine Spielecke. Draußen befanden sich große Rasenflächen mit Rutsche und Sandkasten. Eine kleine Seilbahn. Büsche, in denen man verstecken spielen konnte. Der Herbst hatte die Büsche kahl gemacht, so dass sie keinen Schutz boten. Nebenan befand sich der Hort für die älteren Kinder.

Er wurde auch den anderen Kindern vorgestellt. Zu viele Namen, als dass er sie sich alle auf einmal hätte merken konnte. Er hatte Zeit seines Lebens ein schlechtes Namensgedächtnis.

Die Kinder waren zunächst nicht feindselig. Doch bereits in diesem frühen Stadium neigen Kinder zu ersten Cliquenbildungen. Dem Anführer der vorherrschenden Clique fiel schnell auf, dass der kleine Christoffer eine Igelfrisur hatte. Bis zum Mittag hatte er ihn als Klobürste bezeichnet. Bis zum Nachmittag hatte sich dieser Begriff als Spitzname für ihn durchgesetzt. Bis zum nächsten Tag hatte Christoffer die Rolle des Außenseiters besetzt. Sie spuckten in sein Essen. Sie versteckten seine Zahnbürste. Sie nahmen ihm die Malstifte weg und machten sich einen Spaß daraus, wie er ihnen nachjagte. Sie triezten ihn, bis er ausrastete. Und wenn er sich mal wehrte und sie verprügelte, wurde er von der Erzieherin immer als der Anstifter hingestellt. Zur Strafe bekam er kein Mittagessen.

Das war die Zeit, wo Christoffer zum Bettnässer wurde. Nach jedem Mittagsschlaf wurde seine Bettwäsche gewechselt, seinen Pyjama hängten die Erzieherinnen zum Trocken für alle sichtbar auf (Was seine Position innerhalb der Gruppe nicht gerade stärkte).

Von seiner Mutter erfuhr er keine Hilfe. Die Erzieherinnen erzählten von seinem Bettnässproblem. Christoffer berichtete ihr, wie ihn die anderen tagein tagaus ärgerten. Sie sagte ihm, er solle sich nicht so anstellen. Er würde mit der Zeit Anschluss an die Gruppe finden. Christoffer fand keinen Trost, keinen Zuspruch, kein Verständnis. Er zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Seine Mutter arbeitete wieder in Teilzeit. Sein Vater hatte nie Zeit. Er arbeitete bis in den späten Abend. Danach wollte er erst einmal seine Ruhe haben. Er legte sich aufs Sofa und sah fern. Christoffer erinnerte sich nicht daran, das seine Eltern sich jemals geküsst oder in den Arm genommen hätten. Die Ehe seiner Eltern war asexuell, von keiner besonderen Herzlichkeit geprägt. Sein Vater und seine Mutter hatten sich mehr oder weniger auseinander gelebt, die Gewohnheit hielt sie weiterhin jahrelang zusammen. Jeder lebte für sich im selben Haus. Die Mahlzeiten wurden nicht gemeinsam eingenommen, ein jeder aß in seiner Ecke. Man kann mutmaßen, ob sie sich hätten scheiden lassen, sobald die Kinder aus dem Haus waren. Ihr Tod würde ihnen die Entscheidung abnehmen.


*


In der Schule wurde es nicht besser. Dieselben Widersacher, die ihm bereits im Kindergarten zugesetzt hatten, waren nun in seiner Klasse und setzten ihm weiterhin zu. Seine Aggression wuchs. Harro schmiss er einen Stuhl hinterher, der an der Heizung zerschellte. Heiko biss er in den Arm. Seine Klassenlehrerin nahm ihm beim Schulfest ein Brett mit einem rostigen Nagel ab, mit dem er einen Mitschüler über das halbe Schulgelände jagte. Die Erwachsenen sahen in ihm nur ein schwieriges Kind. Er wollte Anerkennung, die ihm keiner gab. Von Anderen und gegen Andere. Dafür wurde er noch kritisiert. Gewalt war für ihn zum Synonym für Zuwendung geworden. War er gewalttätig, schenkte man ihm Aufmerksamkeit. Niemand liebte ihn, weil er brav war. Meistens fühlte er sich sehr einsam. Abstruse Alpträume plagten ihn jede Nacht. In seiner Spielzeugsammlung war ein Ding, das er fürchtete. Ein gelber kleiner Hund mit einem Körper aus ummanteltem Draht. Er respektierte es wie ein Eingeborener Neu Guineas eine unbarmherzige gesichtslose Gottheit. Nie hätte er es gewagt, das hagere Tier wegzuschmeißen. Es würde den Weg aus dem Mülleimer finden und seine Rache wäre grausam. Er traute sich nicht länger auf den Speicher hoch denn das war das Reich der Donnerhunde.

In der Nacht wurde er durch die Gänge des kleinen Tengelmann-Marktes an der Ecke gejagt. Die Neonröhren suchten ihn mit gierigen Blicken, die Donnerhunde liefen aufrecht und schossen Metallstäbe durch die Gliedmaßen der Menschen. Wo sie getroffen waren, verwandelte sich das Fleisch in Plastik. Mit Gewalt wurde Macht über Menschen erlangt, sie wurden auf die Ebene von Objekten reduziert, wo sie dann besessen werden konnten. Christoffer verstand dieses Muster damals nicht, die Träume hingegen hatten ihn genauso verängstigt wie erregt. Eines war jedem Traum gleich: er wurde verfolgt. Bei lauten Geräuschen warf er sich zu Boden und legte die Hände schützend über den Kopf. Er war zu jung für eine Kriegsneurose, aber das Leben kümmerte sich nicht weiter darum. Eines Morgens wachte er mit einer Idee auf, die so hell leuchtete wie eine Fackel.


*


Der kleine Christoffer aß seine Cornflakes. Draußen der Frühling so hell, Sonne und Wacholder in der Luft. Christoffer hatte keine Angst mehr. Als die Mutter schlief, hatte er den Hammer aus dem Keller geholt. Aus Papas alter Werkzeugkiste. Hatte ihn mit klopfenden Herzen in seinem Schulranzen deponiert. Es würde ihn keiner mehr ärgern oder triezen, er konnte sich verteidigen. Nur zum Schutz, sagte er sich, als er seine Hush Puppies anzog. Sicherheit Wärme & Licht durchfluteten seinen Körper. Auf dem Schulhof war er ein Teil von ihnen. Zum ersten Mal. Deutschunterricht in der zweiten Klasse. Aus Buchstaben wurden Wörter, aus Wörtern Sätze und aus Sätzen war die Welt gemacht. Weniger als eine Stunde von dem Moment, wo der in ihm brodelnde Vulkan zum ersten Mal ausbrechen würde. Eine Stundenfliege ließ ihre Minuten auf dem Lineal der Lehrerin. Christoffer ertrug die Blicke der Anderen. Sie waren Menschen, ihm vertraut doch zwischen ihnen & ihm lag eine gigantische Mauer. Er war immer der letzte, der in eine Sportmannschaft gewählt wurde. Nachmittags fuhr er mit dem Fahrrad das Neubaugebiet ab, klingelte wie ein aussichtsloser Vertreter an den Türen, fragte Eltern, ob ihre Kinder zum Spielen hinauskommen durften. Keiner hatte Zeit für ihn… Keiner. So fuhr er alleine nach Hause, wo ihm seine Oma gezuckerte Pfannkuchen machte und er sich tschechische Kinderserien ansah. Nichtsdestotrotz hatte er Freunde. Zwei an der Zahl. Einmal, so erinnerte er sich, hatte er mit einem von ihnen einen Mitschüler verfolgt. Sie hatten ihn mehrere Kilometer gejagt, bis sie ihn fingen und dazu zwangen, Knallerbsen zu zerbeißen. Er selbst hatte es vorher ausgetestet & wusste wie ekelhaft das war. Er suchte nach Wegen, andere leiden zu lassen wie ihn.

Eines der beliebtesten Spiele seiner Klassen-Kameraden(-!Schweine) war es, ihm einen Gegenstand aus seinem Besitz abzunehmen. Wie so viele Male zuvor war es seine Jacke. Noch im Lauf packte Christoffer in seinen Ranzen und ergriff den Hammer. Hitze und Kälte durchfluteten ihn abwechselnd. Er schwang ihn wie eine Keule über seinem Kopf. Kein Lehrer war anwesend, Christoffer allein mit den Anderen. Hände griffen nach ihm. Christoffer spürte das Knacken brechender Fingerknochen, die sein Hammer streifte. Zentimeter um Zentimeter machte er den Abstand zu diesem Bastard wett. Seine Klassenlehrerin Frau Wagner stürmte herein & kreischte seinen Namen. Hatte also jemand gepetzt. Im selben Augenblick hatte er die Distanz zu seinem Widersacher überschritten. Es kam nur zu einem einzigen Hammerschlag, ausreichend jedoch, um die Schulter von Mark Panto zu zertrümmern. Mark brach zusammen. Seine Hand gab Christoffers Jacke frei.

Christoffer verstand nicht das Geschrei, dass alle Umstehenden veranstalteten. Wieso sollte er der Böse sein? Der Böse lag vor ihm, niedergestreckt durch seinen Hammer. Es war Notwehr & Rache zugleich. Frau Wagner schüttelte ihn verständnislos durch, sie schrie. Aus Reflex biss Christoffer sie in den Arm.

In der Zeit bis der Rettungswagen eintraf, fiel der Unterricht für die Klasse 2d aus. Es war nicht möglich, zum normalen Tagesgeschehen zurückzukehren. Seine Mutter wurde auf der Arbeit angerufen. Christoffer hatte Angst vor ihr. Er war allein. An der Wand. Die restlichen Kinder standen in einer Ecke und tuschelten über ihn. Manchmal drehte sich ein Kopf und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Zwei Jahrzehnte später würde ihn der Prozessauftakt an diesen Morgen erinnern.

Nach mehreren unschlüssigen Minuten wurde er unter Aufsicht der Sekretärin in den Klassenraum der Mathematiknachhilfe verfrachtet. Seine Mutter nahm sich mehrere Tage Urlaub. Sie weinte und fragte ihn immer wieder, warum er es getan hatte. Christoffer musste die Schule wechseln und wurde von seiner Mutter zur Kinder-und Jugendberatungsstelle geschleift. Die Beratungsstelle befand sich in einem alten Fachwerkhaus nahe der Michaeliskirche. Christoffer erinnerte sich, wie er Bilder gemalt hatte, Bauklötze gestapelt hatte und von einer dicken Frau gefragt wurde, ob er denn nicht mit anderen Kindern spielen wolle. Alles in allem eine große Scheiße. Er fiel genau in die Zeit der großen Ökowelle Mitte der Achtziger. Die damaligen Priester in Erziehungsfragen predigten den Antiautärismus. Eine Bande von Birkenstockträgern und Idioten. Sie waren bestimmt nicht in der Lage, eine adäquate Antwort auf Christoffers Probleme zu bieten. Die einzig schöne Erinnerung, die er an seine Therapiestunden hatte, war, wenn die dicke Matrone ihren Schreibblock bekritzelte und er in Ruhe mit der Murmellaufbahn aus Buchenholz spielen konnte. Die Kugeln liefen geordnet in vorgegebenen Bahnen. Sie schlürfte zufrieden ihren Tee, wenn er dieses Spiel mitspielte.


*


Spiegel: Wie hatten Sie ihn in Erinnerung?

Fr. Wagner: Wissen Sie, ich hatte in all den Jahren so viel Kinder unterrichtet. Da ist es schwierig, einzelne Namen zu behalten. Aber an Christoffer erinnere ich mich.

Spiegel: Wieso gerade an ihn?

Die alte Frau öffnete einen Knopf und schob den Ärmel ihrer Bluse hoch. Ein Unterarm, nichts weiter. Wenn da nicht der Abdruck wie ein Zifferblatt wäre, der sich in einer dunkleren Farbe abzeichnete.

Fr. Wagner: Da hat er mich gebissen. Hat ein Stück Fleisch rausgerissen, das kleine Miststück, und es gegen die Wand gespuckt. Da war er mit einer Aufgabe früher fertig als seine Kameraden und durfte sich ein raussuchen. Stattdessen schlug er wiederholt mit seinem Zeichenblock gegen die Wand. Ich wollte ihn übers Knie legen als er mich biss.

Spiegel: War er denn sonst auch ein aggressives Kind?

Fr. Wagner: Normalerweise durften die Kinder damals nach kurzer Zeit den Bleistift als Schreibgerät gegen einen Füllfederhalter eintauschen. Ich hatte Angst, einen Füller in Christoffers Händen zu wissen. Ich hielt es für eine zu gefährliche Waffe. Er hatte bereits einer Mitschülerin den Bleistift in die Hand gerammt. Mit Beginn der zweiten Klasse war es ihm gestattet, genauso zu schreiben wie die Anderen.

Spiegel: In seinem zweiten Schuljahr er eignete sich der Zwischenfall mit dem kleinen Panto.

Fr. Wagner: Wissen Sie, ich habe viele Jahre darüber nachgedacht. Ich glaube, dass es ein Hilfeschrei war. Zumindest will ich das glauben. Die Alternative wäre schlimmer.

Spiegel: Er legte damit ein Verhalten an den Tag, was ihm unter Umständen einen Platz als Anführer einer Gruppe hätte sichern können.

Fr. Wagner: Durch sein Aufbegehren gegen die bestehenden Autoritäten? Weit gefehlt. Er hatte nie das Zeug zum Anführer. Als Kind war er ein mürrischer Eigenbrötler. Er hatte oft Mühe, sich im Umgang mit seinen Klassenkameraden zu beherrschen. Überhaupt fiel es ihm schwer zu begreifen, dass Andere es nicht immer böse mit ihm meinten.

Spiegel: Waren Sie überrascht, als Sie sein Gesicht in der Tagesschau sahen?

Fr. Wagner: Ja und nein. Er war ein aggressiver kleiner Junge, aber ich konnte nicht ahnen, zu was er sich entwickeln würde. Wir dürfen nicht zu voreilig Rückschlüsse ziehen. Wie schnell würden wir da ein Kind vorverurteilen? Teilweise bedaure ich es, dass er nicht mehr aus sich zu machen wusste. Er schien mir ein aufgewecktes Kind zu sein. Intelligent, definitiv. Er konnte um Ecken denken.

Spiegel: Was ihn vielleicht jahrelang vor dem Zugriff der Polizei beschützt hat?

Fr. Wagner: Ja, es ist traurig.

(Aus der Zeitschrift Spiegel vom Juli 2005)

Geburtstage

Vielleicht sollte ihnen in Christoffers Lebensgeschichte ein besonderer Stellenwert zukommen. Gerade dieser eine Tag im Jahr war es doch, der einen kleinen Jungen weiterbrachte auf seinem Weg ein Mann zu werden. Eine Reifeprobe. Christoffer hatte seinen Geburtstag auch schon in kleiner Runde gefeiert, wenn nur ein Gast gekommen war. Seine Mutter versuchte, ihn bei Laune zu halten, dennoch war die Frustration deutlich. Christoffer hatte versucht, seinen einzigen Freund, der gekommen war, mit einem Stein aus dem Gartenteich zu erschlagen. Auf Geburtstage anderer Kinder wurde er nicht mehr eingeladen seit Manuels Geburtstag.

Manuel war einer seiner Mitschüler, der ihm die Einladung zu seiner Geburtstagsfeier hauptsächlich deswegen gab, weil er eine große Runde wollte. Nicht weil er Christoffer mochte.

Christoffer kam wirklich, auch wenn sein Verhalten keine Freudigkeit zeigen wollte. Er hockte entnervt in einer Ecke, war sich der nur vorübergehenden Duldung durch die Anderen bewusst. Die üblichen Partyspiele machten ihm keinen Spaß, und er zog sich seine Jacke an und wollte gehen. Manuels Vater wollte ihn aufhalten, Christoffer wehrte sich trotzig dagegen. Letzten Endes siegte die klare Vernunft von Manuels Vater, und er fuhr ihn nach Hause. Christoffer wäre viel lieber gelaufen. Seine Mitschüler sonderten sich nach diesem Zwischenfall weiter von ihm ab. Spätere Geburtstage sollten weit schlimmere Hassgefühle in ihm freisetzen. In seinem Reifeprozess begriff er das Verstreichen eines Lebensjahres als passende Gelegenheit, die Misserfolge eines ganzen Jahres Revue passieren zu lassen. Wobei er nie daran Schuld trug, sondern nur die Anderen, die es auszumerzen galt.