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Über den Autor
Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann zahlreiche Reisen nach Afrika und Asien. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Klaus Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg, den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur und den Sonderpreis 2016 des Deutschen Jugendliteraturpreises. Bei Beltz & Gelberg erschienen unter anderem die berühmte »Trilogie der Wendepunkte« mit den Romanen Die Roten Matrosen, Mit dem Rücken zur Wand und Der erste Frühling, sowie die »Jacobi Saga« mit den Romanen 1848. Die Geschichte von Jette und Frieder, Fünf Finger hat die Hand und Im Spinnennetz. Das Karussell ist die Vorgeschichte zum autobiographisch gefärbten Roman Krokodil im Nacken, der mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.
Impressum
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-74802-7 Print
ISBN 978-3-407-74505-7 E-Book (EPUB)
© 2017 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 Beltz & Gelberg
Lektorat: Frank Griesheimer
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Rothfos und Gabler, Hamburg
Bildnachweis: akg images (Hintergrund), Mary Evans Picture Library (Junge)
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Inhalt

Erster Teil:  Siebeneichen
Vom Himmel gefallen
Nur ein Traum?
Jeppe. Und Maicke!
Einer, der nicht weint
Blut gegen Blut
Zweiter Teil:  Die Schwarze Schar
Ins Feld! Ins Feld!
Siegen oder sterben
Thies Marwick
In der Falle
Kameraden
Blinde Wut
Vivat Victoria!
Glück?
Dritter Teil:  Jetzt oder nie
Gundel
Im Strohparadies
Sonne über den Feldern
Riese mit Herz
Woher, wohin?
Gold für Eisen
Gegenüber: der Teufel
Arnulf
Der Mann am Tor
Sieger und Besiegte
Pläne
Vierter Teil:  Die Marwicks
Mit Schimpf und Schande
Zu Hause
Wahre Lügen
M und A und I und C und K und E
Herrmann Navium
Ein neues Leben
Napoleons Triumpf und Niederlage
Ein Nachwort
ERSTER TEIL
Siebeneichen
  
  

Vom Himmel gefallen

Wer ich war. Woher ich kam. Wie alt ich war.
Lange konnte mir diese Fragen niemand beantworten. Ich war ein Findelkind, wurde im Wald aufgegriffen. Mutter Marie und Vater Mewes, Bauersleute aus dem Dorf Siebeneichen, kamen gerade vom Caminer Markt, als sie mich fanden. Elias, ihren alten, schon sehr grauen Esel vor den Karren gespannt, knarrten und schwankten sie den herbstlichen Waldweg entlang. Zuvor hatten sie all ihre Kartoffeln, alles Gemüse und auch noch das letzte Hühnerei verkauft. Der Karren war leer, holperte und schwankte wie ein Floß auf einem wild bewegten Fluss.
Damals ein Kind von nicht mehr als sieben, acht Jahren, bin ich heute ein junger Mann, der einen Beruf erlernt und beste Aussichten hat, ein erfülltes, glückliches Leben führen zu dürfen. Doch möchte ich mir klarmachen, wie es dazu kam. Wie ich zu dem wurde, der ich heute bin. So habe ich mich entschlossen, meine Geschichte aufzuschreiben – für mich selbst und für das Mädchen, das ich über alles liebe.
Und beginnen will ich mit jenem Herbsttag, an dem ich sozusagen zum zweiten Mal geboren wurde.
In meiner Erinnerung erscheint mir dieser in Wahrheit kalte, graue Tag wie ein warmer, flimmernder Lichtstrahl, der das tiefe Dunkel meiner frühen Jahre durchbrach: der alte Elias, wie er sich über den unebenen Waldweg quälte, Mutter Marie und Vater Mewes, die einen ihrer langen, sehr anstrengenden Markttage hinter sich hatten – und dann ich, der kleine, über und über verdreckte Junge im mit Brandflecken übersäten Nachthemd, der vor ihnen davonlief, als erwartete er von keinem Menschen mehr etwas Gutes …
Bereits auf dem Weg nach Camin hatten sie es beobachtet, dieses ängstliche, kleine Gespenst, das da wie von aller Welt verlassen durch den Wald irrte. Auf dem Rückweg huschte ich ihnen wieder davon. Jetzt zog Vater Mewes die Zügel straff und Mutter Marie sprang vom Karren und kam mir nachgelaufen. Mit dem halb nackten Kind, das da vom frühen Morgen bis zum späten Mittag durch den Wald lief, konnte doch etwas nicht stimmen.
»Jungchen!«, rief Mutter Marie. »Warum läufst du denn weg? Mein Mewes und ich, wir haben noch keiner Fliege was zuleide getan. Du aber, du musst doch frieren. Und sicher hast du Hunger. Zeige dich uns, rede mit uns. Ich geb dir auch einen Apfel und ein Stück Brot.«
Ihre raue Stimme klang weder fordernd noch bedrohlich, dennoch versteckte ich mich hinter einem Baum; hoffte wohl, die beiden Bauersleute würden weiterfahren, wenn sie mich nicht fanden.
Doch Mutter Marie gab nicht auf. Sie lief zum Karren zurück, nahm einen besonders schönen, rotbäckigen Apfel in die Hand und näherte sich mir erneut. In der Hoffnung, ich müsste nur den Apfel sehen, um zutraulich zu werden.
»Na, na!«, redete sie weiter auf mich ein. »Du wirst doch vor mir alten Glucke keine Angst haben. Ich fresse keine kleinen Jungen.« Sie lachte leise. »Und warum nicht? Na, weil ihr nicht schmeckt. Und warum schmeckt ihr nicht? Na, weil ihr euch viel zu selten wascht. Und gerade du, Jungchen, siehst aus, als hättest du noch nie einen Waschzuber gesehen.«
Bis auf drei Schritte ließ ich sie herankommen, dann lief ich wieder fort. Doch muss ihre so freundlich klingende Stimme dafür gesorgt haben, dass ich nicht allzu schnell lief. Und bald wieder stehen blieb. Und als ich zum ersten Mal in ihr sonnengegerbtes, breites Gesicht mit den gütigen braunen Augen blickte, da muss ich gespürt haben: Vor dieser Frau brauchst du dich nicht zu fürchten. Und vorsichtig griff ich nach dem Apfel und biss ohne jedes Zögern hinein.
Ich muss tatsächlich großen Hunger gehabt und sehr gefroren haben. War ja, wie ich heute weiß, zuvor eine ganze Nacht und fast den ganzen darauffolgenden Tag über windige, kalte Felder und Landstraßen und durch dichte Wälder geirrt. Und trug am Leib nichts als dieses dünne, zerrissene und überaus schmutzige Nachthemd.
Schweigend, mir aber immer wieder aufmunternd zunickend, beobachtete Mutter Marie, wie ich aß. Sie wollte mich nicht bedrängen und mir damit vielleicht wieder Angst einjagen. Auch hatte ihr der Anblick dieses so gierig in den Apfel beißenden, hellblonden Bürschchens, jetzt, da ich so dicht vor ihr stand, wohl die Sprache verschlagen. Mein über und über von Flammen versengtes Nachthemd, die Brandwunden an meinen Händen und Beinen, das aschebestäubte Haar, es stand außer Frage: Ich musste aus einem brennenden Haus entwichen sein.
Erst als von dem Apfel nur der nackte Stiel übrig geblieben war, versuchte sie, mich auszufragen. Was denn passiert sei, wollte sie wissen, woher ich komme und wie ich heiße und weshalb ich so ganz allein durch den Wald laufe.
Ich jedoch, so schilderte sie mir später unsere erste Begegnung, solle sie nur mit großen Augen angestarrt haben.
»Aber wo sind deine Eltern?«, drang sie weiter in mich. »Sollen wir dich zu ihnen bringen?« Und als wieder nichts kam: »Weißt du denn nicht einmal, wie euer Dorf heißt? Oder kommst du aus der Stadt?«
Doch erntete sie nichts als verständnislose Blicke.
Ein Weilchen überlegte sie, dann versuchte sie es noch einmal: »Aber wie du heißt, das wirst du doch wissen? So klein bist du ja nicht mehr.«
Und da, endlich, auf diese Frage hin, soll ich ganz leise »Joss« gesagt haben.
»Joss?«, wunderte sich Mutter Marie. »Ist das dein Name?«
Zur Antwort soll ich nur heftig genickt und noch einmal »Joss« gesagt haben.
»Gut!« Mutter Marie überlegte nicht länger. Kurz entschlossen hielt sie mir die Hand hin. »Mein Name ist Marie und mein Mann heißt Mewes. Ich glaube, das Beste ist, du steigst erst mal auf unseren Karren. Hast ja Hunger wie ein Bischof. Auf dem Karren haben wir Brot und auch noch ein Stückchen Wurst. Iss erst mal! Zu Hause reden wir weiter.«
Ja, und da soll ich, noch immer ganz verstört, doch schon ein bisschen zutraulich geworden, brav ihre Hand genommen und mit ihr mitgegangen sein. Und stand kurz darauf zum ersten Mal Vater Mewes gegenüber.
Auf dem Karren sitzend, die Zügel in der Hand, musterte er mich so ernst, dass ich mich an Mutter Maries Hand festklammerte. Um ihren Schutz zu suchen. Wie hätte ich mich vor diesem fremden, großen, kräftigen Mann mit der durch eine Krankheit entstellten Blumenkohlnase, dem langen Haar und dem dichten Vollbart denn nicht fürchten sollen? Wer Vater Mewes nicht kennt, hält ihn leicht für einen Grobian.
»Er heißt Joss«, sagte Mutter Marie nur, und dann nahm sie schon einen Kanten Brot und ein Stückchen geräucherte Wurst aus ihrem Verzehrbeutel und reichte mir beides. Vater Mewes nicht aus den Augen lassend, biss ich ein viel zu großes Stück von dem Kanten ab, kaute hastig, schluckte – und rang nach Luft. Das Brot war mir im Hals stecken geblieben.
»Aber Jungchen! Was machst du denn da?« Gleich hieb Mutter Marie mir so kräftig auf den Rücken, dass ich beinahe hingestürzt wäre. Das Stück Brot flog heraus und ich konnte wieder atmen. Und in diesem Augenblick, so Mutter Marie, soll ich vor Erleichterung zum ersten Mal ganz vorsichtig gelächelt haben. Und in dieses Kleine-Jungen-Lächeln habe sie sich dermaßen verliebt, dass ihr zum ersten Mal der Gedanke kam, ich, »der vom Himmel direkt in ihren Schoß gefallene kleine Joss«, könnte ihr Sohn werden.
Doch war das nur ein erster, ganz kurz in ihr aufgeflackerter Wunsch, den sie gleich wieder von sich fortschob. Jedes Kind, ob vom Himmel gefallen oder nicht, hatte Eltern. Nicht sie, bis zu diesem Tag kinderlos, hatte mich zur Welt gebracht. Irgendwann, so sagte sie sich, würden ihr Mann und sie meine Eltern gefunden und damit für mich getan haben, was sie tun mussten. Nichts anderes konnte ihre Aufgabe sein.
Nicht mehr ganz so hastig aß ich weiter, Vater Mewes noch immer im Visier. Wie er mir später gestand, wagte er kaum, eine Augenbraue zu heben, nur damit ich aus Angst vor ihm nicht wieder das Weite suchte.
So kam ich nach Siebeneichen, jenes Dorf, in dem Vater Mewes und Mutter Marie noch immer leben. Irgendwann, so heißt es, sollen am Ufer des Siebeneichener Sees tatsächlich einmal nur sieben Eichen gestanden haben. Inzwischen sind es mehr als zwanzig und alle sind sie hoch und weit ausladend gewachsen und schon von Weitem zu sehen.
Mutter Marie und Vater Mewes sind hier geboren und aufgewachsen und in ihrem Leben nur selten weiter als bis zum Caminer Markt gekommen. Als junges Paar waren sie in das niedrige, reetgedeckte Haus gezogen, das der junge Mewes von seinen Eltern geerbt hatte und in dem später auch ich aufwuchs, und immer hatten sie sich Kinder gewünscht. Doch egal wie oft die junge Marie Gott drängte, ihr einen Sohn oder eine Tochter zu schicken, nie wurde ihr Wunsch erhört. Erst als sie mich fand, so scherzte sie später oft, hat er sich wohl den Schmalz aus den Ohren gekratzt und mich in ihren Schoß plumpsen lassen.
Ich gefiel ihnen. Ich war ein Sohn nach ihrem Geschmack. Dennoch gaben Mutter Maria, Vater Mewes und der alte Pfarrer Rohrmoser sich alle erdenkliche Mühe, meine Herkunft zu ermitteln. Immer wieder sprachen sie mit mir, um meiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. In meinem Kopf aber war alles wie in einem tiefen, dunklen Brunnen verschüttet. Kein Bild, kein Name, kein Ort drängte sich mir auf. Sie mussten auf andere Weise versuchen, meine Herkunft zu ermitteln, und so fuhr Vater Mewes mit mir in alle Dörfer der näheren und weiteren Umgebung und auch in die kleineren und größeren Städte rund um Camin. Immer in der Hoffnung, dass die Leute in dem Ort mich wiedererkennen würden, wenn mir dort schon alles fremd war. Nicht einmal der in diesem Jahr so besonders kalte Winter mit all dem Schnee, Eis und Matsch brachte Vater Mewes dazu, diese Fahrten aufzugeben.
Das Muttermal an meinem rechten Schenkel machte ihm Hoffnung. Es hat die Form eines Ahornblattes. Wer mich gekannt hat, wer mich, den zu jener Zeit Sieben- oder Achtjährigen, als ganz kleinen Jungen nackt auf einer Wiese mit anderen Kindern spielen gesehen hatte, vielleicht würde der sich an dieses Muttermal erinnern.
Doch nein, nirgendwo erkannte man mich und im Frühjahr gab Vater Mewes die Suche auf. Die Felder mussten bestellt und das Dach musste repariert werden. Der stürmische Herbst und der arge Winter hatten sehr am Reet genagt. Und wo hätten wir denn auch noch suchen sollen? Es wusste ja niemand, wie weit ich gelaufen war. War ja Krieg gewesen in jenem Jahr 1806, in dem Mutter Marie und Vater Mewes mich fanden; ein Krieg, in dem viel durcheinandergeraten und zerstört worden war.
Der Feind, der »Franzmann«, war durchs Land gezogen, und hatten Dörfer oder Städte sich nicht willig gezeigt, die fremden Soldaten zu beherbergen und zu beköstigen, hatte er kein Mitleid gekannt. Wer sich ihm entgegenstellte, wurde erschossen; wer nicht bereit war, ihm die Tür zu öffnen, dessen Haus, Kate oder Hütte wurde niedergebrannt. So stand bald fest, dass ich, der kleine, elternlose Joss, nur eines der vielen, vielen Opfer dieses Krieges war. Anders waren das brandfleckenübersäte Nachthemd und die Brandwunden an meinen Händen und Beinen nicht zu erklären.
Mutter Marie stimmte es traurig, dass meine Herkunft nicht zu ermitteln war. Doch hatte sie sich insgeheim wohl auch ein wenig darüber gefreut, dass ich auf diese Weise noch länger ihr »Jungchen« bleiben würde. Als ob ich ihr vielleicht nur für wenige Monate oder Jahre geliehen worden war, behütete sie mich. Oder wie eine Vogelmutter. Ständig steckte sie mir ein Stückchen Wurst oder Käse in den Mund oder schmierte mir ein Schmalzbrot, nur damit ich ein großer, kräftiger Junge wurde und meine wahre Mutter, sollte ich sie eines Tages wiederfinden, ihr keine Vorwürfe machen konnte.
Verwöhnt allerdings wurde ich nicht. Ich wuchs als Bauernjunge auf – und Bauernjungen müssen von früh an mitarbeiten. Während Vater Mewes sich um seine drei kleinen Felder kümmerte und Mutter Marie im Gemüsegarten, in der Räucherkammer und in der Küche ihr Zepter schwang, wurden mir schon bald der alte Elias, die Kuh Merle, die beiden Schweine Timke und Brax, die Gänse, Enten und Hühner anvertraut. Ich musste sie füttern und die Ställe ausmisten.
Nicht lange, und die Tiere kannten den fremden kleinen Jungen, der sie betreute, und keines lief mehr vor mir weg. Im Gegenteil, sie kamen mir entgegengelaufen und fraßen mir aus der Hand.
Nein, keine schlechte Zeit, doch führten Vater Mewes, Mutter Marie und ich oft ein sehr mühseliges Leben. Das vor allem im Frühjahr und Herbst, wenn gesät und geerntet wurde, aber auch im Sommer, wenn ich auf den staubheißen Feldern bei der Ährenlese helfen musste.
Dennoch, bei Mutter Marie und Vater Mewes ging es mir gut. Hätte ich vergessen können, dass ich nicht schon seit meiner Geburt ihr Sohn war, vielleicht hätte ich eine glückliche Kindheit gehabt. Die Ungewissheit, wer ich war und woher ich kam, nagte jedoch an mir. Ich begriff ja noch so wenig. Was zu meiner Verwaisung geführt hatte, fand keinen Platz in meiner Kinderwelt. Auch war der Krieg, dem ich zum Opfer gefallen war, bald weitergezogen. Es wurde nicht mehr gebrandschatzt, gemordet und geplündert, nur geredet wurde noch viel über die Franzosen, die so viel Leid, Verwüstung und Unordnung über die Menschen gebracht hatten. Und so hörte denn auch der kleine Joss bald immer öfter diesen einen, von den Siebeneichener Bauern nur voller Zorn und Verachtung ausgesprochenen Namen: Napoleon Bonaparte.
Der Kaiser der Franzosen, so hieß es, trüge die Schuld daran, dass ich nicht wusste, woher ich kam und wer ich war, keine Eltern und nicht mal einen richtigen Namen hatte. So war es nicht verwunderlich, dass ich mir diesen Napoleon schon bald als leibhaftigen Teufel vorstellte; einen Mann, dem ich, wäre ich nur endlich erwachsen, ohne Bedenken ein Messer in sein schwarzes Herz stoßen würde.

Nur ein Traum?

Denke ich heute an jene Zeit zurück, frage ich mich manchmal: Bin das wirklich ich gewesen, dieses Findelkind, das etwas so Furchtbares erlebt haben musste, dass es sich an die Zeit davor nicht mehr erinnern wollte?
Oft war ich sehr ernst, und Mutter Marie versuchte, mich zu trösten, indem sie sagte: »Jungen wie du sind ganz besondere Kinder. Sie müssen stärker sein als andere, und du – das sehe ich dir an – bist gewiss einer von den ganz, ganz Starken.«
Sie wollte mir Mut machen, mich aufrichten, doch gelang ihr das nur selten. Allein eines erleichterte mir mein neues Leben: Da ich mich an meine wirklichen Eltern nicht erinnern konnte, vermisste ich sie nicht. Nur so eine Art unbestimmte Sehnsucht war in mir, eine Sehnsucht nach lieben Menschen, die es gegeben haben musste und die mir verloren gegangen waren. Egal wie viel Jahre vergingen, ich grub und grub in meinem Gedächtnis, doch fand ich keinerlei Bilder und empfand diese vergebliche Suche oft als quälend schmerzhaft.
Meine Neugier jedoch hemmte das nicht. Meine Herkunft und auch alles andere, das mit dem Krieg zu tun hatte, der mir meine Eltern geraubt hatte, beschäftigte und interessierte mich. Und da Vater Mewes und Mutter Marie nicht gern über diese Zeit sprachen, hörte ich in jenen Tagen besonders Pfarrer Rohrmoser sehr aufmerksam zu.
Pfarrer Rohrmoser war ein sehr freundlicher, bescheidener Mann, den mein Schicksal betrübte. Ich sehe noch seine rundliche Figur mit dem genauso kugelrunden, rothäutigen, von dünnen, weißen Haaren umkränzten und mit einer schwarzen Kappe bedeckten Kopf vor mir. Oft tröstete er mich, indem er sagte, dass ich nicht traurig darüber sein sollte, mich nicht an meine Herkunft erinnern zu können. Allein weil er mich nicht verhärten wollte, hätte der liebe Gott alle Erinnerungen an den schlimmen Verlust, den ich erlitten, und die Grausamkeiten, die ich erlebt haben musste, in mir ausgelöscht.
Pfarrer Rohrmoser war die Güte selbst. Nur in einem Fall kannte er kein Vergeben und Vergessen – wenn es um den Kaiser der Franzosen ging, jenen Napoleon I., den auch ich mir nur als listiges Raubtier in Menschengestalt vorstellen konnte.
»Dieser gottlose Korse mit der Stirnlocke«, schimpfte er eines Tages, als ich schon älter war, von der Kanzel unserer kleinen Dorfkirche herab. »Wer will er denn sein? Ein Hannibal? Ein Cäsar? Ein Alexander der Große? Ein moderner Dschingis Khan? Aber sind diese Gestalten aus der Historie denn nachahmungswürdige Vorbilder? – Nein, allesamt waren sie kriegslüsterne Eroberer und damit nicht nur die Mörder derer, die sie ohne jeden Funken Nächstenliebe im Herzen zu ihren Feinden erklärt hatten, sondern auch die Mörder ihrer eigenen von ihnen in den Tod getriebenen Landsleute. Oder glaubt etwa einer von euch, dass die Mehrzahl der Franzosen, die dieser Unhold in alle Welt hinausgeschickt hat, damit sie für ihn Krieg führen, nicht lieber zu Hause bei Frau und Kind und Handwerk oder Scholle geblieben wären?«
Jene Worte habe ich noch deutlich im Ohr, denn an diesem Tag wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass der Kaiser der Franzosen gar kein gebürtiger Franzose war, sondern von der Insel Korsika stammte. Was mir diesen Mann noch unheimlicher machte. Ein fremder Tyrann von einer Insel im Mittelmeer, der sich angeschickt hatte, die ganze Welt zu erobern? Und der sich eines Tages selbst zum Kaiser gekrönt hatte?
»Erst zitiert er den Papst aus Rom nach Paris, damit der ihm die Krone aufs Haupt setzt«, so Pfarrer Rohrmoser, »dann dauert ihm dieser weihevolle Akt zu lange, und frech nimmt er sie dem, der sich Stellvertreter Gottes auf Erden nennt, aus der Hand, um sie sich eigenhändig aufzusetzen. – Nein, dieser machtgierige Emporkömmling ist kein von Gott gesalbter Fürst! Er ist ein Kaiser von Teufels Gnaden, kommt aus der Gosse und wird in der Gosse enden. Denn das, liebe Gemeinde, ist unbestreitbar: Wer sich selbst krönt, der wird unter der Last dieser Krone zusammenbrechen.«
Siebeneichen ist eine protestantische Gemeinde und Pfarrer Rohrmoser war alles andere als ein Freund des Papstes. In diesem Fall aber war er ganz auf seiner Seite. Und ich war auf Pfarrer Rohrmosers Seite! Ja, dieser Kaiser der Franzosen war nichts anderes als ein gottloser Räuber und Mörder, der seinen Landsleuten befahl, wehrlose Menschen zu überfallen, auszuplündern und – wenn sie sich wehrten – niederzumetzeln. Es war eine Tugend, ihn zu hassen.
Meinen Alltag bestimmten aber nicht Pfarrer Rohrmosers Predigten; die Arbeit in den Ställen und später immer mehr auch die auf den Feldern nahm mich bald ganz in Anspruch.
Arbeit, so Vater Mewes, gehört zum Leben. »Gott schenkt uns unsere Arbeitskraft, den fruchtbaren Boden und all die Sonne und den Regen doch nicht, damit wir diese Gaben nicht nutzen«, brachte er mir früh bei. »Ob es dem, der lieber den Müßiggang pflegt, gefällt oder nicht, die Welt ist nun mal so eingerichtet: Wer leben will, muss essen. Und wer essen will, muss sich sein Brot, wenn nicht mit seinem Verstand, dann eben mit den Händen verdienen.«
Ich musste mir nur Vater Mewes erdfarbene und Mutter Maries rote, rissige Hände ansehen, um zu wissen, wie viel Arbeit das Brot kostete, das wir aßen. Auf den Höfen ringsherum war es nicht anders. Überall wurde hart gearbeitet und das betraf uns Kinder ebenso wie die Erwachsenen. An einen Schulbesuch, an Schreiben- und Lesenlernen, war nicht zu denken. Die nächste Schule befand sich in Camin. Dorthin fuhr man einmal in der Woche auf den Markt, jedoch nicht, um Tag für Tag seine Kinder zur Schule zu bringen, die doch auf den Feldern, in den Ställen oder im Haus gebraucht wurden.
Das ist auch heute noch nicht anders. In Siebeneichen gibt es außer dem Herrn Pfarrer, dem Schmied und dem Stellmacher nur Bauern – ärmere wie Mutter Marie und Vater Mewes, die ihren kleinen Besitz selbst bewirtschaften, und wohlhabende, die mit Knechten und Mägden auf die Felder ziehen oder in den Ställen arbeiten. Einen Lehrer gibt es nicht.
Aber es ist ein schönes Dorf. Längs der Landstraße zwischen dem Siebeneichener Wald und dem Siebeneichener See zieht es sich hin. Rechts Felder, Häuser und Höfe, links Felder, Häuser und Höfe.
Der Wald ist dicht und hügelig und im Sommer so trocken, dass es bei jedem Schritt laut knackt. Der lang gestreckte See ist tief und fischreich; viele Siebeneichener Bauern sind im Nebenerwerb Fischer.
In meinem ersten Siebeneichener Herbst und Winter allerdings bekam ich von der Schönheit der Umgebung nicht viel mit. Da verkroch ich mich, wenn Vater Mewes und ich von unseren Fahrten über Land zurückkehrten oder ich meine Arbeit getan hatte, am liebsten hinterm Ofen. Dort, so Mutter Marie, saß ich, um mit tiefen Stirnfalten und heißen Augen Löcher in die Wände zu brennen.
Lange wollte ich von den anderen Dorfbewohnern nichts wissen, um nicht ständig ausgefragt zu werden. Es gab ja kaum einen im Dorf, der nicht meinte, mit besonders geschickten Fragen doch noch etwas über meine Herkunft aus mir herauskitzeln zu können.
Erst im Frühjahr änderte sich das. Da saß ich anstatt hinterm Ofen lieber auf der Wiese am See und starrte die Wellen an, die sich am Ufer brachen oder im Wind kräuselten. Oder ich stakste langsam durch das flache, so durchsichtige, von viel Schilf umgebene Wasser, um die oft nur wespengroßen kleinen Fische und Krebse zu beobachten, die in hellen Scharen vor mir davonstieben. Am See war es still und ruhig, hier konnte ich meinen Gedanken nachhängen.
Ja, der See wurde meine liebste Zufluchtsstätte. Der Wald hingegen machte mir Angst. Ich weiß noch, wie ich eines sehr frühen Morgens auf der Suche nach einem weggelaufenen Huhn durch die stille Waldeinsamkeit lief. Kein Grashalm, kein Blatt bewegte sich zu dieser frühen Stunde, keine Tannennadel fiel zu Boden. Die Stille nahm mir den Atem, Kälte stieg in mir hoch, mein Nacken versteifte sich. Hörte ich irgendwo Flügelschlagen, zuckte ich zusammen: Ein Greifvogel? Eine späte Eule?
Als ich das Huhn endlich gefunden hatte, brach die Sonne durch die Wolken und zeichnete ein helles Muster auf den moosigen Waldboden. Ein Bild, das mich aber auch nicht beruhigte. Das Huhn im Arm, hastete ich, so schnell ich konnte, ins Dorf zurück.
Was war da mit mir passiert, fragte ich mich später oft. Andere Kinder waren doch nicht so furchtsam. Hatte diese Angst mit meinem nächtlichen Umherirren in jenem anderen Wald zu tun – der kleine Joss im zerrissenen Nachthemd?
Bald hielten die Leute im Dorf mich für ein scheues, ihnen fremdes, von vielerlei Geheimnissen umgebenes Kind. »Joss aus dem Wald«, riefen sie mich. Bei manchen klang das freundlich-neugierig, bei anderen schwang Ablehnung mit. »Wer ist denn der? Was wissen wir über ihn? Was für einer Familie entstammt er?«, fragten sie sich.
Vater Mewes kümmerte dieses Gerede nicht. »Die Dummen sterben nicht aus«, sagte er nur, wenn Mutter Marie sich bei ihm über jene, wie sie sagte, herzlosen Nachbarn beschwerte. Und erntete resoluten Widerspruch: »Keiner darf sich mit Dummheit herausreden. Oder er soll sich zu den Schafen stellen, nur dann ist er entschuldigt.«
Wer mich nicht ablehnte, sondern öfter nur sehr aufmerksam ansah und auf diese Weise schon bald mehr über mich wusste als ich selbst, das war Grotmudder Tattermusch, die steinalte Hebamme des Dorfes.
Grotmudder Tattermusch hauste in einer armseligen, überaus baufälligen Lehmkate am Waldrand und war schon so alt, dass sie völlig zahnlos war und allein von in Milch eingeweichtem Roggenbrot lebte. Es gab im Dorf kaum jemanden, dem sie nicht auf die Welt geholfen, und erst recht keine Frau, der sie nicht bei der Entbindung zur Seite gestanden hatte. Auch kannte sie sich mit Heilkräutern aus.
Von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, trippelte sie, auf ihren krummen Eichenstock gestützt, durchs Dorf. Immer trug sie denselben alten, langen Rock, dieselbe weite Bluse, dieselbe rüschenverzierte, schon ein wenig fadenscheinige Seidenhaube. Ihre langen, weißen Haare, wie Fransen quollen sie unter dieser Haube hervor. Dazu der storchendünne Hals, die trockene Pergamenthaut und die so altershellen, wieselflink umherhuschenden Augen – für uns Kinder war sie eine Hexe. Gute Feen, davon waren wir überzeugt, sahen anders aus.
Ging wer an Grotmudder Tattermusch vorüber – egal ob Mann, Frau, Kind oder Greis –, fragte sie denjenigen gern nach seinem Wohlbefinden. Klagte einer der Dörfler über irgendwelche Beschwerden, wusste sie Rat und tauschte die Kräuter, die sie im Wald fand oder die in ihrem Garten wuchsen, gegen Milch und Brot ein. Es gebe keine Krankheit, gegen die Grotmudder Tattermusch kein Kräutlein wisse, schwärmte Mutter Marie oft. Dieses Wissen jedoch habe ihr niemand beigebracht, das habe sie sich in ihrem langen Leben selbst erworben, indem sie sich schon früh nicht mit einem Mann, sondern mit dem Wald und all seinen Tieren, Bäumen, Büschen, Kräutern und Pilzen vermählt und ihm so, durch vielerlei Ausprobieren, alle seine Geheimnisse entrissen habe.
Für Mutter Marie war Grotmudder Tattermusch fast so etwas wie eine Heilige, für den kleinen Joss blieb sie lange eine Hexe. Und daran trug nicht wenig ihr immer wieder mal ganz plötzlich aufblitzender, sehr heftiger Zorn die Schuld. In solchen Fällen verzerrte ihr Gesicht sich zur Fratze und ihre Augen sprühten Funken; ein Zorn, der immer dann aufflammte, wenn ihr etwas zutiefst missfiel, und nicht selten geschah das im Zusammenhang mit Tieren.
Grotmudder Tattermusch liebte alle Tiere. Sogar so hässliche wie Asseln oder Spinnen genossen ihren Schutz. Beobachtete sie, wie Kinder Insekten quälten oder einem herrenlosen, halb verhungerten Hund etwas Ekliges zu fressen gaben, ging sie mit dem Stock auf sie los. Einmal, ich war dabei, spuckte sie einem der Übeltäter zur Strafe mitten ins Gesicht.
Das alles hätte bereits genügt, um sie zu fürchten, es gab aber noch einen Grund, sie zu respektieren: Alle im Dorf wussten, dass Grotmudder Tattermusch die Gabe besaß, in die Zukunft wie in die Vergangenheit zu blicken. Beweis dafür: Bereits Monate zuvor hatte sie den Siebeneichenern den Krieg mit den Franzosen vorausgesagt.
Eines sehr frühen Abends soll das passiert sein. So hat es Mutter Marie oft erzählt. Der See lag schon unter einem Grauschleier, der Wald war nur noch als eine einzige düstere Wand zu erkennen, da sei Grotmudder Tattermusch ohne ihren Krummstock, dafür aber mit für sie sehr langen Schritten und in der Luft herumfuchtelnden Armen mit einem Mal auf den Dorfbrunnen zugeeilt. Mühsam habe sie sich an der Winde hochgezogen, um danach, auf dem Brunnenrand stehend, mit schriller Stimme auszurufen, was ihr inneres Auge ihr verraten hatte.
»Der Franzos wird kommen!«, so habe es Grotmudder Tattermusch an jenem grauen Abend dem Dorf verkündet. »Er wird über uns kommen, und wir werden uns ihm nicht erwehren können. Den Tod hat er im Tornister, an unserem Blut wird er sich satt trinken, Witwen und Waisen wird er hinterlassen.«
Zu jener Zeit, so Mutter Marie, hätten viele noch gelacht oder abgewunken. Als die Franzosen dann aber tatsächlich gekommen waren, von diesem Tag an hätte auch der Letzte gewusst, dass Grotmudder Tattermusch Dinge und Geschehnisse sehen konnte, die gewöhnliche Sterbliche nicht sahen.
Natürlich hatte Mutter Marie schon früh daran gedacht, mich Grotmudder Tattermusch vorzustellen. Wenn eine das Geheimnis meiner Herkunft enträtseln konnte, dann sie.
»Wenn sie dich nur lange genug anschauen und berühren darf, vielleicht erblickt sie etwas, das uns weiterhilft«, bat sie mich ein ums andere Mal. »Das tut ja auch gar nicht weh, das ist wie Streicheln.«
Doch nein, mit Händen und Füßen wehrte ich mich dagegen, zu Grotmudder Tattermusch zu gehen. Ich war verängstigt genug, die unheimliche Alte erschien mir nur eine neue Prüfung zu sein, die ich bestehen sollte. Weder wollte ich von ihr angeschaut noch gestreichelt werden. Eines mutigen Sommermorgens jedoch – ich lebte nun schon ein Dreivierteljahr bei Mutter Marie und Vater Mewes – war die Neugier stärker als alle Furcht, und so erklärte ich mich endlich doch bereit, mich ihr vorführen zu lassen.
Ein Tag, wie er schöner nicht sein konnte, dieser helle, lichtblaue Junisonntag. Lerchen stiegen trillernd auf, Schwalben jagten durch die Luft, das satte Wiesengrün, betupft mit gelben und weißen Blüten, lag wie ein dicker Teppich unter unseren Füßen. Dennoch war mir beklommen zumute, immer fester klammerte ich mich an Mutter Maries Hand, immer wieder musste sie mir beruhigende Worte zuflüstern. »Grotmudder Tattermusch ist eine gute Frau, eine sehr gute sogar. So viele Kinder hat sie schon heil und gesund zur Welt gebracht. Und als ich mal böse krank war, hat sie mich geheilt. Wer kein schlechter Mensch ist, der hat von ihr nichts zu befürchten.«
Ich machte trotzdem immer kleinere Schritte. Und als wir den Waldrand erreicht hatten und ich Grotmudder Tattermusch in ihrem von einer hohen Ginsterhecke umgebenen Kräutergarten sitzen und mit ihren, wie mir schien, fast geisterhaft hellen Augen in die Sonne blinzeln sah, da blieb ich ganz stehen.
Doch hatte sie uns schon gesehen. »Joss aus dem Wald!«, rief sie mit zarter Stimme. »Joss aus dem Wald! Kommst du mich mal besuchen? Das ist aber schön. Hab lange auf dich gewartet.«
Joss aus dem Wald! Aus ihrem Mund klang das nicht nach Neugier oder Ablehnung, sondern so, als würde uns eine große Gemeinsamkeit verbinden. Grotmudder Tattermusch war mit dem Wald vermählt, wie Mutter Marie gesagt hatte, und ich, war ich nicht so etwas wie ein Kind des Waldes?
Mutter Marie packte meine Hand fester und zog mich weiter. Drei Schritte vor der mit wildem Wein bewachsenen Kate, die nur eine Tür und ein einziges Fenster besaß, blieb ich wieder stehen.
Grotmudder Tattermusch sah mir meine Angst an, lächelte über ihr ganzes, von einem Netz vieler feiner Fältchen durchzogenes Gesicht, und mit ihrem grashalmdünnen, altersfleckenübersäten Zeigefinger winkte sie mich weiter heran. Als ich endlich dicht genug vor ihr stand, nahm sie meine beiden Hände in die ihren und befühlte und betastete sie lange. Und blickte mir dabei unentwegt in die Augen.
Und ob ich wollte oder nicht, ich musste diesen Blick erwidern, war wie gebannt, konnte einfach nicht wegschauen.
Lange, unendlich lange sagte sie nichts, blickte nur immer tiefer in mich hinein. Bis sie auf einmal laut aufseufzte und ein Weilchen nur den Kopf wiegte, als müsse sie sich erst mit sich selbst beraten, bevor sie den Mund aufmachte. Schließlich murmelte sie etwas vor sich hin, das weder Mutter Marie noch ich verstanden, blickte mir wieder fest in die Augen – wenn auch auf ganz andere Weise als zuvor – und sagte: »Du bist dem Feuer entronnen. Die Welschen, unser Ewigfeind, haben dein Heim dem Flammenfraß übergeben. Ja, ja, in deinen Augen leuchtet viel Rot, viel schlimmes, grelles, tödliches Rot.«
Dazu gehörte keine große Hellseherkunst. Auch Mutter Marie und Vater Mewes vermuteten, dass ich aus einem Ort weggelaufen war, den die Franzosen in Brand gesetzt hatten. Weshalb sonst wäre, als sie mich fanden, mein Nachthemd so versengt gewesen, weshalb sonst all diese Brandwunden und die Krone aus Asche?
Gleich darauf aber sagte Grotmudder Tattermusch noch etwas – etwas, das mich ganz starr werden ließ.
»Deine lieben Eltern sind tot«, sagte sie, »gestorben und verdorben. Von deinen Geschwistern aber lebt noch eines – ein Bruder, älter als du, groß und stark und tapfer.«
Durfte ich das glauben? Woher wollte sie das denn wissen? Es fehlte nicht viel und ich hätte zu weinen angefangen.
»Aber wie viele Geschwister hat er denn gehabt?«, fragte Mutter Marie nur leise.
Grotmudder Tattermusch streckte eine Hand in die Höhe und kniff den Daumen weg. Vier Geschwister? Also waren wir zu fünft gewesen?
Was für eine Geschichte! Ich wusste nicht, wie mir geschah. Was ich an diesem Morgen zu hören bekam, war so entsetzlich, am liebsten wäre ich davongelaufen. Doch konnte ich mich nicht bewegen, konnte weder meinen Beinen noch meinen Händen irgendwas befehlen. Woher wusste die alte Frau das nur alles? Hatte sie das wirklich in meinen Augen gesehen oder an meinen Händen ertastet? Oder alles nur erfunden?
Sie erriet meine Gedanken und lächelte milde. »Ja, ja, Söhnchen, du hast noch einen Bruder. Er war in jener Nacht nicht im Haus, eines Tages aber, das ist gewiss, wirst du ihn wiederfinden.« Und sie legte mir ihre zarte, trockene Hand an die Wange, um mich ganz vorsichtig zu streicheln und mir weiter Hoffnung zu machen. »Du musst ihn auch gar nicht erst suchen, deinen Herrn Bruder. Wenn die Zeit heran ist, wird er zu dir kommen und dir sagen, wer du bist.«
»Ja, aber wie heißt er denn, dieser Bruder?«, wollte Mutter Marie wissen. Sie war von dem, was wir zu hören bekommen hatten, nicht weniger beeindruckt als ich. »Und wo könnten wir ihn finden, wenn wir ihn suchen wollten?«
Doch da winkte Grotmudder Tattermusch nur ab, als hätte ihre Kunst sie allzu sehr ermüdet. »Du verlangst zu viel von mir, Marie. Ich sehe ihn vor mir, diesen Bruder, aber die hohen Berge in seinem Rücken sind mir fremd. Ja, und Namen? Namen kann keiner sehen. Namen sind nichts als Stempel, die uns aufgedrückt werden. Wenn wir wollen, können wir sie abwaschen.«
Sagte es und schloss die Augen, als wollte sie uns bitten, wieder zu gehen. Und Mutter Marie blieb nichts anderes übrig, als sich herzlich zu bedanken und mit mir heimzukehren.
In der Nacht nach dieser Weissagung träumte ich Furchtbares.
Ich lag in einem mir sehr vertraut erscheinenden Bett, es war Nacht und laute Schreie weckten mich. Kaum aber hatte ich die Augen aufgeschlagen, blendete mich eine grelle, rote Helligkeit. Vor dem Fenster züngelten Flammen zu mir hoch, und mir war so heiß, dass ich kaum noch Luft bekam. Um mich herum ein lautes Knistern und Knacken, in meiner Nase ein scheußlich klebriger Brandgeruch.
Hastig sprang ich aus dem Bett, stürzte zum Fenster und riss es auf – und sofort schoss mir die Glut direkt ins Gesicht. Ich rannte zur Tür und öffnete sie – und aus dem Treppenhaus schlugen mir ebenfalls Flammen entgegen.
Vor Entsetzen ohne jede Sprache, ohne jeden Hilfeschrei, lief ich zum Fenster zurück, der einzige Ausweg, der sich mir bot. Die Glut nahm mir den Atem, doch zögerte ich nicht länger, sondern sprang mitten durch die Flammen, die ihre Krallen nach mir ausstreckten. Ich spürte, wie ich mir Hemd und Haut versengte, doch fingen die Büsche unter dem Fenster meinen Sturz ab. Nur ein paar Schrammen hatte ich mir zugezogen und das Hemd zerrissen.
Was aber sah ich: Das ganze Dorf – oder war es eine Stadt? – brannte. Die Kirche, die Häuser – ein einziges Flammenmeer. Der rote Hahn, das Feuer, musste von Dach zu Dach gesprungen sein. So blieb mir gar keine andere Wahl: Ich musste heraus aus dieser Straße, heraus aus der Stadt oder dem Dorf, irgendwohin weit weg, ins Freie. Und so lief ich zusammen mit vielen anderen Menschen, die ebenfalls voller Panik vorwärtshasteten, durch die wild lodernden Brände. Das Fauchen der Flammen, die Aschefunken, die auf uns Fliehende herabregneten, das Krachen der einstürzenden Gebäude, alles, alles, alles trieb mich vorwärts.
Irgendwann versuchte ich, die Gesichter um mich herum zu erkennen, suchte nach meinen Eltern, von denen ich doch aber gar nicht wusste, wie sie aussahen. Da, dieses im Feuerschein rot glänzende Frauengesicht, die angstgeweiteten Augen, die aufgelösten Haare, der starr aufgerissene Mund – war das meine Mutter? Doch nein, wäre sie es gewesen, wäre sie dann so fremden Blickes an mir vorübergehastet?
Erst als wir die brennenden Häuser hinter uns gelassen hatten, blieben die Leute um mich herum stehen und blickten zurück. Ich aber lief weiter, immer weiter, mir war, als griffen die Flammen noch immer nach mir … Ich lief und lief, bis ich erwachte, schweißgebadet und so heftig keuchend, als wäre ich wirklich um mein Leben gerannt.
Lag da und hörte mein Herz klopfen, als wollte es mir die Brust sprengen. Dieser Traum! Was hatte er zu bedeuten? War es wirklich so gewesen, hatte Grotmudder Tattermusch mir einen Teil meiner Erinnerungen wiedergegeben? Oder hatte ich diese ganze Fluchtgeschichte nur geträumt, weil sie etwas Ähnliches gesehen haben wollte?
Wenn aber alles so war, warum war ich in diesem Traum allein? Wo waren meine Eltern und Geschwister? Hatte ich sie nicht sehen können, weil sie in irgendwelchen anderen Räumen dieses Hauses vom Feuer überrascht worden waren?
Außerdem: Wie bin ich in jener Nacht in den Wald gekommen? Wie lange soll ich gelaufen sein? In den Dörfern der näheren und weiteren Umgebung und auch in den Städten hatte sich doch niemand an mich erinnert.
Nein, die mich so sehr bewegenden Fragen »Wo komme ich her?« und »Wer bin ich?«, Grotmudder Tattermusch hatte sie mir nicht beantworten können. Sie hatte mir nur Bilder in den Kopf gesetzt; Bilder, von denen ich nicht einmal wusste, ob sie nicht doch nur Fantasiegemälde waren.

Jeppe. Und Maicke!

In Siebeneichen gab es viele Kinder, doch hatte ich nur wenige Freunde. Ich war ein viel zu ernster, oft nachdenklich in sich hineinstarrender Junge, um mich unter den Jungen und Mädchen allzu großer Beliebtheit zu erfreuen. Zwei von ihnen allerdings wurden für mich mehr als nur gute Freunde.
Ich will mit Jeppe Jessen beginnen. Jeppe, nur wenig jünger als ich, doch sehr viel kleiner und schmaler, flüchtete sich ebenfalls öfter mal an den See. Wir waren beide noch Holzpantoffelkinder, als ich ihn zum ersten Mal dort sitzen sah: ein Junge mit einem Berg rabenschwarzer Haare auf dem Kopf, großen, ewig fragend blickenden Augen und dick aufgeworfenen Lippen, der offensichtlich genau wie ich mit sich allein sein wollte.
Ich sprach ihn nicht an und er sah nicht zu mir her. Mutter Marie erzählte mir später von seinem Vater, einem kurzbeinigen, korpulenten Mann, »hart wie Granit«. Die Mutter war bei Jeppes Geburt gestorben, und für seinen Vater waren Jeppe und seine fünf älteren Geschwister nichts anderes als Knechte und Mägde, denen er keinen Lohn zu zahlen brauchte. Die vier Jungen ließ er auf den Feldern schuften, bis sie zu müde für den Heimweg waren, Jeppes Schwestern kamen aus den Ställen und der Küche nicht heraus.
Jeppes Geschwister, so Mutter Marie, hielten dieses harte Leben aus und wurden dabei selbst immer härter, Jeppe nicht. Sein Vater glaubte, seine Kinder mit Strenge und Prügel zu tüchtigen Bauern erziehen zu können. Immer wieder drohte Jeppe, unter diesem Tyrannen zusammenzubrechen.
Oft lief er weg. Und das, obwohl er wusste, dass er ja doch bald wieder heimkehren und für jede dieser kleinen Fluchten mit Schlägen »belohnt« werden würde. Doch gab es immer wieder Zeiten, in denen Jeppe seinen Vater nicht länger aushielt.
Mutter Marie bedauerte die Jessen-Kinder und vor allem Jeppe. Aber durfte sie oder einer der anderen Dörfler einem Vater in die Erziehung seiner Kinder hineinreden?
Ich will ehrlich sein: Anfangs berührte mich Jeppes Geschichte nicht sehr, ich hatte meine eigenen Sorgen. Doch sah ich ihn so oft einsam und allein am See sitzen, dass ich mich eines Tages – es war noch in meinem ersten Siebeneichener Sommer – einfach zu ihm setzte. Und das, ohne erst lange darüber nachzudenken, warum ich das tat.
Jeppe, die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt, schien mich gar nicht wahrzunehmen. Ich sagte ja auch nichts, saß still neben ihm und schaute den Libellen zu, die wie kleine Engel über das Wasser und durchs Schilf huschten. Nicht lange und er stand auf und ging. Alles, ohne ein einziges Wort zu sagen.
Ein paar Tage später war er es dann, der zögernd näher kam und sich zu mir setzte. Wieder ohne etwas zu sagen.
Ich tat, als wäre es das Normalste von der Welt, dass er sich zu mir gesetzt hatte. Erst nach einer ganzen Weile fragte ich ihn, als hätten wir schon oft miteinander gesprochen: »Kannst du schwimmen?«
Er erschrak darüber, dass ich so plötzlich den Mund aufgemacht hatte, und schüttelte nur still den Kopf.
»Ich auch nicht«, sagte ich, und dann schwiegen wir wieder, bis ich fragte: »Wie heißt du eigentlich?«
Ich kannte die Antwort, wollte nur weiter mit ihm reden.
»Jeppe«, antwortete er so leise, dass es wie Grasgewisper klang. Und bevor ich meinen Namen sagen konnte, um das Gespräch weiter in Gang zu halten, fügte er noch hinzu: »Und du heißt Joss und bist ein Findelkind. Ich weiß das schon lange.«
Darauf gab’s nichts zu erwidern, also schwiegen wir weiter, bis er mich fragte: »Ist es schlimm, ein Findelkind zu sein?«
Das hatte mich noch niemand gefragt, die Antwort fiel mir nicht leicht. Endlich sagte ich: »Nein, schlimm ist es nicht. Hab ja Vater Mewes und Mutter Marie. Aber schön ist es auch nicht.«
Einen Moment lang dachte er nach, dann seufzte er laut. »Aber als Findelkind gehörst du niemandem, also kann dir keiner etwas Böses tun.«
Er dachte an seinen Vater, und vielleicht erwartete er eine Frage von mir, um weiter über seine Not reden zu können. Doch war ich zu jener Zeit viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um mich auf ein solches Gespräch einzulassen. »Ja, jetzt tut mir niemand was, aber bevor ich gefunden wurde, da ist viel Schlimmes passiert«, antwortete ich ausweichend. »Ich weiß nur nicht, was.«
Wieder schwieg er, dann sagte er leise: »Er schlägt uns. Er hat einen Siebenstriemen.«
Ein Siebenstriemen, heute weiß ich das, ist eine am Griff zusammengeflochtene, siebensträhnige Peitsche. Nie zuvor hatte ich etwas über ein solches Folterwerkzeug gehört, dennoch ahnte ich sofort, dass es sich bei Schlägen mit diesem Striemen um eine sehr grausame Strafe handeln musste. Aber was hätte ich dazu sagen sollen?
Ich sagte gar nichts, starrte nur auf meine Hände.
Jeppe hatte auch keine Antwort erwartet. Vielleicht fand er es sogar gut, dass ich nicht viel redete. Irgendwie spürten wir in diesem Augenblick, dass wir verwandte Seelen waren. Und so rückten wir in den nächsten Tagen und Wochen immer enger zusammen. Bei jeder Gelegenheit, die sich uns bot, trafen wir uns am See. Und schon bald redeten wir über alles Mögliche – unser Dorf, die tiefste Tiefe des Sees, die Anzahl der Sterne am Himmel. Es war schön, dass da einer war, der sich ähnliche Fragen stellte und den anderen so gut verstand.
Unser Stammplatz wurde die kleine Wiese hinter dem Schilf. Dort konnte uns Jeppes Vater nicht sehen. Aber natürlich, irgendwann fiel unser häufiges Beisammensein auf. »Jeppe und Joss«, witzelten die Dorfkinder, »zwei Äpfel vom Ross.« Allerdings trauten sie sich das nur, solange wir zu den Kleineren gehörten. Später verkniffen sie sich jeden Spott, da wussten sie: Wer Jeppe angriff, bekam es mit Joss zu tun. Und der war nicht klein und zierlich, sondern schon früh ein ziemlich großer Kerl, der zupacken und, wenn es sein musste, auch zuschlagen konnte.
Was mir an Jeppe ganz besonders gefiel? Wenn er mir mit seiner sanften, leisen Stimme seine Träume erzählte.
Es waren alles Tagträume und nichts anderes als ebenfalls Fluchten aus dem Gefängnis seines Vaters. Wenn er allein am See saß, flüchtete er sich in diese Träume, oder wenn er eine Arbeit erledigen musste, zu der er nur seine Hände, nicht aber seinen Kopf benötigte.
Einer dieser Träume handelte von einem großen Vogel, der in unser Dorf gekommen war; ein Vogel, so groß, wie es sie in Wirklichkeit gar nicht gibt. Auf dem Rücken dieses Vogels – Jeppe nannte ihn den Vogel Überall – reisten Jeppe und ich in ein Land, das ebenfalls Überall hieß. In diesem Land war immer Sommer, und wenn es mal regnete, war der Regen so warm, dass alles, was die Menschen in diesem Land zum Leben brauchten, bestens gedieh.
Im Land Überall war es verboten, Kinder zu schlagen oder sie im Übermaß arbeiten zu lassen. Sogar die Erwachsenen mussten freundlich miteinander umgehen. Krankheiten gab es dort nicht, und wenn Menschen starben, dann nur, weil sie schon sehr, sehr alt geworden waren.
Ich bin Jeppe noch heute dankbar, dass er mich auf seine Traumreisen mitnahm. Er hätte ja auch ganz allein diesen Wundervogel besteigen können. Aber nein, er nahm mich mit. Ich hingegen sollte ihn – Jahre später – im Stich lassen.
Jetzt darf ich von Maicke erzählen. Darauf habe ich mich schon lange gefreut.
Früh lernten wir uns kennen. Ich war noch keine zwei Stunden im Haus von Mutter Marie und Vater Mewes, da sah ich sie zum ersten Mal. Mutter Marie hatte mich gerade erst mit viel Wasser und Seife von all dem Schmutz und der klebrigen Asche befreit, die mir überall anhaftete, und meine Brandwunden mit Salbe behandelt, als mit einem Mal ein Mädchen die Küche betrat. Sie war in meinem Alter, hatte eine für ein Dorfmädchen ungewöhnlich weiße Haut, sehr schmale und ein wenig schräg stehende, grüne Augen und struppige, weit vom Kopf abstehende, kupferrote Wuschellocken. Verwundert starrte sie mich an. »Wer ist denn der fremde Junge?«
»Er heißt Joss«, antwortete Mutter Marie, während sie mich in eine von Vater Mewes’ Hosen steckte, in der ich fast versank, obwohl sie die Hosenbeine hochkrempelte. Später schneiderte sie mir aus Stoffresten neue Kleider, doch konnte ich bis dahin ja nicht nackt herumlaufen. »Wir haben ihn im Wald gefunden. Jetzt wollen wir sehen, zu wem er gehört.«
Unverwandt starrte das Mädchen mich an. »Hat er denn keine Eltern?«
»Doch«, tröstete Mutter Marie sie und mich. »Alle Kinder haben Eltern. Wir müssen sie nur finden.«
Da schwieg das Mädchen, wandte aber keinen Blick von mir.
Mutter Marie zog mir zu der Hose auch eines von Vater Mewes’ Hemden über und erklärte vergnügt: »Siehst du, nun hast du schon unsere Maicke kennengelernt, die Nachbarstochter. Sie ist ein kleiner, roter Irrwisch und hat leider allzu oft ihren ganz eigenen Kopf. Und wenn ein Pferd sie tritt, dann tritt sie zurück.«
Über diese Worte musste sie selber lachen, und begütigend fragte sie das Mädchen: »Nicht wahr, Maicke, du tust immer nur, was du willst?«
Erst krauste Maicke nur ihre hohe Stirn, dann widersprach sie ernst: »Nicht ›immer‹, Tante Marie, nur meistens.« Und damit drehte sie sich um und lief aus der Tür.
Doch schon am nächsten Morgen sollte ich sie wiedersehen. Da stand sie mit einem Mal vor Merles Stall, als hätte sie auf mich gewartet.
Vater Mewes hatte herausfinden wollen, ob ich melken konnte, und musste bald feststellen, dass ich es nicht konnte. Nun meinte er, dass ich vielleicht doch nicht vom Dorf, sondern eher aus einer Stadt kam. Ganz sicher war er sich dabei aber nicht, denn nicht alle Bauernkinder lernen früh melken.
Weil er mich von meinen trüben Gedanken ablenken wollte, zeigte er mir dann, wie es ging, und ich bemühte mich, es ihm recht zu machen. Und da Merle gegen meine kleinen Kinderhände nichts einzuwenden hatte, ging es ganz gut. Vor Eifer geriet ich sogar ins Schwitzen; als wir den Stall wieder verließen, muss ich einen glühend roten Kopf gehabt haben.
Und was sagte Maicke in diesem Augenblick zu mir? Sie sagte ganz einfach: »Da bist du ja wieder!«
Verwirrt starrte ich sie an, denn Vater Mewes war weitergegangen. Ich aber wagte nicht, dieses Mädchen, das ganz offensichtlich meinetwegen gekommen war, so mir nichts, dir nichts stehen zu lassen.
Sie senkte nicht den Blick, lächelte nur honigsüß und fragte wie selbstverständlich: »Wollen wir Freunde werden?«