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Inhaltsverzeichnis

Widmung
Höllenkrater
Datenbank
Selene City
Washington D.C.
Greater Los Angeles
Mallorca
Start
Traum
Transit
Konkurrenz
Transfer
Venusorbit
Aufklärung
Eintritt
In den Wolken
Draußen
Schadensfeststellung
Tierfutter
Tödliche Entscheidungen
Kollaps
Absturz
Katastrophe
Der Fall
Lars Fuchs
Albtraum
Todesurteil
Kommunikationstechniker
Wellenreiter
Gemurmel
Unter den Wolken
Spionieren
Überhitzung
Meuterei
Tod
Bestrafung
Streit
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Phantasie
Nodons Geschichte
Im Zielgebiet
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Kontakt
Enthüllungen
Simulationen
Hecate
Eruption
Flutwelle
Gefangen
Geborgen
Die Rettungskapsel
Der Kreislauf des Todes
Zurück in den Wolken
Über den Tod hinaus
Ein neues Leben
Selene City
Copyright

Höllenkrater

Ich war spät dran, und ich wusste es.

Das Problem ist nur, dass man auf dem Mond nicht rennen kann.

Das Shuttle von der Raumstation Nueva Venezuela hatte Verspätung gehabt – ein kleines Problem mit dem Gepäck, das von der Erde hierher befördert wurde. Also eilte ich mutterseelenallein durch den Korridor, der vom Landeplatz wegführte. Die Party hatte schon vor über einer Stunde angefangen.

Man hatte mir gesagt, ich solle gar nicht erst versuchen zu rennen, nicht einmal mit den bleibeschwerten Stiefeln, die ich am Raumhafen geliehen hatte. Aber ich Narr musste es natürlich trotzdem versuchen. Ich hüpfte wie ein Affe durch den Korridor und knallte schließlich schmerzhaft mit der Nase gegen die Wand. Danach schlurfte ich in der Gangart weiter, wie das Touristenvideo sie gezeigt hatte. Ich kam mir blöd dabei vor, aber immer noch besser, als gegen die Wand zu laufen.

Nicht dass ich wirklich auf die dämliche Party meines Vaters gehen oder überhaupt auf dem Mond sein wollte. Auf diese Idee wäre ich von mir aus gar nicht gekommen.

Zwei große humanoide Roboter bewachten die Tür am Ende des Gangs. Und ich meine damit wirklich groß, zwei Meter hoch und fast mit dem gleichen Brustumfang. Die glänzende Metalltür war natürlich geschlossen. Man platzte nicht so einfach in eine Party meines Vaters; dafür hatte er kein Verständnis.

»Ihr Name, bitte«, sagte der Robot zur Linken. Seine Stimme war tief und rau und entsprach damit wohl der Vorstellung meines Vaters, wie ein Rausschmeißer klingen müsse.

»Van Humphries«, sagte ich langsam und prononciert.

Der Robot zögerte für einen Sekundenbruchteil und sagte: »Ihr Sprachmuster wurde verifiziert. Sie dürfen eintreten, Mr. Van Humphries.«

Beide Robots drehten sich um die Hochachse, und die Tür glitt auf. Der Lärm traf mich wie ein Presslufthammer: Hämmernde atonale Musik dröhnte gegen das übersteuerte Kreischen eines androgynen Sängers an, der den aktuellsten Pop-Hit jaulte.

Die Halle war groß, sogar riesig und mit Partygästen angefüllt, Hunderten Männern und Frauen. Es waren tausend oder mehr, schätzte ich, die tranken, schrien, rauchten und deren Gesichter durch ein gezwungenes raues Lachen zu Grimassen verzerrt waren. Der Lärm war so stark, dass ich förmlich das Gefühl hatte, gegen eine Wand zu laufen. Ich musste mich körperlich zwingen, an den Robots vorbei in die riesige Halle zu gehen.

Jeder trug eine Partykluft: Schrille Farben mit viel Strass und Glitzerkram und elektronischen Gimmicks. Und es wurde natürlich viel nackte Haut gezeigt. Im schokoladebraunen Velourspullover und der beigefarbenen Microfaserhose kam ich mir geradezu wie ein Missionar vor.

Ein elektronisches Banner lief über die ganze Länge der Schmalseite der Kaverne. Es verkündete abwechselnd ALLES GUTE ZUM HUNDERTSTEN GEBURTSTAG! und präsentierte Clips aus pornografischen Videos.

Ich hätte mir auch denken können, dass Vater die Party in einem Bordell steigen lassen würde. Höllenkrater, benannt nach dem Jesuiten-Astronomen Maximilian J. Hell. Die Computerspiel- und Pornobranche hatte das Gebiet ins ›Sündenbabel‹ des Monds verwandelt, ein unerschöpfliches Füllhorn illegaler Vergnügungen, das ungefähr sechshundert Kilometer südlich von Selene City aus dem staubigen Boden des Kraters gestampft worden war. Der arme alte Pater Hell würde sich im Grab umdrehen.

»Hi, Fremder!«, sagte eine kesse dralle Rothaarige in einem smaragdgrünen Kostüm, das so knapp geschnitten war, dass es sich um eine Körperbemalung aus Sprühfarbe handeln musste. Sie winkte mit einer Ampulle mit irgendeinem grauen Pulver in meine ungefähre Richtung und kreischte: »Komm, hab Spaß!«

Spaß. Der Ort hatte Ähnlichkeit mit Dantes Inferno. Es gab keine Sitzgelegenheiten außer ein paar Sofas an der Wand, und die waren mit sich windenden und verschlungenen nackten Körpern belegt. Alle anderen waren auf den Beinen, tanzten Schulter an Schulter, wiegten sich und wogten wie die Wellen eines bunten, stürmischen menschlichen Meers.

Hoch oben unter der glasierten Gesteinsdecke vollführte ein Paar Akrobaten in rüschenbesetzten Clownskostümen einen Akt auf einem Drahtseil, das durch die ganze Halle gespannt war. Die Kostüme funkelten im Scheinwerferlicht. Auf der Erde wäre eine Vorführung in dieser Höhe riskant gewesen; hier auf dem Mond konnten sie sich aber auch den Hals brechen, falls sie abstürzten – beziehungsweise den Hals der Leute, auf die sie fielen. In der überfüllten Halle hätten sie zwangsläufig auf die Zuschauer fallen müssen.

»Komm schon«, drängte die Rothaarige und zog mich am Ärmel des Pullovers. »Sei nicht so verklemmt«, sagte sie und kicherte.

»Wo ist Martin Humphries?« Ich musste schreien, um mich bei dem Partylärm überhaupt verständlich zu machen.

Sie blinkerte mit den smaragdgrünen Augen. »Hump? Das Geburtstagskind?« Sie drehte sich zur Menge um und winkte aufs Geratewohl. »Der alte Sack muss hier irgendwo sein«, schrie sie zurück. »Es ist nämlich seine Party, musst du wissen.«

»Der alte Sack ist mein Vater«, erklärte ich ihr und freute mich über ihren verblüfften Gesichtsausdruck, als ich sie stehen ließ.

Ich musste mich förmlich durch die Menge durchschlagen. Alles Fremde. Ich war mir sicher, dass ich keinen von ihnen kannte. Keiner meiner Freunde würde sich auf einer solchen Veranstaltung blicken lassen. Während ich mir mit dem Einsatz der Ellbogen einen Weg durch die rappelvolle Halle bahnte, fragte ich mich, ob mein Vater eigentlich jemanden von diesen Leuten kannte. Wahrscheinlich hatte er sie aus gegebenem Anlass gemietet. Die Rothaarige schien mir jedenfalls der Typ dafür zu sein.

Er weiß ganz genau, dass ich solche Menschenansammlungen hasse, und doch hat er mich genötigt, herzukommen. Typisch für meinen liebevollen Vater. Ich versuchte, den Lärm und den Gestank nach Parfüm, Tabak, Drogen und dem Schweiß der Körper, die wie in einer Sardinenbüchse zusammengepfercht waren, auszublenden. Ich bekam weiche Knie, und der Magen verkrampfte sich.

Ich komme mit solchen Situationen nicht klar. Das ist einfach zu viel für mich. Ich wäre wohl zusammengebrochen, wenn das bei den vielen Körpern um mich herum nicht ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre. Mir wurde schwindlig, und die Sicht trübte sich.

Ich musste im dicksten Getümmel stehen bleiben und die Augen schließen. Das Atmen fiel mir schwer. Ich hatte mir die letzte Enzymspritze gesetzt, kurz bevor die Transferrakete gelandet war, und doch hatte ich das Gefühl, dass schon wieder eine fällig war, und zwar schnell.

Ich öffnete wieder die Augen, ließ den Blick über die dicht gedrängte, lärmende und schwitzende Menge schweifen und suchte nach dem nächsten Ausgang. Und dann sah ich ihn. Durch die Arme der wild gestikulierenden Partygäste machte ich meinen Vater aus. Er saß am anderen Ende der Kaverne auf einem Podest wie ein altrömischer Kaiser, der eine Orgie gab. Er war stilecht in eine wallende rote Toga gewandet, und zu den in Sandalen steckenden Füßen räkelten sich zwei schöne junge Frauen.

Mein Vater. Einhundert Jahre wurde er heute. Doch Martin Humphries wirkte keinen Tag älter als vierzig; das Haar war noch immer dunkel, das Gesicht glatt und fast ohne Falten. Aber die Augen – die Augen waren hart und wissend; sie funkelten vor lüsternem Vergnügen über die Szene, die sich vor ihm abspielte. Er hatte jede Verjüngungstherapie mitgemacht, die verfügbar war, sogar illegale mit Nanomaschinen. Er wollte für immer jung und stark sein. Und ich glaubte, dass ihm das wahrscheinlich auch gelingen würde. Er bekam immer, was er wollte. Ein Blick in seine Augen genügte aber, um zu wissen, dass er wirklich hundert war.

Er sah, wie ich mich durch die gedrängte wogende Menge kämpfte, und für einen Moment schaute er mich mit diesen kalten grauen Augen an. Dann wandte er sich wieder von mir ab, wobei sein markantes jugendliches Gesicht von einem missbilligenden Stirnrunzeln zerfurcht wurde.

Du wolltest unbedingt, dass ich zu dieser Veranstaltung komme, sagte ich im Geiste zu ihm. Und nun bin ich hier, ob es dir gefällt oder nicht.

Er beachtete mich überhaupt nicht, während ich mich zu ihm durchkämpfte. Ich schnappte mit brennender Lunge nach Luft. Ich brauchte eine Spritze mit dem Medikament, aber ich hatte es im Hotelzimmer gelassen. Als ich schließlich das Podest erreichte, fiel ich auf das weiche Gewebe, mit dem die Plattform drapiert war und schnappte nach Luft. Dann wurde mir bewusst, dass das Getöse der Party zu einem gedämpften Summen und Flüstern abgeebbt war.

»Schalldämpfer«, sagte sein Vater und schaute mit diesem alten verächtlichen Grinsen auf mich herab. »Guck nicht so dumm.«

Es führten keine Stufen zur Plattform hinauf, und ich fühlte mich so schwach und benebelt, dass es mir nicht gelang, mich hochzuziehen.

Mit einer Handbewegung verscheuchte er die beiden jungen Frauen; sie sprangen geschmeidig von der Plattform und stürzten sich freudig ins Getümmel. Ich sah, dass sie noch Teenager waren.

»Willste eine?«, fragte mein Vater mit einem anzüglichen Grinsen. »Du kannst sie auch beide haben. Du musst es nur sagen.«

Ich machte mir nicht einmal die Mühe, den Kopf zu schütteln. Ich klammerte mich nur an die Kante der Plattform und versuchte, den Atem wieder zu beruhigen.

»Um Gottes willen, Kümmerling, hör mit diesem Gejapse auf! Du siehst aus wie eine Flunder auf dem Trockenen.«

Ich holte tief Luft, stand auf und straffte mich. »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Vater.«

»Amüsierst du dich auf meiner Party?«

»Als wenn du das nicht wüsstest.«

»Wieso bist du dann überhaupt gekommen, Kümmerling?«

»Dein Rechtsanwalt sagte, du würdest mir das Stipendium streichen, wenn ich nicht auf deine Party käme.«

»Deine Zuwendung«, spöttelte er.

»Ich verdiene das Geld.«

»Indem du den Wissenschaftler mimst. Aber dein Bruder, das war ein echter Wissenschaftler.«

Ja, nur dass Alex tot ist. Es geschah vor fast zwei Jahren, aber die Erinnerung an jenen Tag schwelte noch immer in mir.

Mein Leben lang hatte mein Vater mich verspottet und herabgesetzt. Alex war Vaters Liebling, sein Erstgeborener, sein ganzer Stolz. Alex hätte Humphries Space Systems übernehmen sollen, falls und wenn Vater sich jemals dazu entschloss, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen. Alex war alles, was ich nicht bin: Groß, athletisch, gewandt und gutaussehend, hochintelligent, extrovertiert, charmant und witzig. Ich dagegen bin das hässliche Entlein, ich kränkle seit der Geburt, ich höre immer, ich sei verschlossen und introvertiert. Meine Mutter starb bei meiner Geburt, und mein Vater hat mich das immer spüren lassen.

Ich hatte Alex geliebt. Hatte ich wirklich. Ich hatte ihn über die Maßen bewundert. Seit ich mich erinnern kann, hatte Alex mich gegen Vaters Spott und Verletzungen in Schutz genommen. »Es ist schon gut, kleiner Bruder, weine nicht«, sagte er zu mir. »Ich werde nicht zulassen, dass er dir wehtut.«

Über die Jahre hatte Alex mich mit seiner Liebe für die Forschung angesteckt, für die Erkundung neuer Orte, neuer Welten. Während Alex wirklich Missionen zum Mars und den Jupitermonden unternahm, musste ich jedoch daheim bleiben, weil ich solchen Unternehmungen körperlich nicht gewachsen war. Ich flog einen Lehnstuhl, kein Raumschiff. Das Gefühl von Freiheit und Abenteuer bezog ich aus Strömen von Computerdaten und Virtuelle-Realität-Simulationen. Einmal bin ich mit Alex durch den roten Sand des Mars gegangen, verbunden durch ein interaktives VR-System. Es war der schönste Nachmittag meines Lebens.

Dann kam Alex auf der Expedition zur Venus ums Leben, er und die ganze Besatzung. Und Vater hatte mich gehasst, weil ich nicht an seiner Stelle gestorben war.

Ich zog schließlich von zuhause aus und kaufte ein Haus auf Mallorca – ein Platz, der mir ganz allein gehörte und wo ich vor seinem fiesen Sarkasmus sicher war. Als ob er mich veralbern wollte, zog Vater nach Selene City. Später erfuhr ich, dass er zum Mond geflogen sei und sich dort Nanotherapien unterzog, um sich jung und fit zu halten. Nanomaschinen waren auf der Erde nämlich verboten.

Es war klar, dass Vater sich der Verjüngungsbehandlung unterzog, weil er nicht die Absicht hatte, sich aus der Firma zurückzuziehen. Wo Alex nun tot war, würde Vater Humphries Space Systems niemals mir übergeben. Er würde am Ruder bleiben und mich in die Wüste schicken.

Also lebte Vater vierhunderttausend Kilometer weit weg und spielte seine Rolle als interplanetarer Tycoon, Mega-Milliardär, Draufgänger, Schürzenjäger und rücksichts- und skrupelloser Industriemagnat. Ich war vollauf zufrieden damit. Ich führte ein ruhiges Leben auf Mallorca und hatte ein Personal, das mich umsorgte und verwöhnte. Ein paar Bedienstete waren Menschen, die meisten Robots. Oft kamen Freunde zu Besuch, und ich hatte die Möglichkeit, mal eben nach Paris oder New York oder sonst wohin zu fliegen, um eine Theatervorführung oder ein Konzert zu besuchen. Ich verbrachte die Zeit mit dem Studium neuer Daten der Sterne und Planeten, die in einem steten Strom von unseren Space-Explorern kamen.

Bis eine Freundin ein Gerücht erzählte, das sie gehört hatte: Dass das Raumschiff meines Bruders sabotiert worden sei. Sein Tod war kein Unfall, sondern es handelte sich um Mord. Und gleich am nächsten Tag zitierte mein Vater mich zu seiner schwachsinnigen Geburtstagsparty auf dem Mond, wobei er damit drohte, mir das Stipendium zu streichen, wenn ich nicht erschiene.

»Wieso hast du darauf bestanden, dass ich herkomme?«, fragte ich und schaute meinem Vater ins jugendlich glatte Gesicht.

Er grinste mich spöttisch an. »Amüsierst du dich denn gar nicht?«

»Du etwa?«, konterte ich.

Vater stieß einen Laut aus, bei dem es sich vielleicht um ein unterdrücktes Lachen handelte. Dann sagte er: »Ich habe eine Ankündigung zu machen. Ich wollte, dass du sie aus meinem Mund vernimmst.«

Ich war verwirrt. Eine Ankündigung? Wollte er nun doch zurücktreten? Und wenn schon; mir würde er die Leitung der Firma ohnehin nicht übertragen. Ich war aber auch gar nicht darauf erpicht.

Er drückte eine Taste in der linken Sessellehne, und der höllische Lärm der Party brandete wieder mit solcher Wucht gegen mich an, dass ich glaubte, der Schädel würde mir zerspringen. Dann berührte er die andere Armlehne. Die Musik brach mitten im Takt ab. Die Akrobaten auf dem Seil verschwanden, als ob man ein Licht ausgeknipst hätte. Eine holografische Darstellung, erkannte ich.

Die Menge verstummte und verharrte reglos. Alle drehten sich zum Podest um wie eine Schar Schüler, die sich eine Ansprache des Rektors anhören musste.

»Ich freue mich, dass Sie alle auf meine Party gekommen sind«, hob Vater an. Seine tiefe, modulierte Stimme wurde verstärkt und hallte in der Kaverne wider. »Habt ihr auch viel Spaß?«

Wie aufs Stichwort jubelten, klatschten, pfiffen und kreischten alle aus vollem Hals.

Vater hob beide Hände, und die Leute verstummten wieder.

»Ich habe eine Ankündigung zu machen – etwas, das euch hart arbeitenden Vertretern der Medien sicher besonders gut gefallen wird.«

Ein halbes Dutzend mit Kameras bestückte Ballons hingen schon ein paar Meter vom Podest entfernt in der Luft. Sie glitzerten wie Christbaumkugeln. Nun schwebten noch ein paar aus den Ecken der Kaverne zu meinem Vater herüber und nahmen ihn ins Visier.

»Wie ihr wisst«, fuhr er fort, »kam mein geliebter Sohn Alexander vor zwei Jahren ums Leben, als er den Planeten Venus erforschte.«

Ein kollektiver Seufzer ging durch die Menge.

»Irgendwo auf der Oberfläche dieses Höllenlochs von einer Welt liegt das Raumschiff mit seinem Leichnam. Die alles zersetzende Atmosphäre zerstört in Verbindung mit dieser fürchterlichen Hitze und dem gewaltigen Druck die sterblichen Überreste meines Jungen.«

Irgendwo brach eine Frau in Tränen aus.

»Ich möchte eine Belohnung für denjenigen aussetzen, der mutig genug und hart genug ist, zur Venus zu fliegen, auf dem Planeten zu landen und mir das zurückzubringen, was von meinem Sohn noch übrig ist.«

Die Anwesenden schienen sich zu straffen und machten große Augen. Eine Belohnung?

Mein Vater legte eine dramaturgisch effektvolle Pause ein und sagte mit einer Stimme wie Donnerhall: »Ich setze einen Preis von zehn Milliarden internationalen Dollars für denjenigen aus, der den Leichnam meines Sohnes findet und mir seine sterblichen Überreste zurückbringt.«

Das verschlug den Leuten die Sprache. Für eine Weile herrschte Totenstille. Dann füllte die Kaverne sich mit aufgeregtem Geschnatter. Zehn Milliarden Dollar! Zur Venus fliegen und dort landen! Ein Preis von zehn Milliarden Dollar für die Bergung von Alex Humphries’ Leiche!

Ich war genauso baff wie die anderen. Vielleicht noch mehr, weil ich nämlich besser als die meisten dieser kostümierten Nassauer wusste, dass der Auftrag, den mein Vater soeben erteilt hatte, völlig undurchführbar war.

Vater drückte die Taste an der Armlehne, und der Lärm der Menge wich sofort wieder einem gedämpften Summen.

»Toll«, sagte ich zu ihm. »Du wirst bestimmt zum Vater des Jahres ernannt werden.«

Er schaute verächtlich auf mich herab. »Du glaubst, das wäre nicht ernst gemeint?«

»Ich glaube, dass niemand, der noch bei klarem Verstand ist, versuchen wird, auf der Venus zu landen. Alex wollte schließlich selbst nur durch die obersten Wolkenschichten fliegen.«

»Dann glaubst du also, ich hätte die Leute verladen?«

»Ich glaube, du hast eine PR-Nummer abgezogen, mehr nicht.«

Er zuckte die Achseln, als ob ihm das völlig egal wäre.

In mir brodelte es. Er hockte da oben und erlangte durch solch eine Farce spektakuläre Publizität. »Du willst den trauernden Vater markieren«, schrie ich ihn an, »und die ganze Welt glauben machen, dass dir etwas an Alex liegt. Und dazu hast du einen Preis ausgelobt, den, wie du ganz genau weißt, niemand bekommen wird.«

»Oh, eines Tages wird es jemand versuchen, da bin ich mir sicher.« Er lächelte mich kalt an. »Zehn Milliarden Dollar sind ein mächtiger Anreiz.«

»Ich wäre mir da nicht so sicher«, sagte ich.

»Aber ich bin mir sicher. Ich werde den Betrag auf ein Anderkonto einzahlen, zu dem nur der Gewinner des Preises Zugang hat.«

»Die ganzen zehn Milliarden?«

»Die ganze Summe«, bestätigte er. Dann beugte er sich zu mir herunter und sagte: »Um das Geld aufzubringen, werde ich natürlich an ein paar Ecken Einsparungen vornehmen müssen.«

»Wirklich? Wie viel hat dich denn die Party gekostet?«

Er wedelte mit der Hand, als ob das nicht der Rede wert sei. »Eine der Ecken, an der ich einsparen werde, ist dein Unterhalt.«

»Mein Stipendium?«

»Das hat sich erledigt, Kümmerling. Du wirst im nächsten Monat fünfundzwanzig Jahre alt. Meine Unterhaltspflicht erlischt an deinem Geburtstag.«

Dann wäre ich mittellos.

Datenbank

Sie glüht so hell und lieblich am nächtlichen Himmel, dass praktisch jede Kultur auf Erden ihre Göttin der Schönheit und Liebe nach ihr benannt hat: Aphrodite, Inanna, Ishtar, Astarte, Venus.

Manchmal ist sie der helle Abendstern, heller als alles am Himmel außer der Sonne und dem Mond. Manchmal ist sie der winkende Morgenstern, Vorbote des neuen Tags. Und immer leuchtet sie wie ein kostbares Juwel.

Obwohl die Venus eine Zierde des Himmels ist, der Planet selbst ist der höllischste Ort im ganzen Sonnensystem. Der Boden dort ist so heiß, dass Aluminium schmelzen würde. Der Luftdruck ist so hoch, dass Raumsonden wie Getränkedosen zerquetscht werden. Von einem Pol zum andern erstreckt sich eine geschlossene Wolkendecke aus Schwefelsäure. Die Atmosphäre ist ein übler Brodem aus Kohlendioxid und Schwefelgasen.

Venus ist der erdnächste Planet und steht uns noch näher als der Mars. Bei der dichtesten Annäherung kommt er auf weniger als fünfundsechzig Millionen Kilometer an die Erde heran. Er steht näher an der Sonne als an der Erde; die Venus ist der zweite Planet des Sonnensystems, während die Erde der dritte ist. Die Venus hat keinen Mond.

Sie hat fast die gleiche Größe wie die Erde, ist nur unwesentlich kleiner – die Schwerkraft an der Oberfläche beträgt etwa fünfundachtzig Prozent des irdischen Normalwerts.

Und damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Die Venus ist heiß, mit Oberflächentemperaturen deutlich über vierhundertfünfzig Grad Celsius. Sie rotiert so langsam, dass ein ›Tag‹ länger ist als ein ›Jahr‹: Der Planet wandert in zweihundertfünfundzwanzig Erdtagen um die Sonne, was einem Venusjahr entspricht. Um die eigene Achse dreht er sich jedoch in zweihundertdreiundvierzig Erdtagen, was einem Venustag entspricht. Und er dreht sich rückwärts, vom Nordpol aus betrachtet im Uhrzeigersinn, während die Erde und die anderen Planeten sich gegen den Uhrzeigersinn drehen.

Die Venusatmosphäre ist so dick, dass der Atmosphärendruck an der Oberfläche dem Druck eines irdischen Ozeans in einer Tiefe von anderthalb Kilometern entspricht. Die Atmosphäre besteht zu über fünfundneunzig Prozent aus Kohlendioxid, mit weniger als fünf Prozent Stickstoff und einem verschwindend geringen Anteil an Sauerstoff.

Die dicken Wolkenschichten, von denen die Venus ständig umhüllt ist, reflektieren etwa fünfundsiebzig Prozent des einfallenden Sonnenlichts, wodurch der Planet sehr hell erscheint und einen wunderschönen Anblick bietet. Die Wolken bestehen aus Schwefelsäure und anderen Schwefel- und Chlorverbindungen und enthalten praktisch keinen Wasserdampf.

Es gibt Berge und Vulkane auf der Venus und Anzeichen dafür, dass große Abschnitte der Kruste durch Plattentektonik verschoben wurden. Es muss auch ›Venusbeben‹ geben.

Man versuche sich einen Spaziergang auf der Oberfläche der Venus vorzustellen! Die Atmosphäre ist so dicht, dass sie das Licht wie eine Konkavlinse streut. Der Himmel ist ständig bewölkt. Dennoch herrscht keine völlige Finsternis: Selbst die lange Venusnacht wird durch den rotglühenden Boden in ein unheimliches düsteres Licht getaucht.

Weil die Venus schneller um die Sonne kreist, als sie sich einmal um die eigene Achse dreht, würde man folgendes beobachten: Stünde man auf einer beliebigen Stelle der Oberfläche, würden von einem Sonnenaufgang zum nächsten hundertsiebzehn Erdentage verstreichen  – falls man den Sonnenaufgang durch die dicken Wolken überhaupt sehen könnte. Und die Sonne würde im Westen auf- und im Osten untergehen.

Würde man den Blick zu den graugelben Wolken richten, sähe man vielleicht dunkle Schemen am Himmel vorbeiziehen, die vor der trüben Kulisse in einer Höhe von etwa fünfzig Kilometern entstehen und vergehen und in etwa fünf Stunden von einem Horizont zum andern wandern. Ab und zu würde man auch einen Blitz sehen und das bedrohliche Grollen eines entfernten Vulkans hören.

Kein anderer Ort im inneren Sonnensystem stellt eine solche Herausforderung dar und ist so gefährlich. Auf dem Mond herrschen vergleichsweise günstige Bedingungen, und auf dem Mars käme man sich gar vor wie im Paradies.

Wäre es möglich, dass auf der Venus Leben existiert, entweder hoch in den Wolken, wo die Temperaturen niedriger sind oder im tiefen Untergrund? Es gibt jedenfalls etwas in der Atmosphäre der Venus, das ultraviolettes Licht absorbiert; die Planetenwissenschaftler sind sich aber nicht sicher, worum es sich dabei handelt. Gibt es dort vielleicht Bakterien, die unter der Oberfläche leben, wie sie auch auf der Erde existieren und vermutlich auf dem Mars und dem Jupitermond Europa?

Falls dort irgendwelche Geschöpfe an der Oberfläche leben, müssen sie fähig sein, einer Hitze zu widerstehen, die Aluminium schmilzt und einem Druck, der Raumfahrzeuge zerquetscht.

Richtige Monster eben.

Selene City

»Du hättest dran glauben müssen, Kümmerling!«, heulte er. »Du hättest sterben müssen, nicht Alex.«

Ich schreckte aus dem Schlaf und setzte mich im dunklen Hotelzimmer auf. Ich krallte die Finger ins Bettlaken und zerrte so fest daran, dass ich es beinahe zerrissen hätte. Ich war in kalten Schweiß gebadet und zitterte am ganzen Körper.

Der Traum war zu real gewesen. Allzu real. Ich drückte die Augen zu, und während ich auf dem Bett saß, loderte das zornige Gesicht meines Vaters vor mir wie das Bildnis eines zürnenden antiken Gottes.

Die Party im Höllenkrater. Die Ankündigung des Venuspreises. Die Mitteilung, dass er mir den Unterhalt sperren würde. Das alles war zu viel für mich gewesen. Als ich zu meinem Hotel in Selene City zurückkehrte, stand ich kurz vor dem Zusammenbruch. Die mit Teppichen ausgelegten Flure des Hotels verschwammen vor meinen Augen, und die Beine waren selbst in der niedrigen Mondschwerkraft weich wie Gummi. Ich ging auf mein Zimmer, von dort gleich ins Bad und bereitete eine Hydrospray-Spritze vor. Dann injizierte ich mir eine volle Dosis des Enzym-Medikaments in den Arm, fiel ins Bett und schlief sofort ein.

Und träumte. Nein, ein Traum war es eigentlich nicht; es war eine Neuauflage des schrecklichen Tages, als wir von Alex’ Tod erfuhren. Ein Albtraum. Ich durchlebte jeden qualvollen Moment.

Nachdem wir die Nachricht erhalten hatten, dass nach menschlichem Ermessen keine Hoffnung mehr bestand, hatte Vater den Bildschirm des Telefons ausgeschaltet und sich zu mir umgedreht. Sein Gesicht war eine Fratze des Zorns gewesen.

»Er ist tot«, hatte mein Vater mit eisiger Grabesstimme gesagt, und seine grauen Augen waren auch kalt wie Eis gewesen. »Alex ist tot, und du bist am Leben. Zuerst hast du deine Mutter umgebracht, und nun ist Alex tot, und du lebst immer noch.«

Ich stand nur da, während er mich düster und in bitterem Zorn anstarrte. Mich. Mich.

»Du hättest dran glauben sollen, Kümmerling«, knurrte er und steigerte sich weiter in Rage. Die Gesichtsfarbe wechselte von weiß zu rot. »Du bist doch wertlos! Kein Hahn würde nach dir krähen. Aber nein, du bist noch da und freust dich des Lebens, während Alex tot ist. Du hättest es sein müssen, Kümmerling!«, heulte er. »Du hättest sterben müssen und nicht Alex.«

Danach verließ ich den Familiensitz in Connecticut und kaufte mir ein Haus auf Mallorca, möglichst weit weg von meinem Vater. Glaubte ich zumindest. Aber er würgte mir natürlich wieder einen rein und zog nach Selene City.

Nun saß ich mutterseelenallein schweißgebadet und vor Kälte zitternd in einem Hotelbett.

Ich stand auf und schlurfte barfuß ins Bad; das heißt, ich wankte eher, so schwach und elend fühlte ich mich. Das Licht ging automatisch an, und ich fummelte mit der Hydrospray-Spritze herum, bis ich endlich eine Ampulle mit der abgemessenen Enzymdosierung fand, einsteckte und sie gegen den Arm presste. Das leise Zischen, mit dem das Medikament durch die Mikronadel in den Blutkreislauf gedrückt wurde, beruhigte mich sonst immer. Doch nicht in dieser Nacht. Im Moment würde mich gar nichts beruhigen, sagte ich mir.

Ich war mit einer seltenen Form der Blutarmut geboren, einem Geburtsfehler, der vom Drogenkonsum meiner Mutter herrührte. Sie verlief tödlich, wenn ihr nicht durch einen Enzym-Cocktail aus dem Vitamin B12 und einem Wachstumshormon entgegengewirkt wurde, das den Körper zur Bildung neuer roter Blutkörperchen anregte. Ohne diese Medikation wäre ich immer schwächer geworden und bald gestorben. Mit ihr vermochte ich ein ganz normales Leben zu führen – nur dass ich mir eben zweimal am Tag eine Spritze setzen musste.

Wenn euch jemand erzählt, dass Nanomaschinen imstande wären, alle Krankheiten zu heilen, wenn man sie auf der Erde nur zulassen würde, dann glaubt ihm nicht. Die besten Labors in Selene City – die Hauptstadt der Forschung auf dem Gebiet der Nanotechnik – vermögen keinen Nanoroboter zu entwickeln, der fähig wäre, pro Stunde Millionen roter Blutkörperchen zu bilden.

Ich legte mich wieder ins Bett mit den verknitterten und verschwitzten Laken und wartete darauf, dass die Wirkung des Medikaments einsetzte. Weil ich sonst nichts Besseres zu tun hatte, schaltete ich die Videonachrichten ein. Der Wandbildschirm erhellte sich sofort und zeigte eine Szene schrecklicher Verwüstung: Ein mächtiger Hurrikan war über den Atlantik gerast und tobte sich nun über den britischen Inseln aus. Sogar der Themsedamm – der Hightechdamm quer durch den Fluss – war überspült worden, und weite Teile Londons standen unter Wasser, einschließlich Westminster Abbey und dem Parlament.

Ich lehnte mich in die Kissen zurück und verfolgte mit trübem Blick, wie Tausende Londoner im peitschenden kalten Regen auf die Straßen strömten, um sich vor den steigenden Fluten in Sicherheit zu bringen. ›Die größte Katastrophe, von der London seit den Luftangriffen des Zweiten Weltkriegs heimgesucht wird‹, sagte der Kommentator im Tonfall eines Untergangspropheten.

»Nächster Kanal!«, rief ich. Tod und Vernichtung wollte ich nicht sehen, doch die meisten Kanäle zeigten Londons Untergang live und in Farbe. Eine Präsentation in drei Dimensionen wäre auch noch möglich gewesen, wenn ich den Hologrammkanal aufgerufen hätte. Ganze Bootsflotten befuhren die Strand und Fleet Street und retteten Männer, Frauen, Kinder, sogar Haustiere. Soldaten versuchten den Buckingham-Palast vor den heranflutenden Wassermassen zu schützen.

Schließlich fand ich einen Kanal, der keine Bilder von der Flutkatastrophe zeigte. Stattdessen fand dort eine Podiumsdiskussion mit selbsternannten Experten zum Thema ›Globale Erwärmung‹ statt, die solche Stürme und Überschwemmungen verursachte. Einer aus der Runde trug die grüne Armbinde der Internationalen Grünen Partei, und einen anderen identifizierte ich als einen Freund meines Vaters – einen scharfzüngigen Justitiar, der die Grünen eindeutig verabscheute. Die anderen waren Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen. In keinem Punkt waren sich auch nur zwei Leute einig.

Ich schaute mit glasigen Augen zu und hoffte, dass diese ruhige, kultivierte Diskussion mich in den Schlaf lullen würde. Die Redebeiträge wurden mit animierten Landkarten unterlegt, die zeigten, wie das Eis in Grönland und in der Antarktis schmolz und mit welchem Ansteigen des Meeresspiegels gerechnet wurde. Der halbe mittlere Westen der USA war davon bedroht, sich in ein riesiges Binnenmeer zu verwandeln. Der Golfstrom würde abreißen, hieß es, wodurch in Großbritannien und Europa eine sibirische Kälte Einzug halten würde.

Genau die richtigen Gutenachtgeschichten. Ich wollte den Wandbildschirm gerade ausschalten, als plötzlich die gelbe Nachrichtenlampe blinkte. Ich fragte mich, wer mich zu dieser nächtlichen Stunde wohl noch anrief.

»Beantworten«, rief ich.

Der ganze Wandbildschirm nahm eine milchige weißgraue Färbung an. Für einen Moment glaubte ich an einen Defekt des Videos. Dann sagte eine synthetisierte Computerstimme zu mir: ›Mr. Humphries, bitte verzeihen Sie, dass ich mein Gesicht nicht zeige. Es wäre zu gefährlich, wenn Sie mich sähen.‹

»Gefährlich?«, fragte ich. »Für wen?«

Die Stimme ignorierte meine Frage, und ich begriff, dass es sich bei diesem Anruf um eine Aufzeichnung handelte. ›Wir wissen, dass Sie das Gerücht gehört haben, demzufolge das Schiff Ihres Bruders sabotiert worden sein soll. Wir glauben, dass Ihr Vater für seinen Tod verantwortlich war. Ihr Bruder wurde ermordet, Sir, und Ihr Vater ist der Mörder.‹

Der Bildschirm verdunkelte sich. Ich saß wie betäubt und schockiert im dunklen Hotelzimmer und starrte mit großen Augen auf den nachglühenden Wandbildschirm. Mein Vater hatte Alex ermordet? Mein Vater war verantwortlich für seinen Tod? Das war ein furchtbarer und unglaublicher Vorwurf von jemandem, der zu feige war, sein Gesicht zu zeigen.

Und ich glaubte es. Das bestürzte mich am meisten. Ich glaubte es.

Ich glaubte es, weil ich mich an den Abend erinnerte, bevor Alex zu seiner unheilvollen Expedition zur Venus aufbrach. Den Abend, an dem er mir verriet, weshalb er wirklich ging.

Alex hatte überall verbreitet, dass er zur Venus flog, um dieses planetare Treibhaus zu erforschen. Das stimmte soweit auch. Aber er hatte noch eine versteckte Agenda, die er mir am Abend vor dem Abflug offenbarte. Es steckte auch ein politisches Motiv hinter der wissenschaftlichen Mission. Ich erinnere mich, wie Alex in der behaglichen stillen Bibliothek des Hauses in Connecticut saß, in dem er mit Vater lebte, und wie er mir im Flüsterton seine Pläne offenbarte.

Die Erde bekam erst den Anfang des Treibhauseffekts zu spüren, sagte Alex mir. Abschmelzen von Gletschern und der polaren Eiskappen. Ansteigen des Meeresspiegels. Globale Klimaveränderungen.

Die Internationale Grüne Partei verlangte die Ergreifung drastischer Maßnahmen, um zu verhindern, dass der ganze Mittlere Westen der Vereinigten Staaten sich wieder in das Binnenmeer verwandelte, das er einst gewesen war und dass der Permafrostboden in Kanada schmolz, wodurch Megatonnen gefrorenen Methans in die Atmosphäre entweichen und den Treibhauseffekt exponentiell verstärken würden.

»Du bist einer von ihnen?«, wisperte ich im Dunklen. »Ein Grüner?«

Er stieß ein glucksendes Lachen aus. »Du wärst wohl auch einer, kleiner Bruder, wenn du darauf achten würdest, was in der wirklichen Welt vorgeht.«

Ich erinnere mich daran, dass ich den Kopf schüttelte und murmelte: »Vater würde dich umbringen, wenn er davon wüsste.«

»Er weiß es schon«, sagte Alex.

Mit der Mission zur Venus wollte er der Welt quasi aus erster Hand zeigen, wie der Treibhauseffekt einen Planeten zurichtete: Er verwandelte ihn in eine tote Gesteinskugel mit einer Hülle aus giftigen Gasen, ohne einen Tropfen Wasser und einen Grashalm. Das wäre ein mächtiges Symbol und würde sich als Bild ins Bewusstsein aller Wähler der Welt brennen: Das wird aus der Erde werden, wenn wir den Treibhauseffekt nicht stoppen.

Mächtige politische Kräfte standen gegen die Grünen. Leute wie mein Vater wollten nicht zulassen, dass die IGP die Kontrolle über die internationalen Organisationen erlangte, die Standards für den Umweltschutz setzten. Die Grünen wollten die Steuern für multinationale Unternehmen verdreifachen, alle fossilen Brennstoffe verbannen, die Evakuierung der großen Städte veranlassen und den Reichtum der Welt unter den Bedürftigen neu aufteilen.

Alex’ Expedition zur Venus war also eine Mission für die Unterstützung der Grünen, um ihnen ein mächtiges Werkzeug gegen die politische Macht des Establishments  – und damit gegen unseren Vater – an die Hand zu geben.

»Vater würde dich umbringen, wenn er davon wüsste«, hatte ich gesagt.

Und Alex hatte düster erwidert: »Er weiß es schon.«

Die Angst vor Vaters Reaktion war bloß eine Metapher gewesen, ein dummer Spruch eben. Nun fragte ich mich, ob Alex das auch so verstanden hatte.

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Für diese Nacht war ich um den Schlaf gebracht. Ich ging mit den großen schlurfenden Schritten durchs Zimmer, die die geringe Schwerkraft des Monds erfordert, und durchlebte dabei ein emotionales Wechselbad aus Zorn, Angst und Verzweiflung.

Wie alle Mondsiedlungen wurde Selene City unterirdisch angelegt und in die Ringwallberge des riesigen Alphonsus-Kraters gegraben. Es gibt also keine Morgendämmerung, die durch die Fenster dringt, keinen Sonnenaufgang, der den Anbruch des jungen Tags ankündigt. Die Lichter draußen in den Korridoren und öffentlichen Räumen simulieren den Tag – das war’s dann auch schon. Die Lampen in meinem Zimmer schalteten sich automatisch ein, während ich auf und ab ging. Die Schalter wurden durch die Körperwärme aktiviert.

Nach ein paar Stunden wusste ich schließlich, was ich tun würde. Was ich zu tun hatte. Ich befahl dem Telefoncomputer, eine Verbindung zu meinem Vater herzustellen.

Das dauerte ein paar Minuten. Ohne Zweifel war seine widerwärtige Party noch in vollem Gang. Doch dann erschien sein Gesicht auf dem Wandbildschirm im Wohnzimmer.

Vater wirkte müde, aber entspannt und lächelte mich milde an. Ich sah, dass er im Bett lag und sich glänzende Seidenkissen in den Rücken gestopft hatte. Er war nicht allein. Ich hörte gedämpftes Kichern unter der Bettdecke hervordringen.

»Du bist aber früh auf«, sagte er halbwegs wohlwollend.

»Du aber auch«, erwiderte ich.

»Guck nicht so vorwurfsvoll, Kümmerling«, sagte er. »Ich hatte dir diese Damen angeboten, erinnerst du dich? Es wäre doch eine Schande, solche Talente zu vergeuden.«

»Ich werde mir dein Preisgeld holen«, sagte ich.

Plötzlich war er hellwach. »Was?«

»Ich werde zur Venus fliegen. Ich werde Alex’ Leichnam bergen.«

»Du?«, fragte er lachend.

»Er war mein Bruder«, sagte ich. »Ich liebte ihn.«

»Ich musste dir in den Hintern treten, dass du überhaupt zum Mond fliegst, und nun erzählst du mir, dass du zur Venus fliegen willst?« Über diese Vorstellung schien er sich köstlich zu amüsieren.

»Du glaubst, ich schaffe das nicht?«

»Ich weiß, dass du es nicht schaffst, Kümmerling. Du wirst es nicht mal versuchen, trotz deiner Sprüche.«

»Ich werde es dir schon zeigen«, sagte ich. »Ich werde dir das verdammte Preisgeld abnehmen.«

»Natürlich wirst du das«, sagte er hämisch. »Und Elefanten können fliegen.«

»Du zwingst mich förmlich dazu«, sagte ich. »Der Zehn-Milliarden-Dollar-Preis ist ein großer Anreiz für einen, der ab nächsten Monat auf dem Trockenen sitzt.«

Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. »Ja«, sagte er nachdenklich, »das ist bestimmt ein großer Anreiz.«

»Ich werde fliegen«, sagte ich nachdrücklich.

»Und du glaubst, dass du mein Preisgeld gewinnen wirst, was?«

»Oder ich geh dabei drauf.«

»Du glaubst doch nicht, dass du der einzige bist, der versuchen wird, sich die zehn Milliarden Dollar zu holen, oder?«

»Wer, der noch alle beisammen hat, würde das auch nur in Erwägung ziehen?«

»Ich wüsste da schon jemanden«, sagte Vater spöttisch. »Er wird alles daransetzen.«

»Wer?«

»Lars Fuchs. Der Bastard ist momentan irgendwo draußen im Gürtel, aber sobald er von der Sache erfährt, wird er sich in Nullkommanix zur Venus aufmachen.«

»Fuchs?« Ich hatte meinen Vater oft von Lars Fuchs reden hören, und immer voller Hass. Er war ein Asteroidenmineur  – viel mehr wusste ich nicht über ihn. Früher hatte er ein eigenes Unternehmen besessen und war ein Konkurrent meines Vaters gewesen, doch nun war er nur noch ein unabhängiger Mineur, der sich im Asteroidengürtel durchschlug. Eine ›Felsenratte‹ in der kultivierten Ausdrucksweise meines Vaters.

»Fuchs. Du wirst gegen ihn antreten müssen, um dir das Preisgeld zu holen, Kümmerling. Ich glaube nicht, dass du Manns genug bist, das zu schaffen.«

Ich hätte in diesem Moment erkennen müssen, dass er mich manipulierte, dass er mich zwang, durch den Feuerreifen zu springen. Doch ehrlich gesagt, sah ich nur ein Leben in Armut vor mir, wenn ich mir das Preisgeld nicht sicherte.

Trotzdem war das nicht alles, woran ich dachte. Ich hatte noch immer Alex’ markantes, entschlossenes Gesicht in jener letzten Nacht vor Augen, die er auf der Erde verbracht hatte.

»Vater würde dich umbringen, wenn er davon wüsste«, hatte ich gesagt.

»Er weiß es schon«, hatte Alex gesagt.