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Für meinen Freund Jürgen Fuchs

Unter Mitarbeit von Dagmar Hovestädt

ISBN 978-3-492-96821-8

September 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2014

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Harald Hauswald/OSTKREUZ

Datenkonvertierung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

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Respekt vor der Biographie

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Wie war das Leben in der DDR wirklich? Die Reaktionen auf das Buch, bei Buchlesungen, in vielen Briefen und E-Mails, zeigen: Die Einladung zum Erzählen ist angenommen worden. Dies ist eine Erfahrung, die einen Autor demütig werden lässt. So viele Leben sind tatsächlich gelebt worden, so viele Geschichten brauchen Raum. Es gibt immer noch viel Dringlichkeit und Notwendigkeit, sich auszutauschen über das Vergangene, über das Leben in der DDR und den Blick von außen auf das Land.

Wenn es einen gemeinsamen Nenner der Reaktionen seit dem ersten Erscheinen von Wir Angepassten gegeben hat, dann das Gefühl der Befreiung. Befreit davon zu sein, das Leben in der DDR – und vor allem das eigene Leben – nur unter dem Blickwinkel von Tätern und Opfern zu sehen, nur in vorgefertigten Schubladen zu denken. Es gab so viel mehr dazwischen. Das habe ich immer wieder an den Abenden mit Publikum erlebt. Es hat die Menschen beflügelt, sich erinnern zu dürfen, ungefiltert und an alles. Sich ganz individuell dazu zu bekennen, wie es war, wie man es erlebt hat, wie man selbst gelebt hat. Um dann vielleicht im nächsten Schritt zu analysieren, wie das zu bewerten ist, was davon heute noch übrig ist und was es bedeutet.

Der Wunsch, sich nicht in die Kategorien Gewinner und Verlierer einordnen zu lassen, ist überdeutlich zu spüren. Das ist für mich auch eine Aussage zur Einheit der Deutschen, 25 Jahre nach dem 3. Oktober 1990. »Warum sollen wir uns als ehemalige DDR-Bürger dafür rechtfertigen müssen, in der Diktatur gelebt zu haben? Wir haben es uns ja nicht ausgesucht.« So schrieb mir jemand in Reaktion auf das Buch, geboren im Jahr 1942. Er erlebt im vereinten Deutschland eine quasi verordnete Bußfertigkeit Richtung Osten und vermisst die Selbstkritik derjenigen, die auch ihre westdeutsche Zeit reflektieren könnten und ihre Gleichgültigkeit den Menschen im Osten gegenüber.

Respekt vor der Biografie: Diese Botschaft hat beim Lesen auch etliche Menschen erreicht, die im Westen aufgewachsen sind. Rational war die Teilung Deutschlands nachvollziehbar, aber, so schrieb jemand, der in den 80er-Jahren seine Kindheit im Rheinland verbracht hat, schmerzlich war sie für ihn nie. Wirklich zu begreifen, was hinter der Mauer vor sich ging, hat ihm die Beschäftigung mit dem alltäglichen Leben dort ermöglicht. Nachzuvollziehen, wie sich das Leben jenseits von Opfern und Tätern für die meisten Menschen in der DDR dargestellt hat, hat ihm den Osten nähergebracht. Und ihn zu einer neuen Verbundenheit mit der Geschichte der Deutschen geführt, die 40 Jahre hinter der Mauer leben mussten.

Für viele war es nicht einfach, für sich den Titel Wir Angepassten zu akzeptieren. Andere wiederum haben ihn sofort auf heute bezogen. Auf die Anpassung an die jetzigen Verhältnisse, an die immer bestehende Spannung zwischen dem, was in einem steckt, und dem, was die Umstände und die Gesellschaft um einen herum verlangen. Auch heute gibt es das Recht auf Anpassung. Aber gerade deshalb möchte ich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass man sich die Freiheit, so zu sein, wie man ist, bewahren sollte. Und wach bleiben sollte für die Frage: Wie weit darf Anpassung gehen? Welche Verantwortung trage ich für meine Entscheidungen in diesem Spannungsfeld? Solange wir die Einhaltung der Menschenrechte zur Basis unserer Gesellschaft machen und lebendig und demokratisch ­darüber diskutieren, wohin wir uns entwickeln, sind wir auf dem richtigen Weg.

Insofern hoffe ich, dass die Ermunterung zur offenen Erinnerung weiter Früchte trägt. Ich wünsche mir viele neue Erzähler über das Leben in der DDR und viele offene Zuhörer. Dialoge in Familien, in Ost und West, Nord und Süd. Und viele Erkenntnisse, die das gelebte Leben vorher zu einem Gewinn für unser Leben heute machen.

Roland Jahn, im August 2015

Vorwort

Erzählen als Chance

Ich glaube, dass das Erzählen über die DDR eine Chance sein kann. Es steckt noch viel Ungesagtes in dieser Vergangenheit. Offen zu erzählen kann befreiend sein. Dieses Buch will deshalb zum Erzählen einladen. Über die Bedingungen, unter denen Menschen in der DDR gelebt haben.

Wir Angepassten enthält Erinnerungen an mein Leben in der DDR, an Geschichten von Freunden und Weggefährten. Es sind Geschichten, die Menschen damals und nach dem Ende der DDR über ihr Leben dort erzählten. Es sind Episoden und Fragmente, beileibe keine systematische oder umfassende Analyse. Die Lücken mögen Anregung für das Erinnern und Erzählen anderer sein.

Die Kapitel widmen sich lose verschiedenen Formen von Anpassung und Widerspruch. Dabei überschneiden sich die Überlegungen zu den verschiedenen Formen. Es sind Beschreibungen anhand konkreter Erlebnisse, die Menschen dazu bewogen haben, sich zu gewöhnen, zu schweigen, mitzulaufen oder auch die Angst zu überwinden.

Allen diesen Erinnerungen ist gemeinsam, dass sie zeigen, dass das Leben unter den Bedingungen der Diktatur Menschen oft vor unmögliche Entscheidungen stellt. Das eigene Menschsein wird auf eine bisweilen absurde Art getestet. Ich glaube, dass im Erzählen all dieser Geschichten ein wichtiger Schritt für unser Zusammenleben heute getan werden kann.

Wichtig ist mir, dass die Bedingungen für das Erzählen stimmen. Dass wir alle offen mit den Erinnerungen in vielen Perspektiven umgehen. Niemand war nur gut oder nur schlecht. Nur widersprechend oder nur angepasst. Viele Menschen haben versucht, aufrecht unter den Bedingungen des »real existierenden Sozialismus« zu leben. Nicht immer ist es gelungen.

Wir haben noch viel zu wenig erzählt darüber, wie wir in der DDR gelebt haben. Viel zu wenig berichtet von all den vielen alltäglichen Details. Vielleicht schaffen wir es, uns zu öffnen für die Geschichten, die in uns schlummern.

Roland Jahn

Berlin, im August 2014

Nachdenken

Zwischen Anpassung und Widerspruch

Wir Angepassten. Um den Titel dieses Buches haben wir eine Weile gerungen. Er sollte niemanden vor den Kopf stoßen und doch provozieren. Aber es ist klar: Das Wort Anpassung ist sperrig. Es ruft Abwehr hervor. Als ich mit meinem Freund Peter Rösch für dieses Buch über unser Leben in der DDR gesprochen habe, darüber, dass wir uns doch auch in bestimmte Abläufe eingetaktet, uns also angepasst haben, da hat er mir spontan widersprochen. »Ich habe mich nicht angepasst.« Niemand will ein Anpasser sein. Und doch haben wir es alle getan. Und tun es noch. Damals und heute.

Sich den Umständen anzupassen, das gilt in Natur und Technik als klug. Es kann eine Überlebensstrategie sein. Anpassung als Prinzip, das hat der Menschheit das Überleben gesichert. Und doch empfinden wir es meist nicht als positiv, wenn sich jemand anpasst. Die »Unangepassten«, sie finden heute – gerade im Rückblick auf die DDR – schneller Zuspruch.

Als ich neulich zum Thema »Warum ich nicht zum Mitläufer wurde« sprechen sollte, habe ich gezögert. Es wäre die Erzählweise geworden, die man gern hört, die Mut machen soll. Es wäre eine klare Rollenzuweisung gewesen: Ein politisch Verfolgter erzählt von seinem Widerspruch gegen das System und den Folgen. Aber interessanter erschien es mir, auch die Momente zu reflektieren, in denen ich mich angepasst habe. Ich habe den Vortrag einfach umbenannt in »Zwischen Anpassung und Widerspruch«. Das Leben in der DDR, in einem Land mit Mauer und Stacheldraht, unter einer Ein-Parteien-Herrschaft und ohne den umfassenden Zugang zu Menschenrechten, es war komplizierter, als die gängigen Kategorien es den Menschen zugestehen. Die Schubladen Täter/Opfer/Mitläufer beschreiben nicht wirklich, wie Menschen in der DDR gelebt haben. Und so habe ich in meiner Rede darüber gesprochen, wie ich mich angepasst habe an die Vorgaben des Staates und dann zwischen Anpassung und Widerspruch meinen Weg gesucht habe.

»Anpassung« ist die Haltung, die für mich den Alltag unter den Bedingungen einer Diktatur stark geprägt hat. Genau darüber haben wir noch viel zu wenig gesprochen und es noch viel zu wenig analysiert. Es ist ein vielschichtiges Verhalten, stetig gefangen in einer Dynamik zwischen der Abwägung der Kosten oder dem Nutzen des Anpassens und der Kosten oder dem Nutzen des Widersprechens.

Diese Prozesse habe ich auch in meinem eigenen Leben in der DDR gespürt, immer wieder. Auch ich habe mich eine Zeit lang in den vorgezeichneten Bahnen des SED-Staates bewegt und stetig die Kosten und Nutzen meines Verhaltens abwägen müssen. Wenn man also über den Alltag in der DDR reflektiert, so sollte man den Aspekt der Anpassung und der Mechanismen, die an uns als Menschen gewirkt haben, viel stärker beleuchten. Niemand war nur Rebell oder nur Angepasster. Wir brauchen einen Prozess des offenen Nachdenkens über das Leben in diesem Staat DDR, in dem wir unseren Alltag gelebt haben.

Wir sind in der DDR aufgewachsen, zur Schule gegangen, haben Berufe gelernt, Familien gegründet, Geburtstage und Weihnachten gefeiert. Wir haben gelebt. Gute Erinnerungen geschaffen und schlechte. Woran erinnert man sich? In der Regel doch wohl zuerst an das eigene Leben, an das Private. Vielleicht auch daran, wie dieses Leben mit den großen politischen und kulturellen Ereignissen kollidierte und von ihnen eingerahmt wurde. Aber der Staat DDR, der von einer Partei, der SED, bestimmt wurde, hat den Menschen, die in ihm lebten, viel zugemutet. Er hat sich immer wieder in das Private der Menschen eingemischt, um jeden Widerspruch, der den Anspruch der Partei auf Allmacht gefährden konnte, im Keim zu ersticken Die SED war letztendlich an ihrem dauerhaften Machterhalt interessiert und hat dazu ein Staatsgebilde gebaut, das systematisch die Menschenrechte einschränkte oder auch verwehrte. Dazu musste sie sich jederzeit darum bemühen, das Denken der Menschen in ihrem Sinne zu kontrollieren. Und das hat zu massiver Repression und Verfolgung geführt.

Täter und Opfer. Das sind die Begriffe, um die sich die öffentliche Diskussion zur DDR hauptsächlich rankt. Die Opfer, die Menschen, die ihre Menschenrechte wahrgenommen und für ihre Selbstbestimmung gekämpft haben und die deswegen aus der Bahn geworfen, ins Gefängnis gesperrt wurden, sogar mit dem Leben bezahlten – sie haben unsere Aufmerksamkeit, unseren Respekt und unser Mitgefühl verdient. Sie haben Unrecht erlebt, sie sind an Leib und Seele beschädigt worden, ihr Leben ist durch die Unterdrückung der Menschenrechte in der DDR oft aus den Fugen geraten. Und deshalb gehört zur Aufarbeitung dieses Unrechts dazu, dass man Täter und Verantwortung benennt. Das SED-Regime hat funktioniert, weil viele Menschen verantwortlich für das Unrecht gehandelt haben. Diese Pole der DDR-Gesellschaft, sie verkörpern die Extreme, und das macht sie besonders interessant und einsichtsvoll. Sie spiegeln aber nicht das gesamte Bild wider: Die Mehrheit der Menschen, die in der DDR gelebt haben, kann sich weder mit der Definition eines Täters noch mit der eines Opfers identifizieren. Die großen Debatten über Stasiverstrickung und Diktaturanalyse fegen direkt über ihre Erinnerung hinweg. Das Wort Diktatur kommt vielen nicht unbedingt in den Sinn, wenn sie an ihr Leben in der DDR denken. Auch in der Diktatur schien die Sonne.

Das Leben in der DDR, es war ein Leben zwischen Anpassung und Widerspruch. »Die meisten lebendigen Menschen in der DDR haben nämlich immer beides zugleich: sich angepasst und widerstanden«, schreibt Wolf Biermann1 und verweigert sich der Entscheidung nach Anpassen oder Widerstehen in der DDR. »Ein ›UND‹ wäre treffender.« Der Historiker Stefan Wolle, der in der DDR groß geworden ist, fasst die Zeit zwischen seinem 17. und 40. Lebensjahr »als einen einzigen Eiertanz«2 zusammen. Eiertanz. Das Wort passt für so vieles, was ich mit der DDR verbinde. Sich durchlavieren. Das eine sagen, das andere meinen. Strategien und Taktiken entwickeln, die das Geforderte bedienen, ohne sich selbst zu verraten. Das System hat eben auch funktioniert, obwohl so viele dagegen waren.

Wie habe ich in der DDR gelebt? Einfach ist es nicht, sich dieser Frage zu nähern. Sie birgt die Gefahr, unbequem zu werden für jeden, der ihr ernsthaft nachgeht. War ich angepasst? Habe ich widersprochen? Hätte ich anders handeln können? Mir geht es dabei um Aufklärung, nicht um Abrechnung. Ich will vor allem Mut machen zu erzählen. Weniger werten und voreilige Schlüsse ziehen, als vielmehr ein offenes Gespräch führen. Denn es gibt keinen allgemeingültigen Maßstab über das »richtige« Verhalten in einer Diktatur.

Anpassen oder widersprechen, das war in der DDR in hohem Maße individuell. Der alleinstehenden Mutter mit zwei kleinen Kindern kann man z. B. keinen Vorwurf daraus machen, dass sie nicht zur Demonstration für Meinungsfreiheit ging. Die Risiken waren unkalkulierbar. Es war verständlich, das Wohl der Kinder im Auge zu behalten und sich anzupassen.

Doch es gibt auch Situationen, die weniger klar und nicht so schnell einzuschätzen sind. War es verwerflich, an den staatlichen Feiertagen die DDR-Fahne vors Haus zu hängen, weil man Ärger vermeiden wollte? Oder war es einfach taktisch klug? Und wie sind wir später dann mit unseren Entscheidungen umgegangen? Waren wir enttäuscht über uns selbst, verängstigt – oder war es uns am Ende egal, weil wir uns längst gefügt hatten in das Schicksal, in einem Land mit Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl leben zu müssen?

Bis heute haben wir keine ausreichende Erklärung dafür, dass die DDR so lange existieren konnte. Warum dauerte es 40 Jahre, bis sich die Menschen endlich trauten zu sagen, dass die Machthaber »des Kaisers neue Kleider« trugen? Bis sie den Mut hatten, auf die Straße zu gehen, ihre Rechte wahrzunehmen – und sie schließlich die Mauer zum Einsturz brachten? Wenn wir wirklich verstehen wollen, warum diese Diktatur 40 Jahre funktioniert hat, dann brauchen wir auch Aufklärung über das, was die Mehrheit der Bewohner der DDR erlebte und wie sie mit den Zwängen des Systems umgegangen sind: Zur Wahl gehen oder den Studienplatz riskieren? Den Kontakt zur Tante im Westen abbrechen oder den beruflichen Aufstieg gefährden? Den Unmut über die fehlende Meinungsfreiheit schlucken oder ins Visier der Stasi geraten?

In einer Diktatur sind die Konsequenzen des Handelns ungleich weitreichender als in einer Demokratie. In unterschiedlichsten Lebenslagen, in unterschiedlichen Jahrzehnten hatte jede Art von Verhalten in der DDR unkalkulierbare Folgen. Man konnte sich nie darauf verlassen, was wirklich passierte, wenn man sich dem verlangten Verhalten verweigerte.

Tatsächlich ist in vielen Fällen wenig oder gar nichts passiert. Nicht selten aber ist ein Mensch komplett aus der Bahn geworfen worden durch den Eingriff des Staates in ein Leben. Diese Eingriffe, die auch für andere sichtbar waren, hatten einen weiteren Effekt. Sie führten dazu, dass man sich selbst zurückhielt. Dass man zu wissen glaubte, wo eine Grenze erreicht war, und die Konsequenz daraus zog. Zum Schutz der eigenen Familie, der Freunde, für das eigene Wohlbefinden und auch zum Überleben.

Warum aber haben manche widersprochen, und warum haben so viele mehr mitgemacht? Hatte nicht jeder auch einen kleinen Anteil daran, dass es so lange gedauert hat? Wenn schon viel eher viel mehr Menschen ausgestiegen wären, sich den Zumutungen des Staates verweigert hätten – den gefälschten Wahlen, den Ergebenheitsadressen, den Mai-Paraden –, wäre die DDR dann nicht schon viel eher am Ende gewesen? Oder ist das alles nur schönes Wunschdenken?

Menschen haben auch ein Recht auf Anpassung. Anpassung, das klingt nicht wirklich heldenhaft. Aber war es nicht der Weg, den die meisten für sich wählten? Man muss doch nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennen. War das nicht vernünftig, zum Wohle der Familie und des eigenen Lebensglücks? Wer darf das verurteilen? Anpassung ist seit Menschengedenken überlebenswichtig. Die Art und Weise, wie wir uns anpassen, und das Maß der Anpassung in der jeweiligen Situation aber sind variabel. Jeder, der sich anpasst, hat auch einen Spielraum. Und es gibt viele Formen der Anpassung, von Schweigen bis Anbiederung. Aber Anpassung hatte eben auch einen Preis. Sie hat denjenigen, die von Staats wegen Unrecht begangen haben, zur Legitimation gedient.

Anfang der 80er-Jahre kursierte in Jena im Zusammenhang mit politischen Inhaftierungen eine Postkarte mit folgender Maxime: »Wo das Unrecht alltäglich ist, wird Widerstand zur Pflicht.« Man kann den rigorosen Moralismus bewundern, der in dieser Maxime steckt. Aber diese Aufforderung wird den Menschen nicht gerecht, die unter den Bedingungen einer Diktatur leben mussten, weil eine derartige Maxime Übermenschliches verlangt. Wer kann das verlangen, dass sich jeder gegen die Umstände auflehnen muss, wenn Unrecht von Staats wegen geschieht? Man also aufgefordert wird, es Inhaftierten gleichzutun? Es kann keine Pflicht sein, ins Gefängnis zu gehen. Es kann auch keine Pflicht sein, die Erfahrungen der vorhergehenden Generationen zu ignorieren. Deren Versuche, sich gegen das Unrecht zu wehren, wurden sogar mit Panzern niedergemäht. Der 17. Juni 1953, die gewaltsame Niederschlagung des Arbeiteraufstands, wurde zum Trauma, das noch Jahrzehnte fortwirkte. Ebenso wie der 13. August 1961, der Mauerbau, und der 21. August 1968, die Niederschlagung des Prager Frühlings.

Wir sollten uns viel mehr darüber erzählen, wie und warum wir uns den staatlichen Vorgaben so lange angepasst haben. Wir sollten unsere individuellen Erfahrungen austauschen. Ohne Vorwürfe. Ohne Vorverurteilung. So können wir besser erkennen, welche Konsequenzen unser Verhalten hatte. In jedem einzelnen Fall, positiv wie negativ. Sich auf diese Erzählung einzulassen geht vielleicht nicht ohne Schmerz. Es kann wehtun, sich einzugestehen, dass die Entscheidung, sich anzupassen, Folgen hatte, Folgen für einen selbst und für andere. Dass man als ein Rädchen im Getriebe sich drehte und so mit dazu beigetragen hat, dass das System insgesamt funktionierte. Aber es kann auch Erleichterung verschaffen, eine neue Klarheit, für das Hier und Jetzt.