Inhaltsverzeichnis

cover

Jugendwahn und Komfort-Rente – beides hat keine Zukunft 

Die tatsächlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, speziell auf dem Arbeitsmarkt, wollen so gar nicht zu den Erwartungen, Wünschen, Werten und Zielen passen, die den geistigen Überbau der Wirtschaft bilden. Dabei sind der Jugendwahn auf der einen Seite und der für viele immer noch höchst komfortable frühzeitige Ruhestand auf der anderen nur die beiden Seiten ein und derselben Medaille.

Inzwischen belegen zahlreiche Studien und demoskopische Berechnungen, dass wir bei der Fortsetzung der bisherigen Verfahrensweise in Zukunft weder genügend beruflichen Nachwuchs noch ausreichend viele Arbeitnehmer im jüngeren Alter haben werden, um die Wirtschaft – selbst bei noch mehr Rationalisierung und Stellenstreichungen – am Laufen zu halten.

Gleichzeitig werden wir aber bei Fortsetzung der bisherigen Verrentungspraxis extrem viele fitte und höchst anspruchsvolle Frühsenioren haben, die sich weder alt fühlen noch alt verhalten und die beabsichtigen und erwarten, den gewohnten Lebensstandard aus den Achtziger- und Neunzigerjahren noch zwanzig oder dreißig Jahre lang munter fortsetzen zu können.

Aber auch wenn wir wissen, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher, fehlt es doch an entsprechenden Handlungsweisen, die dem bestehenden Wissen entsprechen. Eher halbherzige Appelle ändern nichts am Verhalten, solange nicht der „Tipping Point“ erreicht ist, der dann wahrscheinlich zu einer lawinenartigen Veränderung führen wird.

Am Arbeitsmarkt ist es nicht anders als an der Börse. Und in den Köpfen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sieht es nicht anders aus als in den Köpfen von Aktienbesitzern. Die Angst vor Verlusten und möglichen Nachteilen ist größer als jede Vernunft. Nur wer sich rechtzeitig von alten Verhaltensweisen trennt – so wie sich einige Vorausschauende an der Börse immer rechtzeitig von Verlust bringenden Aktien getrennt haben –, wird genügend Kapital, und in diesem Fall ist Humankapital gemeint, zur Verfügung haben, um künftig auf der Siegerseite zu stehen. Dass es schwer ist, ist klar.


Wir haben es mit einer langfristigen, schon seit Jahrzehnten andauernden Entwicklung zu tun, deren Ursachen hier jedoch nicht detailliert beschrieben werden sollen. Ein kurzer Blick muss genügen, um die vorherrschenden Vorurteile und Fehleinschätzungen aufzubrechen.


Fakten und Prognosen zur demografischen Entwicklung


1962

1970

1991

1992

1995

1996

1997

2000

2001

2002

2003

2004

2010

2020

2030

2035

2050


Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage von infratest dimap im Auftrag der ZEIT (2004):


Die historischen Wurzeln – Kinderarbeit und Altersinvalidität

Sowohl die Idealisierung der Jugend als auch die zu beobachtende Diskriminierung des Alters haben kulturelle, ökonomische und politische Ursachen, deren Wurzeln zum Teil bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurückreichen.

Schon damals wurde die Jugend in ihrer „Sturm- und Drangzeit“ von den deutschen Dichtern über Gebühr verherrlicht. Für das gehobene Bürgertum hatte die Jugend durchaus schöne Seiten. Das traf aber für die arbeitende Bevölkerung keinesfalls zu. Die neu entstehende Fabrikarbeit war alles andere als begehrt. Man brauchte billige Arbeitskräfte, flink und körperlich leistungsfähig, die man schnell anlernen konnte, um die Maschinen zu bedienen. Kinder- und Jugendarbeit waren deshalb an der Tagesordnung. In wenigen Jahren, maximal in zwei oder drei Jahrzehnten, wurde der Mensch verschlissen und zum Invaliden auf Grund von Arbeitsunfällen oder mangelnden Gesundheitsschutzes bei gefährlichen Tätigkeiten.

Selbst wer Glück hatte und während des kurzen Arbeitslebens keine Gliedmaßen verlor, keine Staublunge bekam, sich nicht verätzte oder vergiftete, war trotzdem verbraucht. Wirbelsäule und Gelenke litten unter dem Tragen und Heben schwerer Lasten. Älter als 40 oder vielleicht 50 Jahre wurde die breite Masse des Volkes kaum. Und wer dieses Alter erreichte, war verbraucht und zu nichts anderem mehr zu gebrauchen.

Hier liegen die Wurzeln der Altersdiskriminierung, aber auch des Jugendwahns.


Der Wunsch, ein Held zu sein

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann erneut eine Idealisierung der Jugend, speziell der jungen Männer. Sie wurden zu potenziellen Helden hochstilisiert, weil man sie als Kanonenfutter brauchte. Niemand ist besser als Soldat geeignet als junge Männer zwischen 15 und 25 Jahren. Ihre Sinne sind auf dem Höhepunkt der Leistungsfähigkeit, ihre Reflexe sind schnell und ihre körperliche Belastungsfähigkeit hoch. Außerdem sind sie extrem begeisterungsfähig. Wer Kriege führen will, braucht die Jugend. Und um sie sich gefügig zu machen, braucht man sie bloß bei ihrem Ehrgeiz zu packen: „Hart wie Krupp-Stahl, zäh wie Leder und flink wie Windhunde.“

Viele dieser Ideale setzten sich natürlich auch in den Köpfen derjenigen fest, die bis 1945 noch zu jung waren, um in den Krieg zu ziehen, deren Aufgabe aber dann darin bestand, Deutschland wiederaufzubauen. Die Jugend spielte sowohl im real existierenden Sozialismus als auch in der Marktwirtschaft bald wieder eine herausragende Rolle.

In der DDR war es die Jugend, die am leichtesten auf die neuen Staatsziele einzuschwören war, und in der Bundesrepublik entdeckte man die Jugend und die jungen Erwachsenen als konsumfreudige und leicht zu manipulierende Masse. Was man allerdings im Osten wie im Westen vermied, war, die Jugend tatsächlich ernst zu nehmen und an den wichtigen Entscheidungsprozessen innerhalb der Gesellschaft zu beteiligen. Wer in der Zeit ab 1949 das Sagen hatte, waren die Senioren. Sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR waren geistig Rentnerstaaten, was für die zukünftige Entwicklung ganz erhebliche Folgen hatte.


Vom Wirtschaftswunder zur Rezession

Während man spätestens seit Ende der Fünfzigerjahre junge und jüngere Menschen immer mehr als Konsumenten hofierte, wurden einige andere Fakten, deren Ursachen im deutschen Wirtschaftswunder lagen, bestimmend für die gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik.

Arbeitskräfte wurden knapp und die Löhne stiegen sprunghaft in die Höhe. Die Zahl der Führungspositionen nahm zu und man besetzte die Stellen immer schneller mit immer jüngeren Mitarbeitern. Gute Mitarbeiter konnten die Unternehmen nur halten, wenn sie ihnen interessante Aufgaben, Karriere, Perspektiven und hohe Gehälter boten, sonst warb die Konkurrenz sie gnadenlos ab. Inzwischen war es auch so, dass die Rentenentwicklung an die Entwicklung der Löhne angepasst worden war. Es lohnte sich, in Pension zu gehen. Die Arbeitsbedingungen und die Gesundheitsvorsorge für Arbeitnehmer verbesserten sich drastisch, die medizinische Entwicklung ging in großen Sprüngen voran.

Die Menschen blieben gesünder und wurden älter. Als dann aber die Wirtschaft zu erlahmen begann, waren die Weichen in Gesetzen und Tarifverträgen bereits für lange Zeit gestellt. Abgesenktes Rentenalter, Vorruhestandsregelungen und Altersteilzeit sollten dafür sorgen, dass die knapper werdenden Arbeitsplätze für die nachrückenden Generationen offen standen. Anfangs funktionierte das auch, doch nicht auf Dauer.

Um Arbeitsplätze für die jungen Berufseinsteiger und Aufsteiger zu schaffen, schickten die Firmen mit Billigung des Staates immer mehr leistungsfähige und leistungsbereite Arbeitnehmer in den Vorruhestand. Um sie zu einem Verzicht auf ihren Arbeitsplatz zu animieren, wurden sie mit immer höheren Abfindungen und Prämien aus dem Unternehmen herausgelockt. Rente brachte mehr als Arbeit.

Warum sollte auch jemand seine Zeit in der Firma mit vielleicht monotoner Arbeit verbringen, wenn er ohne große finanzielle Einbußen vollkommener Herr seiner Zeit werden konnte? In den Achtziger- und Neunzigerjahren wurde es immer weniger zum Lebensziel der über 40-Jährigen, sich noch durch Arbeit zu verwirklichen, sondern man zählte stattdessen nur noch die Jahre, bis man das Alter erreicht hatte, um sich aus dem Berufsleben verabschieden zu können. Manche schafften es schon mit 52, andere mit 55, aber bis 65 wollte kaum noch einer warten, der abhängig beschäftigt war.


Ruhestand als akzeptiertes Lebensziel

Nur 39 Prozent der 54- bis 65-Jährigen sind heute noch berufstätig. Der frühzeitige und gut versorgte Ruhestand ist immer noch das Ideal für die meisten Arbeitnehmer. Die Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sind in vielen Fällen deckungsgleich. Die einen wollen auf Grund tarifvertraglicher Regelungen teure, weil älter gewordene, Arbeitnehmer loswerden, die anderen wollen gar nicht unbedingt bleiben, weil Arbeit und Einkommen ab einem bestimmten Alter faktisch nahezu entkoppelt sind.

Noch ist der Trend in den Unternehmen ungebrochen, sich fast ausschließlich auf jüngere und damit vermeintlich leistungsfähigere Mitarbeiter zu konzentrieren. Nur jedes dritte Unternehmen ist heute noch bereit, über 48-Jährige einzustellen. In fast 60 Prozent aller Betriebe sind überhaupt keine über 50-Jährigen mehr beschäftigt, dafür stellt diese Altersgruppe 30 Prozent der Arbeitslosen.


Das Ende des Verjüngungstrends ist in Sicht

Dass sich die Zeiten schon wieder geändert haben, weiß die Mehrheit der Deutschen inzwischen, will es aber in der Regel für sich persönlich nicht akzeptieren. Die Wunschformel lautet sowohl auf Arbeitgeber- wie auf Arbeitnehmerseite: „weiter so wie bisher“. Dabei stehen uns ganz drastische Veränderungen bevor.

Der Verjüngungstrend in den Unternehmen wird sich innerhalb der nächsten Jahre radikal umkehren. Dafür gibt es drei Gründe:

images/img-24-1.png
  1. Die Zahl junger, qualifizierter Arbeitnehmer nimmt aus demografischen Gründen rapide ab.
  2. Der Sozialstaat kann es sich nicht mehr leisten, die Arbeitskraft qualifizierter Kräfte brachliegen zu lassen und ihnen gleichzeitig den Lebensunterhalt auf hohem Niveau zu gewähren.
  3. Immer mehr Unternehmen bemerken, dass mit dem Ausscheiden älterer Arbeitnehmer auch Wissen, Kompetenzen und Qualifikationen das Unternehmen verlassen und Tugenden wie Qualitätsbewusstsein, Zuverlässigkeit und Loyalität verloren gehen.

Der demografische Wandel zwingt zum Umdenken

Inzwischen wissen mehr als drei Viertel der Deutschen, wie die demografischen Perspektiven der Bundesrepublik für die nächsten Jahrzehnte aussehen. Wir stehen, ohne dem ausweichen zu können, vor einer Überalterung unserer Gesellschaft. Bereits in zehn Jahren werden wir in einer gänzlich anderen Gesellschaft leben. Die einzige Altersgruppe, die noch wächst, ist die der 65-Jährigen und älter. Im Jahr 2020 werden knapp 30 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt sein und der Anteil der unter 20-Jährigen, der heute noch knapp 21 Prozent beträgt, wird auf 17,5 Prozent abgesunken sein. In den neuen Bundesländern werden dann rund ein Drittel weniger Kinder und Jugendliche im Schulalter leben als noch im Jahr 2000. Im Jahr 2015 wird jede dritte Erwerbsperson über 50 sein.

Schon ab dem Jahre 2010 könnte sich eine „graue Revolution“ anbahnen. Das heißt, resultierend aus dem demografischen Wandel, könnte es in Deutschland zu einer Abkehr vom Leistungs- und Karrierebewusstsein als allein selig machende Ideologie kommen und stattdessen zu mehr sozialem Engagement, was sicherlich nicht schlecht wäre. Allerdings hätte das auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie in Unternehmen Menschen geführt und motiviert werden müssten.

Die Älteren von morgen werden ohnehin länger arbeiten müssen, denn sowohl die öffentlichen Leistungen für Rente, Gesundheit und Pflege werden zukünftig geringer ausfallen als auch die Renditen aus privaten Kapitalanlagen. Die einzigen, denen es in Zukunft unverändert gut gehen wird, sind die Spitzenverdiener.

Nicht nur die Arbeitnehmer werden in erkennbarer Zukunft eher mit 70 als heute mit 60 in Rente gehen können, auch die Unternehmer werden ihre Haltung ändern müssen, wenn sie überhaupt noch Mitarbeiter finden wollen. Das bedeutet allerdings auch, dass nicht nur die Tarifverträge und Entlohnungssysteme umgestellt werden müssen, sondern die Grundannahmen in den Köpfen.


Abschied vom Mythos jugendlicher Leistungsfähigkeit

Junge Mitarbeiter gelten generell als billiger, leichter führ- und motivierbar, belastbarer und leistungsstärker. Schaut man allerdings auf die Ergebnisse der Pisa-Studie, also auf das, was die Jugendlichen und zukünftigen Arbeitnehmer heute in der Schule lernen und leisten, sieht es ganz anders aus. Da stellt sich die Frage, woher die Leistungsstärke eines jungen Menschen in wenigen Jahren kommen soll, der heute noch nicht einmal in der Lage ist, zu lesen, zu schreiben oder zu rechnen.

Genau umgekehrt ist es mit den Vorurteilen gegenüber älteren Arbeitnehmern. Sie gelten generell als weniger leistungsfähig, kaum lernfähig, langsamer in der Informationsaufnahme, weniger belastbar und als krankheitsanfällig. Hier zeichnet sich in der Praxis ein anderes Bild ab: Ärzte bestätigen, dass heute ein 70-Jähriger ebenso fit und belastbar ist wie ein 55-Jähriger vor ein paar Jahrzehnten.

Die wenigen Personalverantwortlichen, die zurzeit noch mit den knapp 37 Prozent der Beschäftigten, die älter sind als 55 Jahre, zu tun haben, attestieren ihnen:

images/img-27-1.png

Eine Win - Win - Partnerschaft ist möglich

Erst langsam wird den Führungsverantwortlichen bewusst, dass sich beim Menschen bestimmte Leistungs- und Persönlichkeitsbereiche erst mit zunehmendem Alter entwickeln und dass eine ausschließlich jugendliche Mitarbeiterschaft Defizite aufweist, die die Unternehmensleistung negativ beeinflusst.

Wenn aber gute ältere Mitarbeiter mit guten jüngeren zusammengebracht werden, die tatsächlich über mehr Kreativität, Lernbereitschaft, Lernfähigkeit, Flexibilität, höhere Belastbarkeit und beruflichen Ehrgeiz verfügen, könnte sich für jedes Unternehmen mit einer altersgemischten Belegschaft eine Win-Win-Situation einstellen. Noch ist es allerdings nicht so weit.

Der Kampf der Generationen ist in den Unternehmen noch nicht beendet. Jede Seite glaubt noch, dass sie nur dann gewinnen kann, wenn die andere Seite verliert. Von einer Win-Win-Partnerschaft ist noch keine Spur auszumachen. Schließlich geht es um die Existenz.


Vorreiter USA: Arbeiten ohne Altersgrenze

In den USA gibt es keine Altersgrenze für die Berufstätigen. Im Alter zwischen 60 und 65 Jahren arbeitet noch jeder Zweite und zwischen 65 und 70 Jahren noch jeder Dritte. Gerade in dieser Altersklasse hat in den vergangenen Jahren die Beschäftigung deutlich zugenommen.

Grund dafür ist nicht etwa, dass die älteren Arbeitnehmer für den Ruhestand unzureichend finanziell abgesichert sind und sich deshalb gezwungen sehen, weiter zu arbeiten. Im Gegenteil, in der Wirtschaft hat man erkannt, dass die Alten höher qualifiziert sind, deshalb werden sie gern in den Unternehmen gehalten oder auch neu eingestellt.