Gerlinde Unverzagt & Klaus Hurrelmann

Kinder stark machen
für das Leben

Herzenswärme, Freiräume und klare Regeln

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Impressum

Völlig überarbeitete Neuausgabe. Titel der Originalausgabe:

Kinder stark machen für das Leben.

Herzenswärme, Freiräume und klare Regeln.

ISBN: 978-3-451-05891-2

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Vogelsang Design

Umschlagmotiv: © Monia – Fotolia.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-61255-8

ISBN (E-Book) 978-3-451-80189-1

Inhalt

Vorwort: Kinder erziehen ist schön – macht aber viel Arbeit (frei nach Karl Valentin)

1. Kapitel: Warum Kinder in Schieflage geraten

Gewalt entsteht in der Familie

Aggressionen zeigen einen Mangel an Anerkennung

Die Ellbogengesellschaft hat Gewalt hoffähig gemacht

Der Rückzug nach innen

Aggression und Depression haben gemeinsame Wurzeln

Jedes Kind reagiert anders

Die Suchtgefährdung nimmt zu

Drogenkonsum ist ein Aus-dem-Felde-Gehen

Auch Suchtgefährdung entsteht in der Familie

Das Vorbild der Eltern zählt

Selbstkritische Eltern haben es leichter

Der riskante Griff zu Arzneimitteln

Pillen bei Leistungsstress?

Kopfüber

Wer ist schuld an der Schieflage der Kinder?

2. Kapitel: Steckt die Familie in der Krise?

Aufbruch zur Vielfalt der Familienformen

Veränderungen des Familienlebens

Familienleben in Zahlen

Immer mehr Eltern sind berufstätig

Trennungen und Scheidungen werden häufiger

Trennungsfolgen für Kinder

Geteilte Sorge ist doppelte Freude – für Kinder

Kommunikation in geschiedenen Familien

Was alle Kinder brauchen

Die Familie bleibt der ideale Ort der Erziehung

3. Kapitel: Eltern stehen unter Druck

Gute Eltern, schlechte Eltern

Von wegen Solidarität

Die Unkultur des Hinschauens

Eltern, schafft!

Die finanzielle Belastung von Familien

Armut macht krank

Armut macht leistungsschwach

Öffentliche Betreuung als Chance

Vater Staat als Erziehungsberechtigter

4. Kapitel: Wie Eltern ihre Kinder stark machen können

Familie Habacht und Familie Lässig

Erinnerungen an die eigene Erziehung

Autoritär oder permissiv – beides bringt nichts

Verunsicherung über den richtigen Erziehungsstil

Kontrolle und Wärme gehören zusammen

Das magische Dreieck: Herzenswärme, klare Regeln und Freiräume

Anerkennung aussprechen – aber richtig

Mitbestimmung praktizieren – aber ehrlich

Starke, selbstbewusste Kinder – ein Erziehungsziel ersten Ranges

Kinder sind keine Partner

(Mit-)Entscheiden will gelernt sein

Interesse für das Kind haben – aber wirklich

Bausteine für das Selbstvertrauen

Vom Verbotsschild zum Wegweiser: Grenzen orientieren

Erziehen heißt konsequent sein

Regeln und Routinen erleichtern den Alltag

5. Kapitel: Streiten will gelernt sein

Der Machtkampf zwischen Eltern und Kindern

Machtspiele ins Leere laufen lassen

Der Ton macht die Musik

Durch Fragen die Motive erkunden

Durch Zuhören verstehen

Durch Ich-Botschaften Konfrontation vermeiden

Spielregeln für Familien

Regeln schaffen einen geschützten Raum

Die besten Regeln wachsen mit

Mit Babys kann man nicht diskutieren

Kindergartenkinder sind so gerne schon groß

Mit Schulkindern ist gut verhandeln

Würde und gegenseitigen Respekt müssen auch Eltern lernen

Bis hier her und wie weiter? Strafen ohne zu demütigen

Muss Strafe sein?

Wer nicht hören will, muss fühlen?

Gibt es überhaupt sinnvolle Strafen?

Ein Stufenplan, an dem Sie festhalten können

Wenn … dann …

6. Kapitel: Kinder brauchen Kinder

Die Kindergemeinschaft bildet die nächste Generation

Geschwisterstreit und wozu er gut ist

Vom Mythos gleicher Liebe: Eltern, die Unterschiede zugestehen, entdecken eine neue und befreiende Art, fair zu sein

Liebe ist erste Elternpflicht

Kinder verändern sich, Gefühle schwanken: was lebt, bewegt sich

Gleichheitsstress verkrampft!

Wenn das Grundgefühl stimmt, sind Schwankungen völlig okay

Jedem, was er braucht, und nicht für alle das Gleiche

Die lieben Freunde: Anderer Leute Kinder

Gute Freunde sucht man sich selber aus

Kinder lernen von Kindern

Wie sich die Vorstellungen von Freundschaft verändern

Eltern bleiben Bezugspersonen

7. Kapitel: Freizeit zusammen gestalten

Fernsehen macht dumm …

Regeln für die Medienflut

Was das Internet den Kindern bieten kann …

… und was das Internet Kindern nicht bieten kann

Das Familienleben mit dem Handy

Taschengeld gehört einfach dazu!?

Freizeit mit Leben füllen

Gemeinsame Unternehmungen

8. Kapitel: Der Ernst des Lebens beginnt: Die Schule

Heiße Kartoffeln machen die Runde

Es gibt viel zu tun, fangt ihr schon mal an!

Schulaufgaben für Lehrer …

… und Hausaufgaben für Eltern

Engagement ist erste Elternpflicht?

Ein Traum von Schule

Eltern auf der Flucht

Konkurrenz belebt

Literatur

Vorwort

Kinder erziehen ist schön – macht aber viel Arbeit

(frei nach Karl Valentin)

Ein Kind zu erziehen ist ganz einfach. Schwierig ist es nur, dann mit dem Ergebnis zu leben. Eine große dunkle Wolke allerdings überschattet von Anfang an das strahlende Bild der Elternschaft. Das ist das Schuldbewusstsein. Was mache ich nur falsch? Die bange Frage angesichts geblähter Babybäuche, bockiger Kleinkinder und prügelnder Grundschüler – sie ist immer dabei. Bei Frechheiten, Lügen, Trotz und Streit um Hausaufgaben, Schlafenszeiten, Fernsehgewohnheiten und Tischsitten, erst recht im Angesicht aufreibender Probleme mit kiffenden, motzenden, magersüchtigen, rechtsradikalen oder computerverrückten Teenagern begleitet diese »Schuldfrage« die Elternschaft von Anfang an.

Im Allgemeinen verlieren sich Schuldgefühle nach den ersten paar Jahren ein wenig. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Kinder, sobald sie selbst erst einmal sprechen können, ihren Müttern und Vätern ohnehin so viele Vorwürfe machen, dass wir uns eigentlich die Selbstvorwürfe getrost sparen können. »Du bist so gemein!«, »Du hast mich gar nicht lieb!«, »Warum kann ich das nicht auch haben?«

Aber von außen bleibt uns das Schuldgefühl erhalten. Wann immer öffentliche Stimmen laut beklagen, dass etwas schiefläuft mit der nachwachsenden Generation und Schuldige gesucht werden, fällt der Blick auf die üblichen Verdächtigen – die Eltern.

Angesichts zunehmender Gewalttaten auf dem Schulhof, Mobbing in der Klasse, Leistungsschwächen, Drogenkonsum und besinnungslosem Markenfetischismus der Kinder, beklagen schrille Stimmen den Verfall der Familienwerte im Allgemeinen und das Erziehungsversagen der Eltern im Besonderen. Man ringt die Hände angesichts moderner Gewohnheiten wie Computerspielen und Zwischen-Tür-und-Angel-Essen statt gemeinsamer Mahlzeiten im trauten Familienkreis mit anschließendem einträchtigen Brettspiel. Alljährlich beweint man die neuen Statistiken, die sagen, dass nur ein Haushalt von vieren aus Eltern und Kindern besteht, immer weniger Kinder geboren werden und wenn überhaupt, dann nur ein einziges. Zu allem Übel droht einer dieser vier Familien die Scheidung: Die Zahl der Kinder, die ihre ersten achtzehn Lebensjahre mit beiden leiblichen Eltern verbringen werden, geht zurück. Abwesende Väter, berufstätige Mütter, überforderte Kinder – in allen Spielarten des Familienlebens lässt sich ein Mangel aufspüren, wenn man nur will, der sich verantwortlich machen lässt, wenn der Nachwuchs aus der Bahn kommt. Schwadroniert wird über Scheidungswaisen und Elterntrümmer, die an die Stelle althergebrachten Familienlebens treten. Man ringt die Hände und gibt den Eltern die Schuld an allem – von der Gewalt im Fußballstadion über Schulversagen bis zum Kindesmissbrauch.

Im Zusammenleben mit Kindern kommt man schon ganz von selbst an den Punkt, wo einem ein Dutzend rivalisierender Experten an die Kehle springt: Mit dem Familienleben geht’s bergab? Oh nein, es verändert sich nur!

Inmitten dieser öffentlichen Hysterie versuchen ganz normale Familien sich eben durchzuwursteln. Die Eltern kommen irgendwie zurecht, auch wenn sie jahrelang keinen Schlaf finden und führen den Haushalt, indem sie sich an allgemeinen Prinzipien des Anstands orientieren und dem, was sie für richtig halten und was ihnen als das Machbare erscheint. Sie lieben ihren kleinen Sonnenschein über alles und deshalb lassen sie ihm mehr durchgehen als ihre eigenen Eltern. Auch weil sie nicht ertragen können, ihren kleinen Schatz so traurig zu sehen. Die halbvergessenen Prinzipien der eigenen Eltern noch im Ohr, neigen Eltern heute zum Nachgeben: Väter kaufen den superteuren Lego-Systembaukasten. Er soll sich doch freuen, der Kleine, wo er sonst schon so wenig von seinem Papa hat. Mütter wenden sich achselzuckend ab, wenn das Wesen, das sie nur ein paar Jahre zuvor unter Schmerzen geboren haben, ihnen ein wütendes »Du blöde Mama« entgegenschmettert.

Was hab ich bloß falsch gemacht? Den einen richtigen Weg in der Kindererziehung – es gibt ihn nicht. Deshalb muss jeder Versuch, Patentrezepte zu liefern, von vorneherein zum Scheitern verurteilt sein. Kinder sind verschieden und Eltern sind es auch.

Aber man kann klar sehen, worauf es ankommt – was ein Kind braucht, um groß und stark zu werden, erschließt sich auch, wenn man genau hinschaut, was Kindern, die in Schieflage geraten sind, gefehlt hat. Selbstwertgefühl, das gesunde Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten verschafft Erfolge und hilft, ihr Ausbleiben zu verkraften. Dafür können Eltern viel tun – in welcher Form auch immer sich die Familie zusammensetzt. Starke, selbstbewusste Kinder wachsen beileibe nicht nur in der konventionellen Familie, bestehend aus Vater, Mutter, Kind heran, geschweige denn in wohlhabenden Verhältnissen, in denen zwischen Mutter und Vater herzliches Einvernehmen herrscht und Kinder in Abwesenheit größerer Krisen und Katastrophen auf der Sonnenseite des Lebens heranreifen. Im Gegenteil: Es sind die gesprungenen Schüsseln, die am längsten halten, nicht nur im Märchen. In jeder Krise wachsen Chancen, in jedem Problem steckt ein Pro. Eltern, die sich diese Haltung zu eigen machen können, sind schon ein gutes Stück weiter. Eltern können alles bereitstellen, was Kinder für ihre Entwicklung brauchen. Wie ein Gärtner, der seinen Rosenkohl gießt und düngt, auf genug Sonnenschein hofft und auf die reiche Ernte wartet – der aber nicht davon träumt, dass aus seinem Rosenkohl Erdbeeren werden. Sie können wenig falsch machen, solange Sie bereithalten, was Ihr Kind braucht: Herzenswärme, klare Regeln und genügend Spielraum. Daraus erwächst alles Weitere.

Wir neigen dazu, unseren Kindern alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen zu wollen. Dabei sind Fehler der Eltern auch gute Gelegenheiten für die Kinder, ihre Selbsthilfekräfte zu trainieren. Aus Versehen oder aus Unkenntnis enttäuschen und belasten Eltern ihre Kinder im Laufe ihrer gemeinsamen Jahre. Das kommt eben vor – Schuldgefühle sind fehl am Platz. Stark und selbstbewusst werden Kinder auch, wenn sie sich an den Fehlern ihrer Eltern erproben können und lernen, sie zu überwinden. Überlegen Sie doch mal, wie viel von Ihrer Tüchtigkeit und Widerstandskraft letztlich aus den Erziehungsfehlern Ihrer Eltern herrührt!

Immer mehr Kinder haben Schwierigkeiten zu Hause, im Kindergarten, in der Schule. Immer mehr Eltern stehen in der Erziehung vor unlösbaren Problemen. Schon kleine Fehlschläge und Misserfolge, Meinungsverschiedenheiten und Missempfinden hält man oft schlecht aus, weil man sie als grenzüberschreitende Attacke auf die eigene Persönlichkeit erlebt. Vielleicht müssen wir auch alle den langen Atem wieder lernen: Für viele Konflikte sind schnelle Lösungen nicht zu haben. Heute will sich kaum jemand noch auf eine längere Konfliktperiode in Beziehungen zum Lebenspartner, zu den eigenen Kindern oder Freunden einstellen. Man will immer gleich Lösungen haben. Dabei kann man vieles erst begreifen, wenn man sich Zeit lässt, genau beobachtet und gelassen abwartet. »Halt eine Weile durch, es wird sich ändern« – Eltern brauchen eine gehörige Portion dieser Art Durchhaltevermögen. Gelassenheit gibt Eltern und Kindern Kraft, eine Durststrecke auch mal durchzustehen.

Um an ihren Krisen wachsen zu können, brauchen Kinder die Liebe ihrer Erwachsenen und die Gewissheit der bedingungslosen Anerkennung ihrer Person, eine schützende Grenze, die Sicherheit und Orientierung ermöglicht und die Grundlage für Selbstvertrauen abgibt. Kinder wollen Unabhängigkeit. Gut, wenn sie ihre Eltern als Erwachsene erleben können, die von ihnen abgegrenzt sind und ihren Willen nach Eigenständigkeit akzeptieren. Die vornehmste Aufgabe der Elternschaft ist doch, sich selbst überflüssig zu machen!

1. Kapitel

Warum Kinder in Schieflage geraten

Jeden Morgen dasselbe: Timo biegt um die Ecke, und da wartet Dennis, wippt auf den Füßen hin und her, Hände in den Taschen vergraben, kaugummikauend. Fieses Grinsen: »Na, Arschloch, willste was?« Timo zuckt zusammen, schon vor dem ersten Schlag. Gleich darauf fliegen die Fäuste, und bald schon liegt Timo am Boden. Dennis macht weiter. Tritte in den Bauch, wahllose Schläge ins Gesicht und auf den ganzen Körper.

Seit Dennis vorige Woche vergeblich die Herausgabe von Timos neuem Fußball verlangt hat, geht das schon so: »Her mit dem Teil, sonst …« Er ließ es in der Luft schweben, dieses »sonst«. Aber Timo weiß Bescheid. Und ahnt schon, was in den nächsten Tagen auf ihn zukommt. Dennis’ Ruf reicht weit über den Schulhof hinaus. »Wenn der dich erstmal auf ’m Kieker hat«, murmeln sogar die Großen aus der fünften Klasse. Das gute Stück fest unter den Arm geklemmt, ist Timo blitzschnell davongerannt – seitdem steht er auf der Abschussliste von Dennis. Diesem Timo wird er es jetzt richtig zeigen: schwächer, kleiner als er selber, »wie der schon aussieht« und immer die besseren Noten, »der Schleimer«. Für Dennis ist klar: »Den mach ich fertig.« Und zwar sobald er Timo zu fassen kriegt – das ist oft, denn beide gehen in dieselbe Klasse.

Weil Timo sich vor der Schule dauernd über Bauchweh beklagt, ist seine Mutter mit ihm zum Kinderarzt gegangen. Alles in Ordnung, organisch jedenfalls. Doch Timo hört nicht auf zu jammern. Seine Mutter macht sich Gedanken. »Was ist denn los mit dir, tut dir jemand was?«, hat sie in einer ruhigen Minute gefragt, und da sind mit einem Mal alle Dämme gebrochen. Timo wirft sich schluchzend in ihre Arme, und jetzt kommt alles heraus.

Wenn sechsjährige Kinder einander erpressen und schon Erstklässler brutal und hemmungslos zuschlagen, sind Erwachsene entsetzt. Was ist los mit den Kindern? Sind das noch normale alltägliche Kabbeleien unter Kindern, wie es sie auch früher schon gab? Oder künden solche Vorfälle von wachsender Gewalt schon unter Grundschülern? Mit Entsetzen liest man in der Zeitung von Kindern, die in der Schule nicht nur versagen, sondert dort auch noch Furcht und Schrecken verbreiten, die Lehrer nicht nur ärgern und verspotten, sondern mit gezückten Messern angreifen und verletzen, die sich mit ihren Altersgenossen nicht nur prügeln, sondern sie halbtot schlagen, wobei Schlimmeres manchmal nur durch Zufälle verhindert wird, manchmal tatsächlich geschieht.

Erzieherinnen aus Kindergärten und Grundschullehrerinnen berichten, dass immer mehr Kinder versuchen, ihre Konflikte mit Gewalt zu lösen. Die Hemmschwelle sinkt ab: Schon auf kleine Frotzeleien ihrer Spielkameraden reagieren Kinder wie angestochen. »Du Doofi« – das reicht für Schlag und Gegenschlag schon in der Buddelkiste. Auf dem Schulhof wird mehr daraus: Ein gellendes »Wichser« bricht plötzlich aus dem allgemeinen Lärmpegel heraus, »ich mach dich platt«, »stech dich ab« oder »du Nutte«. Ein zufälliges Anrempeln im Gedränge, ein ungebührlicher Blick, eine versehentliche Berührung beim angetäuschten Kickboxen – wegen nichts geraten Schüler in heilloser Wut aneinander. Vielen Kindern, die blindlings losschlagen, fehlt jede realistische Einschätzung davon, was sie anrichten. Es wird auch dann noch draufgeschlagen, wenn der andere bereits besiegt ist. Der Ehrenkodex, der noch vor Jahren das Opfer vor grenzenloser Brutalität schützte, versagt heute.

Immer mehr Kinder setzen sich gegenseitig unter Druck. Schwächere werden eingeschüchtert, zu Demutsgesten gezwungen oder mit dem Ausschluss aus der Gruppe bedroht. Viele Kinder können überhaupt nicht ermessen, wie sich ihr Gegenüber fühlt. Sie bleiben kalt und unempfindlich, verweigern das Gespräch. Sie sagen, dass ihnen egal sei, ob der andere leidet.

Gewalt entsteht in der Familie

Timos Mutter war außer sich vor Wut, als sie erfuhr, wie ihr Kind gedemütigt und verletzt worden war. Am liebsten hätte sie sich diesen Dennis erst einmal richtig vorgeknöpft. Ihn windelweich geprügelt, wenigstens aber seine Eltern angerufen, Anzeige erstattet, in der Schule Alarm geschlagen. Es ist schwer, angesichts brutaler Attacken noch gelassen zu bleiben, besonders wenn das eigene Kind zum Opfer geworden ist. Aber aggressives und zerstörerisches Verhalten von Kindern tritt nicht von heute auf morgen auf, weil sie Pech im Leben hatten, zu viel im Internet unterwegs sind oder ganz allgemein die Werte verfallen. Es steht meist am Ende eines langen Weges, mit ungelösten Konflikten fertig zu werden. Gewalt ist ein Alarmsignal, ein Schrei nach Zuwendung. Hier dringt auch der Wunsch nach außen, wahrgenommen, ernst genommen, angenommen zu werden, verlässliche Grenzen zu spüren und in der Auseinandersetzung Halt zu finden.

Über den Hintergrund von Dennis’ Verhalten wissen wir einiges aus der psychologischen, soziologischen und pädagogischen Ursachenforschung. Die zeigt, dass die Täter in der Schule oft aus Elternhäusern kommen, in denen sie selbst viel Gewalt erlebt haben. Wie viel hat Dennis wohl einstecken müssen, bevor er sich ans Austeilen gemacht hat? Gespräche könnten an den Tag bringen, was Dennis zum Zuschlagen treibt. Ständig streitende Eltern, die im Begriff stehen, sich zu trennen und ein Zuhause, in dem alles aus den Fugen gerät, sind keine Basis, um Konflikte gewaltfrei und fantasievoll, gelassen und mitfühlend lösen zu lernen.

Gewalttätigen Kindern fehlen häufig die Voraussetzungen für das Einhalten von sozialen Regeln. Eine davon ist das Vertrauen in die eigene Belastbarkeit, eine zweite das Vorbild der Eltern, die versuchen, Konflikte einvernehmlich und voller Achtung füreinander zu lösen. Das genaue Gegenteil erlebt gerade Dennis bei seinen Eltern. Wegen eigener Schwierigkeiten sind seine Eltern nicht fähig, ihrem Kind irgendeine Art von Ermutigung zu geben.

Aggressionen zeigen einen Mangel an Anerkennung

Oder Kevin zum Beispiel: Sein Vater ist sehr streng mit ihm. Selbst arbeitslos, stehen seine Chancen, einen neuen Job zu finden, schlecht. Dafür macht Kevins Vater seine eigene miese Schullaufbahn verantwortlich. Das soll ihm nicht noch mal passieren: Für seinen Sohn hat er sich fest vorgenommen, dass es ihm mal besser gehen soll. Für jede schlechte Note muss Kevin ein Fußballposter in seinem Zimmer abhängen. Schreibt er eine Fünf – und das passiert oft – kriegt er Prügel. Seine Lektion hat er längst gelernt: dass er schlecht ist, weil er schlecht rechnet. Wie viel anders sähe die Lektion wohl aus, wenn er wüsste, dass seine Eltern ihn mögen, so wie er ist, und dass er nur nicht gut rechnen kann?

Eine wichtige Ursache dafür, dass Kinder aggressiv und gewalttätig werden, liegt in ihrem Gefühl, als Person nicht angenommen zu sein. Sie fürchten, bei jedem kleinen Fehler als totaler Versager dazustehen. So ist es oft: Wer dann noch ungünstige Voraussetzungen von zu Hause in die Schule mitbringt, wie zum Beispiel einen Vater, der bei jeder Gelegenheit prügelt, reagiert aggressiv auf die Anforderungen.

Es sind meistens die Schüler mit schlechten Schulleistungen, die gewalttätig werden. Kinder, die durch Aggressivität auffallen, müssen doppelt so häufig eine Klasse wiederholen wie andere. Fast jedes zweite aggressive Kind hat Lernprobleme. Gut sein will jeder – aber Kinder, die oft versagen, weichen auf andere Leistungsbereiche aus. Jeder ist in irgendetwas gut. Im besten Fall ist das ein anderes Unterrichtsfach. Als Niete in Mathe begeistert Alexander mit seiner Begabung für Fremdsprachen. Er könnte sich auch zum Basketball-Ass mausern oder mit der Blockflöte glänzen. Tobias ist schlechter dran. Bei ihm gerät jeder Aufsatz zum persönlichen Fiasko, aber auch in allen anderen Fächern ist er schwach auf der Brust. Erst seit er angefangen hat, den Klassenkasper zu geben, fängt er sich wieder.

Das ist das Problem: Je mehr Bereiche zum Gutsein ausfallen, desto näher rücken zum Ausgleich die leistungsersetzenden Taten wie Kaspern, Lügen, Klauen und Hauen. Gewalttätigkeiten gegen sich selbst und andere erzählen immer von vorausgegangenen Frustrationen. Schüler nehmen Rache an der Schule, die ihnen das Gefühl gibt zu versagen. Sie machen auf sich aufmerksam – auf eine Weise, die sie beherrschen und von der sie wissen, dass sie andere damit vor den Kopf stoßen können. Für einen Moment stehen sie als Täter im Mittelpunkt des Geschehens. Was für eine Bestätigung!

Die Ellbogengesellschaft hat Gewalt hoffähig gemacht

Jedes Kind, das Gewalt ausübt, hat zuvor Gewaltmengen aufgenommen. Die wöchentliche Tracht Prügel, die angeblich noch niemandem geschadet hat, oder die Erniedrigung durch hilflos schlagende Eltern gehören dazu. Prügel auf dem Schulhof und handgreifliche Auseinandersetzungen in der Clique und auch die Gewalt im Fernsehen und in Computerspielen beeinflussen Kinder – von der Gewalt, die sich in Arbeitsplatzverlust, Geldschwierigkeiten, Wohnungsnot, fehlenden Freizeitangeboten, Ehekonflikten und Suchtproblemen der Eltern verbergen kann, ganz zu schweigen.

Mit jeder Gewalttat entlädt sich ein heftiger Aggressionsstau nach außen. Früher bändigten manchmal noch unangefochtene Normen den Ausbruch zerstörerischer Impulse, heute dagegen lässt sich Gewalt ausleben. Unsere Ellbogengesellschaft hat Gewalt hoffähig gemacht – die kindlichen Täter sind auch Opfer. Sie sind Spiegelbilder der Erwachsenenwelt, in der sie aufwachsen. Was ihre Taten zeigen, ist eine fortschreitende Verwüstung sozialer Beziehungen.

Auf den Familien lastet ein beständig wachsender Leistungsdruck. Scheidungen, Arbeitslosigkeit, Ortswechsel und Berufstätigkeit beider Eltern lösen viele Familienbande auf und nehmen Kindern Halt und Orientierung. Nachbarn, Freunde, Großeltern, die Kirchengemeinde – die Miterzieher von gestern – sind neuen Einflüssen gewichen: der Clique, dem Kino und vor allem dem Fernsehen und dem Computer, wo immer mehr Gewalt zu sehen ist.

Aggression und Gewalt als Erfahrung von Grenzen und Möglichkeiten gehören zur normalen kindlichen Entwicklung. Gegen die Eltern aufzubegehren, Raufereien mit Geschwistern und Streit mit Klassenkameraden bieten Kindern unzählige Gelegenheiten, mit dem Ausdruck, den sie ihren aggressiven Empfindungen geben, zu experimentieren. Ein fünfjähriges Kind, das manchmal wutschnaubend die Türen zuknallt oder sich brüllend auf den Boden wirft, ist keineswegs aggressiv verhaltensgestört. Mit fünf, sechs und manchmal auch erst sieben Jahren gehört das ungesteuerte, impulsive Verhalten noch dazu.

Es gibt keine völlig eindeutige Schwelle, jenseits der Eltern sich Sorgen um ihr aggressives Kind machen müssen Aber Anhaltspunkte helfen, Entwicklungen einzuschätzen: Gefährdet sind jene Kinder, deren »auffälliges Verhalten« extrem ist und bestehen bleibt, ohne sich entsprechend der Altersentwicklung den sozialen Spielregeln anzupassen. Wenn ein Kind immer wieder Gegenstände zerstört, auf andere Kinder losgeht, andauernd Regeln verletzt, ständig lügt und stiehlt, sich nicht an Vereinbarungen hält, steckt es in Schwierigkeiten, die weitere nach sich ziehen können: Im Kindergarten gerät es in die Außenseiterrolle, weil es keine Freunde findet. Später in der Schule sind seine Leistungen schlecht, obwohl es vielleicht durchaus begabt ist.

Aggressive Kinder, denen nicht geholfen wird, geraten leicht ins Abseits. Je früher kleine Kinder aggressiv sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ihr Aggressionsverhalten bis ins Jugend- und Erwachsenenalter fortsetzt. Sie machen die Erfahrung, dass sie sich nur wirklich behaupten können, indem sie aggressiv sind. Erste Misserfolge, erste Ablehnungen setzen einen Teufelskreis in Gang. Das Kind schließt sich anderen Kindern mit ähnlichen Schwierigkeiten an. Es entsteht eine Gruppe, in der aggressives Verhalten zur Norm gehört. Das Kind kommt im Unterricht nicht mehr mit, leidet noch mehr unter seinen schlechten Leistungen und vermeidet mit der Zeit alle Bereiche, die ihm ständig nur Misserfolge einbringen. Es strengt sich nirgendwo mehr an und findet Anerkennung nur noch in der Außenseitergruppe.

Der Rückzug nach innen

Aggressionen gegen andere – das ist nur eine Form, mit der Kinder auf Schwierigkeiten in ihrer Persönlichkeitsentwicklung reagieren. Es gibt aber auch das Gegenteil, die »unauffällige Auffälligkeit«, die nicht weniger gefährlich ist: die stillen, schüchternen, zu braven, angepassten und zu unsicheren Kinder, die sich nichts zutrauen. Sie wirken oft geknickt und traurig, finden nur schwer Anschluss im Kindergarten und halten sich auch in der Schule abseits vom lärmenden Haufen. Ihr Rückzug nach innen wird oft begleitet von Magenverstimmungen, Schlafstörungen, Nervosität.

Anna war bis etwa zum dritten Schuljahr ein starkes und sehr beliebtes Mädchen in der Klasse. Ihre Freundinnen begannen, mit künftigen Rollen zu experimentieren, für Boygroups zu schwärmen und in der Bravo zu schmökern, und sie reagierte mit Angst und Verunsicherung. Als ihre beste Freundin Lisa plötzlich umschwenkte und eines Tages im perfekten Girlie-Look auftauchte, geriet Annas Welt endgültig ins Wanken. Sie zog sich zurück, war in der Klasse schnell out und geriet in eine Krise, die auch ihre Leistungen in der Schule erfasste. Vorher eine fröhliche, gescheite Schülerin, begann sie plötzlich Mathematik zu hassen und scheiterte schon an kleinen Aufgaben, die sie früher mühelos bewältigt hatte. Bei Klassenarbeiten gab sie leere Blätter ab, keine Hausaufgabe brachte sie zu Ende. Immer weiter zog sie sich in eine Welt selbstgeschriebener Geschichten zurück, die immer unverständlicher wurden. Stunden verbrachte sie allein in ihrem Zimmer, dösend auf dem Bett.

Die Eltern waren ratlos. Als Anna düster bemerkte, dass es ihnen noch leid tun würde, wenn sie tot wäre, dass man sie zur Schule gezwungen hätte, geriet die Mutter in Panik. Sie verlangte von der Lehrerin, die Freundschaften in der Klasse zu reglementieren: Annas ehemalige Freundinnen sollten im Klassenzimmer umgesetzt werden, Lisa wieder direkt neben Anna platziert werden, beide Mädchen fürs Schulschwimmen gewonnen werden. Vergeblich versuchte die Lehrerin, Annas Eltern zu beruhigen, ihnen zu erklären, dass Annas Krise im Schatten der Vorpubertät ein Versuch der Loslösung aus der Kinderwelt sei, die ersten Schritte zur eigenen Unabhängigkeit zu schaffen.

Anna durchleidet ihre Verlustangst, klammert sich an die beste Freundin, die sie für sich allein haben will. Und ahnt, dass das nicht geht. Ängstlich zieht sie sich in ihr eigenes Reich zurück. Bei alldem wird sie stiller und stiller – nicht daran zu denken, dass sie mit lautem, aggressivem Gehabe ein Signal über ihre seelische Not abgibt, wie es wahrscheinlich ein Junge getan hätte.

Für Anna hängt viel davon ab, wie sehr ihre Eltern bereit sind, Vertrauen zu zeigen, dass ihre Tochter einen eigenen Weg findet. Diese Unterstützung fehlte Anna bisher. Ihre Eltern haben sie liebevoll und sensibel behandelt und ihr in guter Absicht viele Belastungen erspart. Auch bei der Auswahl ihrer Freundinnen, weil die Mutter vermeiden wollte, dass ihr Kind in schlechte Gesellschaft geriet. Darunter hat das Selbstvertrauen von Anna gelitten. Die Eltern haben sie zu stark von Herausforderungen abgeschirmt und sie immer ein bisschen zu sehr beschützt, in guter Absicht – aber Annas Position in der Freundesgruppe ist hierdurch geschwächt worden. Die unsichere und isolierte Position, wie Anna sie hat, ist so auch mit auf die Eingriffe der Eltern zurückzuführen.

Aggression und Depression haben gemeinsame Wurzeln

Kinder spüren intuitiv, wenn sie in Schwierigkeiten geraten und mit den täglichen Herausforderungen in Familie, Schule und Freundeskreis nicht mehr glatt zurechtkommen. Sie fangen an, Gegenstrategien aufzubauen, um sich aus der misslichen Lage zu befreien. Dabei greift jedes Kind auf die Verhaltensmuster zurück, die es bisher gelernt, das heißt vor allem von Mutter und Vater abgeschaut hat. Anna hat sich stark an ihrer Mutter orientiert, die sich Anspannungen und Belastungen wenig anmerken lässt. Sie hat die Eingriffe ihrer Mutter in ihren Umgang mit Freundinnen zwar nicht gerne gesehen, fand aber doch immer, ihre Mutter habe die größeren Erfahrungen, von denen sie profitieren wollte. Das hat Anna in der aktuellen Lage in ihrem Freundinnenkreis stark geschwächt und tief verunsichert. Ihre Strategie der Verarbeitung, der Bewältigung der schwierigen Situation besteht darin, sich den Ärger, die Wut und die Enttäuschung darüber, dass ihre Freundin Lisa sich von ihr abgewandt hat, nicht nach außen anmerken zu lassen. Irgendwo muss ihre Enttäuschung aber hin, und deswegen richtet sie ihre Aggressionen nicht wie Dennis nach außen, etwa gegen die untreue Freundin, sondern gegen sich selbst. Von ihrer Mutter hat sie Mäßigung gelernt, deswegen kommt es nur zur Andeutung des Selbstmords. Aber die Aggression gegen sich selbst ist doch sehr stark und lähmt all ihre Kräfte, bis hin zum schulischen Lernen.

Aggression gegen andere oder sich selbst – die Ausgangskonstellation hierfür kann durchaus vergleichbar sein. Die Beispiele von Dennis und Anna zeigen das. Beide Kinder sind durch die Beziehung zu ihren Eltern, durch ihre gesamte bisherige Lebensgeschichte nicht zu starken Persönlichkeiten geworden. Beide spüren ein Defizit von Anerkennung oder Unterstützung durch die Eltern. Sie lieben ihre Eltern und identifizieren sich stark mit ihnen. Aber den Eltern ist es nicht gelungen, diese liebevolle Bindung in ein stabiles Selbstvertrauen bei ihren Kindern umzuwandeln und ihre Kinder damit fit für die täglichen Herausforderungen zu machen, die für ihre Entwicklung nun einmal ganz normal sind.

Beide Kinder konnten kein Vertrauen in ihre eigene Belastbarkeit aufbauen. Dennis nicht, weil er in die ungeregelten Konflikte seiner Eltern hineingezogen wurde und deshalb nicht gelernt hat, mit Spannungen und Belastungen konstruktiv umzugehen. Anna nicht, weil ihre Eltern sie zu ängstlich abgeschirmt haben und sie dadurch nicht geübt darin ist, sich im entscheidenden Moment durchzusetzen. Beiden Kindern fehlt die Erfahrung eines familiären Zusammenlebens, das feste Regeln und klare Vereinbarungen kennt und Verlässlichkeit ausstrahlt. Beiden Kindern fehlt die richtige Mischung aus Anregung, Anleitung und Anerkennung und infolgedessen gerieten sie in ihrer Entwicklung ins Straucheln. Beide schaffen es nicht, sich in für ihr Alter durchaus typischen Belastungssituationen normal zu behaupten.

Jedes Kind reagiert anders

Kinder, die in Schieflage geraten, finden viele Formen, ihren inneren Konflikt auszudrücken. Dennis und viele Jungs fallen eher mit gewalttätigem und zerstörerischem Verhalten auf. Anna und viele Mädchen ziehen sich aus dem Geschehen zurück, werden still und traurig und wagen lange Zeit nichts mehr. Doch es gibt auch Variationen von Aggression und Rückzug, die aufeinander folgen können: Dennis haut um sich und quält seine Mitschüler, ein paar Jahre später hat er sich vielleicht im Strudel selbstzerstörerischen Verhaltens verfangen. Anna durchmisst ihre Talsohle schweigend, aber ein halbes Jahr später ist sie wieder obenauf, wenn auch noch unsicher, und macht sich Luft, indem sie die jüngeren Mädchen auf dem Schulhof piesackt. Vielleicht aber bleibt ihr Selbstwertgefühl innerlich so angeknackst, dass sie mit 16, 17 Jahren bei jedem kleinen Liebeskummer ins Bodenlose fällt.

Zum Glück geht es meistens gut: Die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen kommt mit ihren Krisen zurecht, sie meistern ihre Lebensanforderungen und genügen eigenen und von außen an sie herangetragenen Leistungserwartungen. Vier Fünftel eines Jahrgangs nehmen die Herausforderungen erfolgreich an, die in den persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Möglichkeiten ihres Lebensalters liegen. Einem Fünftel aber gelingt die Auseinandersetzung mit den Anforderungen nicht. Bei ihnen werden durch soziale und psychische Belastungen körperliche und seelische Kräfte überstrapaziert. Es kommt zu unbefriedigenden oder selbstzerstörerischen Verläufen im weiteren Prozess der Persönlichkeitsentwicklung.

Zu den nach innen gerichteten, selbstzerstörerischen Formen gehören die emotionalen Störungen. Vielen Kindern fällt es schwer, aufmerksam zu sein. Viele finden wenig oder gar keinen Kontakt und haben sich von anderen zurückgezogen. Nicht wenige leiden unter psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchweh und Konzentrationsschwierigkeiten, fühlen sich häufig ängstlich und depressiv. Oft klagen Kinder über Müdigkeit, Überforderung und Einsamkeit – Mädchen etwas mehr, Jungen weniger. Dieser Unterschied prägt sich nach dem zehnten Geburtstag noch weiter aus.

Das Risiko für eher depressiv-ängstliche Grundstimmungen ist hoch. Diese »leisen Symptome« übersehen Eltern und Lehrer häufig, weil sie von der Wucht der Aggression verdeckt werden, die überwiegend die Jungen nach außen und für die anderen spürbar entladen. Die leisen Kinder reagieren mit Stottern, Asthma, Allergien und Bettnässen. Zu den Aggressionen, die Kinder gegen sich selbst richten, gehören Depression, Ess- und Magersucht, das Ritzen, Selbstmord und auch der übermäßige Konsum von Alkohol, Nikotin, Drogen und Tabletten, der sich unter Umständen erst einige Jahre später entwickelt.

Es gibt viele Wege, Schieflagen auszubalancieren. Und jeder ist individuell: Kinder verarbeiten ihre Krisen so oder so – ob sie sich aggressiv Luft machen, sich depressiv zurückziehen oder mit Hilfe von Alkohol, Tabletten und Drogen dem Problem ausweichen, hängt auch davon ab, über welche Vorbilder und Muster sie zur Bewältigung von Lebenskrisen verfügen. Dabei liegen taugliche und untaugliche Wege nah beieinander. Welchen Weg sie auch wählen – mit ihrem Befinden spiegeln Kinder den Zustand ihrer gesamten Umwelt wider. Sie zeigen uns spontan und unverstellt, wie ihre Lebensumwelt auf sie wirkt und wo ihre Umgebung sie überfordert.

Je besser ein Kind in ein soziales Beziehungsgefüge mit wichtigen Bezugspersonen eingebunden ist, desto besser kann es auch mit ungünstigen Lebensbedingungen, kritischen Ereignissen und andauernder Belastung umgehen, desto weniger treten die Überforderungssymptome als soziale, seelische oder körperliche Auffälligkeiten auf. Das Vertrauen in die eigene Belastbarkeit, die Fähigkeit zum problemlösenden Verhalten, ein stabiles Selbstwertgefühl und eine abgesicherte Identität sind gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit Belastungen.

Niemand kann genau vorhersagen, welchen Weg ein Kind, das aus der Balance geraten ist, einschlägt. Es gibt keinen einfachen Mechanismus von Ursache und Wirkung. Nicht jeder Sohn eines Trinkers wird zwangsläufig selbst einer. Nicht jedes Kind von Eltern, die sich trennen, wird bleibende emotionale Schäden davontragen. Kleine Erpresser, brutale Schläger, aggressive oder depressive Jungen und Mädchen kommen auch aus den besten Elternhäusern. Armut, beengte Wohnverhältnisse und hohe Anforderungen der Schule führen nicht zwangsläufig dazu, dass ein Kind aggressiv wird oder sich verschanzt.

Aber je mehr Risikofaktoren zusammenkommen und je weniger schützende, ermutigende und stärkende Einflüsse ins Gewicht fallen, desto größer wird die Möglichkeit des Scheiterns an den Entwicklungsaufgaben. Wahrscheinlich spielen auch angeborene Temperamentsunterschiede und andere Anlagen eine große Rolle. Der Schlüssel zum Verständnis liegt aber immer in der Familie. Eine intakte Familie (jedweden Zuschnitts) mit einem guten Familienklima ist eine gute Voraussetzung, eine gestörte Familie (jedweden Zuschnitts) ist eine schlechte. In der Familie werden die Weichen gestellt, die eine spätere Entwicklung in die eine Richtung erleichtern und in die andere erschweren.

Die Suchtgefährdung nimmt zu

Das gilt für alle Formen von Problemverhalten – auch die suchtgefährdenden. Wohl kaum eine andere Vorstellung ängstigt Eltern so sehr wie die, ihr Kind könne von Drogen abhängig werden. Mehr als vor Gewalttaten und Zerstörungswut, die man manchmal Jungen sogar noch klammheimlich als typisch männliches Verhalten durchgehen lässt (»ein richtiger Junge muss sich auch mal prügeln«), und sehr viel mehr als vor dem als typisch weiblich geltenden duldenden Hinnehmen und stillen Leiden fürchten sich Eltern vor den Fängen einer Sucht. »Wie kann ich mein Kind vor dem Abrutschen in die Drogensucht bewahren?«, »Werde ich noch Einfluss auf meinen Sohn haben, wenn in seiner Clique gekifft wird?«, »Was soll ich machen, wenn er sich heimlich mit seinen Freunden betrinkt?«, »Wird meine Tochter mir überhaupt erzählen, wenn ihr harte Drogen angeboten werden?«, »Wie kann ich verhindern, dass mein Kind sich ruiniert?«

Eltern sind beunruhigt. Aus gutem Grund. Die Drogennutzung hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen, bei den legalen ebenso wie bei den illegalen Stoffen. Beunruhigend ist das immer frühere Alter beim Einstieg in den Zigarettenkonsum. Schon neun- und zehnjährige Raucher sind zu verzeichnen, das durchschnittliche Einstiegsalter in einen regelmäßigen Tabakkonsum hat sich schon auf 12 bis 13 Jahre eingependelt. Viele fangen noch früher an, Jungen und Mädchen sind gleich stark vertreten. Beim weiblichen Geschlecht ist die Zigarette attraktiver geworden. Im weiteren Verlauf des Jugendalters gehören die Mädchen mit gut einem Fünftel, das regelmäßig raucht, sogar zu den stärkeren Konsumenten als die Jungen.

Der Alkoholkonsum hat sich ebenfalls im Lebenslauf nach vorne verlagert. Hier liegt das durchschnittliche Einstiegsalter bei etwa 14 Jahren. Jungen konsumieren deutlich mehr als Mädchen, auch wenn diese in den letzten Jahren durch bunte und süße Mischgetränke (Alkopops, Cocktails) stark umworben werden. Sogenannte Flatrate-Partys, von findigen Gastronomen zwecks Umsatzsteigerung erfunden, verführen Heranwachsende zum Vollsuff. Das alles wirkt: Im weiteren Verlauf des Jugendalters gehören dann 25 Prozent der Jungen und 15 Prozent der Mädchen zu der Gruppe, die regelmäßig und gelegentlich übermäßig Alkohol konsumiert.

Noch etwas beunruhigt Eltern: Sowohl bei Zigaretten als auch bei Alkoholika gibt es Kinder, die ungeheuer große Mengen konsumieren. Insgesamt gesehen ist es zwar nur eine kleine Gruppe, die raucht und trinkt, aber diese Kinder ruinieren ihre Gesundheit geradezu nach Plan. Sie treffen sich zu Partys, deren einziger Zweck darin besteht, innerhalb kurzer Zeit sturzbetrunken zu sein und die Besinnung zu verlieren. Von einer gemeinschaftlich getragenen Trinkkultur mit angenehmer Geselligkeit ist das weit entfernt, dagegen ist die Gefahr einer frühen Abhängigkeit nicht zu übersehen. Wenn in Zeitungen von dreizehnjährigen Jungen und Mädchen berichtet wird, die in die Notaufnahme eingeliefert werden mussten, weil sie eine Alkoholvergiftung hatten, dann führt das zu Recht bei vielen Eltern zu Angstvorstellungen.

Die illegalen Drogen. Auch sie können Eltern Angst einjagen. Der Einstieg in den Konsum von Cannabis und Partydrogen, die von dubiosen Händlern erworben werden und deren stoffliche Zusammensetzung praktisch unkontrollierbar ist, beginnt ebenfalls immer früher. Bei gut einem Drittel der Jugendlichen muss heute mit einem zumindest vorübergehenden Substanzkonsum gerechnet werden. Es sind verbotene Stoffe, die auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden. Schon Kinder kommen hier mit kriminellen Strukturen in Berührung, ohne sich dieser vielfältigen Gefahren bewusst zu sein. Eine Horrorvorstellung für Eltern.

Drogenkonsum ist ein Aus-dem-Felde-Gehen

Wenn Kinder und Jugendliche legale und illegale Drogen konsumieren, dann tun sie das sehr häufig aus schierer Neugier. Sie wollen mitreden können und dabei sein. Sie wollen experimentieren und ihre Grenzen kennenlernen, auch überschreiten. Aber Vorsicht: Alles, was über eine überschaubare Experimentierphase hinausgeht, ist ein Zeichen von problematischem Verhalten, das Kinder und Jugendliche auf Dauer schwächt: Wie bei den nach außen gerichteten, untauglichen Formen der Problembewältigung aggressiver Art wirkt auch die nach innen gerichtete Depression oder psychosomatische Störung den gesunden Kräften entgegen. Der Konsum von Drogen verstärkt diese Entwicklung.