Philip Streit

Wilde Jahre – gelassen und positiv durch die Pubertät

Ein Leitfaden für Eltern

Mit einem Vorwort von Martin Seligman

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Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Vogelsang Design

Umschlagmotive: © auremar – fotolia.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80113-6

ISBN (Buch) 978-3-451-61199-5

Inhalt

Vorwort von Martin Seligman

Einleitung

1.Kapitel: Mythos Pubertät: Eine neue Sichtweise der jugendlichen Entwicklung

Zusammenfassung

2.Kapitel: Pubertät – was sind die Fakten?

Zusammenfassung

3.Kapitel: Aufblühen statt Sturm und Stress – ein systemisches Modell positiver Jugendentwicklung

Zusammenfassung

4.Kapitel: Positive Gefühle und jugendliches Aufblühen

Tipps für Eltern und Jugendliche

5.Kapitel: Jugendliches Aufblühen durch Engagement: Stärken entdecken und fördern – Flow erleben

Tipps für Eltern und Jugendliche

6.Kapitel: Jugendliches Aufblühen durch positive Beziehungen

Übungen

7.Kapitel: Jugendliches Aufblühen: Die Entdeckung von Sinn und Bedeutung

Tipps für Eltern und Jugendliche

8. Kapitel: Jugendliches Aufblühen durch Erfolg und Gelingen

Tipps für Eltern und Jugendliche

9.Kapitel: Wenn es schwierig ist

Tipps für Eltern und Jugendliche

Empfehlenswerte Literatur zum Weiterlesen

Für Simon, der maßgeblich mitgeholfen hat, Pubertät als positive Herausforderung zu erleben.

Für Brigitte, ohne deren Liebe und Rückhalt dieses Buch nicht zustande gekommen wäre.

Vorwort

Nun haben wir endlich das erste Buch, das sich für ein positives Modell der Pubertät einsetzt. Philip Streit macht sehr überzeugend deutlich, warum wir das bisher gültige Defizitmodell der Pubertät aufgeben können, und er gibt insbesondere den betroffenen Eltern wertvolle Hilfestellungen, wie sie ihrem Teenager helfen können, sich in diesen Jahren wohl zu fühlen, sich zu engagieren, Beziehungen zu pflegen, dem Leben einen Sinn zu geben und die anstehenden Aufgaben und Anforderungen zu bewältigen. Philip Streit gibt allen Eltern und Erziehenden fachlich fundierte und gut verständliche Anleitung, wie sie mit schwierigen Teenagern gemäß dem Modell der Positiven Psychologie umgehen können. Dieses Buch ist ein wichtiger Schritt zu einem positiven Modell lebenslanger Entwicklung.

Üblicherweise betrachtete die Psychologie die Teenager-Jahre unter dem Gesichtspunkt der Pathologie: als eine Zeit der Probleme, des »Sturm und Drang«, voller Anspruchsdenken, als wilde, verrückte und insgesamt desorganisierte Jahre. Diese negative Sichtweise der Entwicklung ist typisch für die traditionelle Psychotherapie. Das ist verständlich, denn sie hat sich aus dem Versuch heraus entwickelt, direkten Einfluss auf Krankheiten nehmen zu wollen, hatte also nicht das positive Ziel im Blick, Wohlbefinden zu fördern. Seit Siegmund Freud hat sich die Überzeugung etabliert, dass geistige Gesundheit einfach die Abwesenheit von geistiger Krankheit bedeutet. Freud folgte damit Arthur Schopenhauer (1788–1860). Beide glaubten, dass Glücklichsein eine Illusion sei: das beste, worauf Menschen jemals hoffen könnten, sei die Verringerung ihres Elends und ihres Leidens. Lassen Sie uns hier keinen Zweifel aufkommen: traditionelle Psychotherapie ist nicht darauf angelegt, Wohlbefinden zu erzeugen, sie ist angelegt darauf, unser Elend zu vermindern – was selbstverständlich keine einfache Aufgabe darstellt.

Im Gegensatz dazu betrachtet die Positive Psychologie geistige Gesundheit nicht lediglich als die Abwesenheit von Leiden. Menschen, gleich welchen Alters, sind gesund, wenn sie stattdessen über eine positive Emotionalität verfügen (engl. Positive emotion), sich im Leben engagieren (engl. Engagement), gute Beziehungen pflegen (engl. good Relationships), ihrem Leben Sinn zu geben verstehen (engl. Meaning) und die Aufgaben des Alltags zu bewältigen verstehen (engl. Accomplishment). Ich habe für diese fünf Faktoren ein Akronym eingeführt: PERMA. Damit wollte ich zu Ausdruck bringen, dass geistig gesund zu sein nicht nur die Abwesenheit von psychischen Störungen bedeutet, sondern das Vorhandensein dieser positiven Eigenschaften, und diese führen dann zum »Aufblühen« junger Menschen, zum »Flourshing«. Die Teenager-Jahre sollten auch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden: Nicht als Wegmachen oder Vermindern von Desorganisation und Elend, sondern als eine Entwicklung hin zum Aufblühen (Flourishing).

Prof. Dr. Martin Seligman, University of Pennsylvania

Philadelphia, im April 2014

Danksagung

Als allererstes danke ich derjenigen Person, die es mir ermöglicht hat, meine positive Grundstimmung zu bewahren, meiner Ehefrau Dr. Brigitte Streit-Emberger. Sie hat mir wie immer Rückhalt gegeben, mich ermutigt und ist zu mir gestanden.

Der zweite ganz besondere Dank gilt meinem Sohn Simon und meinem Schwager Christian Emberger. Meinem 26-jährigen Sohn habe ich die Herausforderung Pubertät zu verdanken und deren positive Bewältigung. Meinem Schwager Christian danke ich für seinen unermüdlichen Beistand und für viele gute Ideen zum Thema Sinn. Die Interviews mit beiden in Vorbereitung für das Buch waren inspirierend und fantastisch zugleich.

Wahrlich über ihre Grenzen gehen mussten auch meine Mitarbeiterinnen und Kolleginnen im Institut für Positive Psychologie und Mental Coaching.

Ein besonderer Dank gilt Frau Claudia Kraus, die unermüdlich getippt, Version um Version korrigiert und klar und strukturierend gedacht hat. Ferner danke ich Frau Alexandra Tendl, Frau Bettina Lackner, Herrn Johannes Jaunig, Michael Wohlkönig und Frau Daniela Hofer, die mich in vielen Gesprächen während der Vorbereitung auf dieses Buch begleitet haben.

Speziell danken möchte ich auch Herrn Markus Russegger. Er ist einer, der weiß, wie man Bücher schreibt. Seine Rückmeldungen und seine redaktionellen Anmerkungen haben mir viel Mut gemacht.

Den inhaltlichen Feinschliff verdanke ich unter anderem Frau Dr. Andrea Lienhart, die mit mir ganz zum Schluss das Manuskript noch einmal bearbeitet hat.

Nicht zuletzt danke ich auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Kind, Jugend und Familie. Ohne ihre Arbeit mit zahllosen Kindern und Jugendlichen, ohne ihre Unterstützung und ohne ihre Aufmunterung wäre dieses Buch nicht weder seinem Inhalt noch seiner Form nach möglich gewesen.

Danken möchte ich auch meinen Ideengebern für dieses Buch. Zu allererst dem Begründer der Positiven Psychologie, Herrn Professor Dr. Martin Seligman. Dieser hat 2011 in Heidelberg zu mir gesagt, ich müsse ein Buch schreiben, dies ist nun das Ergebnis. Dankeschön.

Des Weiteren möchte ich Herrn Professor Dr. Richard Lerner danken, dessen Buch »The Good Teen« mich sehr inspiriert hat.

Herrn Professor Dr. Joachim Bauer und Herrn Professor Dr. Gerald Hüther möchte ich im Speziellen für ihre immer anregende Arbeit danken. Und auch für die Gespräche, die ich mit ihnen führen durfte, bedanke ich mich. Ihr kooperativer Ansatz und ihre Begeisterung für die jugendliche Entwicklung haben mich sehr motiviert, dran zu bleiben.

Entscheidende Inspirationen für dieses Buch gab mir Prof. Dr. Daniel Siegel. Seine Literaturhinweise und die Gespräche mit ihm ließen mich erst so richtig verstehen, was Pubertät und Adolenszenz sind: Der notwendige und genetisch bestimmte Umbauprozess des Gehirns, ein phantastischer Integrationsprozess, damit Menschen und die Menschheit miteinander aufblühen und füreinander da sein können. Danke dafür!

Ein besonderer Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Haim Omer. Seinen Ansatz der neuen Autorität schätze ich ganz besonders. Wir wenden ihn an unserem Institut tagtäglich routinemäßig an. Haim ist es zu verdanken, dass ich das Wagnis begonnen habe, Positive Psychologie mit neuer Autorität zu verbinden. Ich bin stolz, es ihm präsentieren zu können.

Nicht zuletzt möchte ich dem Verlag und insbesondere meinem Lektor Herrn Raab danken, dass dieses Buch Wirklichkeit geworden ist.

Philip Streit im April 2014

Einleitung

Dieses Buch versucht in mehrerlei Hinsicht etwas Neues. Es ist eine Absage an das immer noch vorherrschende Defizitmodell im Umgang mit Pubertät und Adoleszenz. In diesem Buch wird behauptet, dass Pubertät und Adoleszenz unserer jungen Menschen keine Krise sind, sondern eine große Chance. Und es wird behauptet, dass sie um nichts anders ist als die übrigen Entwicklungsphasen von Kindern und Jugendlichen.

Zweitens stellt dieses Buch das Positive in den Vordergrund. Es versucht auf systematische Weise zu zeigen, wie positive Gefühle, positive Handlungen, Optimismus und positive Projekte, Jugendliche aufblühen lassen können und dazu beitragen, dass ihre Entwicklung gelingt und sie wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft werden. Dafür werden zwei theoretische Ansätze angewendet: die Positive Psychologie nach Professor Dr. Martin Seligman und das Modell Positiver Jugendentwicklung nach Professor Dr. Richard Lerner. Dieses Buch soll vor allem Eltern helfen, sich selbst positiv in ihrer Erziehungsrolle wahrzunehmen und stark und souverän zu handeln.

Daraus ergibt sich der dritte grundlegende Beitrag. Das Buch versucht in allgemein verständlicher Weise und sehr praxisorientiert das Konzept der Neuen Autorität Haim Omers verbunden mit dem Konzept der Positiven Psychologie darzustellen. Damit werden auch, und darauf bin ich stolz, 20 Jahre Arbeit am Grazer Institut für Kind, Jugend und Familie widergespiegelt.

Viertens ist dieses Buch weitgehend in Dialogform abgefasst. Ich habe diese Form gewählt, weil sie meines Erachtens am besten die Intensität zahlloser Diskussionen über die Pubertät von Jugendlichen und das Engagement nachfühlen lässt.

Wie ist dieses Buch nun aufgebaut?

Kapitel 1 setzt sich kritisch damit auseinander, wie die Defizitorientierung im Umgang mit Heranwachsenden und Pubertierenden überhaupt entstehen konnte und bringt das Konzept einer positiven Jugendentwicklung auf den Plan. Ihr Teenager wird als Hoffnungsträger und nicht als Krisenmagnet vorgestellt.

In Kapitel 2 wird anhand von Fallgeschichten dargestellt, was in der Pubertät und Adoleszenz hormonell, neurobiologisch, emotional und kognitiv abläuft. Das jugendliche Gehirn wird als positive, plastische und sich entwickelnde Baustelle vorgestellt.

Kapitel 3 erläutert ausgehend von Fallgeschichten das Modell Positiver Jugendentwicklung. Dort lernen wir die 5 C’s von Richard Lerner und die »Großen 3« in der Erziehung kennen. Danach wird ein konkretes Modell vorgestellt wie Jugendliche aufblühen können, nämlich das PERMA-Modell von Martin Seligman.

Zuvor gibt es eine kurze Einführung in das Konzept der Positiven Psychologie.

Ab jetzt wird es immer konkreter für Eltern. Die folgenden sechs Kapitel schließen jeweils mit konkreten Tipps für Eltern, für den Umgang mit Heranwachsenden und für den Heranwachsenden selbst ab.

Das Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Macht der Gefühle. Barbara Fredricksons Theorie »Broaden and Built« wird vorgestellt. Die Bedeutung des Verhältnisses von positiven zu negativen Gefühlen im Erleben wird erarbeitet und daraus werden konkrete Vorschläge für die Praxis abgeleitet.

In Kapitel 5 wird ausgehend von Csíkszentmihályi’s faszinierender Arbeit vorgestellt, wie Flow, das Gefühl des völligen Aufgehens in einem Ziel, in einer Tätigkeit, entstehen kann und welche Rolle dabei persönliche, individuelle Charakterstärken spielen. Konkrete Tipps finden sich wieder am Ende des Kapitels.

Das Kapitel 6 beschäftigt sich mit einem der ganz zentralen Faktoren für jugendliches Aufblühen. Ausgehend von einem Modell, dass der Mensch ein kooperatives und soziales Wesen ist, wird dargestellt, wie und warum soziale Beziehungen entscheidende Voraussetzungen für jugendliches Aufblühen sind. Am Ende des Kapitels finden Sie wiederum praktische Tipps.

Kapitel 7 beschäftigt sich mit dem Thema jugendlichen Aufblühens durch Sinnfindung. Sinn wird vorgestellt als Hingabe an eine Aufgabe oder ein Projekt, das etwas größer ist als das eigene Ich. Verschiedene Formen der Sinnfindung für Jugendliche werden vorgestellt. Die Tipps verdeutlichen, wie persönlich sinnvolle Projekte entwickelt werden können.

In Kapitel 8 sind Leistungserbringung und jugendliches Aufblühen das Thema. Ausgehend von der Selbstbestimmungstheorie von Edward Deci werden die psychologischen Grundbedürfnisse »Kompetenz«, »Soziale Beziehung« und »Autonomie« vorgestellt und Bedingungen beleuchtet, wie junge Menschen erfolgreich sein können. Das Konzept der Begeisterung wird beschrieben. Tipps wieder am Ende des Kapitels.

Kapitel 9 beschäftigt sich schlussendlich mit dem Thema »echte Probleme.« Es werden anhand von Fallbeispielen problematische Verhaltensweisen vorgestellt, die deutlich jenseits einer kritischen Grenze liegen. Haim Omers Konzept der Neuen Autorität wird praktisch und anschaulich vorgestellt und mit positiv-psychologischen Ansätzen verbunden. Ein Instrumentarium nicht nur zum Umgang mit hoch schwierigem Verhalten wird dargestellt.

Eine umfangreiche Literaturliste können Sie über die Homepage www.seligmaneurope.com anfordern.

Weitere nützliche Links sind folgende:

www.akjf.at

www.ippm.at

www.authentichappiness.com

www.charakterstaerken.org

www.dach-pp.eu

Am Ende des Buches finden Sie Anregungen zum Weiterlesen.

Das Buch ist so abgefasst, dass Sie jedes Kapitel für sich einzeln lesen können. Die Zusammenfassungen bei den ersten drei Kapiteln geben einen schnellen Überblick. Die Tipps in den anderen Kapiteln fördern den Einstieg in den praktischen Alltag. So können Sie zum Beispiel auch mit den Tipps anfangen und langsam Stück für Stück auch die Querverbindungen entdecken.

Ich hoffe, dass Sie an den konkreten und anschaulich gestalteten Dialogen aus der Arbeit mit Jugendlichen Gefallen finden und wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen.

1. Kapitel
Mythos Pubertät: Eine neue Sichtweise der jugendlichen Entwicklung

Elternrunde am Institut für Kind, Jugend und Familie. Seit Jahren gibt es dieses Angebot an Österreichs wohl größtem ambulanten Therapiezentrum für Kinder, Jugend und Eltern. Jeden zweiten Dienstag kommen Eltern, Psychologinnen und Psychologen des Instituts zusammen, um sich über Fragen der Erziehung und den bestmöglichen Umgang sowohl mit Kindern als auch mit Jugendlichen auszutauschen. Der Ablauf am Institut unterscheidet sich aber von anderen ähnlichen Einrichtungen. Statt Fragen zu beantworten und Ratschläge zu geben, sind die Psychologinnen und Psychologen des Instituts zu allererst einmal geduldige Zuhörer. Die Geschichten der Eltern sollen Platz haben.

Heute ist in der Elternrunde das Thema Pubertät an der Reihe. Wolfgang und Gloria, beide sehr erfahrene Fachleute, beginnen den Abend mit der Frage: »Was fällt Ihnen zum Wort Pubertät ein?«

»Geschlechtsreife und erste Liebe, Schmetterlinge im Bauch«, beginnt Sarah, eine junge Mutter.

Alexandra, eine junge Lehrerin, fährt fort: »Das ist die Zeit, in der Unordnung im Zimmer und im Kopf herrscht. Da weißt du nicht mehr, wo vorne und hinten ist.«

Fred, ein Techniker und Baumaschinenhändler, ergänzt: »Ja, das ist die Zeit der ersten Alkohol- und Zigarettenexperimente.«

»Und hoffentlich wohl nicht die Zeit der ersten Drogenerfahrungen«, sagt Michaela, eine junge Beamtin.

Aber eines ist für Josef, den Rechtsanwalt unumstößlich: »Sie verlieren plötzlich die Orientierung und das, was sie zu tun haben, aus den Augen. Die Schule und wichtige Aufgaben werden vernachlässigt, am Abend und in der Nacht werden sie dann aktiv.«

»Weggehen wollen sie, und uns nicht sagen, wo sie sind. Oder endlos auf Facebook hin und her schreiben. Am Morgen sind sie dann natürlich unausgeschlafen und haben keine Lust, in die Schule zu gehen«, so Astrid.

Jetzt kommt auch wieder Sarah in Fahrt. »Wenn du sie fragst, ob sie jetzt was zu tun hätten, geben sie dir keine Antwort. Wenn du sie bittest, etwas zu tun, verweigern sie.«

»Ja, sie verwenden deftige Ausdrücke. Ich weiß nicht, woher sie das haben, bei uns haben sie das nicht gelernt«, ergänzt Fred. »Ja, und oft kommen diese Schimpfwörter ganz ordinär, wie zum Beispiel ›Was willst du, Alter‹ oder sogar ›Fick dich‹. Das ist ganz schön stressig und kaum auszuhalten. Dazu kommt noch, dass nichts mehr heilig ist. Kein gemeinsames Essen mehr, stattdessen Essen vor dem Fernseher oder dem Computer. Böse Worte den jüngeren Geschwistern gegenüber gehören ebenfalls zum Programm«, sagt Astrid, eine erfahrene Physiotherapeutin. »Und was die dann alles wollen, blaue Haare, ein Piercing, eine Tätowierung, aussehen wie ein verrückter DJ, davor fürchte ich mich«, ergänzt Annette.

Gloria und Wolfgang haben alle Hände voll zu tun. Eigentlich wollten sie mit ihrer Frage eine sachliche, eher positive Diskussion über Pubertät initiieren, aber die Problemlawine rollt. Statt dagegen zu reden, hören Gloria und Wolfgang aber weiter aufmerksam zu und stellen die nächste Frage: »Was glauben Sie, wird in der Pubertät auf Sie zukommen?« »Schwere Zeiten«, beginnt wieder Astrid, »nichts wird mehr so sein wie früher. Die Beziehung wird schwieriger, im schlimmsten Fall geht sie ganz verloren.«

»Sie wenden sich von den Eltern ab hin zu ihren Gleichaltrigen, ich glaub den sogenannten Peers, dann reden sie nur mehr mit denen und geraten in falsche Kreise«, ergänzt wieder Fred.

»Rauchen, Trinken, Herumstreunen. Sie wollen nichts tun, ich habe das erlebt bei der Tochter meiner Bekannten. Hoffentlich wird das bei uns nicht so, ich war ja auch nicht ganz einfach in meiner Jugendzeit, aber bei uns war das noch anders.« »Man kann dagegen eh nichts tun«, sagt Astrid, »da müssen wir wohl durch. Einen anderen Weg durch die Pubertät gibt es nicht, habe ich gehört, aber es wird wohl ein gutes Ende nehmen, hoffe ich zumindest.«

»Ich weiß nicht«, entgegnet Fred, »ich weiß manchmal schon nicht mehr, was ich tun soll, und zudem habe ich schon bei meinen Verwandten erlebt, dass sie rat- und hilflos waren, aufgrund des Verhaltens ihrer Tochter. Die sagen, die Pubertät sei die reinste Hölle.«

»Aber wenn nichts mehr weiter geht«, so Michaela, »dann haben wir wenigstens noch Sie. Sie werden schon wissen, was richtig ist.« Michaela fragt weiter: »Was glauben Sie denn, was sinnvoll wäre? Haben Sie Tipps und Tricks mit denen wir verhindern können, dass dies alles passiert? Damit unsere Teenager sicher und unbeschadet durch die Pubertät kommen? Dass sie trotz aller Widrigkeiten ihre Schule fertig machen oder einen Beruf lernen und glückliche Menschen werden? Wir brauchen Tipps und Tricks, wie die Pubertätsprobleme möglichst klein gehalten werden. Vorschläge für den richtigen Umgang und die richtigen Konsequenzen, damit wir sie wieder in gute Bahnen lenken können. Ein paar Flausen und Probleme dürfen ja sein, aber dann sollen sie schnell wieder zur Ruhe kommen und ihren Aufgaben nachkommen. Dass es Probleme geben muss verstehen wir ja, aber zu viel, das wäre schon sehr anstrengend.«

Gloria und Wolfgang sind gar nicht verwundert über die Aussagen der Eltern. Es ist nicht ihre erste Diskussion über dieses Thema. Dies sind verständliche Haltungen und Sorgen von Eltern.

Aber warum wird die Pubertät so negativ gesehen? In den am Institut geführten Jugendgruppen oder bei den Jugendtreffen der Stadt Graz, wo Institutspsychologinnen und –Psychologen mit dabei sind, hören sie von Jugendlichen oft ganz anderes als Stress und Probleme.

Was erwarten Jugendliche, Mädchen und Jungen von ihrer Jugend bis hin zum Erwachsenenalter?

»Interessant ist zunächst, dass die meisten etwas wollen«, stellt Gloria fest. »Sie wollen gut in ihrem Sport sein, sei es Fußball, Volleyball oder bei Mädchen auch oft Tanzen. Sie wollen hübsch und schick aussehen. Nur haben sie davon eigene Vorstellungen, die nicht immer deckungsgleich mit denen ihrer Eltern sind. Sie wollen Entdeckungen und Erfahrungen machen, sie wollen etwas erreichen. Überraschend viele Jugendliche haben eigentlich ganz klare Vorstellungen von ihren Ausbildungs- und Berufszielen. Jugendliche wollen jemanden kennenlernen, sei es beim Fortgehen oder in einem Klub. Jugendliche sehnen sich nach Zusammenschluss, nach Anerkennung. Sie wollen Freunde haben und dazu gehören. Facebook und die neuen Medien würden ihnen dabei helfen, berichten sie in zahllosen Gesprächen, ganz entgegen unseren erwachsenen Negativismen und Befürchtungen. Jugendliche wollen etwas erreichen, das außergewöhnlich ist. Sie wollen, dass ihre eigene Leistung anerkannt wird. Jungs sind oft stolz darauf, in einem Computeronlinespiel ein exorbitant hohes Level erreicht zu haben oder mit außerirdischen und futuristischen Wörtern um sich werfen zu können, von denen ihre Eltern nicht die leiseste Ahnung haben. Mädchen, aber auch Jungs freuen sich über die steigende Anzahl von Freundschaften in den sozialen Medien wie Facebook, dabei zu sein bei einer Party, und sie wollen oft länger weg bleiben. Auch das hören wir immer wieder, sie wollen auch ihre Eltern und deren Rückhalt. Unsere jungen Menschen – das können wir aus zahlreichen Gesprächen bestätigen – wollen eine gute Beziehung zu ihren Eltern, aber sie wollen auch etwas ausprobieren, etwas erleben und sich die Welt ansehen. Sie wollen, dass ihre Eltern ihnen etwas zutrauen.«

»Gewiss, aber manche wollen wirklich gar nichts. Sie ziehen sich zurück oder sie schlagen in sinnloser Wut und Aggression um sich«, entgegnen einige Eltern. »Wie ist es mit denen«?

Gloria und Wolfgang können eine erfreuliche Antwort geben. »Eigentlich haben wir in unserer langjährigen Arbeit noch kein Kind, noch keinen Jugendlichen kennengelernt, der nichts wollte. Auch solche Jugendliche, die eindeutig psychische Probleme haben, wollen etwas. Solche, die sich zurückziehen, wollen entdeckt werden, solche, die wütend rumschreien oder mit Gegenständen werfen, wollen gehört werden, solche, die sich selbst etwas antun oder sich gar selbst verletzen, wollen beruhigt und umarmt werden. Gewiss, die Zusammenhänge sind manchmal schwierig, aber grundsätzlich geht es immer um tiefe, emotionale oder gefühlsmäßige Wünsche von Jugendlichen, und diese wollen sie erfüllt haben.«

Woher kommt der Negativismus und die Defizitorientierung, die der Pubertät und der Adoleszenz angelastet werden? Lassen Sie uns einen Blick auf die Geschichte der Jugend und auch der Entwicklungspsychologie in Bezug auf die Adoleszenz machen.

Wie ich schon in meinem Buch »Jugendkult, Gewalt« ausgeführt habe, ist der Begriff Jugend seit jeher mit einem negativen Vorzeichen behaftet. Schon Sokrates betrachtete diese Entwicklungsphase als sehr kritisch. »Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität, sie widerspricht ihren Eltern, legt die Beine übereinander und tyrannisiert ihre Lehrer.«

Auch der große Shakespeare empfand die Zeit zwischen dem 10. und 23. Lebensjahr als eine entbehrliche Zeit und er wünschte sich, sie würde den jungen Menschen erspart bleiben. »Ich wollte es gäbe kein Alter zwischen 10 und 23, oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit, denn dazwischen ist nichts als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, stehlen und balgen.«

Sie können in der Jugend-Kulturgeschichte blicken, wohin Sie wollen. Sturm und Drang bezeichnen immer die Phase der Jugend oder der Adoleszenz.

Wissenschaftlich scheinbar zementiert hat das sogenannte Defizitmodell der Adoleszenz der Begründer der ersten Entwicklungstheorie der Pubertät, der amerikanische Psychologe Stanley Hall. Für ihn ist Jugend und Pubertät eine sogenannte Sturm- und Stressphase, die aufgrund biologischer und genetischer Bedingungen unvermeidbar durchlaufen werden muss.

Psychologen und Psychoanalytiker wie die berühmte Anna Freud sehen das ähnlich. Für Anna Freud ist die Pubertät die natürliche Schizophrenie des jungen Menschen. Sie führt aus: »Der Jugendliche ist gleichzeitig im stärksten Maße egoistisch, betrachtet sich selbst als den Mittelpunkt der Welt, auf dem das ganze eigene Interesse konzentriert ist, und ist doch wie nie wieder im späteren Leben opferfähig und zur Hingabe bereit. Er formt die leidenschaftlichsten Liebesbeziehungen, bricht sie aber ebenso unvermittelt ab, wie er sie begonnen hat. Er wechselt zwischen begeisterndem Anschluss an die Gemeinschaft und unüberwindlichem Hang nach Einsamkeit, zwischen blinder Unterwerfung unter einen selbst gewählten Führer und trotziger Auflehnung gegen alle und jede Autorität. Er ist eigennützig und materiell gesinnt und gleichzeitig von hohem Idealismus erfüllt. Er ist asketisch mit plötzlichen Durchbrüchen und primitivsten Triebbefriedigungen. Er benimmt sich zuweilen grob und rücksichtslos gegen seine Nächsten und ist dabei selbst aufs äußerste empfindlich, wenn er sich gekränkt fühlt. Seine Stimmung schwankt von leichtsinnigem Optimismus zum tiefsten Weltschmerz, seine Einstellung zur Arbeit schwankt zwischen unermüdlichem Enthusiasmus und dumpfer Trägheit und Interesselosigkeit.« Für Anna Freud ist Adoleszenz krisenhafte Entwicklung im Rahmen der gesamten psychosexuellen Entwicklung.

Auch der berühmte amerikanische Psychologe Erik Erikson stellt die Pubertät und nicht nur diese Entwicklungsphase als psychosoziale Krise dar. In der Pubertät gerieten junge Menschen notwendigerweise in eine sogenannte Identitätskonfusion. Dieses Defizit sei auszubalancieren, indem man seine Ich-Identität entwickle. So verdienstvoll Eriksons Ansätze sein mögen, er sieht jugendliche Entwicklung im Licht von Aufruhr und Krise.

Die Betrachtung des jungen, pubertären, adoleszenten Menschen als ein defizitäres, unfertiges Wesen, das notwendigerweise Sturm, Drang und den Erwachsenen Stress verursache, bestimmt bis heute die Diskussion darüber, was sich wie in der Pubertät abspielt und wie vorzugehen sei. Ein pubertierender Jugendlicher treibt Eltern in die Krise und damit in die Hölle. Deswegen brauchten Eltern Tipps, um zu überleben und dieser Hölle zu entrinnen.

Schauen wir mal auf die aktuellen Erziehungsratgeber zum Thema Pubertät. Negativ klingende Titel wie »Überlebenstraining für Eltern«, »Neue Tipps, um durch die Krise zu kommen« oder ähnlich lautende dominieren bis auf wenige Ausnahmen die Ratgeberlandschaft. Was tun?

Welches Bild haben wir von sogenannten »guten Jugendlichen«? Keine Schwierigkeiten zuhause, keine Schulprobleme, kein Rauchen, Trinken oder Drogen, kein riskantes Verhalten, kein Verletzen von Normen und Gesetzen, keine Störungen und kein Kontakt mit schlechter Gesellschaft.

Dieses negative Bild des Jugendlichen drängt sich fast zwingend auf, streift man durch die vorhandene Ratgeberliteratur und ist das ernüchternde Ergebnis vieler Diskussionen, wie eingangs in diesem Kapitel beschrieben.

Oder werfen wir einen Blick auf die zahlreichen Präventionsprogramme wie Suchtprävention, Mobbing- Prävention, Drogenprävention, Gewaltprävention und so weiter. Da werden hunderte Millionen Euro investiert, um Probleme zu verhindern und Defizite zu reduzieren.

So wichtig Präventionsprogramme sein mögen, wenn wir wissen was zu verhindern ist, wissen wir noch lange nicht, was zu tun ist, damit erfolgreiche Entwicklung gewährleistet ist. Und um das geht es eigentlich.

Wir wollen Jugendliche, die erfolgreich sind, die sich positiv in die Gesellschaft einbringen, die sich verwirklichen und mit anderen umgehen können. Wie soll dies gelingen in Anbetracht der gewaltigen Defizite, die Jugendliche anscheinend haben?

Szenenwechsel: Los Angeles, 3. Internationaler Kongress Positive Psychologie, Juni 2013.

Richard Lerner, einer der großen Entwicklungspsychologen unserer Zeit, hat seinen Auftritt. Sein Thema: »Positive Jugendentwicklung – Theorie, Forschung und Anwendung.« »Wieder einer dieser ›positiven‹ amerikanischen Vorträge«, denke ich mir. Aber Richard Lerner lässt mich aufhorchen. Er betont, dass die meisten Jugendlichen keine stürmische Jugendperiode erleben. Weitere Aussagen von ihm ziehen meine Aufmerksamkeit magisch an. Wie zum Beispiel: »Obwohl Jugendliche vermehrt Zeit mit Gleichaltrigen verbringen, schätzen sie doch die Beziehung zu ihren Eltern außerordentlich.«

Oder: »Jugendliche haben zentrale Werte über das Leben (z.B. soziale Gerechtigkeit, Stellenwert der Ausbildung), die mit den zentralen Werten ihrer Eltern übereinstimmen.«

Und: »Jugendliche suchen sich Freunde, die ähnliche Werte wie sie selbst haben.«

Beachtlich dabei ist, dass all diese Aussagen von Richard Lerner wissenschaftlich belegt werden. Lerner hat in der 4-H-Studie (eine großangelegte amerikanische Studie zur Jugendentwicklung) über ein Jahrzehnt Tausende amerikanischer Jugendlicher und ihre Familien untersucht, aus den verschiedensten Schichten, aus den verschiedensten Kulturkreisen. »Naja, doch amerikanisch«, könnte man einwenden. »Wie immer zu optimistisch, zu positiv, zu schönfärberisch.«

Aber dann erinnere ich mich in der Pause nach dem Referat im Gespräch mit Kollegen und Kolleginnen unseres Instituts an die eigene, ja doch nun auch schon zwei Jahrzehnte lang dauernde Erfahrung mit Kindern, Jugendlichen und Familien.

Wer von den Jugendlichen kommt ans Institut für Kind, Jugend und Familie? Hochgerechnet maximal fünf Prozent aller Jugendlichen, die es in Graz und in der Steiermark gibt. Was ist mit den anderen 95 Prozent? Wie lösen diese Jugendlichen ihre Probleme?

Oder um wieder Richard Lerner zu zitieren: Es gibt in Amerika 20 Millionen weibliche Teenager. Eine Million davon wird frühzeitig schwanger. Was ist mit den 19 Millionen, die nicht schwanger werden?

Die Erfahrung an unserem Institut für Kind, Jugend und Familie zeigt: Viele Jugendliche, die schwerwiegende Probleme in der Familie haben, hatten diese schon von Beginn der Kindheit an oder sogar schon früher. Andere Jugendliche mit ähnlich gravierenden Problemen in der Kindheit entwickeln sich ab dem 13. Lebensjahr völlig unauffällig, so wie beispielsweise Patrick. Nun stellt sich die Frage, wie dies gelungen ist.

Patrick war als fünf bis sechsjähriges Kind wie ein Gummiball, er konnte nicht aufhören zu laufen, er war immer missmutig und unzufrieden. War er bei einem Spiel nicht der Erste, resultierte daraus fast zwangsläufig ein Tobsuchtsanfall.

In der Schule konnte er nicht sitzen bleiben, er lief zwischen den Bänken hin und her. Tatsächlich wurde bei Patrick von manchen Stellen Hyperaktivität auch diagnostiziert.

Wir begannen ein über drei Jahre dauerndes Therapieprogramm, bei dem sowohl die Eltern als auch Patrick begleitet wurden. Das entscheidende daran war aber, dass die Eltern und Patrick gemeinsam mit anderen Eltern in einer Gruppe Verhaltensweisen zum besseren Umgang miteinander ausprobieren konnten.

Mit 11 Jahren, also genau zu Beginn der Pubertät, wurde die Therapie mit Patrick beendet. Ich hörte noch einmal von ihm im Alter von 12,5 Jahren, als es in der Schule einen kleinen Zwischenfall gab, und dann noch einmal, als er mit sehr gutem Erfolg seine Pflichtschule abgeschlossen hatte. Heute ist Patrick 23 Jahre alt und ein erfolgreicher technischer Angestellter.