Wer braucht schon Europapokal?

Hardy Grüne

geb.: 1962

Freier Journalist und Lektor

Fan von Göttingen 05

Wenn es um Fußball ging, konnte mein Vater ausgesprochen cool sein. So wie am 24. Mai 1975, dem Tag unseres Umzugs von Dortmund nach Göttingen. Seit dem frühen Morgen zockelten wir nervtötend langsam durch die Landschaft. Mit einem Möbelwagen kommt man halt nicht so flott voran, zumal mein Vater die eigentümliche Angewohnheit hatte, Autobahnen zu meiden und stattdessen ausnahmslos Landstraßen zu benutzen. Ob das daran lag, dass er zur letzten Kriegsgeneration zählte und Autobahnen unheimlich fand? Keine Ahnung, jedenfalls quälten wir uns in einem muffigen und bis unters Dach vollgepropft en 15-Tonner über schmale Landstraßen, passierten Örtchen wie Brilon, Warburg und, jetzt bitte nicht lachen, Erbsen und näherten uns im Schneckentempo Göttingen. Meiner neuen Heimat.

Ich war zwölf und voller trauriger Wut. Ich wollte nicht weg aus Dortmund, von meinen Freunden, von meinem Leben. Vom Mengeder Volksgarten, wo ich mir erste Meriten als Reinkarnation eines bärbeißigen Terriers namens Berti Vogts erworben hatte. Mit meinem fußballerischen Talent war es nicht allzu weit her, doch einen Gegner zudecken und ihn mit wütenden Tritten bearbeiten, sobald er an den Ball kam, das konnte ich.

Doch nun hockte ich auf dieser rumpelnden Dieselschleuder und dachte mit bangem Herzen an mein neues Zuhause. Hinten im Laderaum unser gesamter Hausstand. Auf dem Schoß mein Meerschweinchen Pukki, das mit starren Augen aus seinem Käfig glotzte und an trockenen Grashalmen mümmelte.

Was mich in Göttingen erwarten würde, wusste ich nicht. Vater hatte dort einen neuen Job gefunden. Ich würde eine neue Schule besuchen, neue Freunde finden. Und in der Provinz verdörren. Da war ich mir sicher. Denn, also bitte: Göttingen! Gibt es eine piefigere Kleinstadt für jemanden, der mitten im Ruhrgebiet aufgewachsen ist?

Nur eine Aussicht versetzte mich in Aufregung: Fußball. Fußball würde mich erwarten in Göttingen. Endlich! Ich war Spätstarter. Erst bei der WM 1974 hatte ich entdeckt, dass ich Fußballfan bin. Durch die Holländer, die mit ihren orangefarbenen Klamotten und lauten Gesängen durch die Dortmunder Innenstadt gezogen waren. Während mein Vater eilig vor ihnen geflohen war, blieb ich stehen und staunte. So wollte ich auch sein. Doch wie? Wir wohnten in Mengede. Eine gefühlte Weltreise vom Westfalenstadion entfernt. Zudem war Vater, eigentlich glühender Borusse und 66 beim Europacupsieg live dabei, auf den BVB nicht mehr gut zu sprechen. Der Abstieg aus der Bundesliga hatte ihm das Herz gebrochen. All mein Bitten und Flehen, doch endlich mal zu einem Spiel zu fahren, war an seinem Starrsinn (»Die spielen doch nur noch 2. Liga!«) abgeprallt. Seit fast einem Jahr war ich nun schon Fußballfan, verfolgte jeden Samstag »Sport und Musik« mit Kurt Brumme, doch im Stadion war ich immer noch nicht gewesen.

Und nun Göttingen. Dass meine neue Heimat tiefste Fußballprovinz war, ahnte ich nicht. Wie auch? Immerhin spielte Göttingen 05 wie der BVB in der 2. Bundesliga Nord, fand der Verein im Bergmann-Sammelbilderalbum der Saison 1974/75 statt, horchte ich seit Wochen aufmerksam auf, wenn bei »Sport und Musik« die Zweitligaergebnisse kamen. Göttingen 05 war zwar nur im Mittelfeld der Tabelle angesiedelt, doch ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn der Name fiel. Noch in Dortmund knüpfte ich ein emotionales Zweckbündnis mit Göttingen 05. Eine zunächst platonische Fernbeziehung, gespeist aus reiner Vernunft. Von wegen Nick Hornby und »wir suchen uns unsere Vereine nicht aus«. Ich suchte mir meinen Verein im vollem Bewusstsein aus! Denn seit ich wusste, dass wir nach Göttingen ziehen werden, war 05 mein Lieblingsverein. Ohne das Team jemals gesehen zu haben. Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie es in Göttingen aussieht. Einfach aus der Verlockung heraus, dass mein Vater mir nach unserem Umzug nach Göttingen endlich den ersten Stadionbesuch versprochen hatte. Was ich über Göttingen 05 wusste, stand im Bergmann-Sammelbilderalbum. Gelbe Trikots, schwarze Hosen. Wie Vaters BVB. Das fand ich einen guten Start. Auf dem Teamfoto sah ich mutige, entschlossene Männer. Mein Team!

In der Schule in Deininghausen kannte niemand Göttingen 05. Da zählte nur Borussia oder Schalke. Mir war es egal. Mit Vaters Versprechen in der Hand hatte ich sämtliche Spielernamen gelernt, konnte auf dem Mannschaftsbild jeden zuordnen. Den langen Manfred Zindel mit den tollen Freistößen. Lothar Hübner, vordere Reihe ganz links. Der blonde Verteidiger Harald Evers. Helmut Hinberg, der Libero mit dem ernsten Blick. Torhüter Albert Wenzel im grauen Sweater. »Ede« Wolf mit diesen ultracoolen Koteletten. Frank-Michael Schonert, der in der kicker-Torschützenliste ganz oben stand. Mein Team! Mit vollem Herzen stürzte ich mich in etwas, das sich als »amour fou« entpuppen sollte. Aber, bitte: Ich war doch erst zwölf! Was wusste ich schon von tragischer Liebe?

Irgendwann so gegen Mittag erreichten wir unsere neue Heimat. Müde prügelte mein Vater die Gänge in den röhrenden LKW, während wir die letzten Hügel vor Göttingen überkrochen. Pukki hockte noch immer auf meinem Schoß und zuppelte friedlich an ein paar Grashalmen, die ich bei einem Zwischenstopp vom Straßenrand gerupft hatte. Über eine Ausfallstraße röhrten wir in Richtung Stadtzentrum, als an beiden Straßenrändern immer mehr wild auf den Grünstreifen abgestellte Autos auftauchten. Menschen mit schwarz-gelben Fahnen und Schals eilten zu einer abgesperrten Straße, die schon voller Menschen war. »Junge«, meinte mein Vater und bremste den 15-Tonner ab, »Junge, hier ist heute ein Spiel!« Vor Aufregung wurden meine Augen groß. »Halten wir an?«, fragte ich mit hoffnungsvollem Timbre. Vater guckte kurz rüber, grinste und meinte: »Klar halten wir an. Komm Junge, wir gehen zum Fußball!«

Wenn es um Fußball ging, konnte mein Vater eben ausgesprochen cool sein.

Einen Parkplatz für den 15-Tonner zu finden, war nicht einfach. Und dass wir unseren gesamten Hausstand, all unseren Besitz, und auch Pukki, unbewacht stehen lassen mussten, auch nicht. Zumindest nicht für meinen Vater. Mir hingegen war das ziemlich egal. Aufgeregt hüpfte ich vom Führerhaus, drängte zur Eile, fürchtete, keinen Platz mehr im Stadion zu finden. Überall waren doch so viele Menschen!

Die Sichtweise eines Zwölfjährigen ist noch unfertig. Mein größtes Erlebnis war bis dahin ein Konzert von The Sweet in der Dortmunder Westfalenhalle gewesen. In der kleinen wohlgemerkt; also der Westfalenhalle II. Das war meine einzige Orientierungshilfe für »Masse«. Und hier liefen mindestens genau so viele Menschen herum. Davon war ich zumindest überzeugt. Vor dem Stadion sogar lange Schlangen. Aufgeregt trieb ich meinen Vater zur Eile, fürchtete ein ausverkauftes Stadion. Und war plötzlich abgelenkt, als ich neben den Kassen einen fahrbaren Fanstand entdeckte. Oben drauf schwarz-gelbe Fahnen mit dem Wappen von Göttingen 05. Sieben Mark waren dafür fällig. Mein Vater hatte keine Chance. Aufgeregt schwenkte ich meine neue Fahne, als wir auf die Gegengerade marschierten.

Das Jahnstadion war anno 1975 wahrlich keine Schönheit. Keine Überdachung, durch die Leichtathletikanlagen sehr weitläufig. Die Gegengerade so flach, dass man selbst von ganz oben durch den Gitterzaun gucken musste. Ein rumpeliges, notdürft iges Zweitligastadion ohne jegliche Atmos phäre. Für mich der Himmel auf Erden. Meine neue Heimat. Dass es nur spärlich gefüllt war, entging meinen liebesblinden Augen. Vielleicht 2.000 waren es, die gekommen waren. Platz war für 24.000. Ob es am Gegner lag? Die Spielvereinigung Erkenschwick stand ein paar Spieltage vor Saisonende wie 05 in der Tabelle jenseits von Gut und Böse. Und repräsentierte zumindest in Göttingen eine dieser »grauen Mäuse«, die es damals in der 2. Bundesliga Nord zuhauf gab.

Vater hatte einen Vorteil gegenüber vielen der Stadionbesucher. Denn er wusste, wo Erkenschwick ist! Wir hatten ja in Mengede gewohnt, und von dort ist es nur ein Katzensprung nach Oer-Erkenschwick. Für einen Göttinger aber klang Erkenschwick exotisch unbekannt. Ich war stolz, als Vater unseren Nachbarn auf den Stehrängen verriet, dass er schon einmal dort gewesen sei und dass es bei Recklinghausen läge. Irgendwie waren Vater und ich damit so etwas wie Weltbürger in der Provinz.

Dann kamen die Teams und Dauerregen setzte ein. Ein trister, zutiefst unspektakulärer Frühsommertag. Nicht für mich. Die gelben Shirts der 05er kamen mir vor wie die Sonne, und »meine« Mannschaft endlich spielen zu sehen fühlte sich an, als sei ich an einem langersehnten Ziel angekommen. Unermüdlich schwenkte ich meine Fahne, die vom Regen klatschnass war und Vater immer wieder Wassertropfen zuschleuderte. Das Spiel erschloss sich mir nur bedingt. Im Grunde genommen hatte ich keine Ahnung davon. Fußball gesehen hatte ich bislang nur bei der WM ’74 im Fernsehen. Und natürlich kannte ich die Sportschau. Live im Stadion aber war das alles viel aufregender. Da fühlte ich mich als Teil einer wogenden Masse. Auch wenn das Stadion tatsächlich ziemlich leer war. Auch wenn das Spiel grottenschlecht und unsagbar langweilig war. Halbzeit 0:0. Nach 64 Minuten brachte »Patsche« Hansing 05 in Führung. Eine Viertelstunde später der Ausgleich für Erkenschwick. 1:1. Dabei blieb es. Im strömenden Regen des Göttinger Jahnstadions.

Mein erstes Spiel muss, nüchtern betrachtet, eine ziemlich abschreckende Erfahrung gewesen sein.

Später, als ich allmählich begriff, welch folgenschwere Entscheidung ich bei der Wahl meines Lieblingsvereins getroff en hatte, musste ich immer wieder an diesen Regen zurückdenken. Wie ich klitschnass meine ebenso klitschnasse Fahne schwenke. Glückselig und resistent gegen Niederschlag, Tristesse, leere Ränge. Heute schmunzle ich gern mal über meine eigene Fansozialisierung. Immerhin komme ich aus Dortmund, wuchs im Spannungsfeld von BVB und S04 mit dem Fußball auf. Ich könnte also BVB-Fan sein, ich könnte Schalker sein, auch wenn mein Vater das als Borusse vermutlich nicht geduldet hätte. Stattdessen wurde ich 05er. Und ließ 32 Jahre später im Mai 2012 eine 1:2-Heimniederlage in der fünft en Liga gegen den VSK Osterholz-Scharmbeck über mich ergehen, während der BVB in der Bundesliga mal wieder Deutscher Meister wurde. Umgeben von Göttingern, die den BVB als ihren Lieblingsklub bezeichneten und sich über die Meisterschaft freuten. Während ich als gebürtiger und auch noch immer leidenschaft licher Dortmunder dem Titelgewinn mit zwar schwarz-gelbem, aber eben 05er-Herzen, gleichgültig gegenüberstand und an der peinlichen Pleite gegen Osterholz-Scharmbeck nagte.

Mal ehrlich: Irgendetwas muss da doch schiefgelaufen sein?

Doch derart vorbehaltlos, wie ich Göttingen 05 bei meinem ersten Stadionbesuch begegnete, war die Sachlage eigentlich klar. 05 konnte tun, was es wollte, ich wäre geblieben. Das karge 1:1, die von meinem Vater als »grau sam« definierte Leistung, das leere Stadion, der überschaubare Fanblock neben dem alten hölzernen Ansagehäuschen auf der Hauptgeraden, der Regen, dem wir ungeschützt ausgesetzt waren – nichts konnte meine glühende Zuneigung zu Göttingen 05 bremsen. Und schon gar nicht der BVB, denn der war für mich ja nicht erreichbar. Zu 05 hingegen konnte ich fortan alle zwei Wochen gehen. Und wie geht Liebe, wenn man sich nicht ständig sehen kann? Fernsehfußballfan hätte ich nie werden können.

Nach dem Schlusspfiff schlurften wir klatschnass zu unserem 15-Tonner zurück. Rumpelten hinauf nach Geismar, in unsere neue Wohnung. Wie die Möbel ins Haus kamen, weiß ich nicht mehr. Wie wir den ersten Abend in der neuen Wohnung verbrachten auch nicht. Aber ich weiß noch, wie ich meine schwarz-gelbe Fahne stolz in mein neues Zimmer trug und die Wände nach dem besten Platz absuchte. Fortan war ich 05er. Zur neuen Saison gründete ich mutig einen Fanklub, nachdem sich eine Klassenkameradin ebenfalls als 05-Fan geoutet hatte. Zum Einstand der »Schwarz-Gelben Löwen« gab es ein 3:0 gegen Tennis Borussia, und dass 05 in derselben Saison auch den BVB mit 3:0 abfertigte, sorgte für schlechte Laune bei meinem Vater, die ich insofern zu meinen Gunsten nutzte, als ich ihm kommentarlos ein BVBFähnchen mitsamt einer Schachtel Streichhölzer auf den Küchentisch legte.

Wie jeder Fan (außer denen der Bayern) habe ich meine Wahl seitdem zigtausendfach bereut und mich hundertmillionenfach darüber gefreut. Natürlich hätte ich mit dem BVB oder Schalke viele große Erfolge feiern können. Stattdessen musste ich 2003 die Auflösung meines Klubs miterleben, beim Neustart in der achten Liga selbst mit Hand anlegen. Als Borusse oder Königsblauer würde ich zu Europapokalspielen fliegen, meine Mannschaft im Fernsehen sehen, überall Fans meines Klub begegnen. Mit 05 war ich schon in Käffern wie Landolfshausen, Ihrhove und Hillerse, freue mich über gelegentliche halbseitige Spielberichte im hiesigen Provinzblatt und ernte regelmäßig mitleidige Blicke, wenn ich von meinem Lieblingsverein erzähle.

05-Fan geworden zu sein war eben die beste Entscheidung meines Lebens. Danke Papa, dass du damals so cool warst und angehalten hast!

Kurz urlaub mit Muttern

Gisela Schenke

geb.: 1963

Schriftstellerin

Fan von Borussia Mönchengladbach

Ich liebe Fußball, und ich liebe ihn von Kindesbeinen an. Und Borussia Mönchengladbach ganz besonders, obwohl ich in Süddeutschland aufgewachsen bin und immer noch dort lebe. Seit den 1970er Jahren bin ich ein großer Fan, aber ohne selbst Mitglied des Vereins zu sein oder Fan-Artikel zu besitzen.

Sehr aufmerksam verfolge ich die Entwicklung der Borussia. Ich kann mich noch gut an ihre letzten drei Meisterschaft en Mitte der 1970er Jahre erinnern. Erfolgstrainer war damals der große Hennes Weisweiler, dessen Stil und Aura bis heute unvergessen bleiben. Meine Lieblingsspieler waren »Kalle« Del’Haye, Christian Kulik und Allan Simonsen.

Es sollte aber noch viele Jahre dauern, bis ich mein erstes Stadionerlebnis am legendären Bökelberg in Mönchengladbach haben sollte. Zunächst machte mir meine Mutter im Jahr 1977 die große Freude, einen gemeinsamen Kurzurlaub in Mönchengladbach zu verbringen, um den Spielern endlich einmal näher sein zu können. Leider waren zu diesem Zeitpunkt aber keine Bundesligaspiele, denn es war Sommerpause, die Saison fing folglich erst einige Wochen später an. Es war aber schon Vorbereitungszeit, die Spieler hatten also das Training bereits wieder aufgenommen, aber ich traute mich damals nicht zu fragen, ob man dabei zuschauen darf. Dennoch konnten wir uns das Stadion am Bökelberg von außen ansehen. Obwohl wir das eigentliche Gelände nicht betreten haben, strahlte das Stadion dennoch einen unglaublichen, fast mystischen Zauber auf uns aus.

So warteten wir dann auf das Trainingsende, bis die Mannschaft das Gelände verließ. Es bot sich die Gelegenheit, einige Fotos zu machen, ich war hin und weg, wahnsinnige Glücksgefühle kamen beim Anblick der Spieler in mir auf.

Das erste Live-Spiel meiner Gladbacher erlebte ich 1986 im Münchner Olympiastadion. Der damalige Trainer der Münchner hieß Udo Lattek, auf Seiten der Gladbacher saß Jupp Heynckes auf der Bank. Leider verloren meine Borussen mit 1:3. Es war dennoch schön und beeindruckend, sie mal direkt im Stadion erleben zu dürfen. Die ganz große Bedeutung hatte der Stadionbesuch für mich nicht, da es ja ein fremdes Stadion war. Also zumindest überkamen mich nicht solche emotionalen Empfindungen wie vor dem verschlossenen Bökelberg. Meine Borussia im eigenen Stadion zu erleben, ist halt was ganz Besonderes. Auch die Stimmung im weiten Olympiastadion war eine ganz andere als auf dem engen heimischen Bökelberg.

Es dauerte dann noch fast zehn Jahre, bis es zur Heimpremiere bei der Borussia kam. Es war der 12. April 1995. Heute noch denke ich sehr viel darüber nach und bin immer wieder glücklich, dort ein Spiel erlebt haben zu dürfen. Es war das Halbfinale des DFB-Pokals gegen den 1. FC Kaiserslautern. Trainer der Gladbacher war damals Bernd Krauss, bei Kaiserslautern trainierte Friedel Rausch. Wir fuhren zu viert hin, allesamt heißblütige Fans der Borussia. Die Ankunft am Stadion in Mönchengladbach war sehr aufregend für mich. Die vielen Fans verbreiteten mit ihren Gesängen eine großartige Stimmung, ohne Aggressivität, einfach nur friedlich und euphorisch. Als dann die Mannschaft namentlich vom Stadionsprecher vorgestellt wurde, gab es bei jedem einzelnen Spieler einen großen Aufschrei, bei der Erwähnung einiger Stars sogar einen Sturm der Begeisterung. Meine Lieblingsspieler waren zum damaligen Zeitpunkt Torhüter Uwe Kamps und der Stürmer Heiko Herrlich.

Ich kann mich noch genau erinnern: Das Spiel war an Spannung kaum zu überbieten, ein offener Schlagabtausch, der uns nicht auf den Sitzen hielt. Nach 90 Minuten stand es immer noch 0:0, es musste also in der Verlängerung eine Entscheidung fallen. Die Angst, die Partie könnte im Elfmeterschießen entschieden werden, wuchs von Minute zu Minute. Für beide Teams stand ja sehr viel auf dem Spiel, nichts Geringeres als der Einzug ins deutsche Pokalfinale. Doch in der 101. Minute dann die Entscheidung: Ich werde diesen Augenblick nie vergessen. Heiko Herrlich erzielte die 1:0-Führung für die Borussia. Das Stadion erbebte sogleich, alle waren total aus dem Häuschen. Es war für mich ein absolutes Gänsehautgefühl, so etwas hatte ich vorher noch nie erlebt. Einfach fantastisch! Die restlichen knapp 20 noch zu spielenden Minuten wollten dann aber einfach nicht vergehen. Es zog sich und zog sich. Ständig schauten wir auf die Uhr. Und dann endlich, der Schlusspfiff des Schiedsrichters ertönte. Wir hatten gewonnen! Die Freude im Stadion kannte keine Grenzen und auch kein Ende. Die Fans lagen sich in den Armen und freuten sich wie kleine Kinder. Dann applaudierten sie der Mannschaft für ihre tolle Leistung. Die Fahrt nach Hause war schließlich auch sehr kurzweilig, denn wir ließen das Spiel noch einmal Revue passieren.

Zum Schluss mein persönliches Fazit: Es war ein wahnsinnig toller Abend im Stadion am Bökelberg, den ich nie mehr vergessen werde. Ein atemberaubendes Erlebnis. Danke, Borussia.

Wie ich ein Roter wurde

Robert Weßling

geb.: 1977

Fan von Hannover 96

Fußballinteressiert bin ich schon mein ganzes Leben lang. Ich habe die für den »Junge aus dem Dorf«-Typ bezeichnende Karriere durchlaufen: also in sämtlichen Jugendmannschaft en des Dorfvereins aus Hopsten gekickt (von der Fbis zur A-Jugend), bis ich dann leider irgendwann feststellen musste, dass das mit dem Kindheitstraum vom Fußballprofi wohl nie was werden würde. Also widmete ich meine Aufmerksamkeit mehr der geselligen Kiste Bier nach dem Training, als mich auf die eigentliche Übungseinheit zu konzentrieren. Zu dieser Zeit war ich ein entfernter Anhänger des 1. FC Köln, aber auch nur, weil der Vater eines Mitschülers manchmal zum Stadion fuhr und mich mitnahm.

Eine echte Verbindung zum Verein hatte ich jedoch nie und habe nach jedem Abstieg zumeist mit Bremen sympathisiert, weil mein Vater ebenfalls Sympathisant Werders war. Hier jedoch ging die Rechnung mit den Stadionfahrten nicht auf. Irgendwann bin ich dann von Hopsten nach Rheine gezogen und hatte lange Zeit nur wenig Verbindung zum Live-Fußball. Anfang 2008 sind meine Eltern nach Hannover umgezogen und in mir entflammte die Sehnsucht nach einem Stadionbesuch bei einem Erstligaspiel erneut auf. Zwischendurch hatte ich ein paar Spiele von Preußen Münster besucht. Aber man muss schon ein beinharter Ultra sein, um sein Team in der fünft en Liga (mittlerweile dritte Liga!) überzeugt als »Nummer 1 im Westen« und glatzköpfige Bierbäuche mit Mundgeruch als »Schönste Jungs des Münsterlands« zu feiern. Und was soll ich sagen, dementsprechende Klientel und Atmosphäre gab es zur Genüge. Deshalb war das nix für mich. Mir reichen Bier, Bratwurst und zwei Halbzeiten.

Aber zurück zu 96. Die Idee war da und ein Grund schnell gefunden. Meine gute Freundin Sabine war schon seit Jahren ein glühender Fan der »Bauern« aus München, hatte aber das Problem, sie noch nie live gesehen zu haben. Also hat mein Vater Karten für Hannover gegen die Bayern besorgt und ich hab diese der »Biene« zum Geburtstag geschenkt. Als Begleitung wählte sie ihren Cousin, ebenfalls Bayernfan, aus. Für mich war natürlich klar, dass ich nicht zu den Bayern gehe. Niemals, dazu war die Abneigung zu groß und der Song von den Toten Hosen zu gut. Schon in meiner Kindheit waren die Kinder, mit denen ich mich boxte, zumeist Bayernfans. Auch wenn der Grund der Raufereien eher ein anderer war, wie z. B. der bloße Besitz des Fußballplatzes durch die eigene Klasse. Aber die Abneigung gegenüber den Bayern an sich wurde mir sozusagen in die fußballerische Wiege gelegt. Also habe ich mir natürlich eine Karte für die Nordkurve bzw. Block W23 besorgt.

Endlich kam der große Tag. Wir trafen uns am Bahnhof und traten unsere Zugfahrt an. Natürlich hatte Biene ihrem Cousin erzählt, dass ich im Hannover-Block sitzen würde, und natürlich war der entsprechend vorbereitet. Grinsend überreichte er mir eine Packung Tempos, falls ich während des Spiels weinen müsste. Irgendwie erinnerte mich der Typ an Personen aus meiner Kindheit …

Klar waren die beiden in voller Bayernmontur und »Stern des Südens« dröhnte im Endlosrepeat aus dem CD-Player. Leider mussten sie die gesamte Hinfahrt von Rheine aus darüber philosophieren, warum Bayern mindestens 5:0 gewinnen würde und wer wann die Tore macht. »Dat Ding ist nach der ersten Halbzeit durch. Hannover hat seit 23 Jahren nicht mehr zu Hause gegen Bayern gewonnen.« »Find ich ja nett von dir, dass du drauf geachtet hast, dass meine Cousine einen Sieg zum Geburtstag kriegt.« So ging es pausenlos weiter. KOTZ! Ich hatte schon jetzt keine Lust mehr auf die Heimfahrt. Auf dem Weg zum Stadion fiel mir gleich die geringe Polizeipräsenz positiv auf. Wenn man zu Preußen ging, hatte man quasi seine eigene private Security. Fans beider Lager liefen friedlich nebeneinander zum Stadion und wünschten sich ein gutes Spiel. Dass Bayern siegen würde, war auch den meisten 96ern vor und neben mir klar. Aber es war ja Samstag und man hatte ’ne Dauerkarte. Also geht man trotzdem hin.

Im Stadion noch schnell einen Schal gekauft, um Flagge zu zeigen, und nix wie rein in den Block. Puuuh, die 96-Fans sind schon mal lauter und kreativer als die der Bayern. 1:0 für mich, was die Rückfahrt und Bienes Cousin betraf. Dann die Aufstellung. Die Münchner spielen mit Breno und Lell in der Verteidigung. Die Penner nehmen uns also gar nicht ernst. 1:1 Sch****. Das Spiel beginnt und 96 spielt gut mit. Das bleibt nicht unbemerkt, die Fans werden lauter und das Spiel emotionaler. 96 wird besser und taucht plötzlich gefährlich vor dem Strafraum der Bayern auf. Dann ein Pfiff. Foul in aussichtsreicher Position direkt an der Strafraumgrenze. Freistoß. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, zum Fußballgott. Verspreche einen Besuch der Sonntagsmesse und verzichte auf jegliche Lottogewinne, wenn nur der eine Ball jetzt … Man wär das ’ne geile Heimfahrt. Die Bayern bilden eine Mauer und Huszti tritt an. Der Ball liegt rechts an der Strafraumgrenze, davor die Mauer. Rensing steht links im Tor. Es herrschte für mich eine gefühlte Totenstille im Stadion. Ich hielt den Atem an, um kurz danach in einem gebrüllten »JAAAAAAAAAAAAAAAAA!!!!!!!« meinen gesamten Frust der Hinfahrt zu entladen. Huszti hatte mit einem wunderschönen Schuss in den rechten oberen Winkel das 1:0 erzielt. 2:1 für mich. Hoffentlich bleibt es so!

Es blieb tatsächlich so und wurde für mich sogar noch besser, weil Bayern in der zweiten Halbzeit echt bescheiden spielte und dieser Sieg somit einem gefühlten 6:1 gleich kam. Natürlich philosophierte ich die gesamte Rückfahrt darüber, warum nur Hannover Sieger dieses Spiels war und werden konnte: »Tja, wenn man nur Stimmung macht, wenn die eigene Mannschaft ’n Tor schießt, dann kann das ja auch nix werden.« Ich bot großzügig mein Paket Tempos an, präsentierte stolz meinen neuen Schal und nahm die Glückwünsche der anderen bahnreisenden Fans entgegen. Man war das cool. Ach ja, letztes Jahr hab ich »Biene« zum Geburtstag ins Musical eingeladen. Zum Fußball will sie mit mir nicht mehr, keine Ahnung warum …

Danach hatte es mich gepackt, weitere Heimspiele folgten, u. a. das 4:4 gegen Dortmund und das 3:3 gegen Stuttgart in derselben Saison. Die Dramen der Saison 2010/11 und die geilen Spiele gegen Schalke (4:2) (mein erstes in N13!) und Borussia Mönchengladbach (5:1) trugen nur dazu bei, meine Liebe zu 96 und zur Stadt Hannover zu festigen. Tja und heute? Heute passt kein Braunschweiger Würstchen mehr zwischen mich und »meine Roten«.

Wie ich z um Kerl wurde

Unsere Abwehrschlacht gegen Ewald Lienen

Daniel Czernov

geb.: 1971

Berater

Fernfan vom BVB

Ein kaltes, graues und irre weites Rund … 4. November. Es ist diesig, schneidender Wind hier draußen, hier oben, meine Ohren sind eiskalt. 24.000 Zuschauer. Ich bin neun Jahre alt und habe Angst. Das ist mir alles zu monströs hier, alles andere als ein gemütlicher Ort: schräg gegenüber, auf ihrer Tribüne halbhoch in der Mitte, Tausende von Hertha-Fröschen, sie machen das riesige Stadion zu einem Hexenkessel, von Anfang an laut und aggressiv … »Kein leichter Spieltag«, sagt Günter kurz zu mir, redet dann wieder mit seinem Kollegen weiter. Günter ist der Vater meines Kumpels Markus – ich bin zum ersten Mal in meinem Leben im Berliner Olympiastadion. Hertha gegen Mönchen gladbach, 1978.

Auf Schallplatte (!) hab ich als Kind so oft gehört: die Reportage von Dieter Kürten zur WM ’74. Ich fand die Gesänge und die Stimmung toll, lag mit meinem Kopf ganz dicht am eingebauten Lautsprecher. »Sommerstimmung« war da, Welt meisterschaft im eigenen Land und so … aber hier – wir sitzen nicht wirklich unter dem neuen Teildach (der ganze Stolz seit 1974), das Ding hält auch irgendwie nichts ab, es nieselt und der Wind pfeift. Scheiße. Um mich herum lauter riesige Kerle, ich sehe nichts, höre nur die radikalen Hertha-Frösche von gegenüber (wie weit ist das weg, man, die Dimensionen verschwimmen alle …) und stelle mir vor, denen aus Versehen irgendwo zu begegnen, in diesen unfassbar-monströsen Rundgängen, wenn ich auf Toilette muss zum Beispiel. Auf jeden Fall vermeiden.

Udo Lattek mit hochroter Birne unten bei Gladbach als Trainer, den kenn ich. Ewald Lienen, … wow, hochgefährlich – jedes Mal, wenn der im Mittelfeld die Pille übernimmt, mit riesigen Schritten und seinen bis zum Knöchel runtergelassenen Stutzen das Spiel hinüber in Herthas Hälfte trägt, geht ein Raunen durch die Menge, man spürt eine ungeheure Anspannung. Lienen wird kaum angegriffen, immer erst nach ’ner Weile. Das ist furchtbarer Respekt – es geht um viel, sagt Günter, und diese Herthamannschaft ist ängstlich.

In der Halbzeit steht’s 0:0, und alle sind erleichtert. Ich will wieder in den geheizten Opel Rekord 2000 und meine Ohren aufwärmen können. Der Wagen steht direkt vorm Stadion – und ich meine: direkt davor, auf dem olympischen (Park)Platz. Einfach vorfahren, aussteigen, paar Meter zur Kasse. Zehn Mark. Irre … Doch jetzt ist Pause, und ich muss aufs Klo. Das geht nicht, wegen der Hertha-Frösche. »Ich muss pissen!«, zische ich zu Markus. Für ihn kein Problem, er hat schon eine Bestellung von seinem Vater Günter zwecks Biernachschub. Also gehen wir in diese Rundgänge der Hölle, wo ich ihn sofort verliere …

Gebrüll in den Treppengängen, überall leere Bierflaschen, es stinkt nach Pisse. Riesenschlangen an den zwei Bierständen und an den Toiletten. Davor wird gekotzt, von hinten gepöbelt. Schreie werden durch diese Gänge getragen – ich weiß nicht, wie weit sie entfernt sind. So ein Rundgang hat kein Ende, welcher Block waren wir, Block E? Hier herrscht Krieg, das ist schlimmer als an Silvester, wenn man da irgendwo reingerät. Doch meine Notdurft, dieses Pissgefühl, lässt mich keine Kompromisse machen – ich muss, ich muss jetzt! Alles andere gerät langsam in den Hintergrund, wird ausgeblendet. Stechender Schmerz. Nur ein Ziel. Da, die Glastür; Gestank schlägt mir entgegen. Ammoniak, vermischt mit penetrantem Duft von Klosteinen. Hochrote Gesichter, Schnaufen, zerzauste, wilde Haare, Schweiß. Ich werde vor ein Becken geschubst. Ich bin nirgendwo anders als in einer Katakombe mit plebejischen Kämpfern. Gegen wen wird nur gekämpft? Rocker, Biker, Alkis, vereinzelt so was Ähnliches wie ein Normalbürger (niemand im Anzug, der hätte nicht überlebt – das denk ich heute, aber damals war so jemand einfach nicht da). Als Pimpf werde ich hier überall durchgeschoben, vors Pissbecken, vors Waschbecken (ich verzichte), aus der Tür.

Draußen gleich so ein gewisser Schrecken, der in der Luft hängt, wie bei einer Kneipenschlägerei. Ein Mann blutet am Kopf, wirkt auch betrunken. Er wird zur ersten Hilfe gezogen, will aber zum Fußballspiel. Ich bin hier ganz woanders im Gang, viel zu weit, … J, I, H, … Block E ist viel zu weit weg! Von drinnen ein Aufbrüllen, grell durchschnitten von der Trillerpfeife – das Spiel läuft weiter! Es geht um viel, sagt Günter. Ich suche Block E, renne in die falsche Richtung, kann plötzlich das Alphabet nicht mehr. Welcher Weg nach E ist jetzt kürzer – über Z? Geht es überhaupt so weit, bis zum Z? Ich begegne Hertha-Fröschen, die zu spät zum Pissen waren oder zu lange aufs Bier warteten – und fühle mich plötzlich männlich, hier im Gang hinter dem »Spiel-Schlachtfeld«. Das hier ist auch ein Schlachtfeld, und zwischen Urinstein, Kotze und Bierflaschen wird man dann zum Kerl oder lässt es sein – sage ich heute, damals spürte ich es. Es gibt hier Regeln, es gibt hier so was wie Respekt; nur den lieben Tantenblick, den kriegt man hier nicht. Und wer ausschert oder rumpöbelt, der kriegt’s zurückgepöbelt. Das wirkt nicht bürgerlich-zivil, aber es hat seine Regeln – und mir geschieht hier nix, merk ich. Ich interessier die alle hier gar nicht … bin allerdings auch ein junger, dünner Spacko.

In Günters Gesicht die nackte Angst, als ich zurückkomme (irgendwann stand da plötzlich wieder Block E, im Rundgang). Gladbach macht ernst. Ewald Lienens Jesus-Haare sind mittlerweile klatschnass, sein Trikot schlammig, er rennt wie ein wütender Messias über den Acker. Immer noch greift ihn keiner an, wenn er den Ball bekommt. Sie eskortieren ihn bis vor den 16er, dann säbelt ihn jemand um, es hagelt Karten. Die Pfiffe werden unerträglich. Das Spiel ist völlig auf der Kippe – hier passiert gerade etwas, was ich noch nie im Fernsehen gespürt habe, in der Sportschau oder auf dieser bekackten Schallplatte. Diese ganze Nervosität direkt hinter mir und neben mir, dieses Adrenalin der Menge um einen herum, im Nieselregen. Ich blicke nachdenklich auf die Stadionkurven, die fast leer sind. Die 24.000 Fans brüllen wie sonst 80.000 – oder nicht? Meine Ohren glühen.

Plötzlich kommt dieser Urschrei. Wie durch eine Explosion ausgelöst, Günters nasser Parka schlägt mir ins Gesicht. Alles um mich herum scheint sich in den Himmel zu katapultieren, ich sehe nichts, es regnet Bier. Ich spring auf den Sitz, sehe irgendwo jubelnde Herthaner; Günter dreht sich zu mir, schreit mir ins Gesicht: »Sag deinem Vater, der Erich Beer war’s! Sag ihm, der Erich Beer war’s!!« Er spuckt mir dabei alles Mögliche ins Gesicht. Mein Vater war Studiendirektor. Er hatte noch nie ein Bundesligaspiel gesehen.

Who the fuck ist Erich Beer? Wie auch immer, es war das Tor der Auflehnung Herthas gegen Ewald Lienen, das Siegtor in der 81. Minute, die Schlacht war gewonnen …

Und kein Stadionclown am Mikro (»Dankööh!« – »Bittööh!«), keine Luftballons und bunten Clips und Jingles auf einer riesigen Infotafel – nein, eine gewonnene Schlacht. Gekämpft haben dabei alle, das wusste ich, jeder auf seine Weise.

Okay, ihr fragt mich, ob ich mich an meinen ersten Stadionbesuch erinnere? Absolut. Ohne jedes Zögern habe ich es voll auf dem Schirm. Initial war’s. Und wegen dieser Erfahrung weiß ich übrigens auch, was ein Ultra ist, und verwechsle ihn nicht etwa mit ’nem Hertha-Frosch von früher …

JURI

Juri und Melanie Bevermann

geb.: 2003 und 1978

Schüler und Selbstständig

Von Geburt an Fan von Schalke 04

Juli 2011. Ich heiße Melanie, bin 33 Jahre alt und mein Sohn Juri ist acht Jahre alt. Wir kommen aus Niedersachsen, aus der Nähe von Salzgitter, um genau zu sein. Das »Schalke-Sein« wurde uns quasi in die Wiege gelegt. Juris Uropa ist als Flüchtling im Ruhrpott gelandet und hat schon als Kind heimlich bei den Spielen des FC Schalke 04 zugesehen. Dann ist er in Salzgitter gelandet und hat das blau-weiße Blut an seine Kinder, Enkel und mittlerweile an seinen Urenkel weitergegeben. Mein Vater hat vor mehr als acht Jahren die »Schalker-Knappen-Salzgitter« gegründet. Ich kann mich sehr gut an den Tag erinnern, an dem Juri geboren wurde. Opa kam ins Krankenhaus, beugte sich über das Bettchen und sagte: »Ich bin Opa. Sag mal Schalke!«

Was dann passierte, ist klar! Juri bekam schon als Baby eine Komplettausstattung und wurde in den Kreis der Schalker hineingeboren. Was mich besonders stolz macht, ist, dass er immer zu den Blau-Weißen stand … Alle seine Freunde sind die klassischen Bayern-Fans und trotzdem ist Juri bei Blau-Weiß geblieben. Ich kann mich an einen Kindergeburtstag erinnern, der im Wolfsburger Stadion gefeiert wurde. Die Kinder stiegen aus dem Bus, alle mit dem W auf der Wange, nur mein Juri nicht. Als ich ihn fragte, warum er kein grünes W auf der Wange hatte, kam als Antwort von meinem Vierjährigen: »Ich bin doch ein Schalker!« Das fand ich gut und hat mich sehr stolz gemacht.

Letztes Jahr hat uns dann ein Schicksalsschlag ereilt. Juri hat binnen einer Woche alle seine Haare verloren. Wir sind von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Klinik zu Klink gefahren, aber niemand konnte uns sagen, was dem Jungen fehlte! Ich sollte doch nur Geduld haben, war die immer wiederkehrende Antwort. Für Juri war und ist es eine schwere Zeit. Mein Kind mit sieben Jahren immer als Opfer von Hänseleien zu sehen, brach mir als Mutter fast das Herz. Juri zog sich zurück, wurde schüchtern und unsicher. Er vermied alles, was ihn auffällig machen könnte. Aber die Liebe zum S04 blieb immer da! Mittlerweile besaßen wir acht Käppis, was ihn ein wenig sicherer machte, um nicht gleich jedem sein Manko zu zeigen.

Mitte des Jahres hatte ich dann die Chance, mit ihm zum Supercup- Derby gegen Dortmund zu fahren. Ich buchte uns ein kleines Hotel (wir haben ja eine längere Fahrtzeit) und so machten wir uns auf den Weg. Juri in voller Fanmontur, mit Kutte (Mama hat drei Abende die Wolle an die Ärmel geknüpft), Schal und allem, was dazugehört. Bei ca. dreieinhalb Stunden Fahrtzeit hab ich bestimmt 100-mal die Frage »Mama, wann sind wir endlich da?« gehört. Juri rutschte unruhig in seinem Kindersitz hin und her. Und die ganze Fahrt über sang er aus voller Kehle die Schalke-Lieder von der CD mit. Juri kennt sie alle.

Als wir endlich angekommen sind, ging es zuerst in den Fanshop! So viele Schalke-Sachen auf einmal, Juri hat den Mund gar nicht mehr zu bekommen. Bei uns in Salzgitter gibt es alles vom VfL Wolfsburg und von den Bayern, von Schalke höchstens mal eine Tasse und das auch nur, wenn man Glück hat! Jetzt war mein Sohn im Paradies. Nach unserem Einkauf gingen wir weiter zur Arena, und ich merkte, wie mein Sohn immer mehr auftaute! Jetzt war er nicht mehr alleine, sondern einer von ganz vielen, vergessen waren die Sorgen darüber, dass jemand über ihn lachen könnte. Dieses Kind war in dem Moment einfach nur restlos glücklich! Ich bekam als Mutter feuchte Augen. So zufrieden hatte ich meinen Sohn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Auch die Reaktion der Schalker Fans auf meinen kleinen Terrorkeks war einzigartig. Sie klopften ihm auf die Schulter oder fragten ihn, woher er denn diese tolle Jacke hätte. Juri wurde von Minute zu Minute stolzer und selbstsicherer.

Unseren Block zu finden war gar nicht so leicht, zumal wir zum ersten Mal in der Arena waren. Wo lang? Auf einmal fanden wir uns mitten in einem Menschengewühl wieder. Ich nahm mein Kind an die Hand und sagte ihm, dass er nicht loslassen dürfe, damit ich ihn nicht verliere. Und schwupps stolperten wir in die Ankunft des Spielerbusses. Leider ging alles viel zu schnell. Juri wusste gar nicht, wie ihm geschah, und konnte nicht glauben, was sich da vor seinen Augen abspielte. Er war wie versteinert und blieb wie angewurzelt stehen. Die Spieler aus der Nähe zu sehen, darauf waren wir nicht vorbereitet.

Auf unserem Platz angekommen, gab es für ihn nur noch die Nordkurve. Die Fangesänge kennt er alle und nun können wir auch das mit dem BVB und den ganz besonderen Söhnen … Obwohl ich immer versucht habe, ihn da nicht zuhören zu lassen. Als der gute Herr neben uns anfing zu singen, konnte Juri den Text von seinen Lippen ablesen. Juri hat gesungen und gesungen und mein Kind war der Star in unserem Block.

Anpfiff!

Juri am 23. Juli 2011 beim Supercup-Spiel gegen den BVB vor der Veltins-Arena.

Juri schrie sich weiter die Seele aus dem Leib, schimpft e über den Schiedsrichter, sprang, schrie und brüllte. So kannte ich mein Kind nicht. Er hat unseren Block fast alleine unterhalten. Beim Elfmeterschießen hab ich ihn dann auf den Stuhl gestellt, damit er auch etwas sehen kann. Dort ist er mir dann erst mal durch den Sitz gerutscht. Der nette Mann neben uns hat ihn aber wie selbstverständlich immer wieder hochgehalten. Bei jedem Tor ist Juri mindestens einen Meter in die Luft gesprungen und wir waren sehr damit beschäft igt, das Kind festzuhalten. Als der letzte Schuss der Dortmunder kam und wir den Supercup gewannen, ist mein Sohn in Tränen ausgebrochen und jedem, der im Weg stand, um den Hals gefallen. Ein unbeschreibliches Gefühl, zu sehen, was mit diesem Kind passiert ist, das die letzten Monate doch recht traurig und zurückgezogen war. Bei »Blau und Weiß« und »Königsblauer S 04« hielt er seinen Schal nach oben und feierte mit allen Fans und der Mannschaft.

Es war wohl einer der glücklichsten Tage im Leben meines Sohns und auch Wochen danach war dieses Erlebnis noch das Gesprächsthema.

Ich bin sehr, sehr froh, meinem Sohn den Wunsch erfüllen zu können, am 18. September 2011 wieder mit ihm auf Schalke gehen zu dürfen. Jetzt schon werden die Tage gezählt, und er macht Listen mit Dingen, die wir an dem Tag mitnehmen müssen. Leider kann ich keine Nacht bleiben und muss abends wieder mit ihm nach Hause, da er am nächsten Tag in die Schule muss. Aber das nehmen wir gerne in Kauf. Ich hoffe, dass er am Montag in der Schule nicht einschläft!

Aber alleine für das glückliche und zufriedene Gesicht meines Sohns wird sich die neun Stunden lange Autofahrt an diesem Tag lohnen. Ich habe ihn nun im Knappenkids-Club angemeldet, er kann es kaum erwarten, das erste Mal Post zu bekommen. Vielleicht bietet sich mir dann die Chance auf weitere Tickets im Familienblock, denn leider ist es nicht ganz einfach, zwei nebeneinander liegende Sitzplatzkarten zu kaufen. Am liebsten würde er rein in die Kurve, aber dazu muss mein Terrorkeks noch ein wenig wachsen. Ich hoffe, er wird seine Mutter dann immer noch mitnehmen. Nicht, dass es ihm dann peinlich wird!