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Eduard Breimann

Der Tod hat ein Gesicht

Erzählungen

Universal Frame

Copyright © 2004

Durchgesehene Ausgabe © 2013

Verlag Universal Frame GmbH

Zofingen

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und Titelfoto:

Werner Hense

ISBN 9783905960068

Der Tod hat ein Gesicht

Eigentlich beginnt der Tag, wie Ralf ihn sich gedacht hat. Nichts deutet darauf hin, dass er anders enden könnte, als all die Tage vorher, an denen er dabei sein durfte.

Sie gehen schweigend, wie immer, wenn sie den Wald, die Gerüche und Geräusche genießen. Er träumt gerne, denkt sich Bilder, betrachtet sie versonnen, während seine Füße automatisch den richtigen Weg finden. Er kann sich Tag und Nacht Bilder machen. Mit ihnen versteht er einfach alles besser.

Neben ihm geht sein Onkel, trägt einen Farbeimer und einen Pinsel in der Hand. Er verehrt seinen Onkel – oder besser, er hat ein Gefühl für ihn, wie er es gerne für seinen Vater hätte – wenn er einen hätte. Dieser stille alte Mann ersetzt ihm den Vater – er ist sein Freund.

„Wir müssen immer Freunde bleiben. Versprochen, Onkel Franz?“, hat er an einem gefühlstaumeligen Heiligen Abend zu ihm gesagt, als er einen Stabilbaukasten von ihm geschenkt bekam. Und Freunde sind sie auch geblieben – bis zu diesem heißen Sommertag.

Er weiß nicht viel über die Vergangenheit seines Onkels. Onkel Franz spricht wenig – und über sich schon gar nicht. Dass er bei der SS gedient hat, das ist im Ort bekannt, das weiß er und er weiß durchaus, was die SS gemacht hat. Sie haben in der Schule viel darüber gehört, Bilder gesehen und Schuldzuweisung, aber auch Entschuldigungen zur Genüge gehört. Niemand im Dorf spricht über die SS-Vergangenheit von Onkel Franz, es ist ihnen nicht wichtig.

„Mein Onkel ist dabei gewesen – klar. Aber so einen Scheiß hat der nicht gemacht – so was nicht! Leute totmachen und so, das könnte der nie! Der kann keinem was tun“, hat er seinem Lehrer gestern gesagt, als der abfragte, ob er ein SS-Mitglied kennen würde. Es war der letzte Schultag vor den Ferien und im Geschichtsunterricht hatten sie mit der Befreiung der Menschen aus den Konzentrationslagern das Kapitel „Das dritte Reich“ abgeschlossen. Der Geschichtslehrer hatte umständlich den Projektor aufgebaut, während sie rumgealbert hatten. Als im verdunkelten Raum das erste Bild aufleuchtete, war es still geworden.

Dieses Bild geht jetzt in seinem Kopf herum, will immer wieder untersucht werde. Ein Menschenberg! Oder waren es Puppen? Tote, grinsende Gesichter, verrenkte Arme und Beine – alle nackt. Ein Uniformierter, der an einem weißen Arm zieht. Er sieht ihm die Anstrengung an; seine Gesichtszüge sind verzerrt.

„Eine Verpflichtung durch die Besatzer. Sie verlangen es, dass ihr es euch anseht. Wenn es nach mir ginge, würde … Jedenfalls beenden wir damit das Kapitel deutscher Geschichte“, hatte der Lehrer gesagt und die Bilder so schnell gewechselt, dass sie sie kaum richtig ansehen konnten.

Aber er, Ralf, hat es nicht abgeschlossen, es rumort in ihm und kann noch nicht abgelegt werden. Er denkt daran, wie das im letzten Jahr war, als er ins Bad gerannt kam und seinen Onkel zum ersten Mal nackt gesehen hat – ganz nackt. Erst hat er nicht verstanden, warum sein Onkel so wütend wurde, als er auf das blau-schwarze Zeichen unter seinem Arm gezeigt hat.

„Was ist das denn?“, hat er gefragt und mit dem Finger drauf gefasst.

Da ist Onkel Franz wütend geworden wie noch nie; so als schäme er sich, weil Ralf das Zeichen befühlen wollte. Richtig geknurrt und gegrummelt hat er.

„Ist eine SS-Nummer. Geht dich nichts an. Hast du nicht gesehen – verstanden? Und geredet wird darüber schon gar nicht!“

„Warum? Ist das denn schlimm? Das weiß doch jeder – das mit der SS.“

„Das ist scheißegal! Es gehört nicht ans Tageslicht; es ist vorbei! Weg! Nie mehr wird das eine Rolle spielen! Bin nicht achtzig geworden, um mich in diesem biblischen Alter noch an den Pranger stellen zu lassen! Von keinem, hast du gehört?“

Der Tag beginnt, wie er sich die warmen Tage der Som-merferien vorgestellt hat; er darf seinen Onkel auf den Streifzügen durch die Wälder begleiten, lässt sich Bäume und Pflanzen erklären, lauscht mit ihm auf den Ruf der Eichelhäher und muss immer wieder über komische Geschichten lachen, die sein Onkel einstreut.

„Weißt du, warum die Eichhörnchen auf den Bäumen leben? – Nein? – Weil ihr Schwanz so steil nach oben zeigt – und da haben sie angenommen, das wär ein Hinweis, dass sie nach oben klettern sollten. – Wirklich, kannst du mir glauben!““

Er glaubt ihm meistens, aber bei solchen Geschichten ist er eher misstrauisch.

„Hörst du sie? Die Industrie-Bahn kommt!“

Sie sitzen am Abhang, lassen sich von der Sonne wärmen, hören, wie ein Zug klackernd und rumpelnd die Weiche hinter der Tannenschonung überrollt. Er muss an dieser Stelle langsam fahren, denn die Abzweigung ist alt und der Untergrund nicht gerade fest. Die Züge bringen Material zum Steinbruch und fahren mit Waggons voller Bruchsteine zurück.

„Da ist er! Siehst du den Dampf?“

Ralf zeigt auf den blauen Himmel über den schwarzgrünen Bäumen. Hinten, über dem Kiefernwäldchen, steigt ein Gemisch aus weißem Dampf und dunkelgrauem Rauch in die klare Luft, wandert von Wipfel zu Wipfel, senkt sich nur langsam auf die Schonung und verschwindet sehr zögerlich. Die schwarze Lokomotive kriecht um die Ecke, zieht sieben völlig geschlossene Wagen hinter sich her.

„Warum fahren die noch immer, diese uralten Dinger? Gibt doch heute bessere Loks mit Dieselmotor?“

„Na ja, da hat sich der Besitzer der Industrie-Bahn seinen größten Wunsch erfüllt. Der hat in den Fünfzigern etliche alte Loks und Wagen aufgekauft, bevor sie verschrottet wurden. Dampfloks und alle alten Wagen, die hat der schon immer auf Bildern gesammelt. Der ist ja auch Mitglied in so einem Verein.“

Ein kleiner Lüftungskamin steht auf jedem Dach, lässt die Wagen wie Häuser auf Rädern aussehen. Die schweren Rolltore sind mit Bolzen aus Metall gesichert. Die grüne Farbe an den hölzernen Wänden wirkt selbst aus der Entfernung alt und schorfig.

„Ich mag diese alten Züge auch, Onkel Franz. Sie sind schöner als die neuen – und sie haben bestimmt viel erlebt. Dieser Zug ist sicher schon vor dem Krieg gefahren, den Typ kenn ich gut“, sagt er und Onkel Franz stimmt nickend zu.

„Seid ihr damit an die Front gefahren worden, damals?“

„Auch, aber mit anderen Wagen. Da waren Fenster drin und richtige Türen. Später haben diese Dampfloks andere Transporte, mit Wagen wie diesen hier, also mit Viehwagen, machen müssen.“

Der Zug fährt rechts an ihnen vorbei, schiebt sich hinter einen Hügel und das Schnaufen der Lokomotive wird immer leiser; sie können die Vögel wieder hören, die über ihnen in den Eichen sitzen.

„Stinkige Viehwagen? Bah! Wofür wurden sie benutzt?“

„Ach lass! Heute ist ein so schöner Tag, zu schön für alte, hässliche Geschichten. Hörst du den Häher? Riech nur mal die wunderbare Luft.“

„Ich möchte es trotzdem gerne wissen!“

„Später mal. Komm, Ralf! Ich muss was tun.“ Er packt den Henkel des Farbtopfes und den zerfaserten alten Pinsel und steht auf.

Onkel Franz ist kräftig, untersetzt, hat einen völlig haarlosen, vom Schweiß glänzenden, mächtigen Kopf. Man sieht dem Mann sein Alter nicht an; sein breites Gesicht ist faltenlos, wirkt immer freundlich, gemütlich – und oft, wie gerade jetzt, sehr nachdenklich.

Er arbeitet eigentlich schon lange nicht mehr, aber als der Gutsbesitzer ihn gefragt hat, ob er nicht einmal im Jahr die Auswahl der zu fällenden Bäume übernehmen könne, da hat er sofort zugesagt.

„Sagt der doch glatt, es gäbe im ganzen Umkreis keinen, der mehr davon verstünde als ich. Wollte mich wohl ködern, der alte Gauner“, erzählt er mit unverhohlenem Stolz, bevor es an die Holzauswahl geht.

Ralf springt auf, klopft sich den Waldboden von der Hose und nimmt Onkel Franz den Farbtopf aus der Hand. Sie gehen tiefer in den Eichenwald, laufen scheinbar ziellos den Hügel herunter; mit suchendem Blick bewertet Onkel Franz die alten Bäume. Hin und wieder befühlt er ihre Rinde, blickt senkrecht am Stamm hoch, sucht totes Holz oder abgebrochene Äste.

Ab und zu verharrt er, fasst den Stamm an, streicht über die Rinde und nickt bedächtig, öffnet die Farbdose und malt ein großes X auf den Stamm, genau in Augenhöhe. Seltener, nur bei besonders schön gewachsenen Stämmen, setzt er ein S hinzu. Das soll „Selbstverbrauch“ heißen, erklärt er und das sei die Nachricht für die Holzfäller, den Stamm nicht abzutransportieren.

„So ähnlich haben sie damals die Juden gekennzeichnet! Frei zum Abschuss!“, sagt er grimmig dem Stamm, den er gerade anmalt.

„Mit Farbe?“

„Hab dich ganz vergessen, Junge. – Nein, anders; aber sehr deutlich und wirkungsvoll. Ach Quatsch, was soll das alles.“

„Warum magst du nicht darüber reden, Onkel Franz?“

„Worüber?“

„Na, das mit den alten Zügen und mit den Juden. Ich bin ja nicht doof!“

„Nein, das bist du nicht. Aber noch sehr, sehr jung.“

„Und? War das denn schlimm, das mit den alten Zügen? Du sagst mir nie was.“

Er antwortet nicht, erledigt wortlos sein Tagespensum. Die Holzfäller wollen am nächsten Morgen mit der Arbeit beginnen; der Gutsbesitzer macht mächtig Druck, weil er Geld braucht.

Am frühen Nachmittag erreichen sie den Waldrand auf der anderen Seite. Von hier erblicken sie den Fluss, der breit und schwarz, sehr langsam durch die Wiesen strömt. Dahinter dehnt sich flaches Weideland bis zum Horizont.

„Hier machen wir Rast; der Ausblick ist schön; er hat fast kein Ende; ich mag das, wenn etwas ohne ein Ende erscheint“, sagt Onkel Franz und sie setzen sich auf den alten Baumstamm, an dem die morsche Rinde in Fetzen hängt; Käfer krabbeln geschäftig über den Stamm, lassen sich kaum stören.

Sie packen ihre Brote aus, die sie in Umhängetaschen, zusammen mit einer Blechflasche voll Tee, auf dem Rücken getragen haben. Sie essen, trinken, betrachten die Fischreiher, die angeberisch über die Wiese stolzieren, beiläufig ins Wasser schielen und ansonsten nichts tun.

Er spricht ganz leise, kaum vernehmbar, wischt sich dabei mit dem Handrücken über den Mund. „Du weißt, was ich im Krieg gemacht habe?“

„Na klar. Du warst bei der SS; ich hab doch deine Nummer gesehen. – Und vorher warst du Polizist; da haben sie dich und Bruno, deinen Freund, zur SS eingezogen – hast du mal erzählt.“

„Genau! Hast gut aufgepasst. Was wir da machen mussten, das weißt du aber nicht? Du hast mich nie gefragt.“

„Warum? Was habt ihr schon gemacht? Gekämpft, geschossen, Verbrecher erschossen, Partisanen aufgehängt und so was.“

„Junge, Junge! Habt ihr das in der Schule gehört?“

„Auch! Und gelesen hab ich eine Menge. Gibt doch viele spannende Soldatenbücher. Hab ich aus der Bibliothek der Kirche – die hole ich mir jeden Sonntag nach dem Gottesdienst. War schon toll, was ihr damals gemacht habt.“

„Glaubst du? – Ich will dir meine Geschichte erzählen – wenn du willst. Sie ist nicht schön, toll schon gar nicht. - Aber das mit den Zügen, das kommt auch darin vor.“

„Ich bin schon dreizehn! Mir kannst du alles erzählen – alles.“

Es wird still; Ralf wartete gelassen und gleichzeitig gespannt. Wenn Onkel Franz erzählt, muss man Zeit haben und hier im Wald, da haben sie immer alle Zeit der Welt.

Er kennt seinen Onkel Franz gut; da ist er sicher. Er ist der netteste Mann, den er kennt. Eigentlich ist er nicht sein richtiger Onkel, aber da spricht man nicht drüber, hat seine Oma gesagt, die mit ihm zusammen ist.

Nach dem Krieg ist er angekommen und hat als Möbelschreiner auf dem Gut gearbeitet. Den Beruf hätte er früher, bevor er Polizist wurde, gelernt, hatte er Ralf erzählt. „War damals so. Konntest nur Polizist werden, wenn du vorher was Anständiges gelernt hattest.“

Ralf hat ihn oft beobachtet, wenn er mit seiner schwieligen Hand über das glatt gehobelte Holz streicht – zärtlich, genau so, wie er seinen Kopf streichelt, wenn er ihn tröstet. Und das ist oft der Fall in der letzten Zeit, wenn er mit Mutter über Kreuz liegt, weil die so viele Sorgen hat – und ihn nicht verstehen will. Bei ihm fühlt er sich sicher und geborgen – eigentlich nur bei ihm.

„Im Februar 42 sind wir abgefahren, in so einem Zug – aber mit Fenstern. Bruno und ich sind zusammen geblieben – aus Zufall wohl. Wir wurden ins Generalgouvernement verlegt, also nach Polen – genauer, nach Warschau. Da war dieses Judengetto. Wir mussten täglich Juden rausholen, verladen und wegschicken. Da gab es vor der Mauer, mitten zwischen hohem, abgestorbenem Gras und krüppeligen Büschen, einige Gleise – einen vergammelten Verschiebebahnhof.“

„Da wurden die Juden verladen, stimmt´s?“

„Ja, da wurden die Juden verladen. - Hast du einen Freund?“

„Ja – David; er ist Jude, sagt er wenigstens. Aber bei ihm weiß man nie ob er daran glaubt, weil ...“

„Aha! Macht dir das was?“

„Was? Das mit dem Juden? Wieso? Sollte es das?“

„Nein, nein! Ich meine nur. Ich habe in Warschau, im Getto, viele Juden gesehen – danach nie mehr.“

„Hast du welche umgebracht?“, fragt Ralf leise, mit verschwörerischer Stimme, Vertrauen signalisierend.

Franz antwortet nicht, blickt ihn nur forschend an, als wolle er prüfen, wie die notwendige Antwort wirken würde. Mit der klobigen Rechten fegt er ein paar Brotkrümel von der Hose, stiert auf den trägen Fluss, als suche er dort eine Antwort.

„Nicht direkt, will ich mal sagen. Wir haben bei dem Aufstand im Getto natürlich geschossen. Aber ob ich einen getroffen oder getötet habe, weiß ich nicht.“

„War ja auch richtig wie im Krieg, oder?“

„Ja, das war Krieg. Da hatte ich auch keine Probleme mit. – Die hatte ich erst später, nach diesem Tag.“

„Da hast du welche erschossen, ja?“

„Nein! Du hast eine völlig falsche Vorstellung – und wie du das sagst. Deine Bücher sollte ich mir mal ansehen. Das war kein Spiel. Und jemanden erschießen oder umbringen ist furchtbar, es ist das Letzte, was man tun sollte.“

„Ich hab immer gesagt, dass du keinen umgebracht hast – mit Gas oder so.“

„Nein, aber ich war dabei, wenn sie die Juden auf dem Verschiebebahnhof in Viehwagons und andere Güterwagen verladen haben. Das war nach der Gettoauflösung. Sie brachten sie alle ins Konzentrationslager; Treblinka hieß das. Viele wurden dort umgebracht, auch vergast. Aber selber einen getötet? Nein, da hatte ich nichts mit zu tun.“

„Habt ihr viele Juden verladen?“

„Was nennst du viele?“

„Mehr als tausend?“

„Mehr – eine Menge mehr.

„Unser Kaplan hat im Religionsunterricht mal darüber gesprochen. Er meinte, es wär schon hart gewesen, aber die Juden wären auch nicht unschuldig. Immerhin hätten sie Jesus umgebracht; brutal und unmenschlich. Die meisten Juden hätten keine Seele, sagte er.“

„Wenn er meint. Der muss es ja wissen. Direkt nach dem Kampf in Warschau haben sie siebentausend Juden vergast; und dreißigtausend erschossen. Auch brutal und unmenschlich, oder? Ob das reicht, als Rache für den getöteten Jesus? Wie viel will denn dein Kaplan dagegen aufrechnen? Was meinst du?“

„Weiß nicht ... Sicher, ja, schon ... irgendwie kann ich mir das alles nicht vorstellen – so viele Tausende. So viele hat unser Dorf nicht mal.“

Die folgende Stille ist anders als sonst. Noch nie hat er solche Fragen gestellt und noch nie jemandem gesagt, wie viel er davon weiß. Jetzt muss er über alles Gesagte nachdenken. Er schaut auf die Wiese, auf der ein paar Kühe grasen, und versucht sich den Verschiebebahnhof vorzustellen

Er hat Mühe, tauscht das sattgrüne Gras gegen verdorrtes, flach liegendes, aus, schafft sich einen Platz, vom Wind gebeugte, blattlose, niedrige Sträucher, die er planlos, achtlos, wie hingeworfen, verteilt. Noch kommt es ihm nicht trist genug vor, nicht für so eine Geschichte. Da muss noch was her.

Er findet den Winter schrecklich; also lässt er nassen Schnee fallen, der das bräunliche Gras kaum bedeckt. Schwarze Vögel denkt er sich noch an den Winterhimmel und lässt sie langsam über dem Platz kreisen.

Dunkel gekleidete Gestalten mit Kopftüchern oder großen Hüten müssen jetzt in endloser Reihe über die dünne Schneedecke wanken. Er gibt ihnen Reisekoffer in die eine und kleine Kinder an die andere Hand, malt junge und alte Gesichter und legt ihnen traurige, verzweifelte Augen zu.

Neben die Gleisanlage stellt er uniformierte Männer mit Gewehren auf den Schultern und Pistolen in der Hand. Dem vordersten Soldaten, dem, der seine Waffe in der Pistolentasche trägt, gibt er das Gesicht von Onkel Franz und betrachtet seine glanzlosen Augen, die so traurig blicken wie heute – wie an manchen anderen Tagen.

„Nein“, denkt er, „ich will’s nicht sehen! Bestimmt war’s anders.“

Er schüttelt den Kopf und wirft das Bild raus. „Mehr! Ich will mehr hören! Bitte!“

„Ach Junge! Wir sollten das nicht tun.“

„Doch, Onkel Franz – du musst! In meinem Kopf sind jede Menge Bilder und die sind bestimmt falsch.“

Onkel Franz bricht ein Stück der morschen Rinde ab, beobachtet die hektisch krabbelnden Käfer, die fettleibige, weiße Made, die sich langsam krümmt.

„Ja, du hast Recht; was soll’s. – Eigentlich war es immer derselbe Ablauf. Sie kamen in endlosen Kolonnen aus dem Getto. Vor uns mussten sie über eine Rampe in die Wagons steigen - so viele wie eben rein gingen; ein paar von uns mussten ordentlich quetschen und kräftig nachdrücken, damit sie keine Lücken ließen. Zuerst taten mir die Juden Leid; sie sahen ärmlich und verhungert aus. Kinder, Frauen, alte Männer. Aber jeden Tag war es dasselbe Bild. Da stumpfst du ab, du merkst es überhaupt nicht.

Wir trieben sie auf die Rampe, drückten sie in die Wagen, bis nichts mehr ging. Sie schrieen uns an, wehrten sich, spuckten uns an. Sie waren nicht wie Lämmer, eher wie störrische Esel – besonders die Frauen, wenn sie Kinder hatten.“

„Die wollten sie doch beschützen, oder?“

„Sicher, klar. Aber irgendwann wirst du wütend. Du machst ja schließlich nur deine Arbeit. Und hinter uns standen sie, die Kettenhunde und die Aufpasser mit dem Lametta an der Uniform. Bruno sagte am Abend oft, dass er Angst gehabt hätte, sie würden ihn auch da rein schieben. Besonders vor den Lamettaträgern hat er sich gefürchtet. Bruno hat oft leise mit den Juden gesprochen, hat sie getröstet und beruhigt – trotz seiner Angst.“

„Mit den Juden? – Und du nicht? Hast du sie gehasst?“