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Über den Autor
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Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, war Transport- und Lagerarbeiter, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann Reisen nach Afrika und Asien, insbesondere nach Indien. Heute lebt er als freischaffender Schriftsteller in Berlin. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zum Teil internationalen Preisen ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Klaus Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg.
Bei Beltz & Gelberg erschienen u.a. Der Käpt’n aus dem 13. Stock, Paule Glück. Das Jahrhundert in Geschichten, Monsun oder Der weiße Tiger, Ein Trümmersommer sowie der Roman-Sammelband Frank oder Wie man Freunde findet, die drei Paula Kussmaul-Romane, Piratensohn und Kiko.
Impressum
Ebenfalls lieferbar: »Die Flaschenpost« im Unterricht
in der Reihe Lesen – Verstehen – Lernen
ISBN 978-3-407-62787-2
Beltz Medien-Service, Postfach 100565, 69445 Weinheim
Kostenloser Download: www.beltz.de/lehrer
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-78378-3)
www.beltz.de
© 1999, 2015 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Die Flaschenpost erschien erstmals 1988
im Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Max Bartholl
Einbandbild: Peter Knorr
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74143-1

Inhalt

Die Stadt, der Fluss, der Junge • Auf hoher See • Pipusch vom anderen Stern • Eine Idee
Lika vom Leo • Ein bisschen reden • Schröders Damenwelt • Ein Häuschen im Grünen
Matthias Loerke, DDR • Der Junge unter den Palmen • Jitter im Wasser • Ein Probelauf
Cabbar und Bob • Quietschend öffnen sich die Gräber • Eine Rettungsaktion • Wimbledon – Pimbledon
Besucher • So was bringt nur Ärger • Schnipseljagd • Ein toller Vater
Supermatze • 3:1 für Moni • Politik • In Teufels Küche
Reisen in die Vergangenheit • Am Pipa – am Popo – am Potsdamer Platz • Weiter als der Ozean • Arsch in zwei Hälften
Eine Ausladung • Ein Slip ist kein Bikini • Heiraten? • Komm doch mal rüber
Falsch verbunden • Heimlich währt am längsten • Tea for two • Das große Gespräch
Ein Platz auf dem Friedhof • Das große graue Nichts • Kein Spielverderber • Zucker auf der Zunge
Ein Tag wie aus dem Bilderbuch • Acht Mann hoch • Das große Sausen • Rotkäppchen und der Wolf
Alte Herren • Eine Theatervorstellung • Zweimal laut hupen • Dynamit und Kichererbsen
Guten Tag! • Nicht aus Zuckerwatte • Gemischte Mannschaften • Zusammen die Größten
Katastrophen-Salat • Eine unmögliche Situation • Lika und die Mafia • Frieden ist mehr
Nächsten Sonntag • Der eine und der andere • Nur ein paar Wochen • Dieselbe Luft, dieselben Sterne
Nachwort
»Diese Geschichte beginnt mit Es war einmal.
So beginnen Märchen. Was in diesem Buch
erzählt wird, aber ist kein Märchen – das war
Wirklichkeit, viele lange Jahre lang.
Und es ist noch gar nicht so lange her,
da wagte niemand,
auf ein gutes Ende zu hoffen …«

Die Stadt, der Fluss, der Junge
Auf hoher See
Pipusch vom anderen Stern
Eine Idee

Es war einmal eine große Stadt, in der lebten zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Der Junge hieß Matthias und wurde von seinen Freunden nur Matze gerufen. Das Mädchen hieß Angelika und war für alle nur die Lika.
Die Stadt bestand aus zwei Hälften. Die eine lag nach Osten hin, die andere nach Westen. Matze lebte im Ostteil der Stadt, Lika im Westteil. Zwischen Ost und West aber war eine Grenze, viel Gerede und viel Feindlichkeit. Die Stadt hieß Berlin.
Durch die geteilte Stadt floss ein Fluss. Er floss im Südosten in die Stadt hinein und im Nordwesten wieder hinaus. Der Fluss hieß Spree und an seinem Ufer gab es viel Grün, aber auch viele Fabriken und Häuser. Und da der Fluss mitten durch die Stadt hindurchfloss, war auch er zweigeteilt.
Matze wohnte nicht weit von der Spree entfernt. Nur ein kleiner Wald war zwischen der Straße und dem Flussufer – der Plänterwald, in dem die Kinder sich nach der Schule trafen, um Fußball zu spielen, Verstecken oder Fangen. Meistens spielte Matze mit, manchmal aber war er lieber allein. Dann setzte er sich an die Uferböschung, stützte die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände und sah ins Wasser. Und dabei träumte er.
Immer dem Fluss nach träumte Matze. Er wusste ja, die Spree floss in die Havel und die Havel durch viele Seen und Kanäle in die Elbe. Und die Elbe floss in die Nordsee, ins Meer.
Eines Tages aber träumte Matze nicht nur, sondern schnitzte sich aus Borke ein Schiffchen und ließ es auf dem Wasser treiben. Und dann malte er sich aus, wie es an der Liebesinsel vorübertrieb und unter der Treptower Brücke hindurch bis in den Osthafen und immer weiter bis unter der Weidendammbrücke hindurch. Was danach kam, konnte er sich nicht mehr vorstellen. Hinter der Weidendammbrücke begann West-Berlin und West-Berlin kannte er nur aus dem Fernsehen.
Es war aber West-Berlin, wo die Spree in die Havel floss. Das wusste Matze aus dem Erdkunde-Unterricht. Und dass die Havel an Feldern und Kiefernwäldern vorüberfloss, hatte er mal in einem Film gesehen. Genau wie die Stadt Hamburg, die an der Elbe lag und an der sein Borkenschiffchen, wenn alles gut ging, irgendwann vorbeitreiben musste.
An dieser Stelle seines Traumes angekommen, legte Matze sich ins Gras zurück und schloss die Augen. Und dann stellte er sich den Hamburger Hafen vor, wie er ihn aus dem Film kannte. Er sah die vielen Kräne vor sich, die riesigen Frachtschiffe und die kleinen Barkassen und mittendrin sein Borkenschiffchen, wie es durch all die Betriebsamkeit hindurch immer weitertrieb. Bis die Elbe so breit war, dass kein Ufer mehr zu sehen war, sondern nur noch Schiffe – welche, die in den Hafen hinein, und andere, die wieder hinaus wollten. Und manchmal grüßten die Schiffe einander mit lang gezogenem Tuten.
Es war ein sehr warmer Frühsommertag. Der Himmel war blau und es machte Spaß zu träumen. Also träumte Matze seinen Traum weiter. Er sah sein Schiffchen durch den Hafen hindurch- und auf den Atlantik hinaustreiben. Die Wellen wurden höher und höher und sein Schiffchen tanzte von Wellenberg zu Wellenberg. Es tanzte an riesigen Tankern und schneeweißen Segelschulschiffen vorüber, begegnete Frachtern aus allen möglichen Ländern und kreuzte einmal sogar den Weg eines Passagierschiffes, das so aussah wie die »Titanic«, die er auch aus einem Film kannte.
Dann kam ein Sturm auf, die Wellen wurden noch höher, immer höher. Karwenzmänner waren das, sogar die größten Pötte wurden hin und her geworfen; Matzes Borkenschiffchen fuhr Achterbahn. Rauf und runter ging es, rauf und runter. Und der Himmel war düster von schwarzen Wolken.
Matze grinste und legte die Hände unter den Kopf. Nun wollte er an etwas Schönes denken: Die Wolken lösten sich auf, eine heiße Sonne strahlte herab und ein langer weißer Strand mit vielen Palmen war zu sehen. Vereinzelte Felsen brachen die Brandung …
Etwas kitzelte Matze an der Nase. Er wischte es weg. Was er sah, musste Amerika sein, Südamerika oder Indien … Wieder kitzelte es an der Nase. Matze öffnete die Augen und sah Pipuschs Gesicht über sich: Pipusch Klemm aus der Nr. 68, sein Tischnachbar aus der Schule und sein bester Freund.
»Haste geschlafen?« Pipusch sah ihn neugierig an. »Oder ist dir schlecht?«
»Nee!«, sagte Matze nur, obwohl das ja keine Antwort war. Er war verlegen und ein bisschen ärgerlich. Ihn mitten aus einem so schönen Traum zu reißen, das konnte nur Pipusch einfallen.
Natürlich hieß Pipusch nicht wirklich Pipusch, sondern Gerrit, aber es gab kaum einen in der Klasse, der keinen Spitznamen hatte. Warum Pipusch aber ausgerechnet Pipusch hieß, wusste keiner. Schon im Kindergarten hatten ihn die Kinder so gerufen. Und irgendwie passte das auch. Pipusch war Pipusch; wenn es den Namen sonst nicht gab, war er eben für Pipusch erfunden worden.
Pipusch setzte sich zu Matze an die Uferböschung, zog seine Schuhe aus und tauchte die Füße ins Wasser. »Die Mathe-Arbeit heute Morgen«, sagte er, während er mit den Füßen Wellen machte, »die war wieder der reinste Horror. Bestimmt wird’s ’ne Fünf.«
Pipusch war nicht besonders gut in der Schule. Frau Merz, die Klassenlehrerin, organisierte Nachhilfestunden für ihn; jeder, der irgendwo eine Spezialstrecke hatte, musste ihm helfen. Doch es nützte alles nichts. Pipusch dachte einfach immer anders, als die Lehrer oder die Schulbücher es von ihm erwarteten. Er kam wohl von einem anderen Stern, wie Frau Merz manchmal seufzend sagte. Und auf diesem Stern wurde quergedacht statt geradeaus.
Matze half Pipusch oft. Aber an diesem Tag hatte er keine Lust, an die Schule zu denken. Er nahm einen Zweig und warf ihn ins Wasser. Und dann fragte er leise: »Was meinst ’n, wo der jetzt hintreibt?«
»Nach Treptow«, antwortete Pipusch schnell. Er glaubte, Matze wolle ihm wieder irgendeinen Nachhilfeunterricht erteilen. Aber Matze fragte keine weiteren Stationen ab, sondern kam gleich zur Sache. »Ob der wohl bis nach Amerika treibt?«
Pipusch hielt die Füße still und überlegte. »Nee«, sagte er dann und begann wieder Wellen zu machen.
»Und warum nicht?«
»Er verfault.«
»Wer?«
»Der Zweig!«
Matze sah Pipusch eine Zeit lang nur an, dann schlug er vor: »Es muss ja kein Zweig sein, kann ja auch was anderes sein, was Festeres.«
»Das geht unter.«
»Mensch!« Matze sprang auf. »Ich mach doch hier mit dir kein Quiz. Ich will nur wissen, ob …« Er brach ab. Pipuschs Augen hatten plötzlich aufgeleuchtet. »Was ist?«
»Ich weiß, was du meinst«, strahlte Pipusch.
»Und was meine ich?«
»’ne Flaschenpost.«
Matze wollte sich schon ärgern und sagen, dass er keine Flaschenpost gemeint hatte, dann ließ er das sein. Warum eigentlich nicht? Glas verfaulte nicht und eine leere Flasche ging nicht unter.
Pipusch ahnte, dass er was Tolles gesagt hatte. Erwartungsvoll blickte er Matze an. Doch Matze sah nur auf die Spree hinaus. Er dachte sich sein Borkenschiffchen weg und sah dafür eine Flasche von Welle zu Welle tanzen, sah, wie sie an den Palmenstrand spülte, von dem er zuletzt geträumt hatte, und wie sie gefunden wurde. Ein braunhäutiger Junge griff nach ihr …
»Eine Flaschenpost kommt bestimmt bis nach Amerika.« Pipusch wollte jetzt endlich sein Lob, das hatte er sich verdient.
»Ja, ja!« Matze klopfte sich den Hintern ab und stand dann wieder nur nachdenklich da.
»Willste eine loslassen?«, fragte Pipusch neugierig.
»Eine was?«
»Na, ’ne Flaschenpost.«
»Quatsch!« Matze tippte sich an die Stirn. »Bin doch kein Spinner.«
»Und warum haste dann gefragt?«
»Nur so.« Matze wandte sich ab und ging auf den Wald zu.
»Warte doch!«, schrie Pipusch. Und dann nahm er Schuhe und Strümpfe in die Hand und lief hinter Matze her. Doch Matze lief vor ihm weg. Er wollte jetzt allein sein, wollte über alles nachdenken. Was Pipusch da gesagt hatte, war gar nicht so dumm. Im Gegenteil, eigentlich war es eine Superidee; eine Idee, die ihn ganz aufgeregt machte.

Lika vom Leo
Ein bisschen reden
Schröders Damenwelt
Ein Häuschen im Grünen

Am gleichen Tag, an dem Matze und Pipusch an der Spree saßen, saß auch das Mädchen Lika an diesem Fluss. Nur einige Kilometer weiter flussabwärts, am Hansa-Ufer. Dort gab es zwischen all den vielen Häusern links und rechts eine Brücke über die Spree – den Wullenwebersteg. Gleich daneben stand eine Trauerweide. Unter der war sie herrlich allein, konnte sie prima traurig sein.
Ja, Lika war traurig. Sie wohnte noch nicht lange in dieser Gegend, erst eine Woche. Vorher hatte sie am Leopold-Platz gewohnt, auch in West-Berlin. Am Hansa-Ufer, fanden die Eltern, konnte man besser wohnen. Lika war anderer Meinung und deshalb war sie traurig.
Am Leopold-Platz war sie aufgewachsen, da kannte sie die Kinder, kannte sie die Geschäfte, die Nachbarn. Jede Straßenecke war ihr vertraut. Hier war alles fremd. Und die Kinder waren beknackt, besonders die in ihrer neuen Klasse. Sprotte hatten sie sie genannt, gleich am ersten Tag. Und warum? Nur weil sie ein bisschen kleiner, dünner und blasser war als die anderen.
Mit denen würde sie kein Wort mehr reden, das stand fest. Lika spuckte ins Wasser und seufzte. Vorgestern waren Moni und Yüksel gekommen, ihre Freundinnen vom Leopold-Platz. Aber jeden Tag würden sie nicht kommen, dazu war der Weg viel zu weit. Wahrscheinlich würden sie überhaupt nur noch ein paar Mal kommen und dann gar nicht mehr. So war das ja immer, wenn eine wegzog. Und mit dem Fußballspielen in der Mädchenmannschaft vom 1. FC Leo war es auch vorbei.
Lika spürte, wie ihr die Tränen kamen, und biss sich auf die Lippen. Wenn weder die Mutter noch der Vater dabei war, lohnte sich die Heulerei nicht.
»Liiika!« Das war die Mutter. Lika konnte sie nicht sehen, aber hören. Langsam stand sie auf und stieg die Uferböschung hinauf. Als sie neben dem Kinderspielplatz die Straße betrat, war die Mutter schon wieder vom Balkon herunter. Sie hatte es wieder mal eilig, musste ins Geschäft. Nur unlustig ging Lika die Straße entlang. Wenn die Eltern nicht so weit weggezogen wären, müsste sich die Mutter nicht so beeilen. Aber sie hatte ja keiner gefragt; sie wurde ja nie gefragt.
Ein Junge auf einem Fahrrad überholte sie. Den hatte sie hier schon ein paar Mal gesehen. Seine Eltern waren Türken, ihnen gehörte die kleine Änderungsschneiderei an der Ecke Solinger Straße.
Der Junge grinste Lika beim Überholen an. Sie tippte sich an die Stirn – und wurde trotzdem rot. Immer wenn ein Junge sie so ansah, wurde sie rot. Sie wusste ja, wie klein und mickrig sie war. Jungens fanden ganz andere Mädchen toll.
Der Junge bremste, stieg vom Rad und blickte ihr entgegen.
Was wollte der von ihr? Lika ging noch langsamer als vorher.
Der Junge schob sich die Haare aus der Stirn. Er hatte rabenschwarzes Haar und dichte schwarze Augenbrauen. Außerdem war er sehr dunkelhäutig. Yüksel dagegen sah überhaupt nicht wie eine Türkin aus, hätte genauso gut eine Deutsche sein können.
»Du hast was verloren«, sagte der Junge und hielt Lika ihren roten Armreif hin.
Lika glühte noch mehr auf. Verdammt! Den verlor sie immer. Ihre Arme waren einfach zu dünn und die Handgelenke zu schmal.
»Danke!« Sie nahm den Armreif, hielt ihn in der Hand und wusste nicht, was sie weiter sagen sollte.
»Seid ihr neu in der Gegend?«
»Ja.« Lika ging langsam weiter.
Der Junge bestieg sein Rad und fuhr neben ihr her. »Und wo habt ihr vorher gewohnt?«
»Am Leo.«
»Wo?«
»Am Leopold-Platz.«
»Ach so!« Der Junge grinste wieder. »Hier ist’s schöner, was?«
Lika schüttelte den Kopf. Das fehlte ihr gerade noch, dass der ihr den Leo schlecht machte.
»Ich heiße Bob.«
»Ich Angelika.«
Der Junge schwieg, nur sein Dauergrinsen hielt an.
»Ist Bob auch ein türkischer Name?«, fragte Lika da, nur um etwas zu sagen.
»Nee.« Der Junge lachte. Aber dann erklärte er: »Ich hab ’n Onkel in England, den rufen alle Bob – in Wirklichkeit heißt er Cabbar, genau wie ich.«
Lika blieb stehen. Sie war vor dem grün angestrichenen Haus mit den Erkerfenstern und Balkons angelangt, in dem sie jetzt wohnte. Bob stieg vom Rad und sah sie an. »Haste mal Zeit?«
»Wozu?«
»Zum Reden.« Nun wurde Bob rot. Nicht mal sein Grinsen gelang ihm noch. Das nutzte Lika aus. »Und worüber?«, fragte sie uninteressiert.
»Über alles«, sagte Bob und dann, als sei ihm plötzlich etwas Wichtiges eingefallen: »Wir könnten auch mal ins Kino gehen.«
»Ich geh nicht gern ins Kino.« Lika gab sich lässig. »Die meisten Filme sind saublöd.«
»Waaas?«, staunte Bob. Aber bevor er noch was anderes sagen konnte, stand Likas Mutter zum zweiten Mal auf dem Balkon.
»Lika!«, rief sie. »Willste mich zur Weißglut bringen?«
Bob vergaß, was er sagen wollte, und fragte nur noch schnell: »Morgen?«
Lika nickte und wollte ins Haus hinein.
»Wann?«, rief Bob ihr nach.
Sie drehte sich um, sah ihn einen Moment lang an und flüsterte: »Um drei.« Um drei öffnete das Geschäft wieder, dann war Mutter längst weg.
»Und wo?«
»Am Steg«, flüsterte Lika und war auch schon im Hausflur verschwunden.
»Du spinnst wohl!« Die Mutter stand schon in der Tür. »Du weißt doch ganz genau, dass ich es eilig habe.«
»Tut mir Leid«, sagte Lika nur und ging an der Mutter vorbei in die Küche. Das mit dem »Tut mir Leid« war ein Trick, den die Mutter selbst erfunden hatte. »Jeder Mensch macht Fehler«, hatte sie mal gesagt. »Wenn er sich dafür entschuldigt, ist alles in Ordnung.«
Dass sie das mal gesagt hatte, bedauerte die Mutter schon lange, denn die meisten Fehler machten der Vater und Lika. Und nun nahmen die beiden sie ständig beim Wort, sagten immer nur »Tut mir Leid« und erwarteten von ihr, dass sie nicht nachtragend war. Die Mutter wusste, dass sie was falsch gemacht hatte, und lachte immer seltener über diesen Trick.
Auch jetzt nicht. Sie sah Lika nur kopfschüttelnd an. »Du musst allein essen, ich schaffe es nicht mehr.«
Lika sah in den Topf. Suppe! Kartoffelsuppe. Die mochte sie und die mochte auch die Mutter. »Tut mir Leid«, sagte sie wieder. Doch diesmal klang es echt.
»Ach was!« Die Mutter setzte sich auf die Küchenbank und zog sich ihre Straßenschuhe an. »Ich kauf mir irgendwo ’ne Currywurst.«
Currywurst war auch nicht schlecht. Aber Lika wusste, wie die Mutter die Currywurst essen würde: im Vorbeiflug an irgendeiner Straßenecke. Und im Geschäft würde sie sich zur Beruhigung erst mal einen Kaffee kochen.
Die Mutter stand auf und küsste Lika auf die Wange. »Ich muss los, der Schröder meckert sonst wieder.«
Der Schröder war der Inhaber von Schröders Welt der Dame, einem Geschäft mit lauter schicken Klamotten. Vorher hatte die Mutter in einem Jeansladen gearbeitet, aber der hatte Pleite gemacht. Sie war froh, dass der Schröder sie genommen hatte, doch sie mochte ihn nicht besonders. Der Schröder sei zu den Kunden oft so übertrieben höflich, dass sie manchmal Angst habe, in seiner Schleimspur auszurutschen, sagte sie. Seine Angestellten behandle er dafür wie Leibeigene.
Lika selber fand Herrn Schröder schlicht und einfach feucht. Seine ewig glänzenden Haare sahen immer nass aus und unter jeder Achsel roch er anders – behauptete sie. Aber dass Mutters Chef immer nach irgendwelchen Parfüms roch, war eine Tatsache. Er meinte wahrscheinlich, der Geruch seiner Duftwässerchen steigere den Umsatz seines Ladens. Die Mutter arbeitete nicht gern in der Welt der Dame, aber so schnell fand sie keine andere Stelle. Und mitarbeiten musste sie, sie sparten für ein Häuschen im Grünen.
Lika wartete, bis die Tür zuflog, dann griff sie in die Suppe, nahm sich ein Würstchen heraus und ging auf den Balkon. Die Mutter verließ gerade das Haus und sah zu ihr hoch. Lika winkte mit dem Würstchen, die Mutter lachte. Dann beeilte sie sich, zu ihrem klapprigen Steinzeitkäfer zu kommen. Mit dem neuen Opel fuhr der Vater zur Arbeit. Er war Abteilungsleiter bei der Wohltat-Versicherung und musste manchmal Geschäftsfreunde zum Flughafen bringen.
Lika biss in ihr Würstchen und lächelte. Sie war stolz auf die Mutter, die niemals wie vierunddreißig aussah, eher wie vierundzwanzig, und die immer noch so rumlief wie damals im Jeansladen. Nur wenn sie in die Damenwelt fuhr, zog sie was anderes an. In Jeans dürfe man bei Herrn Schröder nicht mal das Klo putzen, hatte sie mal gesagt. Sie hatte dabei gelacht, aber in Wahrheit hatte sie auch das geärgert.
Der Käfer knatterte vorbei. Lika winkte noch mal mit dem Wurstrest, dann bog die Mutter um die Ecke und war weg. Lika blieb auf dem Balkon stehen. Da war es wieder, dieses blöde Einsamkeitsgefühl. Jeden Nachmittag spürte sie es nun. Am Leo war es nicht so schlimm gewesen.
Sie blickte auf die Spree hinaus, die um die Wullenweberstraße einen Bogen machte. Links endete die Straße am Steg, rechts war sie am Wasser zu Ende. Gegenüberliegende Häuser, die ihr die Sicht versperrten, gab es hier nicht. Zwischen der Straße und dem Fluss waren nur der Sportplatz und die Kinderspielecke, also ziemlich viel Grün. Es war hier wirklich schöner als am Leo, aber dafür auch langweiliger. Was sollte sie denn tun, den ganzen Tag? Zusehen, wie auf dem Sportplatz hinter dem Fußball hergewetzt wurde? Oder sich auf den Spielplatz hocken, zu den kleinen Krümeln und ihren Sandkuchen?
Bob fiel ihr ein. Komisch, ein Türke, der Bob genannt wurde. Ob er noch irgendwo zu sehen war? Sie blickte wieder links und rechts die Straße hinunter. Doch der Junge war nirgends mehr zu sehen. Langsam ging sie in die Küche zurück und füllte sich Suppe in den Teller.
Was dieser Bob wohl von ihr wollte? – Der sollte sich bloß nichts einbilden!
Aber vielleicht wollte er ja wirklich nur mit ihr reden. So wie Mutters erster Freund, von dem sie mal erzählt hatte. Der hätte so lange geredet, bis sie den Vater kennen gelernt hätte. Dann hätte es ihm die Sprache verschlagen. Lika bekam plötzlich richtig gute Laune und wollte gerade das Radio anstellen, als das Telefon klingelte. Sie seufzte. Das war der Vater. Das kannte sie nun schon: Er wartete, bis die Mutter aus dem Haus war, und rief sie an, um ihr zu sagen, dass sie der Mutter ausrichten solle, dass es bei ihm mal wieder spät werde.
»Schmidt.«
»Hallo Spinnekiks!«, meldete sich der Vater. »Alles klar?«
Spinnekiks, so hatte der Vater sie früher immer genannt, als sie noch ganz klein war. Sie war ja damals schon so zierlich gewesen. Wenn er sie jetzt so nannte, war das ein Zeichen dafür, dass es sehr spät werden würde.
»Alles klar«, sagte Lika. »Alles wun-der-bar!«
»Komm, komm!« Der Vater ließ sich auf nichts ein. »Es soll Leute geben, denen es wesentlich schlechter geht als meinem Fräulein Tochter.«
»Die wohnen weit weg.« Lika wurde ärgerlich. Sie hatte keine Lust, sich vom Vater auch noch auf den Arm nehmen zu lassen.
Der Vater schwieg eine Sekunde lang, dann wurde er geschäftsmäßig. Entweder war Frau Radke in sein Zimmer getreten, seine Sekretärin, oder er tat nur so, als ob jemand in sein Zimmer gekommen wäre, um nicht weiter normal mit ihr reden zu müssen. Einer seiner ältesten Tricks. Den wandte er auch der Mutter gegenüber oft an.
»Also nun hör mir mal gut zu«, bat er. »Heute Abend wird’s ein bisschen später werden. Sag Mutter …«
»Mach ich.«
Lika legte den Hörer auf die Gabel zurück. Vater würde später kommen, sie würde es Mutter ausriehten. Ob er da nun mit irgendwelchen Geschäftsfreunden aus Hamburg oder München essen gehen musste oder zu viel Arbeit auf seinem Tisch lag, was spielte das für eine Rolle?
Lika hatte den Löffel mit der Suppe noch nicht im Mund, da schrillte das Telefon erneut – lauter, drängender und drohender als vorhin. Jedenfalls kam ihr das so vor.
»Schmidt.«
»Ja, sag mal!«, schimpfte der Vater. »Was soll denn das? Ist dir der Hörer aus der Hand gefallen?«
»Meine Suppe wird kalt.«
»Deine … was? Ja, haste denn noch nicht gegessen?«
»Ich esse jetzt.«
»So? Hhm …na dann entschuldige die Störung. Also … wie gesagt, sag Mutter, es wird später. Eine Konferenz … leider nicht zu verschieben.«
»Hhm«, machte Lika nur.
»Mein Gott!«, stöhnte der Vater. »Ich kann ja nichts dafür. Ich verdien mein Geld ja nicht für mich allein. Später …«
»Meine Suppe!«
»Lika!« Der Vater musste sich beherrschen, um nicht wütend zu werden. Aber dann sagte er nur: »Gut! Iss erst mal. Und vergiss nicht, Mutter Bescheid zu sagen.« Damit legte er auf. Lika behielt den Hörer noch in der Hand und stellte sich vor, wie der Vater jetzt dasaß, unglücklich und traurig und sauer dazu, weil ihn niemand verstand. »Gute Nacht«, sagte sie leise in den Hörer hinein, bevor sie ebenfalls auflegte. Sie würde den Vater ja heute nicht mehr zu sehen bekommen. Außerdem wusste sie nun, dass er wirklich seinen Trick angewandt hatte. Wenn Frau Radke im Zimmer gewesen wäre, hätte er nicht so geschimpft.
Die Suppe war inzwischen wirklich kalt geworden. Normalerweise machte das Lika nicht viel aus – kalte Kartoffelsuppe schmeckte ihr auch -, aber heute schob sie sie weg. Mutters ewiges Abhauen in die Damenwelt, Vaters ständige Anrufe – sie hielt das nicht mehr lange aus.
Häuschen im Grünen! Wozu denn? Sie wohnten ja nun schon in einem grünen Haus. Und rund um die Wulle war auch viel Grün. Er wolle »was Eigenes«, wegen der Sicherheit, sagte der Vater immer. Das wäre im Alter sehr wichtig. Und sie würde das alles mal erben.
Erben – so ’n Quatsch! Sie würde nie in einem Häuschen im Grünen wohnen wollen. Höchstens, wenn es mitten aufm Leo stand. Aber für den Leopold-Platz hatte der Vater sich ja geschämt. Arme-Leute-Gegend hatte er dazu gesagt. Und die Mutter hatte nicht widersprochen, obwohl sie selber auch nicht gern aus der alten Gegend weggezogen war.
2:1 gegen den Vater stand es und trotzdem taten sie immer, was er wollte. Als Fußballverein wäre er längst abgestiegen, bei ihnen blieb er ewig Deutscher Meister.

Matthias Loerke, DDR
Der Junge unter den Palmen
Jitter im Wasser
Ein Probelauf

Der nächste Tag begann mit Sonnenschein. Und die Sonne schien sowohl in Matzes als auch in Likas Zimmer. Während aber Lika gleich aufstand, um den Vater wenigstens morgens kurz zu sehen, blieb Matze noch liegen. Er wollte noch ein bisschen an seine Idee denken. Sie hatte ihn fast die ganze Nacht nicht schlafen lassen, obwohl es ja eigentlich eher Pipuschs Idee war.
Erst hatte er noch stundenlang in den »Kindern des Kapitän Grant« gelesen, einem Buch, in dem es auch um eine Flaschenpost ging, dann hatte er noch lange über das Buch nachgedacht. Er hatte es voriges Jahr schon einmal gelesen, aber in dieser Nacht mit einem ganz anderen Interesse.