Fritz Mauthner

Wörterbuch der Philosophie

Wörter, mit deren Hilfe wir eine Erkenntnis der Wirklichkeit fassen


e-artnow, 2015
Kontakt: info@e-artnow.org

ISBN 978-80-268-2802-0

Widmung

Inhaltsverzeichnis

Lieber Ernst,

ich möchte Dir dieses Buch widmen.

Ich habe mich oft meines treuen und dankbaren Gedächtnisses gerühmt. Darf ich Dich heute an ein Erlebnis erinnern, das etwas mehr als 50 Jahre zurückliegt? Alt genug für solche Erinnerungsfeste sind wir ja geworden.

Ich war etwa 8 Jahre alt, Du 13. In unserem Kinderzimmer saßen wir fünf Brüder eines Abends, ein jeder an seinem kleinen Tischchen bei einer Talgkerze, mit unseren Schularbeiten beschäftigt. Ich hatte für den Prüfungstag, für den morgenden Tag also, in ein Heft die Gedichte abzuschreiben, die wir im Laufe des Semesters auswendig gelernt hatten. Eben hatte ich den letzten Vers abgeschrieben, als ich so ungeschickt war, das Tintenfaß anstatt der Streusandbüchse zu ergreifen und es über das Heft auszuleeren. Ich heulte jämmerlich; ich war wohl wehleidig. Der Schaden war freilich kaum wieder gut zu machen, weil meine Schreibfertgkeit damals noch kaum ausreichte, 32 Seiten in einer Nacht zu leisten. Für den Spott brauchte ich nicht zu sorgen. Du aber kamst an mich heran, überblicktest das Unheil prüfend und sagtest dann: »Leg’dich nur ruhig schlafen; ich werde dir die paar Seiten abschreiben.« Ich tröstete mich schnell, schlief wirklich bald ein, und des Morgens fand ich das dumme Heft in Deiner schönen Handschrift auf meinem Tischchen, neben der herabgebrannten Kerze.

Die Menschen ändern sich nicht. Ich habe noch mehr als einmal vom Tintenfasse unratsamen Gebrauch gemacht; und Du hast noch mehr als einmal gearbeitet und mich schlafen geschickt. Ich weiß, ich stehe nicht allein mit solchen Erinnerungen an Deinen Charakter.

Mit treuen und dankbarem Gedächtnis möchte ich Dir dieses Buch widmen; die Ruhe, die mir eine Bedingung für meine Arbeit war, verdanke ich Dir und den beiden andern, die Du kennst. Man könnte die Stille, welche Bedingung und Ziel zugleich einer solchen Arbeit ist, noch mit andern Namen rufen: ich verdanke Euch meine Unabhängigkeit, meine Freiheit. Die äußere Freiheit, die innere zu suchen. Man könnte anstatt von Freiheit auch von Lebensmöglichkeit sprechen. Aber wir beide lieben die überlauten Worte, nicht wahr?

Ich möchte Dir noch etwas sagen. Man spricht darüber nicht jeden Tag. Als ich vor kurzem 60 Jahre alt wurde, brachte mir die Post allerlei Zeitungsblätter ins Haus, in denen meiner ganzen Tätigkeit mit Achtung und Liebe gedacht war. Auch sonst kommt das mitunter vor. Dann hat mir immer etwas gefehlt: daß ich solche Zeichen guter Meinung nicht mehr unserer Mutter vorlegen kann. Ihr unbestechliches Urteil hätte sich durch keinen Zeitungskram irre machen lassen; aber es wäre ihr doch lieb gewesen, auch von diesem Kinde etwas Freundliches zu hören.

Ich glaube fast, mir ist nicht ganz klar, was ich Dir damit eigentlich noch sagen wollte. So ungefähr: ich gedenke auch der Mutter, wenn ich just Dir dieses ungefüge Buch widme.

Meersburg a. Bodensee, im Mai 1910, erneuert im September 1922

Dein Fritz

Einleitung

I.

Inhaltsverzeichnis

»Das Wörterbuch der Philosophie«, so sollte dieses Buch nach meinem Wunsche heißen. Das Wörterbuch. Freunde, zu deren Charakter nicht eben Ängstlichkeit gehört, rieten ab. Ich sollte den bestimmten Artikel weglassen; ich sollte den Schein der Eitelkeit vermeiden, als lebte ich in dem Glauben, das einzig richtige, das einzig wertvolle Wörterbuch der philosophischen Begriffe gegeben zu haben. Der bestimmte Artikel in der Überschrift meines Buches hatte aber einen ganz andern Sinn: Resignation, ein Bescheiden sollte das Wörtchen wie ein Auftakt ausdrücken. Diese wenigen hundert Wörter, deren Bedeutung im Laufe der Zeiten gewechselt hat, an Kraft und Inhalt bald zugenommen, bald nachgelassen hat, nicht selten in ihr Gegenteil umgeschlagen ist, über deren Bedeutung nicht einmal die Philosophen der Gegenwart einig sind, diese paar Hundert Wörter, mit deren Hilfe wir eine Erkenntnis der Wirklichkeit noch weniger fassen und erreichen können als mit Hilfe minder abstrakter Wörter: das ist das Wörterbuch unserer Philosophie.

Ich fügte mich; nicht um dem Vorwurfe der Eitelkeit zu entgehen, sondern nur deshalb, weil ein stilgerechter Titel zu verlangen scheint, daß ein wissenschaftliches Buch die persönliche Note des Verfassers nicht schon in der Überschrift anklingen lasse, weil ich vom Leser nicht verlangen kann, daß er den schlichten Titel oder gar sein erstes Wörtchen schon als eine melancholische Äußerung verstehe. Ich muß schon zufrieden sein, wenn mein guter Leser mir auf allen schwierigen Wegen und Seitenwegen dieser Untersuchungen gefolgt ist, und dann mit der stolzen Enttäuschung einer erworbenen docta ignorantia ausruft: »Das also ist das Wörterbuch der Philosophie«.

Und werde froh sein, wenn ein ganz guter Leser am Ende des Weges sich sagen muß: die skeptische Resignation, die Einsicht in die Unerkennbarkeit der Wirklichkeitswelt, ist keine bloße Negation, ist unser bestes Wissen; die Philosophie ist Erkenntnistheorie, Erkenntnistheorie ist Sprachkritik; Sprachkritik aber ist die Arbeit an dem befreienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprachen und mit den Worten ihrer Philosophien niemals über eine bildliche Darstellung der Welt hinaus gelangen können.

So sind diese Wortgeschichten und Begriffskritiken neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache geworden.

Nicht nur darum, weil ich so in diesem Wörterbuche die Ideen meiner Kritik der Sprache weiter ausbaue, und weil ich die leitenden Sätze des grundlegenden Werkes öfters zitieren mußte, da ich sie doch als bekannt voraussetzen nicht konnte und nicht wollte, – nicht darum ist dieses Wörterbuch ein persönliches Unternehmen geworden, persönlicher, als sonst Wörterbücher sein dürfen. Persönlich ist die Auswahl der Wörter oder Begriffe geworden, deren Geschichte und Kritik ich vorlege; auf annähernde Vollständigkeit, auf dieses Ideal eines Nachschlagebuchs und Fremdwörterbuchs der Philosophie, mußte ich ja von vornherein verzichten, wenn ich mein Alter und die nachlassende Kraft erwog und dennoch herausbringen wollte, was mir für die Vorschule einer sprachkritischen Erkenntnistheorie wichtig schien; da konnte es nicht ausbleiben, daß unter den Abstraktionen der philosophischen Disziplinen mich die einen zu einer genaueren Behandlung anregten als die andern. Persönlich ist hoffentlich auch die Weltanschauung, wenn ich mich einer solchen rühmen darf, oder meinetwegen die Seelensituation, die mich seit vielen Jahren einen Kampf zweier Fronten führen läßt: einen Kampf gegen jede Form des Aberglaubens und Dogmatismus, der mich immer wieder in die Nachbarschaft der Aufklärer bringt; nur daß ich die schlimmste Form des Aberglaubens, den Wortaberglauben, den Wortfetischismus, auch dort finde, wo die Schlagworte von religiöser und politischer Freiheit geprägt worden sind. Den andern Kampf also gegen den metaphysischen Materialismus, der nur ein antikirchlicher Dogmatismus ist, übrigens aber geistloser, ärmer als der Dogmatismus der alten Scholastik. Persönlich, ein subjektives Bedürfnis war mir durch Jahre die Tätigkeit an diesem Buche; ich bin aber nicht so skeptisch, zu meinen, daß darum Methode und Ergebnisse der Untersuchungen nur einen subjektiven Wert haben. Ich lebe des Glaubens und dem Glauben, daß der skeptische Nominalismus, mit welchem ich die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache überhaupt aufgezeigt habe, ganz besonders die philosophischen Begriffe trifft, und unter ihnen am stärksten die allgemeinsten Begriffe.

Ich habe an den Stücken meiner Arbeit zwischen der Geschichte der Worte und der Kritik der Begriffe unterschieden; da habe ich mich aber noch der gebräuchlichen Terminologie bedient und mit verzeihlicher Schwachheit zwischen dem Äußern und dem Innern eines einzigen Gedankendings eine Scheidewand gesehen, die es im Leben der Sprache nicht gibt. Ich hätte ebenso gut von einer Geschichte der Begriffe und von einer Kritik der Worte reden können.

Für die Methode meiner Untersuchungen ist diese bewußte und einseitige Gleichsetzung von Wort und Begriff, wie sonst meine Gleichsetzung von Sprechen und Denken, von entscheidender Bedeutung. Der gegenwärtige Inhalt eines Begriffs oder Worts, sein ungefährer und unbestimmt flimmernder Inhalt ist ja gar nichts anderes als der Niederschlag der Wort-oder Begriffsgeschichte; wer vergessene Ereignisse einer Wortgeschichte besser kennen lernt, versteht auch die Nuancen des gegenwärtigen Gebrauchs besser; die Geschichte ist die wahre Kritik jedes Worts. So ist die wirkliche Erdrinde mit allen ihren ausgestorbenen Lebewesen und allen lebenden Pflanzen und Tieren der Niederschlag der Erdgeschichte. So ist die Gestalt und der Bau eines heute lebenden Tieres (wenn die Entwicklungslehre recht hat) das Ergebnis einer besondern Artgeschichte: und die Vergleichungsmöglichkeit zwischen einem Tiere und einem Worte wird noch größer, wenn wir anstatt an den morphologischen Bau an die biologische Zweckmäßigkeit der Organe denken; auch da üben wir etwas wie Kritik, vom beschränkten Menschenstandpunkte aus, und die Dogmatiker des Darwinismus sind geneigt, nützlich zu finden, was ist, d.h. was sie sehen. Hier aber hört die Vergleichsmöglichkeit zwischen Tiergeschichte und Wortgeschichte doch am Ende auf, und nur etwa eine ähnliche Aufgabe bleibt übrig: da und dort uns von dogmatischem Wortaberglauben zu befreien.

Diese Befreiung habe ich in der Wortgeschichte und in der Begriffskritik in zwei Richtungen angebahnt; über beide Richtungslinien möchte ich in dieser Einleitung einige Rechenschaft geben. Das kann in bezug auf die Begriffskritik mit wenigen Worten geschehen, weil ich da nur den naiven Glauben bekämpfe: es müsse ein scheinbar lebendes Wort auch einen philosophischen Nutzen haben, es müsse ein Begriff bei den Worten sein. In bezug auf die Wortgeschichte muß ich aber meine Prinzipien ausführlich darlegen, weil sie in Widerspruch stehen zu der herrschenden Lehre, die immer noch, trotz der Mahnungen der besten Forscher, im Banne der vergleichenden Sprachwissenschaft eine immanente Bedeutung an den Wörtern sucht und so eine gemütliche Freude daran hat, wandernden Fremdlingen allzu gefällig ein Heimatsrecht zu gewähren. Entlehnung und Lehnübersetzung ist schon früher häufig genug herangezogen worden, um die Herkunft einzelner philosophischer Begriffe zu erklären. Aber das Dogma der vergleichenden Sprachwissenschaft hat gerade die führenden Fachleute bis heute verhindert, zu erkennen, eine wie beherrschende Rolle Entlehnung und Lehnübersetzung in der Geistesgeschichte der Menschheit gespielt haben. Ich habe auf diese beiden Mächte schon (Kr. d. Spr. II, 621 ff., und »Die Sprache«, S. 45 ff.) hingewiesen; ich möchte hier meine Überzeugung so überzeugend wie möglich darstellen; beinahe jeder Artikel dieses Wörterbuchs wird zu einer Stütze dieser Überzeugung dienen können1.

II.

Inhaltsverzeichnis

Man wird sich daran gewöhnen müssen, in jeder Wortgeschichte eine Monographie zur Kulturgeschichte der Menschheit zu erblicken.

Sprachgeschichte, Wortgeschichte ist immer Kulturgeschichte, wenn wir den Stoff betrachten; eine besondere Sprach-oder Wortgeschichte gibt es nur für die Form. Ich will in den folgenden neuen Beiträgen zu meiner Kritik der Sprache die Form nur herbeiziehen, wo sie den Stoff deutlicher macht, den Körper der Worte nur befragen, wo der Geist ihn bauen geholfen hat. Und bemerke gleich, daß in diesem Satze Form und Körper einander entsprechen, Körper wiederum und Geist. Es gehört zu den Reizen und zu den Gefahren sprachkritischer Untersuchungen, daß so gut wie jeder Satz ein Beispiel oder ein Probierstein der Lehre werden kann und werden möchte.

Die Geschichte einer Anzahl wichtiger oder wertgeschätzter Wörter will ich bieten, ihre äußere und innere Geschichte und so ein Stück geistiger Kulturgeschichte. Bescheidener geworden, will ich nur einige Bruchstücke bieten und bin dabei doch treu geblieben dem alten verwegenen Plane, eine Revision (nicht Restauration) der Grundbegriffe aller Wissenschaften zu vollbringen. Denn Sprachkritik oder Denkkritik oder Erkenntniskritik wäre nicht die Wissenschaft der Wissenschaften oder das Wissen vom Wissen, wenn sie die Resignation, die sie allen Wissenschaften auflegt, nicht auch von sich selbst verlangen würde.

Wieder komme ich auf das Verhältnis von Denken und Sprechen, das ich so oft in der »Kritik der Sprache« behandelt und gestreift habe, zu frei und zu ehrlich für die Gegner. Und ich werde von diesem Verhältnis nicht loskommen, wenn ich nicht etwa auf Denken oder Sprechen verzichten will.

Denken oder Sprechen habe ich das Gedächtnis der Menschheit genannt. Denken und Gedächtnis ist in der deutschen Sprache schon in den Wortzeichen nahe aneinander gerückt; nichts ist im Denken, dessen nicht gedacht werden kann, dessen die Menschen (Menschheit ist bislang ein Wortschall für die Menschen) sich nicht erinnern. Und die Worte der menschlichen Sprachen sind die Erinnerungszeichen oder die Namen für die namenlos vielen, ohne Worte zu vielen und namenlosen, menschlichen Erfahrungen. Was nun die Erinnerungszeichen der Menschen zu einer Einheit bindet oder zu einer scheinbaren Einheit, das ist – weil es in der Wirklichkeit nur Individualsprachen gibt und weil die Individuen erst wieder durch das rätselhafte Gedächtnis zu der Täuschung des Ichgefühls kommen – die Übertragung oder Nachahmung oder Entlehnung der Worte und Zeichen zwischen den Genossen einer Familie, eines Stammes, eines Volkes. Und was die Geschichte der Menschen allein zu einer Einheit binden konnte, das ist die Übertragung oder Nachahmung oder Entlehnung von stofflichen und geistigen Werten, für welche Kultur der einigende Wortschall ist, zwischen den Menschengruppen, die man Völker und Staaten nennt. Man sollte öfter von Wert-und Wortwanderungen reden als von Völkerwanderungen. Und das ist der Fluch, der bisher auf der Wort-und Sprachgeschichte gelastet hat, daß bald beschränkter Chauvinismus, bald verstiegener Kosmopolitismus (der erste uralt mit seinem Barbarenbegriff, der zweite durch die hübsche christliche Vorstellung von der gemeinsamen Gotteskindschaft in die Welt gesetzt) die einfache Tatsache der unnennbar vielen Nachahmungen und Entlehnungen in den Sprachen nicht Wort haben wollte. Der Kosmopolitismus, oder wie man es nennen will, führt nicht zu Geschichte oder Sprachgeschichte, weil alle historischen Undinge in ihm begründet sind, wie: Abstammung von Adam und Eva, die eben so fabelhafte philosophische Grammatik und die Universalsprache der Zukunft. Wenn Kosmopolitismus anders als etwa in christlichem Sinne ein Ideal wäre, so wäre er für Vergangenheit und Zukunft ein zutiefst unwahres Ideal. Der Chauvinismus aber in Geschichte und Sprachengeschichte ist gerade seit hundert Jahren seit dem Aufkommen der Nationalitätsidee als Gegensatz gegen den geträumten Kosmopolitismus von Napoleons Weltmonarchie, wirklich und mächtig geworden, doch zum Schaden der Wissenschaft; denn chauvinistisch ist im Grunde auch die Tendenz der genau ebenso alten modernen Sprachwissenschaft, welche die Ursprünglichkeit z.B. der deutschen Sprache dadurch zu retten sucht, daß sie Sprach-und Völkerverwandtschaft annimmt, wo Wanderungen von Wortwerten vorliegen, daß sie den Entlehnungen von Worten wie Diebstählen in der Familie einen gemütlichen Charakter gibt. Chauvinistisch ist ihrem Ursprunge nach die Annahme eines arischen Volksstammes; kein Wunder, daß die Hypothese chauvinistische Folgen hatte.

Daß die Nationalitätsidee der politischen Phantasie Napoleons selbst entsprungen war und von seinen Todfeinden seinem Ideenvorrat entlehnt wurde, ist nur ein Beispiel für geschichtliches Geschehen und widerspricht dem Gesagten nicht.

Da wir es nun bei wortgeschichtlichen Untersuchungen mit einem historischen Probleme zu tun haben, so gilt hier alles, was ich an anderer Stelle über das unwissenschaftliche Wesen der Geschichte, über den Unbegriff »historische Gesetze« und über den Zufall in der Geschichte gesagt habe. Doch in einem einzigen Punkte könnte man, und nicht ganz im Scherze, in der Geschichte den Dualismus entdecken, den der Welt aufzudrücken menschliches Denken seit Jahrtausenden versucht hat. Der Dualismus, der am deutlichsten in der Doppelung Objekt-Subjekt auftritt, der immer wieder zweimal setzt, was nur einmal ist, der Kant verleitete, das überflüssige Ding-an-sich wirkend hinter das Ding zu stellen, dieser Dualismus versteckt sich ganz einfach in dem Begriffe Geschichte. Geschichte als Wirklichkeit ist, was geschehen ist und was noch geschieht; Geschichte als Erkenntnis ist unser Wissen von der geschehenen Wirklichkeit. Prähistorisch nennen wir darum mit Recht die Geschichte im ersten Sinne, von der wir im zweiten Sinne nichts wissen. Was gegenwärtig geschieht, nennen wir mit Auswahl historisch, wenn es Aussicht hat, später einmal noch gewußt zu werden. Weil die Eitelkeit diese Auswahl trifft, darum wird soviel für historisch, für einen »Markstein« erklärt, wird soviel photographiert und phonographiert, was doch der Vergangenheit geweiht ist.

Beide Tatsachen, die Existenz eines interessanten Geschehens und die Existenz eines Wissens vom Geschehenen, haben nun gemeinsam eine Eigentümlichkeit, die besonders für Sprach-und Wortgeschichte bedeutungsvoll ist: Nachahmung, Entlehnung von Stoffen und Formen, von Worten und Werten, ist alltäglich in der wirklichen Geschichte wie in der Geschichtsschreibung. Weil diese ganze Untersuchung der internationalen Wortentlehnung gewidmet ist, will ich hier nur wenige Beispiele für die beiden Arten der eigentlichen Geschichtsentlehnung geben. Der Ruhm Alexanders hat mehr als einmal zur Nachahmung gereizt. Die Tat des Kolumbus hat eine Periode verwegener Seefahrten eingeleitet. Ältere Tyrannenmörder waren Vorbilder für neuere. Die englische Revolution war ein Vorbild für die französische. Und gar die Taten und Erfolge Cäsars sind für den so ganz anders gearteten Napoleon zum Vorbilde geworden, wobei nicht zu übersehen, daß der Enthusiasmus für römische Tugend, Tapferkeit usw. dem neuen Cäsar die Wege gewiesen hatte. Das Empire ist in Wort, in Geschmack, in Politik und nach Möglichkeit im Kriege eine Übersetzung des römischen Imperiums; es ist bezeichnend für die Schwäche und untüchtige Nachahmung des dritten Napoleons, daß er nur ein Buch über Julius Cäsar zustande brachte. Denn das versteht sich am Rande, daß Worte fast von jedermann, Taten nur von Helden nachgeahmt werden können. (Vgl. Art. Geschichte.)

»Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt« (Goethe). In historischen Charakteren wird Enthusiasmus zur Nachahmung oder Entlehnung.

Auch wer in der Geschichte nur Erlebnisse und Taten der Masse sieht, frei von Heldenverehrung, der müßte auf die Nachahmung achten; denn unausdenkbar groß ist bei der Volksmasse, außer dem Reize und dem Bewußtsein ihrer Massenhaftigkeit, die Gewalt der unbewußten Nachahmungsform, die wir Suggestion zu nennen pflegen. Ohne Nachahmung oder Entlehnung von Werten und Worten keine Völkerpsychologie, kein soziales Interesse in der Geschichte.

Die Entlehnung in der Geschichtsschreibung durch Anpassung von Sagen, Anekdoten, geflügelten Worten, biographischen Einzelheiten und biographischen Porträts, die Anpassung alter Züge auf neue Bilder geschieht heute nicht mehr so naiv wie im Altertum und im Mittelalter, weil die Forscher exakt sind, größtenteils nur Material sammeln und erst zum Zwecke künstlerischer Darstellung kopieren.

Das Mittelalter war die Blütezeit ahnungsloser Geschichtsfälschungen durch Entlehnung fremder Züge. Der Grund lag zunächst in der allgemeinen Gläubigkeit und Kritiklosigkeit; sodann aber fehlte dem Mittelalter und wohl allen Zeiten vor dem Aufkommen des Historismus jeder Sinn für das, was man historisches Kostüm nennt. Noch im 17. Jahrhundert spielte man zu Paris Römertragödien im Kostüm, das just Mode war. Es machte mittelalterlichen Stammbaumfabrikanten kein Unbehagen, etwa die Welfen, weil man den Namen mit catuli übersetzen konnte, auf die Familie der Catonen zurückzuführen. Geschichte und Geschichtsschreibung werden kopiert, wenn Karl d. Gr. die Fiktion, römischer Kaiser zu sein, sein Handeln beeinflussen läßt, und wenn dann Einhard in seiner Biographie Karls Suetons Biographie des Augustus zum Muster nimmt. Es werden also Porträts entlehnt; aber sogar Selbstbiographien können durch Nachbildung eines entlehnten Ideals gefälscht werden.

Es gibt ein türkisches Volksbuch, die Schwanke Nassr Eddins, der etwas wie ein Hofnarr Timurlenks oder eines andern Sultans um 1400 gewesen sein mag. Köhler (Kl. Schr. I, 481 f.) hat gezeigt, wie diesem Nassr Eddin ältere Schwanke angedichtet wurden und wie diese Streiche dann wieder abendländischen Fürstenhöfen zugeschoben wurden. Nicht nur der internationale Scherz vom Abschneiden des Astes, auf dem man sitzt, geht auf Nassr Eddin zurück. Zur Charakterisierung der Zeit von Timurlenk hat man das Buch benützt und da vielleicht uralte Züge auf die Zeit von Timurlenk übertragen. Und wieder einer von Nassr Eddins Schwanken wird in Mecklenburg von Wallenstein erzählt.

Goethe, der im Westöstlichen Diwan Timur auftreten läßt und die Absicht andeutet, die Gestalt der Gottesgeißel, nicht ohne Anspielungen auf Napoleon, breit auszuführen, wobei die Tragödie erheitert werden könnte, »wenn man des fürchterlichen Weltverwüsters Zug-und Zeltgefährten Nassreddin Chodscha von Zeit zu Zeit auftreten zu lassen sich entschlösse« – Goethe hat erstaunlicherweise schon den Charakter dieser Wandersagen durchschaut. Er ließ sich die starken Geschichten von einem frommen Prälaten übersetzen: »woraus dann abermals hervorging, daß gar manche verfängliche Märchen, welche die Westländer nach ihrer Weise behandelt, sich vom Orient herschreiben, jedoch die eigentliche Farbe, den wahren, angenommenen Ton bei der Umbildung meistenteils verloren«.

Das Mittelalter ist durch seine naive Unexaktheit am besten geeignet, uns die tausendfachen Entlehnungen in Geschichte und Geschichtsschreibung nachzuweisen. Es mag kein Zufall (und darum in meinem Ausdrucke kein Wortspiel) sein, daß vor der Herrschaft des historischen Sinnes es kein Verständnis gab für das Eigentümliche in Kostüm, Sprache, Charakter einer bestimmten Zeit, und daß zur selben Frist auch der Begriff des geistigen Eigentums, der heute bis zur Karikatur ausgebildet ist, nicht vorhanden war. Und noch eins: das Mittelalter konnte in Kunst und Leben Stil haben, weil es alle Motive unbewußt nachahmte und entlehnte; unsere Zeit hat keinen Stil, weil ihrem fürchterlichen Wissen jede Nachahmung und Entlehnung sofort zum Bewußtsein kommt.

Ob wir es aber wissen oder nicht, die zahllosen Wogen-und Wellenkreuzungen der Nachahmung und Entlehnung tragen uns dennoch. »Alles Gescheite ist schon gedacht worden; man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken.« So steht es an der Spitze von Goethes Sprüchen in Prosa, die sich selbst »Eigenes und Angeeignetes« im Untertitel nennen, und deren Herausgeber schwerlich ahnte, daß auch das Eigene selbst eines Goethe am letzten Ende aller Enden ein Angeeignetes ist, wenn man von der Nuance absieht, die die große Persönlichkeit etwa hinzufügt. So wenig die Wogen-und Wellenkreuzungen des Meeres zu überschauen sind, die nie aus sich selbst entstehen, immer von irgendwoher kommen, sich verstärken und abschwächen, und zusammen das Meer heißen, ebensowenig kann ein Mensch die zahllosen Wogen-und Wellenkreuzungen der Entlehnung überschauen, die zusammen Kultur heißen. Worte und Gedanken, Motive der Architektur und des Handelns, Hausrat und Heilige, Titel und Novellenstoffe, Waffen und Liebesschwüre, die ganze unentwirrbare Buntheit unserer Welt setzt sich für solche Betrachtung aus einigen, wenigen farbigen Steinchen zusammen, die im Kaleidoskop bald so bald so durcheinander geordnet werden und dem armen menschlichen Auge, weil der Mensch kaleidoskopisch sehen will und muß, den schönen Anblick des bunten Weltalls bieten. Was immer wir herausgreifen, um es so zu betrachten, verwandelt sich in seiner ganzen Geschichte zu ein paar bunten Steinchen im Kaleidoskop, das eine Generation der andern zuschiebt.

Vor Jahrtausenden gab es, über unbekannte Jahrtausende hinweg, die Lampe; jedes Geschlecht glaubte einen andern Geschmack zu haben und hatte anderes Brennmaterial, und jedes Geschlecht entlehnte die Lampenform vom frühem, bosselte da und besserte dort, formte den Docht um, goß (in meiner Jugend) in die Öllampe Petroleum hinein, behielt lange Jahre das Petroleumbecken für die Gaskronen bei und zog die Drähte des elektrischen Lichts an Gasarmen entlang. Jetzt freilich ist man sich bewußt, daß das stofflose Leuchtmaterial neuer Stilformen bedarf, und bewußt sind Architekten daran gegangen, den neuen Stil zu erfinden. Und in der prunkvollen Vorhalle der Kaiserloge des Wiener Burgtheaters steht als Lichtträger eine griechische Statue, die Elektra heißt.

Die Architekten, die den neuen Stil erfinden sollen, arbeiten seit Jahrtausenden mit einem Dutzend von Motiven, die eine Zeit der andern entlehnt und es nur bis zu unserer Zeit nicht gewußt hat. Wenn unrecht Gut da nicht gediehe, wenn nachgemachte Motive nicht stehen bleiben könnten, alle Fassaden aller Gebäude der Welt müßten zusammenstürzen.

Der Einsicht, daß es um die Geschichte wissenschaftlicher oder gar philosophischer Begriffe nicht anders stehe, als um die Geschichte von Waffen und Hausgeräten, von Architektur-und Märchenmotiven, stand nun seit jeher der menschliche Geisteshochmut im Wege, der das, was ihn vom Tiere unterschied, die Sprache nämlich, durch die tausend Jahre des Christentums für ein göttliches Gnadengeschenk an den Menschen hielt, nachher immer noch unter christlichem Einflusse für etwas Übermenschliches, Übernatürliches; man wagte nicht zu glauben, daß nichts in den Worten der Sprache enthalten wäre, was nicht Menschen (immer haben nur einzelne Menschen gesprochen, nicht Völker) in die Worte hineingelegt hätten. Man redete von den Wundern der Sprache, nicht nur in rhetorischer Übertreibung. Und etwas von dem Glauben an ein übernatürliches Wunder, ein heimlich christelnder Wortaberglaube, steckt auch noch in dem Dogma von der vergleichenden Sprachwissenschaft, das die ungeheure Bedeutung der Entlehnung und Nachahmung für die Geistesgeschichte, insbesondere für die Wortgeschichten der Sprache, nicht zugeben will. Die Zurückschiebung der Sprachentstehung, die Erklärung der Ähnlichkeiten aus Sprachmischung und Entlehnung, das Bekenntnis, von der Urschöpfung einer Ursprache ganz und gar nichts zu wissen, scheint irgendwie gegen irgend eine übertrieben hohe Meinung von der Sprache zu verstoßen; überläßt man auch die alte Legende von der gemeinsamen Abstammung aller Sprachen einigen Pastoren und einem Scheinphilologen wie Trombetti, so wird doch die neuere Legende von der gemeinsamen Ursprache der sog. indogermanischen Sprachen mühsam aufrecht erhalten. Selbst der ausgezeichnete Forscher Johannes Schmidt, der auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachwissenschaft die Vorstellungen von einer Verwandtschaft und von einem Stammbaume meisterlich kritisiert hat, der die indogermanische Ursprache tapfer eine wissenschaftliche Fiktion genannt hat, macht vor dieser Ursache doch wieder (»Die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen«, S. 29) eine verlegene Verbeugung: »Daß eine einheitliche indogermanische Ursprache einmal vorhanden gewesen sei, ist höchst wahrscheinlich, ja ganz sicher, wenn sich erweisen läßt, daß das Menschengeschlecht von einigen wenigen Individuen seinen Anfang genommen hat.« Sollte dieses wenn ironisch gemeint sein? Wenn die Abstammung von einem einzigen Menschenpaare erweisbar wäre, dann wäre die Autorität der jüdischen Bibel und des Christentums wieder einmal ein bißchen gefestigt, und die Abstammung aller Sprachen von einer einzigen wäre a priori bewiesen.

Die Vorstellung, daß das Sanskrit die Mutter oder die Großmutter aller sogenannten arischen Sprachen sei, ist freilich nur ein unklares Gerede. Als wissenschaftliche Hypothese ist diese Vorstellung bald nach Friedrich Schlegel aufgegeben worden. Schon Bopp ließ diese Orthodoxie fallen, und schon in seiner Erstlingsschrift. Man half sich mit einer andern scheinbar viel gründlichem Vorstellung: allen arischen Sprachen liege eine gemeinschaftliche Ursprache zugrunde, die man zwar ebensowenig kannte wie das Urvolk, die man aber in ihrem Wortschatz und in ihrer Grammatik zu rekonstruieren hoffte. Ein Deutscher, Schleicher, war der erste, der die ideale Forderung einer Ursprache aufstellte, wenn er auch von der historischen Realität der Ursprache nicht ganz überzeugt war. Ihm war (ich zitiere hier und im folgenden Paul Kretschmers vorzügliche Einleitung in die Geschichte der griechischen Sprache) die Aufstellung von Urformen nur ein bequemes Mittel, die jeweiligen Ansichten der Sprachwissenschaft von dem ältesten Zustande auf die kürzeste Formel zu bringen. Seitdem hat man seine Vorsicht außer acht gelassen, wie der pedantische deutsche Darwinismus bei seinen Konstruktionen und Rekonstruktionen die Vorsicht Darwins außer acht gelassen hat. Müßte man der offiziellen deutschen Wissenschaft glauben, so besäßen wir von der Ursprache, vom Urvolk und seiner Urheimat, seiner Urkultur und seiner Urmythologie so sichere Kenntnisse wie etwa von der Sprache, der Kultur, der Topographie und der Religion Roms. Nur daß die gelehrten Arbeiten über die Ursprache, die Urheimat und die Urkultur das gleiche Schicksal haben: jeder geistreiche und fleißige Gelehrte auf diesem Gebiete wird vom nächsten geistreichen und fleißigen Gelehrten widerlegt; in der Zwischenzeit sprechen die Fachmänner, die nicht geistreich und gelehrt sind, die noch nicht widerlegten Behauptungen nach, die langsamen Herren wohl auch die schon widerlegten Ansichten. Nach dem Trägheitsgesetze.

Niemand kann sagen, ob die Ursprache, wenn sie überhaupt historische Wahrheit ist, einheitlich war oder in Dialekte zerfiel, ob diese Dialektunterschiede groß oder klein waren, ob das Urvolk dieser Ursprache in Asien oder in Europa zuhause war, auf einer russichen Steppe oder auf dem beliebten Hindukusch, ob das Volk klein oder groß war, ob seine wieder so beliebten Wanderungen besonders nach Osten oder besonders nach Westen gerichtet waren. Niemand kann sagen, ob dieses Urvolk seine Ursprache einige tausend Jahre früher oder später irgendwo gesprochen habe. Kretschmer macht sehr gut darauf aufmerksam, daß im Begriffe urindogermanisch nicht weniger als drei verschiedene Begriffe zusammenfallen: gemein-indogermanisch, altindogermanisch und ursprachlich; das ließe sich so ausdrücken, daß die Wissenschaft für die Übereinstimmungen drei mögliche Ursachen unklar zusammenwerfe, übrigens einige andere Möglichkeiten übersehe. Die Anwendung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs auf solche Fragen gebe ich in anderm Zusammenhang.

Die Zeitbestimmung bei den Vorstellungen Ursprache und Urvolk enthält eine neue Unklarheit, eigentlich eine Sinnlosigkeit. Jeder einzelne Forscher nagelt sich selbst und seine Assoziationen auf eine völlig unbestimmte Zeit fest, von der nur eins gewiß ist, daß sie nämlich unbestimmt ist. Die einzelnen arischen Sprachen kann man zurückverfolgen bis zu Zeiten, die gegen 2000 Jahre auseinanderliegen. Die slawische Ursprache, die germanische Ursprache, die griechische Ursprache sind lauter unwahrscheinliche Konstruktionen. Die Tendenz gegenwärtiger Wissenschaft würde sogar dahin zielen, keine besondern Ursprachen, sondern ein Gewimmel von Mundarten an den Anfang zu setzen, d.h. in jede vorhistorische Zeit. Und da redet man von einer gemeinsamen arischen Ursprache.

Ebenso steht es um die Konstruktion des Urvolkes. Es hätte eine gemeinsame arische Ursprache gegeben haben können ohne ein ethnologisch einheitliches Urvolk, oder ein einheitliches Urvolk ohne eine gemeinsame Ursprache. Man wird sich bequemen müssen, Wortgleichungen in den arischen Sprachen auch in vorhistorischer Zeit öfter und öfter durch Entlehnung zu erklären. Die vorhistorische Ausbreitung der Gleichung Joch kann ebenso auf Entlehnung beruhen wie die Ausbreitung der Gleichung Pfeffer, die sich historisch vom 4. Jahrhundert v. Chr. an aus Indien (pippeli) über Griechenland(peperi), Rom (piper) zu den Germanen, Slawen und Lithauern vollzogen hat. »Nur die verhängnisvolle Neigung, Prähistorisches mit andern Augen anzusehen als Historisches, kann zwischen den beiden Vorgängen einen grundsätzlichen Unterschied erkennen wollen… es ist aber von Wichtigkeit, festzuhalten, daß auch die sog. urverwandten Wörter nur auf dem Wege der Entlehnung gemein-indogermanisch geworden sind; denn in anderer Weise verbreiten sich Sprachneuerungen überhaupt nicht, als daß sie von einer oder wenigen Personen ausgehend, von Individuum zu Individuum, von Volk zu Volk weitergegeben werden« (S. 21-23). Kretschmer leugnet auch nicht die Möglichkeit, daß Sprachneuerungen von nicht rein lexikalischer Art sich in ähnlicher Weise verbreiten. »Etwas anders.« Hat man aber erst die Bedeutung der Entlehnungsmöglichkeit für die partiellen Sprachgleichungen eingesehen, dann ist für so alte Zeiten die Frage nach einem einheitlichen Urvolke wirklich kindisch geworden. Auch die bekannte Tatsache, daß die Sprachwissenschaft in keinem einzigen Falle im Zweifel darüber scheint, ob eine Sprache arisch sei oder nicht, scheint mir der Skepsis nicht zu widersprechen. Das ist eine Frage der Klassifikation, also menschlicher Übereinkunft. Denken wir an ein jüngeres Sprachengeschlecht, das besser bekannt ist. Das Zünglein an der Wage schwankte, ob Spanisch, ob Französisch eine romanische oder germanische Sprache werden sollte; Deutsch hätte leicht eine Mischsprache werden können wie Englisch. Die Klassifikation schwankt nicht, Spanisch eine romanische, Englisch eine germanische Sprache zu nennen. Es wäre gut, diese Lehre auf den Stammbaum der arischen Sprachen und der arischen Völker, auf die Hypothese von der Ursprache und von dem Urvolke anzuwenden.

Und dabei bietet die Sprachwissenschaft für solche prähistorische Fragen wenn keine Ergebnisse, so doch Ausgangspunkte und daraus Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Was die Anthropologie durch Schädelmessungen, durch Beachtung der beobachteten und der vermuteten Haarfarbe hinzugebracht hat, das ist nach jahrzehntelangen endlosen Untersuchungen wohl doch endlich der Posse preiszugeben.. Von der Einteilung in Dolichokephalen und Brachykephalen ist wirklich weiter nichts übrig geblieben, als die Übereinkunft über die Grundlage von Schädelmessungen, eine Grundlage, die ganz willkürlich und unnatürlich ist, dafür aber auch nicht das kleinste Ergebnis für die Ethnologie geliefert hat. Retzius hat das Maß der Schädellänge in 100 Einheiten geteilt, wie sein Landsmann Celsius den Abschnitt des Quecksilberfadens in 100 Grade; nur daß beim Thermometer die bessern Forscher nicht vergessen, daß es sich um eine Konvention handelt. Die Unnatürlichkeit der Grundlage hat dann zu natürlichem Einteilungen geführt, die das menschliche Gesicht zu messen unternahmen; man teilte ein in Prognathen und Orthognathen, in Leptoprosopen und Chamäprosopen, man verlangte größere Präzision und schrieb endlich für jede einzelne Schädelmessung Tausende von Daten vor. Die Disziplin schuf Bücher über Bücher, aber das menschheitliche Wissen ist nicht um einen Punkt vermehrt worden, die menschliche Erkenntnis nicht einmal um eine Hypothese. Geistreiche Gelehrte, die freilich auf dem Gebiete der Kraniologie »Dilettanten« waren, Ihering und Virchow, hatten zuerst erkannt, daß all die Schädelmesserei nur bequeme Schlagwörter bot zum Zwecke einer vorläufigen Orientierung. Und seitdem gar die Stabilität der Schädelmerkmale mit guten Gründen bezweifelt worden ist, fällt vollends jede Möglichkeit fort, ethnologische Verwandtschaft auf Schädelmessungen aufzubauen. Wenn schon zu einer Eiszeit in Europa Dolichokephalen und Brachykephalen durcheinandergemischt waren, dann darf man jetzt fragen, ob Länge und Breite des Schädels überhaupt irgendwelche Beachtung verdient hatten. Der Versuch, die Stammtafel der Völker nach heller und dunkler Haarfarbe aufzustellen, hat noch rascher Fiasko gemacht.

Nun sind Hypothesen über die Ursprache und das Urvolk die Prämissen, auf deren Grund wieder eine andere Gruppe von Forschern zu Schlüssen auf die gemeinsame Urkultur jenes legendaren Urvolkes gekommen ist. Daher die absolute Wertlosigkeit aller dieser Schlüsse. Ich leugne ja nicht den Reiz, den solche Untersuchungen gewähren, wenn sie so gut geschrieben sind wie das berühmte Buch von Hehn. Aber es kommt wirklich nichts dabei heraus, was man ein Recht hätte der Kulturgeschichte als festen Besitz einzufügen. So oft ein Zusammenhang historisch belegt ist oder doch vernünftigerweise vermutet werden kann, handelt es sich um Entlehnung (got. alev, lat. oleum); wo die Sprachwissenschaft allein den Zusammenhang erschlossen hat, da wird das Steckenpferd der Urverwandtschaft geritten. Denn die Macht der Entlehnung anzuerkennen, davor haben alle diese Disziplinen eine rätselhafte Scheu; es gibt bereits neben den lokalem Chauvinismen noch einen neuen arischen Chauvinismus, der es als Schande empfindet von nicht-arischen Völkern Sachen oder Worte entlehnt zu haben. Fast wie manche Ansteckung zunächst als Schande empfunden wird. Wüßte man mehr von der Geschichte uralter Handelsbeziehungen, so könnte man manches über die Entlehnung von Sachen und Worten daraus folgern; wüßte man mehr von den alten Wegen der Wörter, man könnte mancherlei über die alten Handelswege erfahren. Wir wissen aber so gut wie nichts und müssen uns mit amüsanter Polyhistorie begnügen.

Ebenso falsch wie die falschen Schlüsse aus falschen Prämissen auf die Urkultur mußten die falschen Schlüsse auf die Urheimat des Urvolkes ausfallen. Ich bedaure, bei Abfassung meiner Kritik dieser Begriffe (Kr. d. Spr. II, S. 632 f.) Kretschmers Buch noch nicht gekannt zu haben; ich hatte den Skeptiker, trotzdem er Fachmann ist, nicht zitiert gefunden. Kretschmer sagt (S. 59): »Wer die Schwierigkeiten ermißt, auch nur die Urheimat der Einzelvölker zu bestimmen, wird vorläufig davon Abstand nehmen, die Heimat des hypothetischen Urvolkes feststellen zu wollen.« Es ist mir versagt, die allerliebsten Verstandesübungen, die die verschiedenen arischen Worte für Salz, für Meer untersuchen und so zu einer geographischen Bestimmung der Urheimat gelangen, nach jahrelanger Beschäftigung noch ernst zu nehmen. Selbst der strenge Kretschmer hat über solchen Arbeiten das Lachen gelernt; er sagt (S. 67): »Wenn man aus dem Fehlen seines westindogermanischen Namens bei den Indoiraniern schließen wollte, daß diese das Salz nicht gekannt haben, dann müßte man auch aus dem Fehlen einer gemein-indogermanischen Bezeichnung der Milch folgern, daß die alten Indogermanen nicht mit Muttermilch gesäugt wurden.«

Die Hypothese einer gemeinsamen Urreligion – ich will es nur gestehen – möchte ich gern aufrecht gehalten wissen, weil die Disziplin der vergleichenden Mythologie sich doch so oder so auch gegen die Ausschließlichkeit der neuem Mythologien richtet, die noch Religionen heißen. Aber es geht nicht an. Die vergleichende Religionswissenschaft ist ebenso kurzlebig wie die Hypothese vom Urvolk. Wo die Übereinstimmung auf der Hand liegt, wie bei der Verwandlung des griechischen Hêraklês in den italischen Hercules, da weiß alle Welt, daß es sich um Entlehnung handelt; ebenso beim Übergang des Christentums ins Abendland, beim Übergang des Buddhismus in den Fohismus. Wo aber vedische Götternamen an griechische oder germanische anklingen, da fabelt man zuversichtlich von einem gemeinsamen Ursprung, trotz Pischel, der den Veden ihr nationales Recht gegeben hat, und trotz Bremer, der die heilige Identität von Ziu und Zeus bestritten hat. Nicht einmal die Gleichung Dyaus, Zeus, Jovis scheint zu stimmen, weil dyaus in den Veden noch Himmel, Tag heißt und nur poetisch, metaphorisch als Personifikation des Himmels gebraucht wird. Einige religiöse Ausdrücke, die heute etymologisch verbunden werden (Brahman = flamen, victima = got. veihs) werden wohl nicht immer etymologisch verbunden bleiben. Wären aber auch die Namensgleichungen sicherer, als sie es sind, so wäre damit nichts bewiesen für die Identität der Göttergestalten. Man wird sich daran gewöhnen müssen, Gleichungen wie die der Paare Perseus – Andromeda und Siegfried – Brunhild etwa so aufzufassen, wie den Übergang von Märchenmotiven, deren Wanderungen durch Zeit und Raum man ja genugsam studiert hat. Hat man erst Entlehnungen von Märchenprinzen und von Halbgöttern zugegeben, so wird man auch Entlehnungen von Göttern leichter begreifen lernen. »Wanderungen von Kulten und Sagen brauchten sich nicht auf das indogermanische Gebiet zu beschränken, sie konnten auch über die Sprachgrenze hinweggreifen« (Kretschmer S. 89). Wie bei der Urheimat: man will eine arische Urreligion konstruieren und kennt doch nicht einmal eine gemeingermanische oder gemeingriechische Religion.

Ganz abgesehen davon, daß Furcht vor der Nacht, Furcht vor Donner und Blitz, Furcht vor der Sintflut den armen Menschen wohl gemeinsam war und die ähnliche Furcht wohl ähnliche Götter bilden konnte.

Linguistisch, ethnologisch, geographisch und mythologisch hat die Lehre von der Urverwandtschaft Fiasko gemacht. Selbst wie eine alte Religion schleppt diese Lehre ihr Dasein nur noch bei der niedern Gelehrsamkeit fort; sie ist wie einst das Heidentum auf die Dörfer gegangen, will sagen in die Kompendien, in populäre Vorlesungen und auf die Gymnasien. Trotzdem schon vor mehr als 30 Jahren Schuchardt den Stammbaum der romanischen Sprachen, Johannes Schmidt den Stammbaum der arischen Sprachen zu Falle gebracht hat. Und war das Bild vom Stammbaum falsch, so ist das Bild von einer Verwandtschaft nicht aufrecht zu erhalten; nur daß den altern Sprachwissenschaftlern immer noch nicht ganz klar geworden ist, daß Verwandtschaft der Sprachen bestenfalls ein bildlicher Ausdruck sei. Niemand wird behaupten wollen, daß die Ähnlichkeiten der romanischen Sprachen, von deren Entwicklung man so viel weiß, die gleiche Geschichte gehabt haben wie die Ähnlichkeiten der arischen Sprachen, von deren Entwicklung man wenig weiß. Aber als Beispiel, wie es einmal wenigstens passiert ist, und wie es ungefähr auch anderswo passieren konnte, ist das Verhältnis der romanischen Sprachen, das die Vorstellung von einem Stammbaum ausschließt, unschätzbar. Der große Kritiker der Verwandtschaftslehre war Johannes Schmidt, auch wenn von seiner Wellentheorie oder seiner Stufentheorie einst nicht viel übrig bleiben sollte; er hat dem verstiegenen Gerede von einer Art physiologischer Sprachspaltung ein Ende gemacht und der langsamen Anerkennung der Sprachmischung den Boden bereitet. Man glaubt kaum mehr an die partiellen Einheiten benachbarter Sprachen, noch weniger etwa an eine einstige italo-keltische Spracheinheit, die von einer Zufallsstatistik aufgestellt wurde, weil Keltisch und Italisch einige Gleichungen mehr aufzuweisen schien, als z.B. Germanisch und Slawisch. Und wieder: man hat trotz Mommsen und den beiden Curtius seit Johannes Schmidt kein Recht mehr, eine einstige greko-italische Spracheinheit zu behaupten, da man doch weder eine griechische noch eine italische Einheit konstruieren konnte. Vielleicht findet es einmal ein Forscher der Mühe wert, die Fälle greko-italischer Spracheinheit daraufhin zu untersuchen, was auf Entlehnung, was auf Lehnübersetzung (senatus = gerousia) zurückzuführen sei.

Kretschmer kommt zu dem ketzerischen Schlüsse, daß nicht einmal eine gemeingriechische Ursprache zu rekonstruieren sei, daß sie nach Analogie nicht einmal als einstens vorhanden angenommen werden könne. »Die Spracheinheit liegt nicht am Anfang der Dialektentwicklung, sondern an ihrem Ende« (S. 410). So war es auch bei unserer hochdeutschen Sprache. Und da liegt der Grundirrtum bei den Versuchen, eine arische Ursprache zu erschließen: »Man hält alle sprachlichen Übereinstimmungen für alt, alle Differenzen für jung« (S. 413). So würden Germanisten, wenn zwischen ihnen und ihrem Stoffe eine verschüttete Kultur von Jahrtausenden läge, vielleicht dazu kommen, die Sprache Goethes sehr nahe an eine gemeingermanische Ursprache heranzurücken, und Gotisch, Angelsächsisch, Althochdeutsch, Altnordisch historisch aus der Sprache Goethes hervorgehen zu lassen.

III.

Inhaltsverzeichnis

Ich will in dieser Einleitung die entscheidende Rolle durch zahlreiche Beispiele belegen, die die Entlehnung oder die Nachahmung bei der Einführung der Begriffe aus allen Kulturgebieten, aus allen Geisteswissenschaften gespielt hat. Ich will die Wanderungen insbesondere der philosophischen Begriffe aufzeigen und habe darum keinen Raum, auf die Wichtigkeit der Nachahmung für das soziale Leben einzugehen. Ich verweise dafür auf G. Tarde’s »Les Lois de l’imitation«, wo (S. 12) gesagt wird: »que l’être social, en tant que social, est imitateur par essence, et que l’imitation joue dans les sociétés un rôle analogue à celui de l’hérédité dans les organismes ou de l’ondulation dans les corps bruts«. Ich werde selbst vielleicht später einmal noch weiter ausholen und die Bedeutung klar zu legen suchen, welche die Nachahmung (die Nachahmung von Sprachbewegungen, nicht die Klangnachahmung) bei der Entstehung der Sprache gespielt haben muß. Den leitenden Gedanken will ich gleich hier mitteilen.

Das Sprechen gehört zu den Bewegungen der Menschen; es ist trotz der äußersten Kompliziertheit eine so leichte Bewegung, daß es (wenn man von der Berufssprechern absieht) gar nicht als eine Anstrengung empfunden wird. Es ist leicht wie eine Reflexbewegung oder wie eine Instinkthandlung. ES kann also doch nicht eine bewußte, jedesmal neugewollte Bewegung sein. Bewußte, neukoordinierte Bewegungen sind immer schwer oder anstrengend. Nun weiß man aber, daß auch schwierige Bewegungen durch häufige Einübung beinahe zu Reflexbewegungen werden können. Ein Klaviervirtuose kann die eingeübte Sonate im halben Schlafe noch zu Ende spielen. Nun sind neue Worte, heute wie in Urzeiten, gewiß erst durch den Willen einzelner Sprachgenies erfunden, geprägt, gebaut und koordiniert worden; Freiheit des Willens der Sprache gegenüber – wenn man überhaupt von einer solchen relativen Willensfreiheit reden darf – ist immer nur bei Sprachgenies gewesen. Die große Masse, die ihre Muttersprache nur so eben weiter redet, wie sie ihr vorgeredet worden ist, mit ganz leisen und allmählichen Änderungen, hat keinen freien Willen beim Sprechen. Jeder Mensch ist im Gebrauche seiner Muttersprache ein kleiner Virtuose, dem die komplizierten Bewegungen seiner Sprachwerkzeuge zu Reflexbewegungen geworden sind, zu Instinkthandlungen, wenn man lieber will. Das muß schon ebenso gewesen sein, in wie alte Zeit immer man die Entstehung der Sprache zurückversetzen mag. Und da achte man auf einen entscheidenden Umstand: Auch in jener Urzeit konnten die Zeichen der Mitteilung unter den Menschen erst dann unserem Begriffe Sprache entsprechen, als sie durch Nachahmung der neuerfundenen Zeichen und durch Einübung, durch gemeinsame Einübung einer Familie oder eines Stammes, beinahe zu Reflexbewegungen dieser kleinem oder großem Gruppe geworden waren. Wie wir uns die Ähnlichkeit unzähliger Kulturworte nicht ohne Entlehnung erklären können, so können wir uns, wie man jetzt einsehen wird, auch die Entstehung irgendeiner noch so primitiven Sprache der Urwelt gar nicht ohne Nachahmung und Einübung vorstellen. Nachahmung oder Entlehnung ist also durchaus nicht irgendein seltenes Vorkommnis unter den Kultursprachen, sondern gehört urzeitlich dem Wesen der Sprache an.

Ich habe in diesem Zusammenhange das Wort Nachahmung gebraucht, und werde dann wieder, wo von der Herleitung einzelner Wörter die Rede ist, von Entlehnung und Lehnübersetzung reden; das ist aber wirklich kein Wechseln mit den Begriffen. Nachahmung ist nur der allgemeinere Begriff, den man gern auf die Wiederholung von Kunstprodukten und von Bewegungen jeder Art verwendet; für die Wiederholung oder Nachahmung derjenigen Bewegungen, die das Sprechen ausmachen, ist nur die Bezeichnung Entlehnung schon eingebürgert, als terminus technicus, wahrscheinlich darum, weil die Sprachwissenschaft Wert darauf legte, das Entlehnen oder Ausborgen als eine unschickliche, tadelnswerte, der Würde einer Hauptsprache nicht geziemende Handlung darzustellen. Man muß sich aber, wenn man von Entlehnungen spricht, womöglich immer bewußt bleiben, daß man einen bildlichen Ausdruck gebraucht hat; die